Im heutigen so genannten „Medienzeitalter“ wird die für den Einzelnen erfahrbare Welt ständig komplexer und vielfältiger. Die individuelle Aneignung von Welt, sprich das Sammeln von Erfahrungen, geschieht zunehmend indirekt über mediale Vermittlungsinstanzen, allen voran das Fernsehen. Dadurch entsteht bei regelmäßigen Mediennutzern ein zum größten Teil auf Sekundärwissen basierendes Weltbild. Man erlebt nicht mehr selbst hautnah, sondern holt sich via TV- oder PC-Screen die Welt nach Hause. Medienvermitteltes Weltwissen entsteht in zwei Etappen: Im ersten Schritt wird Realität in Medienrealität überführt und im zweiten Schritt fließt diese Medienrealität in das subjektive Weltwissen des Publikums ein, sodass Mediennutzern letztlich nur ein Abbild des Abbilds der Realität zugänglich ist. Aus sozial agierenden Interaktanten werden somit lediglich noch reagierende Rezipienten von bereits gefilterter, formatierter und in schmalhirngerechte Häppchen zerlegter Infotainmentmasse. Durch dieses Ausbleiben von Primärerfahrungen entsteht bei vielen Mediennutzern ein regelrechtes Authentizitätsloch, das sie, meist mangels besseren Wissens beziehungsweise fehlender Alternativen für die Lebensgestaltung, wiederum mit vermehrtem Medienkonsum zu füllen suchen. Das führt im Extremfall leicht nachvollziehbar unweigerlich in einen Kreislauf aus medialer Realitätsflucht und mehr oder weniger stark ausgeprägten Überforderungserscheinungen bei direkter Konfrontation mit der wirklichen Realität. Oft findet deshalb eine permanente Überflutung vieler Menschen mit Medienangeboten verschiedenster Art statt. Ständige Informationsselektion wird somit zum Muss im ′struggle for existence′; the ′survival of the fittest′ im Darwin′schen Sinne erfolgt mittlerweile nach der Devise: nur der im Mediendschungel Bestangepasste überlebt. Was also macht der homo sapiens zur Erhaltung seiner Art? Er passt sich an, was in diesem Fall konkret bedeutet, dass er die Wirklichkeitsentwürfe, die ihm die Medien aufdrängen, annimmt und damit die ′Medienwelten′ in seine eigene Wirklichkeitskonstruktion mit einfließen lässt. Im Rahmen dieser Seminararbeit soll auf der Basis des Trash-TV-Formats „Big Brother“ analysiert werden, welche Konsequenzen diese Form von Wahrnehmung aus zweiter Hand für den Umgang mit und die eigene Lebensgestaltung in der wirklichen Realität haben kann, die immer noch jeden Mediennutzer zusätzlich direkt umgibt.
INHALT
Abstract
Vorwort
1. Realität und Massenmedien
1.1 Allgemeine Grundannahmen des Konstruktivismus
1.2 Niklas Luhmanns konstruktivistisches Wirklichkeitsmodell
1.2.1 "Ausdifferenzierung als Verdopplung der Realität"
1.2.2 "Selbstreferenz und Fremdreferenz"
1.2.3 "Die Funktion der Massenmedien"
2. Fernseh-Wirklichkeiten - Faszination Trash-TV
2.1 'Big Brother 3' (RTL / RTL 2) - Das 'wahre' Leben?
2.1.1 Das Konzept
2.1.1.1 Die Spielregeln
2.1.1.2 Technische Voraussetzungen
2.1.2 Die 'Macher'
2.1.3 'Echte-Leute-Fernsehen' als völlig neues Format: Wie funktioniert Trash-TV?
2.1.4 Was ist das Erfolgsrezept von 'Big Brother'?
2.2 Trash-Kultur: Wo hört die Realität auf und wo fängt Inszenierung an? - Die Gefahr eines drohenden Wirklichkeitsverlustes
Schlussgedanke
Bibliographie
Abstract
In today's so called 'age of the media' the perceivable world becomes more and more larger and varied.
Individuals don't gather experiences from direct contact any longer but from indirect interaction through media, especially TV. Therefore many contemporaries have only a second-hand world view: you only get experienced via TV screen.
