Platon und Augustinus, große Männer ihrer Zeit, die das europäische Denken bis zum heutigen Tage prägen. Neben zahlreichen Themengebieten in der Philosophie, Theologie und den Naturwissenschaften beschäftigten sich beide auch mit der Staatslehre. Diese war für sie nicht nur ein separater Bereich inmitten anderer Disziplinen. Politik war für beide das äußere in-Erscheinung-treten des menschlichen Inneren. Ethik und Politik stellen in den Augen dieser beiden Autoren eine untrennbare Einheit dar. So, wie die Menschen in ihrem Inneren beschaffen sind, so ist auch der Staat gestaltet.
Wie aber muss der Mensch und in weiterer Folge dann der Staat beschaffen sein, um als gut und gerecht zu gelten? Die Frage nach einer gerechten staatlichen und einer glücklichen, menschlichen Verfassung ist überzeitlich. Vor allem heute, wo vielerorts eine Orientierungslosigkeit und ein Tugendverlust der Gesellschaft beklagt werden, ist es notwendig, wieder inne zu halten, die modernen Antworten auf die zentrale Frage zu reflektieren und auf ihre Tauglichkeit zu prüfen.
Was würden uns Platon und Augustinus heute sagen? Welche Antworten haben sie auf die Frage nach einer geglückten Form menschlichen Zusammenlebens? Haben ihre Gedanken heute noch Gültigkeit, oder sind „Politeia“ und „De civitate dei“ nicht mehr als eindrucksvolle Werke in den Bücherregalen neuzeitlicher Intellektueller? Wie stehen die beiden Denker zueinander? Welchen Einfluss hatte Augustins geistiger Vater Platon auf den Bischof und wieviel Platonisches findet sich in den christlichen Lebens- und Staatsvorstellungen des Kirchenmannes? Diesen und anderen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorwort
2. Zur Einführung
2.1 Vom Wesen der Staatsphilosophie
2.2 Ziel – Methode – Begründung
3. Der Philosoph der griechischen Klassik
4. Die Politeia
4.1 Gliederung und Inhalt
4.2 Proömium (Buch I – Buch II, 9)
4.3 Die Entstehung des Staates sowie Ausbildung und Leben des Wächterstandes (Buch II, 10 – Buch IV)
4.4 Leben und Ausbildung der vollkommenen Wächter – Philosophen (Buch V – Buch VII)
4.5 Der Verfall des Staates (Buch VIII-Buch IX)
4.6 Schluss – Der endgültige Triumph der Gerechtigkeit (Buch X)
5. Ein Gott und viele Gegengötter – Vom antiken Polytheismus zum christlichen Monotheismus
5.1 Die griechisch-römische Religion der Antike
5.2 Das frühe Christentum und der römische Staat
6. Exkurs: Cicero und der römische Idealstaat
7. Ein streitbarer Theologe und ein Reich im Umbruch
8. De civitate dei
8.1 Gliederung und Inhalt
8.2 Kritik des heidnischen Götterkultes zur Erlangung irdischen Heiles (Buch I – Buch V)
8.3 Augustins Kampf gegen den heidnischen Glauben und dessen Heilsversprechen sowie Kritik des Platonismus (Buch VI – Buch X)
8.4 Von der Schöpfung bis zum Fall der Engel und Menschen (Buch XI – Buch XIV)
8.5 Der Weg der Gottesbürgerschaft in der Zeit und die körperliche Vermischung mit dem Weltstaat (Buch XV – Buch XVIII)
8.6 Der gebührende Ausgang der Geschichte der beiden Staaten (Buch XIX – XXII)
9. Komparation
9.1 Staats(be-)gründung
9.1.1 Auf der Suche nach Kallipolis
9.1.2 Staat statt Paradies
9.2 Staat und Herrschaft
9.2.1 Die beste aller Regierungen
9.2.2 Die schlimmste aller Regierungen
9.3 Individuum, Gemeinschaft, Staat
9.3.1 Die Analogie von Individuum und Staat
9.3.2 Glaube, Tugend, Pflicht
9.4 Staat und Religion
9.4.1 Die Metaphysik des Staates
9.4.2 Staatsgötter oder Gottesstaat
9.4.3 „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde"
9.5 Staat und Gewalt
10. Nachwort
11. Abkürzungsverzeichnis und Hinweise zur Benutzung
12. Literaturliste
12.1 Primärliteratur
12.2 Sekundärliteratur
12.3 Internetseiten
12.4 Bildnachweis
13. Abstract
14. Zur Person des Autors
1. Vorwort
Es gibt unzählige Bücher zu Platon wie auch zu Augustinus. Universitäre Schriften, die nicht selten einen Dolmetscher benötigen, und Populärliteratur, welche versucht, dem „einfachen“ Leser die großen Werke der Philosophie zu erläutern, dabei aber die Essenz der Quellen oftmals völlig aus den Augen verliert. Im Zuge meiner Arbeit habe ich mit Schriften aus beiden Feldern Bekanntschaft geschlossen. Ein Ziel dieser Arbeit ist es daher zum einen einer allgemein verständlichen Sprache treu zu bleiben und zum anderen die Würde der Primärquellen nicht preiszugeben. Der Leser, die Leserin möge den Erfolg dieses Vorhabens nach seinen/ihren eigenen Maßstäben beurteilen.
