„Das Groteske entwickelt sich in Kafkas Umformungen zu dem eigentlichen Pendant des Märchenhaften. Aufgebaut aus der gleichen Mischung von Realem und Phantastischen, erzählt aus der gleichen Einsinnigkeit der Perspektive, bedient es sich der Harmonie jener Erzählgattung, um den Leser aus der Illusion einer im Kunstwerk erstellten, heilen Welt zu reißen, ihm den `Boden unter den Füßen` wankend zu machen und das Gefühl der Unsicherheit gegenüber der bekannten Weltordnung hervorzurufen.“
Kafkas Erzählungen und Romane stimmen nicht mit der Welt überein, die wird durch unsere Sinne wahrnehmen. In seinen Werken treten sprechende und sich verwandelnde Tiere in Erscheinung. Diese Tierverwandlungen sind häufige Märchenmotive und auch Kafkas Erzählungen erscheinen in manchen Zügen fast wie ein Märchen. In der Sorge des Hausvaters erinnert Odradek z.B. an die Gestalt des Zwergs in manchen deutschen Märchen und auch die Erzählung Ein Landarzt enthält märchenhafte Züge. Denn Kafka hat in seinen Werken Figuren entwickelt, die aus dem Reich der Menschen, Tiere und Dinge entstammen. Er entstellt mit dieser Figurenkonzeption das Vertraute und macht das Fremde für uns unheimlich. Daher ist sehr verständlich, dass seine Texte immer wieder als Märchen eingeordnet werden und manchen Deuter dazu verleiten, dem rätselhaften Vorgang auf die Spur kommen zu wollen. Folglich gibt es über die motivlichen und strukturellen Parallelen zwischen dem Märchen und den Erzählungen Kafkas sehr verschiedene Untersuchungen, die sich aber oft ins allzu Fragliche und Abstrakte verlieren.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1) Die Gattung des Märchens
2) Der märchenhaft anmutende Vorgang der Verwandlung
2.1) Der Erzählanfang
2.2) Gregors Degradation ins Tierische
2.3) Die Schwester als Sinnbild für Gregors Erlösungssehnsucht
Ausblick
Literatur
1) Primärliteratur
2) Sekundärliteratur
Einleitung
„Das Groteske entwickelt sich in Kafkas Umformungen zu dem eigentlichen Pendant des Märchenhaften. Aufgebaut aus der gleichen Mischung von Realem und Phantastischen, erzählt aus der gleichen Einsinnigkeit der Perspektive, bedient es sich der Harmonie jener Erzählgattung, um den Leser aus der Illusion einer im Kunstwerk erstellten, heilen Welt zu reißen, ihm den `Boden unter den Füßen` wankend zu machen und das Gefühl der Unsicherheit gegenüber der bekannten Weltordnung hervorzurufen.“[1]
Kafkas Erzählungen und Romane stimmen nicht mit der Welt überein, die wird durch unsere Sinne wahrnehmen. In seinen Werken treten sprechende und sich verwandelnde Tiere in Erscheinung. Diese Tierverwandlungen sind häufige Märchenmotive und auch Kafkas Erzählungen erscheinen in manchen Zügen fast wie ein Märchen. In der Sorge des Hausvaters erinnert Odradek z.B. an die Gestalt des Zwergs in manchen deutschen Märchen und auch die Erzählung Ein Landarzt enthält märchenhafte Züge. Denn Kafka hat in seinen Werken Figuren entwickelt, die aus dem Reich der Menschen, Tiere und Dinge entstammen. Er entstellt mit dieser Figurenkonzeption das Vertraute und macht das Fremde für uns unheimlich. Daher ist sehr verständlich, dass seine Texte immer wieder als Märchen eingeordnet werden und manchen Deuter dazu verleiten, dem rätselhaften Vorgang auf die Spur kommen zu wollen. Folglich gibt es über die motivlichen und strukturellen Parallelen zwischen dem Märchen und den Erzählungen Kafkas sehr verschiedene Untersuchungen, die sich aber oft ins allzu Fragliche und Abstrakte verlieren.[2]