Media transmitted knowledge of the world generally comes up in two stages: at first reality needs to be turned into reality of the media and secondly this media reality makes its contribution to the individual world views of the users, who finally only have access to a copy of the copy of the real world.
Former socially active individuals mutate into just reacting recipients of an already filtered mass of infotainment that is presented in convenient pieces.
As of this default of first-hand experiences a lot of media users are lacking of authenticity. They are yearning for the ultimate kick, for a daily dose of adrenaline.
Most people don't know how to satisfy their longing for genuineness in another way than by intensifying their consumption of media offers. Sometimes this leads inevitably into a never ending cycle of escaping from reality and inability to manage situations in every-day-life.
Almost every member of today's young generation (i.e. people up to 30 years) seems to be infected in one way or another with the 'media virus'.
Today the socialization of a child must include the habituation to all different kinds of media anyway, e.g. the handling of cellular phones, TV sets or play stations.
Often this fact of early media (ab)use ends up in permanent abundance of information which many individuals can't stand any longer. For consequence they throw in the towel one time, i.e. they give up trying to distinguish between real life and the reality that is presented through the media.
In doing so these people (you might call them media junkies) are mixing these two worlds - the real and the one that is just fictional - together to one reality in their minds.
The aim of this paper isn't to analyze how constructions of reality from the media become the reality of the media users. This is already taken for granted.
It should rather be seen as an attempt - based on the trash-TV-format 'Big Brother' (RTL / RTL 2) - to find out which are the consequences of such second-hand perception concerning the handling of the real life every media junkie is additionally still living in.
Vorwort
" '... die Wirklichkeit ist keine Frage der Perspektive: A ist gleich A. Zu jeder Frage gibt es in Wirklichkeit nur zwei Antworten, zwei 'Blickwinkel', von denen einer richtig und der andere falsch ist. Es gibt auch einen Zwischenbereich, unter dem alle übrigen Perspektiven nachweislich subsumiert werden können. [...]
Joan schüttelte den Kopf. 'Selbst wenn alles tatsächlich auf zwei polar entgegengesetzte Standpunkte reduziert werden könnte - was ich nicht glaube -, würden unterschiedliche Menschen unterschiedliche Pole wahrnehmen. Was des einen 'Zwischenbereich' ist, ist des anderen absolute Wahrheit. Und wieder eines anderen totale Unwahrheit. [...] Fakten sind Fakten, aber was einem [...] [wirklich real; S. B.] erscheint, ist immer davon abhängig, wer man ist: davon, was man erlebt hat, was für Menschen man kennengelernt und welche guten oder schlechten Erfahrungen man mit ihnen gemacht hat, davon, welche Bücher man gelesen hat und welche man zu faul gewesen ist zu lesen, von den eigenen Wünschen und Ängsten und von hundert weiteren subjektiven Faktoren.' "
(Matt Ruff (2000), G. A. S. Die Trilogie der Stadtwerke. dtv: München: 389-390) Im heutigen sogenannten 'Medienzeitalter' wird die für den Einzelnen erfahrbare Welt ständig größer, komplexer und vielfältiger.
Die individuelle Aneignung von Welt, sprich das Sammeln von Erfahrungen, geschieht zunehmend indirekt über mediale Vermittlungsinstanzen, allen voran das Fernsehen. Dadurch entsteht bei regelmäßigen Mediennutzern ein zum größten Teil auf Sekundärwissen basierendes Weltbild. Man erlebt nicht mehr selbst hautnah, sondern holt sich via TV- oder PC-Screen die Welt nach Hause. Medienvermitteltes Weltwissen entsteht in zwei Etappen: Im ersten Schritt wird Realität in Medienrealität überführt und im zweiten Schritt fließt diese Medienrealität in das subjektive Weltwissen des Publikums ein, sodass Mediennutzern letztlich nur ein Abbild des Abbilds der Realität zugänglich ist.