Als ich zum ersten Mal in meinem Studium mit Platon und seinem Werk in Berührung kam, war ich sofort davon fasziniert. Mich beeindruckte neben der Radikalität und der schieren Unerschöpflichkeit seines Denkens vor allem die Art und Weise seiner Wissensvermittlung. Mit Geduld und Respekt werden die Gesprächsteilnehmer in den Dialogen von einem gelehrten Konversationsleiter, in den meisten Fällen Sokrates, behutsam zur Einsicht geführt. Eine gute Wahl, wie ich denke, als Vorbild für (angehende) LehrerInnen, in Zeiten des permanenten Bildungsstreits und politischen Lehrerbashings.
Das unermüdliche und nicht selten auch verzweifelte Streben Augustins nach Wahrheit und Sinn war es, das mir an seiner Person imponierte. Die Ambivalenz der möglichen Lebensbetrachtungen sowie die Zustimmung zu einigen seiner Lehren, aber auch die entschiedene Ablehnung einiger anderer Perspektiven des großen Denkers machten oftmals den Reiz der Beschäftigung mit dem Werk des Kirchenvaters aus.
Diese beiden Affinitäten, gepaart mit einem starken Interesse an Politik und dem vor allem am gesellschaftlichen Diskurs, der in den letzten Jahren dank zahlreicher Polit-Talkshows und NLP gebriefter Parteisprecher viel von seinem Ansehen und Gehalt einbüßen musste, kam ich schnell zu dem Thema für meine universitäre Abschlussarbeit. Da sich Platon und Augustinus in ihrem jeweils großen Werk auch mit dem Thema der richtigen Gestaltungen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens, d. h., mit Politik befassten, reifte in mir der Beschluss, mich näher mit ihren Antworten zu den Fragen dieser philosophischen Disziplin auseinanderzusetzen. Ich kehrte mit meiner schriftlichen Arbeit daher zu jenen zwei Quellen zurück, die genau das Angestrebte zu finden versprachen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Menschen bedanken, die mich bei meinem Vorhaben unterstützt haben. Ich danke für jedes Wort der Motivation, aber auch für jedes der Provokation; für alle Ereignisse und Personen, die meine Erfahrung auf diesem Gebiet bereichert und mein Denken beflügelt haben. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Betreuer ao. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Treitler für seine Unterstützung, seine wertvollen Anregungen und seine Geduld. Weiters danke ich meiner Lektorin Mag. Dagmar Friedl für ihre Mühen und ihre Verbesserungen. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei meinem ehemaligen Professor Siegmund Kleinl, der mich, und wohl auch zahlreiche andere, auf vielen Ebenen inspirierte, meinen Hang zum kritischen Denken gefördert und mir zu einer differenzierten Sicht der Wirklichkeit verholfen hat.
