Der Generationenkonflikt, besonders die Auseinandersetzung der Söhne mit ihren Vätern, ist ein zeitloses Motiv der Literaturgeschichte. Diese Tradition geht schon auf die frühe Literatur zurück. In der griechischen Mythologie sind eindeutige Spuren schon zu erkennen: Die Familiengeschichte von Zeus ist eine Geschichte des Generationenkonflikts.
Kronos, der Vater von Zeus, entmannte seinen eigenen Vater Uranos, um Herrscher der Titanen zu werden. Zeus, der spätere oberste Gott von Olymp, musste mit Kronos kämpfen, um zuerst ein Unterhaltsrecht und später die Herrschaft über die Welt zu erringen. Aus Angst, selbst von seinen eigenen Kindern entmachtet zu werden, fraß Zeus seine schwangere Gattin Metis auf, denn ein Orakel hatte ihn geweissagt, dass eine Tochter der Metis ihm gleichrangig wäre und ein Sohn würde ihn stürzen. Nicht zu vergessen die Ödipus-Erzählung, die als klassisches Motiv für einen Vater-Sohn-Konflikt steht. Dieser muss sich wegen seines Vatermords von Psychologen, Philosophen und Literaten über Generation aus der jeweiligen fachlichen Sicht interpretieren lassen. Auch Martin Opitz empfahl 1624 in seinem Buch von der deutschen Poeterey, dass der Mord an Kindern und Vätern besonders wirksame Themen für Dramatiker ist. In der Zeit von Sturm und Drang gewann der Kampf zwischen rebellischen Söhnen und autoritären Vätern sogar epochale Bedeutung, denn „in der Literaturgeschichtsschreibung ist es allgemein üblich, den Sturm und Drang unter dem Gesichtspunkt einer Generationserscheinung zu sehen [...].“
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ein Generationendiskurs im Schatten des zweiten Weltkriegs
2.1 Theoretisch: zum Begriff der Generation
2.2 Generationentypen und der Zweite Weltkrieg
2.2.1 Die Kriegsgeneration
2.2.2 Die Nachkriegsgenerationen
2.2.2.1 die zweite Generation
2.2.2.2 die dritte Generation
2.3 Text statt Gespräch - Über das beschädigte Kommunikationsschema zweier Generationen
3. Die Schuldfragen
3.1 Zum Verständnis der Schuldfrage
3.2 Die kollektive Verleugnung der deutschen Schuld
3.3 Die zweite Generation und die zweite Schuld
4. Konflikt mit dem fremden Vater aus dem dritten Reich - Christoph Meckel „Suchbild. Über meinen Vater“
4.1 Eberhard Meckel: biographische Vorkenntnisse
4.2 Vater-Sohn-Konflikte auf der familiären Ebene
4.2.1 Zerfall des Halbgott-Images
4.2.2 Vater als fremder Eindringling
4.3 Vater-Sohn-Konflikte auf der gesellschaftspolitischen Ebene
4.3.1 Die Entdeckung des unbekannten Vaters im Dritten Reich
4.3.2 Suche nach Vaterspuren - Sohn als Ankläger und Richter
4.4 Fazit:Suchbild im Rahmen der Väterliteratur
5. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte über die Nazi- Vergangenheit --- Uwe Timms am Beispiel meines Bruders
5.1 Motive für Timms Spurensuche
5.2 Timms Konflikt mit Eltern und Bruder im Bereich des Familiengedächtnisses
5.2.1 Das Bruder-Bild in dem Familiengedächtnis
5.2.2 Timms Auseinandersetzung mit den Leerstellen im Familiengedächtnis
5.3 Timms Konflikt mit Vorurteilsstruktur in der Familie
5.3.1 Tätersprache
5.3.2 krankes Denkmuster
5.4 Fazit: Timms Werk im Vergleich zur Väterliteratur
6. Konklusion
7. Biographie
1. Einleitung
Der Generationenkonflikt, besonders die Auseinandersetzung der Söhne mit ihren Vätern, ist ein zeitloses Motiv der Literaturgeschichte. Diese Tradition geht schon auf die frühe Literatur zurück. In der griechischen Mythologie sind eindeutige Spuren schon zu erkennen: Die Familiengeschichte von Zeus ist eine Geschichte des Generationenkonflikts. Kronos, der Vater von Zeus, entmannte seinen eigenen Vater Uranos, um Herrscher der Titanen zu werden. Zeus, der spätere oberste Gott von Olymp, musste mit Kronos kämpfen, um zuerst ein Unterhaltsrecht und später die Herrschaft über die Welt zu erringen. Aus Angst, selbst von seinen eigenen Kindern entmachtet zu werden, fraß Zeus seine schwangere Gattin Metis auf, denn ein Orakel hatte ihn geweissagt, dass eine Tochter der Metis ihm gleichrangig wäre und ein Sohn würde ihn stürzen. Nicht zu vergessen die Ödipus-Erzählung, die als klassisches Motiv für einen Vater-Sohn-Konflikt steht. Dieser muss sich wegen seines Vatermords von Psychologen, Philosophen und Literaten über Generation aus der jeweiligen fachlichen Sicht interpretieren lassen. Auch Martin Opitz empfahl 1624 in seinem Buch von der deutschen Poeterey, dass der Mord an Kindern und Vätern besonders wirksame Themen für Dramatiker ist1. In der Zeit von Sturm und Drang gewann der Kampf zwischen rebellischen Söhnen und autoritären Vätern sogar epochale Bedeutung, denn „in der Literaturgeschichtsschreibung ist es allgemein üblich, den Sturm und Drang unter dem Gesichtspunkt einer Generationserscheinung zu sehen [...].“2
Das literarische Werk ist hierbei zugleich der Ort und das Medium des Kampfs, den die Väter und Söhne führen.3 Bei einem Überblick über die Literaturgeschichte solcher Kämpfe fällt eines sofort auf: in den literarischen Werken wird immer nach dem Anlass des Konflikts gefragt, allerdings wird diese Frage in verschiedenen literaturgeschichtlichen Epochen jeweils anders beantwortet:
Im 16. Jh. beispielsweise legten die meisten Autoren besonderes Gewicht auf die Autorität des Vaters und wiesen dem Sohn die Rolle des respektlosen, arglistigen und bösartigen Gegenspielers zu. Im Sturm und Drang vertritt der Sohn den Geist der revolutionären Erneuerung; im Naturalismus werden Vererbung und Milieu zur Grundlage der Konfliktsituation[...]4
Wenn diese Frage dann mit dem Ende des Nationalsozialismus des Dritten Reichs verknüpft wird, wird es noch komplexer. Während die üblichen Generationenkonflikte dem alten Schema folgten, dass die junge Generation, die zu Selbstständigkeit herangereift ist, von der Tyrannei des Vaters unterdrückt wird, während sie von ihrem eigenem Trieb, von den sogenannten gesellschaftlichen Verhältnissen und Konventionen gequält und nach unbedingter Freiheit und Entfaltung trachtet, stellt sich die Problematik der Nachkriegsgeneration als Verstrickungen in die Vergangenheit und die Schuld ihrer Vatergeneration dar, die neben allen Grundkonstellationen des Vater-Sohn-Konflikts noch die psychische Frage der posttraumatischen Belastungsstörung und die moralisch-ethische Frage der Kollektivschuld einschließt.