Aus sozial agierenden Interaktanten werden somit lediglich noch reagierende Rezipienten von bereits gefilterter, formatierter und in schmalhirngerechte Häppchen zerlegter Infotainmentmasse. Durch dieses Ausbleiben von Primärerfahrungen entsteht bei vielen Mediennutzern ein regelrechtes Authentizitätsloch - eine Sehnsucht nach dem ultimativen Kick, der täglichen Dosis Adrenalin - das sie, meist mangels besseren Wissens beziehungsweise fehlender Alternativen für die Lebens-gestaltung, wiederum mit vermehrtem Medienkonsum zu füllen suchen.
Das führt im Extremfall leicht nachvollziehbar unweigerlich in einen Kreislauf aus medialer Realitätsflucht und mehr oder weniger stark ausgeprägten Überforderungserscheinungen bei direkter Konfrontation mit der wirklichen Realität.
Viele Angehörige der Generation der unter Dreißigjährigen scheinen individuell auf ihre Weise mit dem Medien-Virus infiziert; die Sozialisation eines Neugeborenen ist heute ohne Medieneinfluß kaum mehr denkbar. Spielkonsole, Handy und TV-Gerät gehören im Jahr 2001 zur Standardaus-stattung eines Kinderzimmers. Der richtige Umgang damit zählt jedoch nur dann zum Erziehungsprogramm der Eltern, wenn diese selbst den alltäglichen Balanceakt zwischen medialer Ablenkung und dem Bestehen in der Realität zustande bringen.
Oft findet deshalb eine permanente Überflutung vieler Menschen mit Medienangeboten verschiedenster Art statt. Ständige Informationsselektion wird somit zum Muss im 'struggle for existence'; the 'survival of the fittest' im Darwin'schen Sinne erfolgt mittlerweile nach der Devise: nur der im Mediendschungel Bestangepasste überlebt.
Was also macht der homo sapiens zur Erhaltung seiner Art? Er passt sich an, was in diesem Fall konkret bedeutet, dass er die Wirklichkeitsentwürfe, die ihm die Medien (sei es das Fernsehen, seien es die unendlichen Weiten des Internets oder auch dem guten alten Medium 'Buch' entsprungene Phantasiegebäude) aufdrängen, annimmt und damit die 'Medienwelten' in seine eigene Wirklichkeitskonstruktion mit einfließen lässt.
Der Anspruch dieser Seminararbeit besteht nicht darin zu ergründen, wie aus 'Medienwelten' 'Publikumswelten' werden; dies wird als Tatsache vorausgesetzt.
Vielmehr soll auf der Basis des Trash-TV-Formats 'Big Brother' (RTL/RTL 2) analysiert werden, welche Konsequenzen diese Form von Wahrnehmung aus zweiter Hand für den Umgang mit und die eigene Lebensgestaltung in der wirklichen Realität haben kann, die immer noch jeden Mediennutzer zusätzlich direkt umgibt.
1. Realität und Massenmedien
Die dem Verhältnis von 'Medien' und 'Realität' als kommunikationswissenschaftliche Begrifflichkei-ten zugrundeliegende Fragestellung lässt sich relativ einfach formulieren: Bilden Medien die Wirk-lichkeit ab oder konstruieren sie neue Wirklichkeiten?
Dazu existieren unterschiedliche Meinungen, die im Rahmen dieser Seminararbeit nicht alle zur Diskussion gestellt werden können. Hier soll, gewissermaßen exemplarisch, lediglich der Blickwinkel des operativen Konstruktivismus, wie ihn Niklas Luhmann einnimmt, ausführlich behandelt werden[1].
1.1 Allgemeine Grundannahmen des Konstruktivismus
Der Konstruktivismus als Erkenntnistheorie für kognitive Systeme geht davon aus, dass die Wahrnehmung der Umwelt ausschließlich auf kognitiver Konstruktion[2] beruht.
Die Wirklichkeit zerfällt somit in unzählige Lebens- und Erfahrungswirklichkeiten einzelner Individuen (oder zahlenmäßig größerer sozialer Subgruppen). Die 'Wirklichkeit' oder die 'Realität' ist nicht als gegeben zu betrachten, sondern als Ergebnis subjektabhängiger Konstruktionsprozesse. Demnach gibt es keine 'objektive Wirklichkeit', also keine allgemeingültigen Strukturen der 'Wirklichkeit' bzw. der 'Welt'[3]. Jeder Mensch (bzw. jede Gesellschaft oder sonstige soziale Subgruppierung) erzeugt sich durch seine/ihre kognitiven Leistungen selbst die 'Welt', in der er/sie lebt. Aus konstruktivistischer Sicht ist die 'Welt', wie wir sie wahrnehmen, also immer nur 'Erfahrungswirklichkeit'.