2. Zur Einführung
2.1 Vom Wesen der Staatsphilosophie
Die Frage nach der richtigen und besten Art des Zusammenlebens von Menschen ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Während im Tierreich der Instinkt regelt, wie und auf welche Weise die verschiedensten Lebensformen miteinander (ko-) existieren, ist der Mensch, in Ermangelung einer entsprechenden Regung, auf sich selbst und seine Vernunftbegabung zurückgeworfen, um diese Frage zu beantworten.[1] „Der Mensch ist zur Freiheit verurteilt.“[2], so die Worte Sartres in seinem Hauptwerk „ Das Sein und das Nichts“. Der Mensch ist auf sich selbst zurückgeworfen und dazu bestimmt, sich seinen Platz und seinen Sinn in der Welt zu schaffen. Doch der Mensch ist nicht allein. Er ist keine Insel in der Welt, sondern Teil einer Gruppe von Menschen, Mitglied eines sozialen Systems. In dieser Erkenntnis zeigt sich bereits die erste Grenze der Freiheit des Einzelnen, sie wird durch die Freiheit des bzw. der anderen definiert. Freiheit ohne Rücksicht auf meine(n) Nächste(n) ist nicht mehr als Willkür und mündet mit hoher Wahrscheinlichkeit in Anarchie und Chaos. Doch der Mensch kann sich im Chaos nicht begreifen. Er strebt nach einem Kosmos, einer Ordnung, die ihm und auch jenen, die mit ihm sind, ein gutes Leben ermöglicht. In diesen Gedanken zeigt sich, dass Freiheit und Verantwortung ein untrennbares Begriffspaar bilden, wenn es um das Leben in einer Gemeinschaft geht. Die Relation zwischen der Freiheit des Individuums und seinen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft stellt die zentrale Frage jeder Staatsphilosophie dar, aus ihr ergeben sich weitere fundamentale Problemstellungen. Norbert Hoerster sieht diese Fragen in seinem Artikel „ Der Gegenstand der Staatsphilosophie und ihre Geschichte“ als die grundlegendsten jedes Nachdenkens über den Staat. „Warum gibt es überhaupt einen Staat? Und wie sollte der Staat richtigerweise im Einzelnen beschaffen sein? […] Gibt es vom Standpunkt der Vernunft aus überzeugende Gründe für die Existenz eines Staates (dafür, dass es einen Staat geben soll)? Und, wenn ja, für die Existenz eines Staates welcher Art? Gibt es Erwägungen, die einen rationalen Menschen bestimmen können, das Leben in einem Staat dem Leben in einem staatslosen Zustand vorzuziehen, und welche der möglichen Formen des Staates lassen diese Erwägungen wählenswert erscheinen?“[3]
Diese und andere Fragen sind es, die den Fachbereich der abendländischen Staatsphilosophie ausmachen. Solche Fragestellungen scheinen fast universell und nicht an bestimmte Zeitalter gebunden.[4] Dazu ist anzumerken, dass erst ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. von einer reflektierten und systematischen Staatsphilosophie gesprochen werden kann, das Thema dieser philosophischen Disziplin ist jedoch älter. Dass der Anfang dieser Disziplin im klassischen Griechenland[5] zu finden sei, darüber sind sich die meisten Wissenschaftler der Neuzeit wohl einig. Für die vorliegende Arbeit ist diesbezüglich anzumerken, dass sie dieser Theorie zuneigt und sich auf Entwicklungen im europäischen Raum bzw. in der sogenannten Westlichen Welt bezieht. Konsens besteht im philosophischen Fachbereich auch bezüglich des Beginns dieses philosophischen Anliegens, markiert wird er durch eine der beiden Hauptpersonen dieser Arbeit. Platon gilt weithin als Begründer der (europäischen) Staatsphilosophie.[6] Hoerster schreibt dazu: „Platon (427-347 v. Chr.) […] ist nicht nur der älteste der hier vertretenen Philosophen [gemeint ist in Hoersters Werk; Anm. d. Verf.]. Er ist zugleich derjenige Denker der abendländischen Philosophiegeschichte, in dessen Werk in unvergleichlicher Weise die wesentlichen philosophischen Problemstellungen und Lösungsalternativen, die seine Nachfolger bis auf den heutigen Tag beschäftigt haben, bereits im Kern erhalten sind.“[7] Die Ehrfurcht, mit der Personen aus den verschiedensten Bereichen der Wissenschaften und Philosophie über diesen Denker heute noch reden und schreiben, dürfte in der europäischen Geistesgeschichte nur wenigen Menschen zuteilwerden. Die besondere Stellung des antiken Philosophen wird in einem knappen Kommentar eines anderen großen Denkers sichtbar: „Alle abendländische Philosophie ist als >Fußnote zu Platon< zu verstehen.“[8] Diese berühmten Worte stammen vom britischen Philosophen und Mathematiker Alfred North Whitehead. Obgleich er der Einzige ist, der diese These derart pointiert formulierte, dürfte er wohl nicht alleine sein mit dieser Annahme. Mit Platon hat die westliche Welt – in der Antike noch begrenzt auf den griechischen Kulturraum – mit systematischen Reflexionen über den Staat, das Gemeinwesen und bestehende sowie alternative Herrschaftsstrukturen begonnen. Dieses Thema war fortan ein zentraler Bereich der Philosophie. Denker und Denkerinnen aus allen Epochen beschäftigten sich eingehend mit der Frage nach der richtigen und besten Staatsform. Sie arbeiteten im kulturgeschichtlichen Kontext ihrer Zeit, ihr Denken und ihre Vorstellungen von der bestehenden Ordnung des Gemeinwesens werden geprägt von den Erfahrungen ihres Lebens. Keine Staatstheorie entsteht im luftleeren Raum, sie stellt immer auch eine mehr oder minder reflektierte Antwort auf die Lebensumstände und Ereignisse einer Epoche dar. Diesen Kontext gilt es auch entsprechend zu berücksichtigen.