Gerade wie die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts von keinem anderen historischen Ereignis so nachhaltig geprägt wurde wie vom Zweiten Weltkrieg, hat die Auseinandersetzung mit den Komplexen Faschismus und Krieg die Form und den Charakter der deutschen Literatur seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wie kein anderes Thema geprägt. Der Ursprung der Nachkriegsliteratur, so Norbert Elias, besteht in:
Kollektiven traumatischen Erfahrungen, die tief in den psychischen Haushalt von Mitgliedern (des Volkes) einsinken und dort schweren Schaden anrichten[...] wenn man ihnen die Möglichkeit einer kathartischen Bereinigung und der damit verbundenen Erleichterung und Befreiung versagt.5
Die höchst schwierige Aufgabe der Aufarbeitung des Nationalsozialismus übernahm zuerst die Nachkriegsliteratur. Die deutschsprachige Nachkriegsliteratur hat den Nationalsozialismus in all seinen Dimensionen zu ihrem wichtigsten Thema gemacht und hat damit „durchaus ihre Aufgabe als gesellschaftliche und politische Leitfunktion erfüllt.“6 Während sie in den 1950er und 60er Jahren sich hauptsächlich als das moralisierende und anklagende Instrument der Schriftsteller darstellte, wurde der Schwerpunkt seit den 70er Jahren auf den alltäglichen und familiären Faschismus gelenkt. Den Anfang machte Bernward Versper, der in dem Romanessay Die Reise (1977) seinen verzweifelten Loslösungsversuch von seinem Nazi-Vater beschreibt. Auf Versper folgt Ruth Rehmanns Der Mann auf der Kanzel (1979), Gauchs Vaterspuren (1979), Günter Seurens Abschied von einem Mörder(1980), Christoph Meckels Suchbildüber meinen Vater (1980) und weitere mehr. In der sogenannten Väterliteratur kam es erstmals zum Generationenkonflikt mit dem Akzent auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Literaturen, die in Form der Familiengeschichte Reflexion über die Zeit von 1933 bis 1945 anstellt, erscheinen seitdem stetig. Darüber urteilt Aleida Assmann wie folgt:
In der neueren deutschen Generationenliteratur, die sich auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust bezieht, sind soziale Generationen und Familie-Generationen eng miteinander verkoppelt. Das bedeutet, dass historische Akteure immer zugleich durch das Prisma der Familiengenerationen gesehen werden als Väter, Brüder, Großeltern. In dieser konsequenten Zusammenbindung von Geschichte, Gesellschaft und Familie liegt der Reiz und das besondere Potenzial jener Text[...].7
Dieser Trend der Väterliteratur setzt sich trotz der Diskussion über das Ende der Nachkriegsliteratur in der deutschen Gegenwartsliteratur Mitte der 90er Jahre bis heute weiter fort. Bernhard Schlinks 1995 erschienener Roman Der Vorleser, der sowohl national als auch international erfolgreich ist, dient hier als gutes Beispiel. Joachim Garbe kommentiert dies so: „[...] es sieht eher so aus, als entstehe nun nach dem ´Ende der Nachkriegszeit´ eine neue Nachkriegsliteratur, die stärke polarisiert ist und damit eindeutige Positionen zur deutschen Geschichte bezieht.“8
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, den Generationenkonflikt als Motiv in der deutschen Nachkriegsliteratur zu analysieren. Exemplarisch werden hierfür die Werke Suchbild.Über meinen Vater von Christoph Meckel, Jahrgang 1935 und Am Beispiel meines Bruders von Wallstein-Verl., 1993. S.76.
Uwe Timm, Jahrgang 1940, analysiert. Die Frage, was für ein Kommunikationsschema zwischen der Kriegsgeneration und der Nachkriegsgeneration besteht und wie es zum Konflikt der zwei Generationen kommt, bestimmt den Hauptteil dieser Arbeit. Als erster Schritt soll der Generationsbegriff in Verbindung mit dem Zweiten Weltkrieg erläutert werden. In diesem Teil gibt es sowohl eine terminologische Einführung als auch eine Skizze der Generationstypen und ihren jeweiligen Umgang mit dem Krieg. Ein beschädigtes Kommunikationsschema zwischen zwei Generationen wird ebenfalls umrissen. Im nachfolgenden Abschnitt wird dann die Schuldfrage erklärt, die sich als ein wichtiger Anlass für den Konflikt zwischen Kriegsgeneration und Nachkriegsgeneration darstellt. Danach wird dieser Konflikt anhand zweier ausgewählter Texte ausführlich analysiert.