Der Konstruktivismus stellt keine einheitliche Theorie dar. Es handelt sich dabei vielmehr um einen interdisziplinär geführten Diskurs, der durch Erkenntnisse aus unterschiedlichen (Wissenschafts-) Bereichen beeinflusst wird.
Schon ein kurzer Blick auf die Themen, die im konstruktivistischen Diskurs eine Rolle spielen, genügt um sich ein ungefähres Bild von den vielfältigen Wurzeln dieses Theoriengebäudes machen zu können: Konstruktivismus bedeutet immer die Auseinandersetzung mit den Dichotomien Umwelt und System, organisationeller Geschlossenheit und Strukturdeterminiertheit, Autonomie und Regelung, Selbstorganisation und Selbstreferenz, Beobachten und Unterscheiden.
In einer ersten Grobeinteilung lassen sich vier grundsätzliche Zugangsarten zu konstruktivistischen Hypothesen herauskristallisieren: erstens die biologisch-neurowissenschaftliche Herangehensweise in der Tradition Humberto R. Maturanas und Francisco Varelas; zweitens der Zugang über die Kybernetik nach Heinrich von Foersters; drittens die soziologisch-philosophische Linie wie sie zum Beispiel Niklas Luhmann verfolgt und schließlich die Zugangsweise zu konstruktivistischen Hypothesen über eine neue Lektüre philosophischer und psychologischer Ansätze wie etwa bei Ernst von Glasersfeld[4].
Eine Grundprämisse ist jedoch allen Ansätzen des Konstruktivismus gemein: Erkenntnisgewinn ist als Konstruktionsprozess zu verstehen, wobei 'Wirklichkeit' immer das Produkt dieses Prozesses darstellt; d.h., dass 'Wirklichkeit' nicht ge funden werden kann, sondern von beobachtenden Systemen (wie z.B. menschlichen Individuen oder auch dem Medien-, Wirtschafts- oder Rechts-system etc.) operativ er funden bzw. erzeugt werden muss.[5]
1.2 Niklas Luhmanns konstruktivistisches Wirklichkeitsmodell
Der Sozialwissenschaftler und Systemtheoretiker Niklas Luhmann hat in Anlehnung an den von Humberto R. Maturana und Francisco Varela 1972 geprägten Autopoiesis-Begriff[6] eine Theorie entwickelt, die soziale Systeme (wie z. B. das System der Massenmedien) als selbstreferentiell geschlossen und autopoietisch organisiert betrachtet.
Luhmann vertritt erkenntnistheoretisch die Positionen des operativen Konstruktivismus'. Dieser besagt, dass kognitive Systeme keinen erkenntnisunabhängigen Zugang zur Realität haben; die Erkenntnis der 'Dinge an sich' (sensu Kant), also einer ontologischen Realität, sei unmöglich[7]. Die Anhänger des operativen Konstruktivismus bestreiten jedoch nicht, dass es 'Realität' gibt, sie behaupten aber, dass alle Wahrnehmung der 'Realität' auf einem Konstruktionsprinzip beruht, welches vom jeweiligen kognitiven System selbst nicht wahrnehmbar ist. Das Konstruktionsprinzip von 'Realität' stellt sozusagen den 'blinden Fleck' im Wahrnehmungsapparat des Systems dar. Der Mensch konstruiert sich demnach seine 'Wirklichkeit' ohne zu wissen, wie die 'Außenwelt' jenseits seiner Systemgrenzen real beschaffen ist[8].
Kognitive Systeme (z. B. Menschen) nehmen ausschließlich ihre Erfahrungen von 'den Dingen' wahr, aber nie 'die Dinge' selbst. Die wahrgenommene Wirklichkeit ist also immer konstruierte Wirklichkeit, deren Konstruktionsprinzip dem System verborgen bleibt.