Bereits Platons wohl berühmtester Schüler Aristoteles führte die staatsphilosophischen Überlegungen seines Lehrers fort, ergänzte diese und trat an manchen Stellen in Opposition zu den Ansichten seines geistigen Vaters.[9] Aristoteles, der weithin als Begründer der eigenständigen Politischen Wissenschaft gilt, meint in seiner Schrift „Ta politika“ (Politik), der Mensch als „anthropos physei politikon zoon“ (der Mensch ist von Natur aus ein politisches Lebewesen) sei nur in der Polis, d. h., in der politischen Gemeinschaft fähig, sein Leben zu erhalten und seine inneren Fähigkeiten zu entfalten.[10] Der römische Staatsmann und Philosoph Marcus Tullius Cicero, in seinen staatsphilosophischen Vorstellungen auch von Platon inspiriert, versuchte in seinem Werk „ De re publica“ (Vom Staat) eine Verbindung zwischen griechischer Theorie und römischer Praxis in der Politik zu verankern, um das Reich erneut zu festigen und alte Ideale wiederzubeleben.[11]
Auch das Christentum musste sich seit seinen Anfängen mit dem Verhältnis der Gläubigen zum weltlichen Staat auseinandersetzen. Schon in den Evangelien und den paulinischen Briefen lesen wir kurze Anspielungen auf den richtigen Umgang eines Christen mit den staatlichen Institutionen.[12] Doch erst Aurelius Augustinus, die zweite Hauptperson dieser Arbeit, war es, der die Stellung des Christentums, des pilgernden Gottesvolkes hier auf Erden, in Bezug auf den (römischen) Staat definierte. Seine Überlegungen, die er in seinem Hauptwerk „ De civitate dei" (Vom Gottesstaat) formulierte, sollten das christliche Selbstverständnis bis zum heutigen Tage beeinflussen.[13] Nicht umsonst gilt er als einer der vier großen Kirchenväter im lateinischen Westen. Kurt Flasch schreibt in seinem Einführungswerk zu Augustinus Folgendes: „Am 31. März 1883 schrieb Nietzsche, beim Lesen Augustins sehe man >dem Christentum in den Bauch<. Nietzsche hat untertrieben. Denn beim Lesen Augustins sieht man ebenso der europäischen Philosophie, der europäischen Wissenschaft und vielen Institutionen – von der Familie über den Staat zur Kirche – in den Bauch. Sofern jemand heute noch in den Bahnen der europäischen Tradition lebt und denkt, sieht er beim Studium Augustins sich selbst in den Bauch.“[14]
Nach dem Untergang des mächtigen Römischen Reiches im Westen, 476 n. Chr., entstand in vielen Teilen Europas ein Machtvakuum. Aufstrebende Heerführer und machtbewusste Stammeskönige waren es, die sich diese Situation zunutze machten und ihren Herrschaftsanspruch proklamierten. Eine neue Ordnung entstand, doch die alte römische Ordnung lebte in veränderter Form in einer mehr und mehr erstarkenden Institution weiter: in der römisch-katholischen Kirche. Die Kirche blieb in den oftmals chaotischen Zeiten des Frühmittelalters, wie auch das gesamte Mittelalter hindurch, eine wichtige und ordnungsstiftende Kraft auf dem Kontinent. Die Obersten der Kirche, allen voran der Bischof von Rom, stützten ihren Herrschaftsanspruch auf ihre von Gott verliehene Autorität und auf jene politischen Theorien, welche diese Anwartschaft unterstrichen. Im frühen Mittelalter entstanden sogenannte Fürstenspiegel, die den neuen Machthabern auf dem europäischen Kontinent das Idealbild des christlichen Herrschers vor Augen führen sollten.[15] Die Zwei-Schwerter-Lehre des Thomas von Aquin, die auf einem Brief von Papst Gelasius I. an Kaiser Anastasios I. beruhte (Zweigewaltenlehre)[16], sollte die unumstößliche Vorrangstellung des Papsttums vor allen weltlichen Herrschern untermauern.