2. Ein Generationendiskurs im Schatten des Zweiten Weltkriegs
2.1 Theoretische Vorüberlegung: Zum Begriff der Generationen
Obwohl das Wort „Generation“ in etymologischer Hinsicht auf das griechische genos (Geschlecht) und das lateinische generatio (Zeugung) zurückgeht, beschränkt es sich bei seiner Verwendung nicht auf das biologische Gebiet. Schon seit dem späten 18. Jh. ließ sich eine steigende Frequenz in der Verwendung des Generationsbegriffs im Rahmen der geschichtsphilosophischen Spekulation und dem fortschrittsideologischen Diskurs beobachten. Gegen Ende des 19. Jh. rückten die Bedeutung und die Pragmatik dieses Wortes „Generation“ bereits innerhalb der Kulturwissenschaft in den Mittelpunkt. Daneben wurde er zunehmend als soziale Terminologie begriffen und schließlich entwickelte er sich mit der Veröffentlichung von Karl Mannheims Aufsatzes Das Problem der Generationen zu einem der soziologischen Grundbegriffe. Die vorliegende Arbeit verwendet den Generationsbegriff unter dem soziologischen Gesichtspunkt.
In seinem paradigmatischen Aufsatz macht Karl Mannheim klar, dass unter dem Begriff „Generation“ eine Gesamtheit der Menschen ungefähr gleicher Altersstufe und mit ähnlicher sozialer Orientierung sowie Lebensauffassung zu verstehen ist. Daneben weist er noch auf ein anderes unentbehrliches Element hin:
Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altgewordensein konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raum, sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit, an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art des Bewusstseins aus dies zu tun.9
Karl Mannheim meint, dass die Jahrgangszugehörigkeit sich nur als Ausgangspunkt für eine generationale Bestimmung darstellt, die verschiedene Faktoren beansprucht. Die Generationsgemeinschaft ist erstens eine auf altersspezifische Erlebnisschichtung basierende Gemeinschaft, in der Ereignisse aus derselben Bewusstseinsschichtung wahrgenommen werden.10 Zweitens soll der Generationsbegriff ein gesellschaftlicher Kollektivitätsbegriff sein, der „neben Stand, Schicht und Klasse den Rang einer sozialkulturellen Ordnungskategorie für sich beansprucht.“( Ulrike Jureit/ Michael Wildt)11 Drittens soll der Begriff „Generation“ eine Identität enthalten. Die Angehörigen einer Generation müssen sich eine für sie charakteristische Art des Denkens, Fühlens und Handelns entwickeln. Zuletzt soll eine Generation einem bestimmten individuellen und kollektiven Wahrnehmungs- und Deutungsmuster folgen und wird schließlich dadurch spezifischen gesellschaftlich relevanten Handlungen zugeführt, die mit ihrer Generationszugehörigkeit eng verbunden sind.12 So wie Jureit und Wildt in ihrem Aufsatz Generationen zusammenfassen: „Identitätskonstruktion, Kollektivbezug, Erfahrungsgemeinschaft und Handlungsrelevanz - diese vier Aspekte charakterisieren die Rede von den `Generationen`.“13
Dort stellen Jureit und Wildt die These der Tragfähigkeit der Generation auf:
Als tragfähig hat sich die Differenzkategorien „Generation“ häufig erwiesen, wenn historische Großereignisse den Grenzwert bestimmen. Eine „politische Generation“ formuliert das eigene Selbstverständnis auf der Grundlage ihres altersspezifischen Erlebens von einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Geschehnissen und grenzt sich dadurch scharf von den älteren Generationen ab, die dasselbe Ereignis auf andere Weise wahrnehmen.14
An große historische Ereignisse können sich mehrere Generationen herausbilden. Mannheim entsprechend ergeben sich Generationen vor allem aus einer „verwandten Lagerung“15, mit anderen Worten, auf der Basis der gemeinsamen Teilnahme an einem bestimmten Abschnitt des Geschichtsprozesses. Auch Gabriele Rosenthal betont:
Um eine Generation bestimmen zu können, müssen wir also rekonstruieren, vor welchem Erfahrungshintergrund, zu welchem Zeitpunkt der Lebensgeschichte prägende Erlebnisse gemacht wurden, die die Biographin und der Biographen mit anderen Biographinnen und Biographen verbinden bzw. trennen und in welchen interaktiven Prozessen mit welchen Generationen die Angehörigen bestimmter Geburtsjahrgänge standen und stehen.16
Das heißt, dass Menschen, die vor und nach einem bestimmten welthistorischen Ereignis geboren wurden, sich in Einstellungen, Lebensstile und Verhaltensweisen unterscheiden und zu differenten Generationen ordnen können. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Weltkrieg das zentrale Beispiel in der sozialwissenschaftlichen Forschung für den Zusammenhang von gesellschaftlichen Totalereignissen und Generationenbildung bleibt17:
Wie keine andere Phase des 20. Jahrhunderts waren die folgenden Nachkriegsjahre davon geprägt, mittels des Begriffs der Generation die unterschiedlichen Erfahrungen von jüngeren und älteren Soldaten sowie jenen zu beschreiben, die zu jung waren, um eingezogen zu werden, den Krieg aber als Kinder und Jugendliche erlebt hatten.18
Wie Wolfgang Schmidbauer lakonisch in dem Buchtitel seines Werk Ein Land - dreiGenerationen. Psychogramm der Bundesrepublik 19 zeigt, ergibt sich ausgehend von dem Zweiten Weltkrieg eine Abfolge von drei Generationen. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an diesem Muster, denn es entspricht der Generationsabfolge in den zu untersuchenden Werken von Christoph Meckel und Uwe Timm.
Im nächsten Teil wird versucht, einen Umriss dieser drei Generationen zu skizzieren.