Nichts anderes meint Luhmann, wenn er schreibt, dass alles "was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen [...] wir durch die Massenmedien [wissen]" (Luhmann 1996: 9). "Die Massenmedien erzeugen eine transzendentale Illusion" (Luhmann 1996: 14), was im Kant’schen Sinne nichts anderes heißt, als dass Massenmedien[9] die Voraussetzung der Möglichkeit von Beobachtung der 'Welt' sind und dass dafür überhaupt keine andere Möglichkeit existiert.
Luhmann beabsichtigt mit seiner soziologischen Untersuchung der Massenmedien also nicht eine Untersuchung der 'Verzerrung' der Realität durch die Massenmedien; denn das würde implizieren, dass eine 'objektiv erkennbare Realität' existiert. Dies lehnt Luhmann jedoch ab. Ihm geht es vielmehr um die Untersuchung der Art und Weise wie Massenmedien 'Realität' konstruieren.
Niklas Luhmann setzt unserem alltagssprachlichen Verständnis von Massenmedien ein kontra-intuitives systemtheoretisches Konzept entgegen. Moderne Massenmedien stellen aus seiner Sicht keine Manipulationsinstrumente bestimmter gesellschaftlicher Kreise dar. Vielmehr handelt es sich seiner Meinung nach um ein ausdifferenziertes autopoietisches System, das nach eigenen Funktionsmechanismen die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz und damit seine Selbsterhaltung sichern muss.
Dieses System kann weder seine Umwelt, noch kann umgekehrt die Umwelt das System operativ beeinflussen. System und Umwelt können sich lediglich gegenseitig irritieren und mit systeminternen Operationen auf die Irritation antworten.
Aufgrund der Spezifik des vom Mediensystem benutzten binären Codes Information/Nicht-Information[10] veraltet es ständig und ist gezwungen, fortlaufend 'Überraschungen' zu produzieren um nicht zu kollabieren.
In seiner Funktion als Produzent vereinfachender Schemata zur Realitätskonstruktion entlastet es kognitive Systeme - sprich die Mediennutzer - von der Überforderung durch die gegenwärtige hochkomplexe Gesellschaft. Somit fungiert das System der Massenmedien in der gegenwärtig stark differenzierten und spezialisierten Gesellschaft als Garant für Stabilität.
Auf dieser Grundlage fragt Luhmann nicht, wie das System der Massenmedien die 'Realität' manipuliert, sondern: "Welche Gesellschaft entsteht, wenn sie sich laufend und dauerhaft auf diese Weise über sich selbst informiert?" (Luhmann 1996: 139).
1.2.1 "Ausdifferenzierung als Verdopplung der Realität"
Als Sozialwissenschaftler begibt sich Luhmann sozusagen in die Position eines Beobachters zweiter Ordnung: Er beobachtet, wie die Massenmedien die 'Realität' beobachten.
Einhergehend mit der Ausdifferenzierung des massenmedialen Systems vollzieht sich eine Verdopplung der 'Realität'. Einerseits gibt es die 'Realität' der massenmedialen Technologien: Es wird gedruckt und gelesen, gesendet und empfangen. Diese technischen Operationen betrachtet Luhmann jedoch lediglich als strukturierend und begrenzend für die Massenkommunikation und nicht als Kommunikationsvorgänge im Bereich des Systems der Massenmedien.
Andererseits hält Luhmann die 'Realität' der Massenmedien als das beobachtbar, was für sie oder durch sie für andere als 'Realität' erscheint; das entspricht der bereits erwähnten Vorstellung von der Konstruiertheit jeglicher 'Realität'.
[...]
[1] Weiterhin relevant sind m.E. unter anderem die Positionen des naiven / kritischen Realismus (vgl. Kruse/ Stadler in Merten u.a. 1994: 22ff, Weber in Rusch/Schmidt 1999: 189 ff), sowie die des radikalen Kon- struktivismus (vgl. Schmidt 1992, v. Glasersfeld 1987).