Kafkas märchenhaft anmutenden Erzählungen rücken jedoch von der etablierten und nach Jolles benannten `einfachen Form` des Märchens ab.[3] Sie stimmen ausnahmslos nicht mit der `naiven Moral` des Märchens überein. Denn in den Kafkaschen Märchen wird der Protagonist am Ende nicht erlöst. Es findet keine Rückverwandlung statt. Nach Jolles werden demnach die Erwartungen und Anforderungen, die der Leser an eine gerechte Welt gemäß des Märchens stellt, nicht erfüllt. Die märchenhaften Erzählungen Kafkas beziehen eine unmoralische Wirklichkeit der Welt als charakteristisches Strukturelement mit ein. Das bedeutet, dass sich zumeist in der Hauptfigur oder den anderen Personen, die sich in ihrem realem Verhalten oft als unmärchenhaft erweisen, ein Strukturprinzip kontrastiert, das der naiven Glückswelt des Märchens entgegengesetzt ist. Bei Jolles werden Kafkas märchenhaft anmutenden Erzählungen somit zum `Antimärchen`.[4]
Das Motiv der Verwandlung ist so alt wie die Märchen selbst. Am berühmtesten sind die Metamorphosen des Ovids. Dieser schildert den Akt der Verwandlung an sich, Kafkas Erzählungen setzen erst nach der Verwandlung des Helden ein und es werden im Laufe der Erzählung Leben und Schicksal des Verwandelten geschildert. Gemeinsam ist beiden aber das Muster der Bestrafungsverwandlung. In der Antike sind es die Götter, die die erniedrigenden Mächte darstellen, in den Märchen oft unbekannte Schicksalsmächte, bei Kafka ist es ebenfalls stets eine anonyme Macht.
Eine zentrale Stellung nimmt das Verwandlungsmotiv im Märchen ein. Häufig verwandelt sich ein Mensch in ein Tier und die Rückverwandlung findet durch eine menschliche Erlösung statt. Man denke z.B. an die Rückverwandlung des verzauberten Prinzen im Froschkönig: Die Prinzessin gibt ihre Ablehnung dem väterlichen Wunsch gegenüber auf und nimmt das Tier an. Die von außen ausgelöste Rückverwandlung eines zum Tier verwandelten Menschen findet sich auch in dem Märchen Die Schöne und das Biest.[5]
Kafka kannte die Grimmschen Märchen gut. Gelegentlich benutzte er auch Märchen, Volkssagen oder E.T.A. Hoffmanns Nachtstücke als Quellen, durch die er auch einen Anschluss an Ovids Metamorphosen gewann. Nach Max Brods Erinnerung habe Kafka eine Neigung zu „phantastischen Märchen“[6] besessen. Dies ist jedoch kritisch aufzunehmen, denn Kafka stand dem Märchen auch sehr skeptisch gegenüber. Dies geht aus seiner Tagebucheintragung hervor, die er sich infolge seiner Urlaubsbekanntschaft mit einer jungen Schweizerin in Riva notierte: „Gerne wollte ich Märchen (warum hasse ich das Wort so?) schreiben, die der W. gefallen können.“[7] Wichtige Ideen für seine märchenhaften Erzählungen könnte Kafka auch aus der religiösen Tradition und der Volkskultur des Ostjudentums erhalten haben. Durch seine Begegnung mit dem jiddischen Theater in Prag in den Jahren 1910-1912 erhielt Kafka, vor allem durch den Schauspieler Jizchak Löwy, wichtige Einblicke in ihre Mythen und Märchen.[8]
Die Verwandlung, die zu den berühmtesten übernatürlichen Erzählungen des 20. Jahrhunderts zu zählen ist, in Bezug zum Märchen zu setzen, liegt nahe, wenn man die groben Handlungspunkte dieser Erzählung betrachtet. Eine einzelne Person wird von einem schweren Schicksal getroffen und muss versuchen, sich so gut wie es nur geht, mit dieser Situation zu arrangieren. Aber im Sinne der Märchenstruktur wird Gregor Samsa nicht von seiner Metamorphose erlöst, weshalb man die Verwandlung auch als Antimärchen betrachtet hat. Aber der Begriff ´Antimärchen` ist nur in Bezug auf die bekannten Grimmschen Märchen sinnvoll, denn viele außereuropäischen Volksmärchen, wie etwa die auch Kafka bekannte chinesischen, kennen auch das tragische Ende des Helden.[9]