2.2 Generationentypen und der Zweite Weltkrieg
2.2.1 Die Kriegsgeneration (Die erste Generation)
Diese Kriegsgeneration beruht auf den Geborenen zwischen 1906 und 1920. Ihr gemeinsamer Erfahrungshintergrund vor dem Zweiten Weltkrieg umfasst frühe Kindheit während des Ersten Weltkriegs sowie Kindheit und Jugend während der ökonomischen Krisen wie Inflation (1923) und Weltwirtschaftskrise (1929). Kurz gesagt, ihre Erfahrungen in jungen Jahren wurden von ökonomischer Unsicherheit, hoher Erwerbslosigkeit und den Spuren des Weltkriegs geprägt. Während des Zweiten Weltkriegs mussten die Frauen dieser Generation in Beruf und Positionen arbeiten, die in Friedenszeit für Männer vorbehalten waren, da die Männer an der Front waren. Die meisten Männer dieser Generation erlebten den gesamten Zweiten Weltkrieg als Soldat. Ihre Jugend verbrachten sie auch im Militär, denn sie führten ab dem achtzehnten bzw. neunzehnten Lebensjahr ein kaserniertes Leben in militärischen Organisationen. Die Lebenszeit, in denen in Friedenszeiten in Generationen biographisch relevante Entscheidungen und Prozess um beruflichen wie familiären Bereich stattfinden, verbrachten sie in militärischen Organisationen. Als Folgen konnten sie kaum eine andere berufliche Identität als die des Soldaten ausbilden. Kein Wunder, dass das Soldatsein für manche zum Beruf wurde, den sie pflichtbewusst zu erfüllen wussten.20
In seiner Studie über Generationenabfolgen in deutschen Familien von 1870 bis 1970 betont Rosenthal, dass die Kriegsgeneration große Schwierigkeiten hatten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihr Alltagsleben wieder aufzunehmen. Die Männer mussten nach der Zeit des Kriegs und der Gefangenschaft lernen, sich an einem lange Zeit nicht gelebten Zivilleben anzupassen. In der Kriegszeit beruhte ihre Beziehung zu ihren Frauen hauptsächlich auf Briefen und kurzen Heimaturlauben. Die Ehen bestanden vielmehr aus Phantasien und Projektionen, welche im nun gelebten Alltag der Friedenszeit kaum ihre Entsprechung fanden. Außerdem wurden die zwischen Müttern und Kindern durch die langjährige Abwesenheit der Väter entwickelten engen Beziehungen durch die Rückkehr der Väter empfindlich gestört. Infolgedessen wurden die Väter sogar als Eindringling verdrängt. Es war den Männern schon schwergefallen ihren Platz in der Familie wieder zu finden, ganz zu schweigen von ihrer Rolle für die Nachkriegsgesellschaft.21
Innerhalb der Nachkriegsfamilie spielten viele Männer der Kriegsgeneration die Rolle einer übermächtigen, verbissenen und strafenden Autoritätsperson, die ihre Kinder entwerteten, verachteten und deren Liebes- und Zärtlichkeitsbedürfnisse ignorierten. Sie forderten von ihren Kindern absoluten Gehorsam, sklavische Befolgung von Vorschriften und Regeln und strenge Einhaltung der Ordnung und Sauberkeit. Solch eine Vaterfigur taucht in der deutschen Nachkriegsliteratur stets auf, wie z. B. in Brigitte Schwaigers Lange Abwesenheit und Bernward Vespers Die Reise:
Wenn du deine Hauptmannsuniform aus dem Krieg daheim getragen hättest von Anfang an, dann wäre vielleicht vieles deutlicher gewesen. Ein Vater, ein richtiger Vater, ist einer, den man nicht umarmen darf, den man nicht unterbrechen darf, wenn er spricht, den man antworten muss, auch wenn er zum fünften Mal dasselbe fragt[...]22
Wenn ich schmutzig war, wenn ich unordentlich war, wenn ich nicht jeden Befehl, den ich erhielt, mit den Worten „Ja, verstanden“ wiederholte, wie das beim preußischen Militär üblich, das für die dort herrschende Ordnung in der ganzen Welt berühmt und gelobt - wie könnte dann je im Leben etwas aus mir werden23.
Hinter dem autoritären Erziehungsstil steht einerseits der Neid der Kriegsgeneration auf das Glück und die Naivität der Kinder, andererseits der Versuch Selbstvertrauen zu wiederherstellen. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und der Fall des Dritten Reichs brachten, so Wolfgang Schmidbauer, den Zusammenbruch des deutschen Selbstgefühls.24 Auf die Niederlage folgte das noch Schrecklichere, nämlich die Konfrontation mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern und mit dem geschrumpften Vaterland. Die Werte und Ideale, für die die Kriegsgeneration gekämpft hatte, waren zerstört. Der einzige Ort, wo sie Halt und Lebenssinn finden konnten, waren ihre Familien. Über ihre Mentalität erklärt Michael Schneider:
Gerade weil sie als Deutsche so entsetzlich - und zu Recht! - bezweifelt wurden, wollten sie wenigstens in den Augen ihrer Söhne und Töchter als unbezweifelbar dastehen. Von den Siegermächtigten zutiefst in Frage gestellt, konnten sie die Infragestellung seitens ihrer Kinder nicht auch noch verkraften; darum wussten sie schon deren zaghaftesten Widerspruch, deren leiseste Kritik im Keim zu ersticken. Da sie sich nach diesem räuberischen Krieg von allen „verraten“ und abgelehnt fühlten, suchten sie bei ihren Frauen und Kindern die grenzlose Bejahung.25
Ein anderes Merkmal der Kriegsgeneration ist ihre Unfähigkeit, ihre Emotion und Gefühle zu zeigen, war auch Sigfrid Gauch bei seinem heimgekehrten Vater beobachtet:
Vor Weihnachten und seinem Geburtstag verkündete Vater jeweils der ganzen Familie, er wolle nichts geschenkt bekommen, er brauche nichts. Dennoch schenkte ihm jeder etwas. Durch die Vorankündigungen aber sparte er sich den Dank, vermied es, Freude zeigen zu müssen.26
Die psychische und geistige Immobilität der Kriegsgeneration ist das Ergebnis, so Schmidbauer, der „Psychischen Zentralisation“27. Diesen Begriff führte Schmidbauer 1996 ein, um die Eigenschaft der kollektiven Traumatisierung durch Krieg, Gefangenschaft und Heimatverlust zu erfassen. Wie die medizinische Terminologie „Zentralisation des Kreislaufs“, welche die Notfälle erfassen, bei denen nur die Organe wie Gehirn, Herz und Lunge durchblutet werden, die für das Überleben unbedingt notwendig sind, wurde das Einfühlungsvermögen, die Fantasie- und Gefühlstätigkeit und emotionalen Differenzierung der Kriegsgeneration während des Kriegs auf das lebensnotwendige Minimum eingeschränkt, um sich auf das physische Überleben zu konzentrieren.28 Die langjährige Verdrängung der Gefühle entwickelt sich mit der Zeit zu einer starren
„Charakterpanzerung“29, welch die normale Kommunikation sowie die zwischenmenschliche Beziehungen ernstlich stört. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Kriegsgeneration eine beschädigte und traumatisierte Generation ist.