[17] Erst das Erstarken der weltlichen Kaiser im Hoch- und Spätmittelalter bot diesem allumfassenden Machtanspruch die Stirn und verwies ihn in seine Grenzen. Neben anderen nahm Niccolò Machiavelli in der Zeit der Renaissance dem Idealbild des Herrschers (Fürsten) den christlichen Stempel und passte es den seiner Ansicht nach realen Gegebenheiten der Politik an. Lug und Trug waren nun offiziell nicht mehr verpönt, um eigene Machtansprüche zu festigen und zu untermauern.[18] Gerissenes, moralisch nicht selten fragwürdiges Verhalten wurde dem Herrscher nun als Klugheit angerechnet. Der realpolitische Einfluss der Kirche schwand mehr und mehr und die Neuzeit brachte neue Denker, die von der Religion losgelöste Staatsphilosophien entwarfen, hervor. Thomas Hobbes, der den englischen Bürgerkrieg (1642-1649) erlebte, entwickelte z. B. einen staatsphilosophischen Ansatz, in dem der Mensch ein zutiefst bösartiges und gewalttätiges Wesen ist („Homo homini lupus“; Der Mensch ist des Menschen Wolf.)[19]. Zu seinem eigenen Besten solle er alle Macht und Freiheit einem beinahe gottgleichen Herrscher übertragen, der für Ordnung und Friede Sorge zu tragen hätte.[20] Die Gesellschaft müsse lt. Hobbes unbedingt geschützt werden – und zwar vor sich selbst! Hobbes wurde damit zu einer der wichtigsten Stützen des neuzeitlichen Absolutismus. Diesem Plädoyer für Alleinherrschaft und Machtakkumulation folgte auch eine gegenläufige geistesgeschichtliche Entwicklung. Denker wie John Locke, Charles de Montesquieu und Jean-Jaques Rousseau wollten die Macht im Staat auf verschiedene Institutionen und Gruppen verteilen, um so ein möglichst gerechtes und freies Zusammenleben, das nicht der Willkür eines Einzelnen unterliegt, zu ermöglichen.[21] Die Frühe Neuzeit (etwa 1500 – 1750) war eine Zeit der revolutionären Ideen. Der Mensch strebte mit Nachdruck nach Freiheit und Selbstbestimmung und fand hinter den oftmals erdrückenden Verhältnissen der absolutistischen Monarchien in Europa zu neuem Selbstbewusstsein. Aus der Neuen Welt kam ein Anstoß, der die Ideen der Vordenker von Freiheit und Gleichheit in sich trug. Die Amerikanische (1775-1783) und später die Französische Revolution (1789) brachten die lange verschollenen Ideen einer demokratischen Staatsführung wieder zum Vorschein. Es sollte noch mehr als hundert Jahre dauern und unzählige Opfer fordern, bis diese Ideen im Bewusstsein der Mehrheit der Menschen fruchten würden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Der Ballhausschwur, Jacques-Luis David, 1791
Heute, in einer Zeit, in der die Demokratie die überwiegende Regierungsform in der Westlichen Welt darstellt, scheint es, als wäre der Jahrtausende alte und oft hitzig geführte Diskurs über die beste Form des Staates verebbt. Die Demokratie gilt, zumindest in Europa, Australien und auch in Nordamerika, als einzig legitime und vernünftige Regierungsform. Sie gilt in den vielen Nationen, die sich ihrer bedienen, als derart selbstverständlich, dass es an rationalen und provokanten Alternativen zu mangeln scheint. Zwar gibt es auch gegenwärtig Denker, die sich mit dem Thema der Staatsphilosophie befassen, z. B. John Rawls, Jürgen Habermas oder Charles Taylor[22], aber die Demokratie bleibt dennoch stets unangetastet auf ihrem Podest, als beste und einzig vertretbare Regierungsform. Unter Umständen liegt darin auch eine Gefahr für die Demokratie. Ist sie ohne Konkurrenz, so entbehrt sie auch jedweder Begründung. Das argumentative Vakuum führt zu einer staatsphilosophischen Rechtfertigungsproblematik. Die Frage der kommenden Generationen, warum und ob die Demokratie die beste aller Staatsformen darstellt, scheint legitim. „Es wäre ein mehr als trauriger Befund, wenn man dem Staatsbürger, der nach Rechtfertigung jener politischen Gewalt verlangt, unter der er lebt, schon aus prinzipiellen Gründen jede Antwort schuldig bleiben müßte [sic].“[23]