Die Verwandlung löste eine Flut von Deutungsversuchen aus. Hinsichtlich der motivlichen und strukturellen Parallelen zum Märchen gibt es auch einige Untersuchungen, die jedoch jeweils nur einzelne Aspekte aufgreifen, die Verwandlung nicht Schritt für Schritt mit den Merkmalen des Märchens vergleichen. Wieses Interpretation der Verwandlung stellt einen der ersten Versuche dar, von der Ausdrucksweise des Grotesken aus eine erhellendere Einsicht in die Erzählung zu bringen. Denn hier wird auf die unerbittliche Realität des Verwandlungsfaktums hingewiesen.[10] Heselhaus prägt nach Jolles den Begriff des `Antimärchens` für die Verwandlung. Für ihn ist das Antimärchen die literarische Form des Protestes gegen das Leben in der Moderne.[11] Kreis sieht die Verwandlung als eine Art Kontrafaktur zu Hänsel und Gretel[12] und sowohl Kassel als auch Fingerhut beziehen den Begriff `Antimärchen` auf die getäuschte Leseerwartung. Kafka benutze eine Kontrafaktur des Märchens, um gängige Klischeevorstellungen seiner Leser progressiv zu zerstören.[13]
Im Rahmen dieser Arbeit sollen die strukturellen Merkmale des Volksmärchen mit denen der Verwandlung verglichen werden, um die Frage zu beantworten, ob Kafka sich hier bewußt der Gattung des `Märchens` bedient und ob in der märchenhaften Einkleidung das brutale Faktische des Antimärchens gemeint ist. Im ersten Teil der Arbeit wird die Strukturfolie des Märchens herausgearbeitet, um sie dann im zweiten Teil der Arbeit auf die Verwandlung anzuwenden. Hier soll nun in drei Schritten die märchenhaften Elemente der Erzählung untersucht und die Frage beantwortet werden, ob die Schwester als Sinnbild für Gregors nicht erfüllte Erlösungssehnsucht stehen kann. Ist es Gregors Schwester, die die märchenhaft anmutende Erzählung ins grotesk Reale führt oder ist die Verwandlung vom ersten Satz an von antimärchenhaften Elementen durchtränkt?
1) Die Gattung des Märchen
„Das Märchen [...] ist eine Kunstform und zwar eine Kunstform, in der sich zwei entgegengesetzte Neigungen der menschlichen Natur, die Neigung zum Wunderbaren und die Liebe zum Wahren und Natürlichen, vereinigen und als solche gemeinsam befriedigt werden können.“[14]
Das Geheimnis des Märchens ruht nicht in den Motiven, die es verwendet, sondern in der Art, wie es sie verwendet. Die Form des Märchens erwächst nicht aus dem Stoff wie etwa die Sage oder die Legende, in denen eine wirkliche oder eine geglaubte Tatsache formuliert wird. Das Märchen stellt sich vielmehr einer Welt der Wirklichkeit gegenüber und besitzt keine räumlichen oder zeitlichen Bezüge. Denn sobald das Märchen historisch tatsächliche Züge erhält, büßt es etwas von seiner Kraft ein. Denn „ die formende Gesetzlichkeit des Märchens [...] ist so, daß, wo immer wir es in die Welt hineinsetzen, die Welt sich nach dem nur in dieser Form obwaltenden und nur für diese Form bestimmenden Prinzip umwandelt.“[15] Das Märchen ist folglich stets eine moralische Erzählung, in der jede tugendhafte Tat belohnt und jeder Fehler bestraft wird. Die Erwartung, wie es eigentlich in der Welt zugehen müßte, scheint uns für die Form des Märchens elementar zu sein.[16]
Nach Jolles muss es jedoch auch ein `tragisches Märchen`- ein Antimärchen – geben. Das Prinzip des Märchens bestehe darin, dass am Ende jedes Märchens die Welt in das vom Leser erwartete Gleichgewicht zurückgebracht werde. Das Glück des Märchenhelden wird um so vollkommener, je schwieriger und quälender der Weg zum Glück war und je ernsthafter die Konfliktsituation waren, die der Held vorher durchlaufen mußte. In der märchenhaften Welt ist das schließliche Gelingen nach allen Anstrengungen gewiss. Dieses Prinzip bezeichnet Jolles auch als die `Geistesbeschäftigung` des Märchens. In der Form des Märchens ergebe sich nun eine Doppelwirkung dieser `Geistesbeschäftigung` und somit sei ein Märchen mit schlechtem Ausgang auch nicht widersprüchlich. Denn „im Märchen kann sowohl das Tragische hineingestellt als auch aufgehoben werden.