2.2.2 Die Nachkriegsgenerationen
2.2.2.1 Die zweite Generation
Die zweite Generation ist die Kindergeneration der oben erwähnten Kriegsgeneration. In ihrer empirischen Studie über Generationenabfolgen in Familie von 1890 bis 1970 in Deutschland teilt Gabriele Rosenthal diese Generation in zwei Arten, nämlich die Kriegskinder und die Nachkriegskinder. Mit den ersten meint sie kurz vor oder gerade während der Kriegsjahre geborene Kinder. Die letztere sind die Kinder, die zwischen 1945 und 1950 zur Welt kamen.30
Die Grundkonstellation der Kriegskinder beruht auf den Kriegserlebnissen in der frühen Kindheit, auf der Umkehrung des Generationsverhältnisses, indem die Mütter ihre Kinder zum Ersatz für fehlende Männer machten und auf der Konfrontation mit den entfremdeten und entmachteten Vätern nach deren Rückkehr aus der Gefangenschaft. Obwohl sie aufgrund ihrer Jugend sich kaum an die Kriegserlebnisse erinnern können, hinterlässt der Krieg Spuren in ihnen, die in ihrem späten Leben auftreten können in Form von Angst vor Alarm oder Flugzeuggeräusch oder dunklen Kellerräumen. Sie haben eine enge Bindung zu ihren Müttern, während das Verhältnis zu ihren Vätern in Vergleich zu den Kindern, die nach 1945 geboren wurden, viel schwieriger und distanzierter ist. Jedoch hatten die nach dem Krieg geborenen Kinder auch ihre eigene Problematik. Sie wurden meistens von den Eltern mit der Hoffnung eines Neuanfangs verbunden, jedoch symbolisierten sie oft in der Realität das Scheitern der Ehe ihrer Eltern, wenn deren Partnerschaft nach der Rückkehr der Ehemänner aus Krieg oder Gefangenschaft zerrissen wurde.31
Die „verwandte Lagerung“32 der deutschen Kriegs- und Nachkriegskinder besteht nicht nur in den extremen schlechten Lebensbedingungen und in der materiellen Not, sondern auch in ihrem Fehlen an Elternliebe und Kommunikation. Sowohl in der Kriegszeit als auch Nachkriegszeit, waren die Eltern so sehr mit dem Überleben und dem materiellen Wiederaufbau beschäftigt, dass sie keine Zeit oder Energie hatten, sich außer physischem Beistand noch um die seelische Entwicklung ihrer Kinder zu kümmern. Außerdem wurden die Eltern selbst von dem Trauma gequält. Die Kinder sind Symbol für emotionale Vielfalt, Verletzlichkeit und Offenheit. Dies sind alle Eigenschaften, die die Abwehr der Eltern bedrohten, heimlichen Neid weckten und eine Naivität symbolisierte, die den Eltern durch die seelischen Verletzungen und die Schuldkomplexe verloren gegangen war33. Die Kindergeneration wurde entweder von den Eltern überfordert, die Wunden der Eltern zu heilen und deren seelisches Trauma zu kompensieren, oder sie wurden als Grund des Traumas der Eltern gesehen. Die Quälerei eines Vaters mit posttraumatischer Belastungsstörung und eines innerfamiliären totalen Schweigens über die Vergangenheit - dies sind die gemeinsamen Erfahrungen, die die Mehrheit dieser Generation in ihrer Kindheit- und Jugendzeit durchmachten. Der folgende Auszug aus Peter Härtlings Nachgetragene Liebe verleiht einen Einblick in das Leben der Kindheit dieser Generation:
Du schwiegst oder schlugst. Ich sollte im Kinderzimmer auf Vater warten. Er werde für die gerechte Strafe sorgen. Er straft mich; anders als ich es erwarte. Er nimmt mich nicht zur Kenntnis, schließt mich aus seiner Gegenwart aus. Bei Tisch bin ich für ihn ebenso Luft wie am Abend im Wohnzimmer oder bei den Großeltern. Er sitzt mir gegenüber und sieht mich nicht [...] Seit dieser stummen Kur kann ich den Satz ‚Er schweigt ihn tot‘ nicht mehr lesen, geschweige denn schreiben, ohne dass es mich schaudert.34
Und in Michael Schneiders Aufsatz zur Psychopathologie der deutschen Nachkriegsfamilie gibt er eine Schilderung über die Qualen der Kindergeneration:
Man schlägt den Nazi und meint doch den Vater, von dem das Kind nicht genügend Zuwendung und Liebe erfahren hat [...] gelitten haben sie einzig und allein unter der materiellen, mehr noch unter der psychischen Hinterlassenschaft des »Dritten Reiches«: unter den zerrütteten Nerven ihrer Erzieher, die nach den unendlichen Strapazen des Kriegs, der Bombennächte, der Flucht und Gefangenschaft zumeist nur noch traurig Schatten ihrer selbst waren; an den tiefen Verstörungen einer Generation, die ratlos in weltweite Schuld stand und sich geschlagen in den Schoß der Familie zurückzog, um ihre Wunden zu pflegen. Es war die psychische Hypothek einer im restaurativen Wiederaufbau verdrängten Vergangenheit, die bleischwer auf den Familien der ehemaligen Mitläufer und Nazis lastete und ursächlich für die dumpfe und stickige Atmosphäre, für das bedrückende Schweigen und das gepresste Lebensgefühl war, das aus den Familienchroniken und Kindheitsbeschreibung fast aller Autoren aufsteigt. Wenn man diese nämlich miteinander vergleicht, ergibt sich ein erschreckendes gleichförmiges Bild, als wären alle unter dem gleichen Dach aufgewachsen oder als hätten sie voneinander abgeschrieben [...]35
Das elterliche Schweigen über die drückte Vergangenheit auf die Kriegs- und Nachkriegskinder und wurde mit dem Heranwachsen der Kinder nach und nach immer stärker, schließlich erreichte es seinen Höhepunkt in der 68er-Bewegung. Obwohl die Auseinandersetzungen in erster Linie außerhalb der Familie geführt wurden, richtete die junge Generation in der Aufarbeitung mit der NS-Vergangenheit ihre Anklage hauptsächlich gegen ihre jeweiligen Väter. Die Wurzeln der Bewegung, so Frevert, saßen tief in „moralische(r) Empörung und Enttäuschung über die Unwilligkeit der Älteren, die eigene Rolle im ‚Dritten Reich‘ kritisch zu überdenken [...]“36 Die moralische Anklage der Vergangenheit der Eltern führte schließlich zum tiefen Bruch zwischen Kriegsgeneration und Nachkriegsgeneration.