[2] Der Begriff 'Konstruktion' wird dabei häufig missverstanden: während alltagssprachlich mit dieser Bezeich- nung bewusst geplantes, intentionales Handeln (genauer gesagt die Herstellung von etwas) verbunden wird, bezeichnen Konstruktivisten mit diesem Wort Prozesse, in deren Verlauf sich Wirklichkeitsentwürfe heraus- bilden, "und zwar keineswegs willkürlich, sondern gemäß den biologischen, kognitiven und sozialen Bedin- gungen, denen sozialisierte Individuen in ihrer sozialen Umwelt unterworfen sind" (Merten u.a. 1994: 5).
[3] Oder um es mit den Worten Carl Friedrich von Weizsäckers zu sagen: "Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede" (Weizsäcker 1980: 142; zitiert nach Merten u.a. 1994: 594).
[4] vgl. Merten u.a. 1994: 4.
[5] vgl. Luhmann 1996.
[6] Autopoiesis (von griech.: autos = selbst und poiein = machen); Begriff, der ein für alle lebenden Systeme gültiges allgemeines Organisationsprinzip beschreibt: Autopoietische Systeme produzieren die Bauteile und Komponenten, aus welchen sie bestehen, selbst, bzw. erzeugen durch ihre Operationen permanent ihre eigene Organisation. Das heißt, dass die Komponenten in einem zirkulären Prozess in der Weise miteinander interagieren, dass ständig die Bauteile neu erzeugt werden, die zur Erhaltung des Systems gerade notwendig sind. Durch diese organisationelle Geschlossenheit sind autopoietische Systeme völlig autonom in Bezug auf ihre Umwelt, wobei sie jedoch gleichzeitig mit anderen autopoietischen Systemen durch strukturelle Kopp- lung in Kontakt stehen und sich gegenseitig als 'Umwelt' dienen. Bezogen auf das Mediensystem bedeutet Autopoiesis: "Reproduktion von Kommunikation aus Resultaten der Kommunikation" (Luhmann 1996: 150).
[7] Siegfried J. Schmidt nennt dieses Phänomen "die Unhintergehbarkeit subjektiver Wahrnehmung" (Merten u.a. 1994: 6).
[8] vgl. Luhmann 1996: 17 ff sowie 162.
[9] Der Begriff 'Massenmedien' umfasst nach Luhmanns Definition "alle Einrichtungen der Gesellschaft [...], die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. Vor allem ist an Bücher, Zeitschriften, Zeitungen zu denken, die durch die Druckpresse hergestellt werden; aber auch an photographische oder elektronische Kopierverfahren jeder Art, sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen" (Luhmann 1996: 10).
[10] Ein binärer Systemcode besitzt prinzipiell einen positiven und einen negativen Wert und schließt dritte Mög- lichkeiten kategorisch aus. Im Fall des Mediensystems lautet dieser Code Information / Nicht-Information. Sämtliche Kommunikationen, die an das Mediensystem herangetragen werden, werden ausschließlich nach diesem Code beurteilt: Ist etwas informativ oder nicht? Zwar verarbeiten alle Systeme die sie interessieren- den Informationen und hinterlassen Nicht-Information, im Mediensystem ist diese Unterscheidung jedoch die Leitdifferenz, welche die Zugehörigkeit zum System absteckt. Die Besonderheit dieses Information/ Nicht-Information-Codes gegenüber Codes anderer Systeme besteht darin, dass er das System ständig veraltet. Eine Information kann nur ein einziges Mal genutzt werden. Bei einer zweiten Verwendung han- delt es sich nicht mehr um einen Informationswert. Das Mediensystem zeichnet sich also dadurch aus, dass seine Operationen ständig Information in Nicht-Information verwandeln. Somit führt das System seinen eigenen Output - nämlich die Information - auf der Negativseite als Input wieder ein - sozusagen als bereits Bekanntes, als Nicht-Information - und zwingt sich selbst, ständig für Nachschub an Information zu sorgen. Einmal gebrachte Informationen müssen als bekannt vorausgesetzt, gewissermaßen als Basis benutzt wer- den, um daran neue Informationen anschließen zu können (vgl. Luhmann 1996: 35ff ).
- Quote paper
- Sabine Braun (Author), 2001, Mediale Wirklichkeitskonstruktion am Beispiel des Trash-TV-Formats BIG BROTHER, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3295