“[17] Die moralische Erzählung arbeite nicht nur mit dem glanzvollen Ideal, sondern auch mit dem abschreckenden Beispiel.[18] Sogar in der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm, die dem Märchen erst seine Bedeutung als Name für eine bestimmte literarische Form gegeben hat, finden sich einzelne Märchen mit einem nicht erlösenden Ende.[19]
Die Ausgangslage des europäischen Märchens ist von einem Mangel oder einer Notlage gekennzeichnet. Eine Schwierigkeit tritt auf, die bewältigt werden muss. Kampf, Sieg, Aufgabe und Lösung sind Kernvorgänge des Märchengeschehens. Das Märchen thematisiert allgemein den Widerstreit von Schein und Sein, verkehrt die Situation ins Gegenteil und der Kleine/Schwache siegt über den Großen/Starken. Diese Handlungsverläufe werden begleitet von Paradoxa und Ironien. Das Märchen ist sehr handlungsfreudig – seine Geschichte schreitet sehr schnell voran. Die Figuren und Requisiten werden nur knapp benannt. Die Figuren haben typische kontrastierende Eigenschaften wie gut – böse, schön – häßlich, schlau – dümmlich und die Verwandlungen von sprechenden Tieren und Pflanzen, von Zwergen, Riesen, Hexen und Feen treten in einer naiven Selbstverständlichkeit auf. Beschreibungen und Schilderungen der Umwelt oder Innenwelt seiner Gestalten sind eher selten. Der Handlungsverlauf des Märchens ist sehr linear geführt und es herrscht auch eine Vorliebe für reine Farben und Linien – für alles klar Ausgeprägtes überhaupt. Die Handlung des Märchens wird auch nicht von innen gelenkt, sondern stets von außen und findet räumlich in einem unbestimmten Bereich zwischen Wirklichkeit und Zauberwelt statt.[20]
[...]
[1] Karl-Heinz Fingerhut: Die Funktion der Tierfiguren im Werke Franz Kafkas, Bonn 1969, S. 167.
[2] Vgl. u.a. Rudolf Kreis: Die doppelte Rede des Franz Kafka, Paderborn 1976; Dieter Hasselblatt: Zauber und Logik. Eine Kafka-Studie, Köln 1964.
[3] Vgl. Andre Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen6 1982, S. 202.
[4] Vgl. ebd. S. 240-244.
[5] nach `La Belle et la bête` von Gabrielle-Suzane Barbot de Villeneuve, 1740.
[6] Max Brod: Über Franz Kafka. Franz Kafka, eine Biographie – Franz Kafkas Glauben und Lehre – Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas, Frankfurt a.M./Hamburg 1966, S. 43.
[7] Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, Frankfurt a.M. 1951, S. 323 f.
[8] vgl. zu diesem Abschnitt Peter Beicken: Franz Kafka Die Verwandlung. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1983, S. 77 f.
[9] vgl. Hartmut Binder: Motiv und Gestaltung bei Franz Kafka, Bonn 1966, S. 56.
[10] Vgl. Benno v. Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Interpretationen, Bd. 2, Düsseldorf 1962, S. 326-330.
[11] Vgl. Clemens Heselhaus: Kaflas Erzählform. In: Deutsche Vierteljahresschrift für de Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 26 (1952), S. 351-376.
[12] Vgl. Kreis (Anm. 2).
[13] Vgl. Norbert Kassel: Das Groteske bei Franz Kafka, München 1969; Fingerhut (Anm. 1).
[14] Jolles (Anm. 3) S. 230.
[15] Ebd. S. 233.
[16] Vgl. ebd. S. 233-242.
[17] Ebd. S. 242.
[18] Vgl. ebd. S. 242 ff.
[19] Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden4 1979, S. 46.
[20] Vgl. Max Lüthi: Märchen, Stuttgart8 1990, S. 25-29.
- Arbeit zitieren
- Julia Hermanns (Autor:in), 2004, Franz Kafka - Die Verwandlung - Ein Antimärchen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32497
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