2.2.2.2 Die dritte Generation
Die Enkel der Kriegsgeneration wurden meistens zwischen 1962 und 1970 geboren. Sie sind die dritte Generation laut Gabriele Rosenthals Modell zur Generationenabfolge. Sie wurde bezeichnet als die Generation zwischen Konsum und Krise. Im Gegensatz zu ihren Großeltern und Eltern, die unter Weltkrieg und Lebensmittelnot gelitten hatten, erlebten diese Jahrgänge in ihrer Kindheit einen selbstverständlichen Wohlstand, infolgedessen wurde ihnen in ihrem späten Leben nicht mit der Angst vor einem jederzeit möglichen Verlust ihres Wohlstands zugesetzt wie ihre Großeltern- und Elterngeneration. Generationsbildend für sie sind, so Rosenthal, die Wechselwirkungen zwischen der im intergenerationellen Dialog vermittelten Erfahrung von Krisen, ihr selbst erlebter Wohlstand in der Kindheit und die Angst in ihrer Jugendzeit, diesen Wohlstand auch aufrecht erhalten zu können.37
Ein anderes Merkmal dieser Generation besteht in ihrer Distanz von dem Zweiten Weltkrieg. Sie haben keine direkte Verbindung mit dem Krieg. Ihr Wissen über das Dritte Reich erhalten sie hauptsächlich aus Büchern. So können sie die Vergangenheit als historisches Ereignis in Abstand betrachten. An der Familiengeschichte haben sie auch Interesse, jedoch nehmen sie ein eher nüchternes Verhaltenan, anstatt der inquisitorischen Attitüde ihrer Elterngeneration.
2.3 Text statt Gespräch - über das beschädigte Kommunikationsschema zweier Generationen
Wie in der Einleitung schon erwähnt, ist gegen Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine neue Tendenz in der deutschen Nachkriegsliteratur aufgetreten, nämlich die Familiarisierung der Auseinandersetzungen mit dem Komplex Nationalsozialismus und Drittes Reich. Diese Tendenz erreichte ihren Höhepunkt Ende der siebziger Jahre bis Anfang der achtziger Jahre. Eine Vielzahl an Büchern wurde während dieses Zeitraums veröffentlicht, in denen das Thema Nazi-Vergangenheit auf die familiäre Ebene ausgebreitet und der Konflikt zwischen Nachkriegsgeneration und ihrer Vatergeneration behandelt wurde. Die Autorinnen und Autoren sind, mit wenigen Ausnahmen, zwischen 1935 und 1940 geboren und im westlichen Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Ihre Väter hatten meistens während der Kriegszeit als Soldat in dem Wehrmacht oder der SS gedient, oder zumindest an dieser oder jener Stelle in der Herrschaftssystem der Nazis funktioniert. Solche Werke werden in der Literaturgeschichte als Vaterbücher oder Vaterliteratur bezeichnet. Hervorzuheben ist hier Christoph Meckels 1980 veröffentlichter Roman Suchbild.Über meinen Vater, der von der Literaturkritik als „das sprachlich konzentrierteste, literarisch wichtigste Werk“38 seiner Gattung hervorgehoben wurde. Interessant ist hierbei, dass Meckels Buchtitel gerade als Etikett für das Thema und den Inhalt seiner zeitgenössischen Generation dienen kann, denn „Vatersuche“ stellt sich als das wichtigste Stichwort der ganzen Gattung der Vaterliteratur dar. In seinem Vortrag über das literarische Urmotiv Vatersuche weist Georg Langenhorst darauf hin, dass man die Vatersuche prinzipiell in zwei unterschiedliche typologische Arten teilen kann: Zum ersten wird die Vatersuche als ein tatsächlicher Suchvorgang im Wortsinn verstanden. Diese Art gilt sowohl für den Umstand, dass der Vater gar nicht bekannt ist und deswegen erst ermittelt werden muss, als auch für den, unter dem der schon bekannte Vater verschwunden ist. Zum zweiten ist die Vatersuche eher metaphorisch, denn bei der Suche geht es um das Wesen des Vaters. Obwohl der konkrete Vater ebenso bekannt wie auch präsent ist, bleibt sein Wesen rätselhaft. Man muss suchen, wer er wirklich ist oder war.39 Die Vatersuche in der Vaterliteratur soll zu der zweiten Art gehören. Außerdem ist dies kein individueller Prozess von einigen Einzelnen. Diesen Punkt macht Meckel in seinem Buch auch ganz klar:
Ich hatte nicht die Absicht, mich mit meinem Vater zu beschäftigen. Über ihn zu schreiben erschien mir nicht nötig. Der Fall, ein Privatfall, war abgeschlossen. Ich hätte Erinnerungen an ihn notiert, ohne die Absicht, etwas daraus zu machen. Ich hätte vermutlich nicht länger an ihn gedacht. Neun Jahre nach seinem Tod kommt er wieder zurück und zeigt sein Profil. Seit ich seine Kriegstagebücher las, kann ich den Fall nicht auf sich beruhen lassen; er ist nicht länger privat. Diesen Menschen zu kennen war nicht möglich, ihn für möglich zu halten - unzumutbar.40
„Nicht zufällig nennt Meckel seinen Roman Suchbild, nicht zufällig forscht Gauch den Vaterspuren nach, nicht zufällig stellt Rehmann suchende Frage an einen Vater [...] “41 In der Serie von Vaterbüchern sieht Georg Langenhorst eine Tendenz. Tatsächlich ist die Vatersuche ein kollektiver Prozess der ganzen Nachkriegsgeneration. Bei einem Überblick erfährt man schon, dass alle Vaterbücher einen gemeinsamen heißen Wunsch nach einem Gespräch mit den eigenen Vätern hegten, das nicht geführt wurde und nie mehr geführt werden kann. „Die Utopie der Vaterbücher, “ so Vogt, „ist das nachholende, herrschaftsfreie, womöglich befreiende Gespräch zwischen Vätern und Kindern.“42 Aber warum erst jetzt? Warum wird der Wunsch erst gezeigt, nachdem die Kindergeneration zumeist um die 40 Jahre alt ist und die Väter schon gestorben waren? „Ich habe meinen Vater oft gefragt, was die dreißiger Jahre für ihn waren [...], und keine besonders erhellende Antwort bekommen.“43 schreibt Christoph Meckel, und weiter Peter Härtling über seinen Vater, „Du schwiegst oder schlugst.“44 Ähnlich erinnert sich auch Bernward Vesper, „Beim Essen dann allerdings sprach niemand mehr, bei Essen redete man nicht, Kinder antworten, wenn sie gefragt werden[...]“45 Die Gesprächsversuche der Kinder mit ihrem Väter waren ausnahmslose gescheitert. Und bei diesem Misserfolg handelt es sich nicht um Zufall oder individuelles Versagen, sondern um einen Generationendiskurs, oder, ein Diskurs zwischen den zwei Generationen.46
Die Kommunikationsversuche zwischen der Nachkriegsgeneration und der Kriegsgeneration kann im Großen und Ganzen zu einem Schema zusammengefasst werden: Zunächst werden tatsächliche Gespräche seitens der Nachkriegsgeneration versucht, jedoch stießen die Versuche auf das Schweigen und die Weigerung der Kriegsgeneration. Als Frucht des lebenslangen kommunikativen Misslingens tritt die Flut von Vaterbüchern auf, in denen die Nachkriegsgeneration nach dem Scheitern der faktischen Kommunikation eine literarische Annäherung an die Vatergeneration wagte. Weil die Väter jetzt zum Großteil bereits verstorben waren, wurden Dokumente und Aufzeichnungen der Väter sorgfältig gelesen, analysiert und reflektiert, um Vaterspuren genau zu rekonstruieren. Obwohl die ursprüngliche Triebkraft des Schreibens der Wunsch nach Gesprächen mit dem Vater ist, sind die Väterbücher keine Dialoge, sondern eine pseudo-dialogische Auslotung eines nicht heilbaren Bruchs zwischen diesen zwei Generationen.47
3. Die Schuldfrage
3.1 Zum Verständnis der Schuldfrage
Bemerkenswert ist, dass es trotz der vielmaligen Diskussionen über die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland niemals gelungen ist, einen wirklichen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen: Ende der Kriegszeit sticht das schreckliche Geschehen in der faschistischen Diktatur als Leitthema der Literatur vor; In den 60ern bis 80ern erschien viele wissenschaftliche Literatur über den Holocaust selbst; Seit Anfang der 80er Jahren begannen sich die Nachkriegsgenerationen mit der Schuld der Älteren auseinanderzusetzen und bis heute bleibt die Frage nach der Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen sowie nach einer Möglichkeit zur Aufarbeitung dieser historischen Last ein beliebter Stoff der Schriftsteller. Dies alles beweist, wie sehr die Deutschen ständig mitten in der Schuldfrage der Vergangenheit stecken und was für einen Einfluss die die nationalsozialistische Schuld Deutschlands auf die Nachkriegsgeneration ausübt. Diese hohe Aktualität dieser Frage prophezeite der Heidelberger Philosoph Karl Jaspers bereits im Jahre 1946:
Die Schuldfrage ist mehr noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem Innersten antworten, das begründet unser gegenwärtiges Sein- und Selbstbewusstsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen Seele. Nur über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die uns zu der Erneuerung aus dem Ursprung unseres Wesens bringt.48
Mit der Frage von Schuld und Verantwortung der Deutschen für die Verbrechen des Nationalsozialismus setzte sich Jaspers in seiner Schuldfrage auseinander. Vier Kategorien der Schuldbegriffe werden in seiner Schrift eingeführt, nämlich kriminelle Schuld, politische Schuld und moralische Schuld sowie metaphysische Schuld. Wer objektiv nachweisbare Handlungen begeht, die gegen eindeutige Gesetze verstoßen, trägt kriminelle Schuld. Politische Schuld trägt jeder, der durch seine Staatsbürgerschaft an Taten oder den Entscheidungen des Staates beteiligt ist, mit anderen Wörtern, es besteht eine Haftung aller Staatsbürger für die Folgen staatlicher Handlung. Moralische Schuld gilt einem, der ein Verbrechen begeht, auch wenn es befohlen ist. Die metaphysische Schuld entsteht aus Mitverantwortung alles Unrechts und aller Ungerechtigkeit auf der Welt. Die Instanzen für die vier Schulden sind auch unterschiedlich. Kriminelle Schuld bedeutet Verbrechen, deswegen ist ihre Instanz das Gericht. Über politische Haftung entscheidet der Sieger, so ist die Instanz für politische Schuld die Gewalt und der Wille des Siegers. Für moralische Schuld ist die Instanz das eigene Gewissen und bei metaphysische Schuld Gott allein.49
Daraus geht hervor, dass die moralische Schuld im Wesentlichen die Schuldfrage in Bezug auf den Einzelnen ist. Die juristische und die politische Schuld können von außen, wie z. B. von einem eingesetzten Gericht und von den Siegermächten eingeklagt werden, während die moralische Schuld, die der Einzelne für sein Handeln trägt, nur von innen, von seinem eigenen Gewissen eingefordert werden kann:
Die moralische Schuld aber besteht bei allen, die dem Gewissen und der Reue Raum geben. Moralisch schuldig sind die Sühnefähigen, die, die wussten oder wissen konnten und die doch Wege gingen, die sie in der Selbstdurchhellung als ein schuldiges Irren verstehen [...]50
Die schuldige Irre der normalen Deutschen unter der Nazi-Regierung kann nach Jaspers in folgenden Typen zusammengefasst werden: Erstens, erzwungene Unterwerfung und lügenhafte Loyalitätsbekundung gegenüber faschistischer Diktatur, die das moralische Gewissen belasteten; Zweitens, tragische Identifizierung des faktischen Staates mit der deutschen Nation und der Pflicht gegen das Vaterland mit blindem Gehorsam gegen jeweilige Herrschaft, infolgedessen wurde es möglich, was böse war, aus patriotischer Gesinnung zu tun; Drittens, die Halbheit und teilweise Billigung aufgrund der Vorstellung: es war doch auch Gutes daran.
[...]
1 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Stuttgart: Reclam. 1970. S. 19.
2 Richard Quabius: Generationsverhältnisse in Sturm und Drang. Köln: Boehlau. 1976. S. 1.
3 Wulf Segebrecht: Christoph Meckels Suchbild unter anderen Vaterbildern. In: Loquai, Franz(hrsg.): Christoph Meckel. Eggingen: Isele. 1993. S. 79.
4 Horst S. und Ingrid Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur: ein Handbuch. Tübingen: Francke. 1987. S.363.
5 Nobert Elia: Studien über die Deutschen : Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1989. S. 549f.
6 Heinz Ludwig Arnold: Die drei Sprünge der westdeutschen Literatur : eine Erinnerung. Göttingen :
7 Aleida Assmann: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wien: Picus Verlag. 2005. S. 24.
8 Joachim Garbe: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg : Königshausen & Neumann, 2002 . S. 232.
9 Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kurt Wolff (Hrsg.): Wissenssoziologie. Berlin: Luchterhand Verlag, 1965. S. 526.
10 Vgl. Ulrike Jureit/ Michael Wildt: Generationen. In: diess. (Hrsg.): Generationen: zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg, 2005. S. 9.
11 Ebd. S. 7.
12 Ebd. S. 9.
13 Ebd. S.9.
14 Ebd. S.11.
15 Mannheim: Das Problem der Generationen. S. 526.
16 Gabriele Rosenthal: Zur interaktionellen Konstitution von Generationen. Generationenabfolgen in Familien von 1890 bis 1970 in Deutschland. In: Jürgen Mansen, Gabriele Rosenthal, Angelika Tölke (Hrsg.): Generationen-Beziehungen, Austausch und Tradierung. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1997. S. 63.
17 Vgl. Jureit/Wildt: Generationen. S. 11.
18 Ebd. S.11.
19 Wolfgang Schmidbauer: Ein Land - drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik. Freiburg, Basel, Wien: Herder. 2009. S. 28.
20 Vgl. Rosenthal: Zur interaktionellen Konstitution von Generationen. S. 68f
21 Ebd. S.69.
22 Brigitte Schwaiger: Lange Abwesenheit. Wien, Hamburg: Paul Zsolnay. 1980. S. 24.
23 Bernward Vesper: Romanessay. Frankfurt am Main: März Verlag. 1977. S. 316.
24 Vgl. Schmidbauer: Ein Land - drei Generationen. S. 28.
25 Michael Schneider: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren. Luchterland: Darmstadt und Neuwied. 1981. S. 36.
26 Sigfrid Gauch: Vaterspuren. Königstein: Athenäum Verlag. 1979. S.22-23.
27 Schmidbauer: Ein Land - drei Generationen. S. 57.
28 Vgl. Ebd. S. 57f.
29 Schneider: Den Kopf verkehrt aufgesetzt. S.39.
30 Vgl. Rosenthal: Zur interaktionellen Konstitution von Generationen. S. 69.
31 Vgl. Ebd. S. 69-70.
32 Mannheim: Das Problem der Generationen. S. 538.
33 Vgl. Schmidbauer: Ein Land - drei Generationen. S. 71.
34 Peter Härtling: Nachgetragene Liebe. Darmstadt. 1980. S. 21f.
35 Schneider: Den Kopf verkehrt aufgesetzt. S. 32-33.
36 Aleida Assmann, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit-Geschichtsversessenheit: vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: : Dt. Verl.. 1999. S. 226.
37 Rosenthal: : Generationenabfolgen.S.71.
38 Hubert Glossner: Christoph Meckel, in: Heinz L. Arnold (Hg.): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Band 6, Text+Kritik. München: München : Ed. Text + Kritik ; Ravensburg : Munzinger-Archiv GmbH.
39 Vgl. George Langenhorst: „Vatersuche“ in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre. Zur Renasissance eines literarischen Urmotivs. In: Literatur für Leser. Frankfurt am Main: Europäischer Verlag der Wissenschaften. 1994. S. 23.
40 Christoph Meckel: Suchbild. Über meinen Vater. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. 1983. S.44.
41 Langenhorst: „Vatersuche“ in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre. S. 29.
42 Jochen Vogt: Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt… Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher. In: Stephan Braese ... (Hgrs.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt/New York: Campus Verlag. S. 386-387.
43 Meckel: Suchbild. Über meinen Vater. S. 21.
44 Härtling: Nachgetragene Liebe. S.21.
45 Vesper: Die Reise. S. 321.
46 Vgl. Vogt: Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt… S. 386.
47 Vgl. Ebd. S.387f.
48 Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung. R. Piper & Co. Verlag, München. 1979. S. 20.
49 Vgl. Ebd. S. 21-22.
50 Ebd. S. 46.
- Quote paper
- Zhi Li (Author), 2012, Generationenkonflikt als Motiv in der deutschen Nachkriegsliteratur von Christoph Meckels "Suchbild. Über meinen Vater" und Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/322931
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