Hier scheint eine (vielleicht sogar dringliche) Aufgabe der Staatsphilosophie der Moderne gegeben: die Reflexion der gegebenen Lebensumstände in einem Staat, beginnend bei der Frage nach einer möglichen Verbesserung staatlicher Ordnung und sich fortsetzend in der Suche nach vernünftigen Alternativen in relevanten Bereichen, in denen Altgedientes nicht mehr funktioniert. Die Aufgabenstellung lässt erahnen, dass sich die Staatsphilosophie für eine Lösung dieser Problemstellungen in zahlreichen anderen Bereichen der Wissenschaft und Philosophie bedienen wird (müssen). Erkenntnisse aus der Anthropologie, aus Biologie, Psychologie, Gehirnforschung, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, aber auch aus Ethik, Physik, Kybernetik und anderen mehr sollten im Verbund zur Beantwortung der Frage nach einer guten Lebens- und Staatsordnung beitragen können. Auch die mit der Staatsphilosophie eng verbundene politische Ideengeschichte bietet einen Fundus von Antworten auf Fragen der modernen Gesellschaft. „Politische Ideen sind also keine historischen Relikte, sie dienen dazu, dem Menschen inmitten der unüberschaubaren Fülle möglicher Auslegungen des Selbstverständnisses und der daran sinnvoll anschließenden Handlungsweisen eine gewisse Orientierung zu vermitteln.“[24] Hoerster ergänzt mit einer anderen Perspektive: „Es ist aber nun einmal eine kaum zu bestreitende Tatsache, daß [sic] die meisten der noch heute aktuellen staatsphilosophischen Kernprobleme und Lösungsalternativen schon von Denkern wie Platon und Aristoteles, Hobbes und Locke, Rousseau und Kant, Marx und Mill im Detail ausgearbeitet wurden. Und es gibt wenige Betätigungen, bei denen der philosophische Anfänger mehr lernen kann als bei der kritischen Rekonstruktion, der Übersetzung in das eigene Denken von Theorien und Konzeptionen großer, origineller Denker der Vergangenheit.“[25]
Die vorliegende Arbeit fokussiert (nicht zuletzt auch aufgrund des voranstehenden Appells) die Hauptwerke zweier herausragender (Staats-)Philosophen der europäischen Geistesgeschichte und sucht nach ihren Antworten auf die überzeitlichen Fragen der Staatsphilosophie. Welches Verhältnis haben beide Schriften zueinander, welche Bezüge lassen sich erkennen? Welcher Staat wird von den großen Denkern als ideal erkannt? Finden sich in diesen zwei Werken nützliche Antworten und Denkanstöße für die Moderne, für eine Weiterentwicklung der Demokratie? Oder sind die beiden Werke doch nur „historische Relikte“, überkommene alte Schriften, totes Wissen als philosophiegeschichtliches Phänomen?
2.2 Ziel – Methode – Begründung
Nachdem das Forschungsinteresse in der Einleitung beleuchtet wurde, gilt es, das Ziel der vorliegenden Arbeit zu fokussieren und die gewählte Methode samt Begründung vorzustellen. Das Ziel der Arbeit ist eine Analyse der staatsphilosophischen Ansätze von Platon und Augustinus, der die beiden relevanten Hauptwerke – „ Der Staat“ (Politeia) und „ Vom Gottesstaat“ (De civitate dei) – zugrunde liegen. Als Textgrundlage zu Platons Werk dient die von Karl Vretska herausgegeben Übersetzung „ Der Staat“, erschienen im Reclam-Verlag (ergänzte Ausgabe 2000). Für Augustinus wurde die im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienene vollständige Ausgabe (2. Auflage 2011) „ Vom Gottesstaat“ in der Übersetzung von Wolfgang Thimme gewählt.
Da eine vollständige und würdige Durchleuchtung und Komparation der beiden zentralen Schriften weit über den Rahmen einer Diplomarbeit hinausgeht, wird eine von Kriterien geleitete Eingrenzung des Forschungsinteresses unumgänglich. Das derart fokussierte Interesse gilt den staatsphilosophischen Fragen, die in beiden Werken behandelt und entsprechend beantwortet bzw. nicht beantwortet werden.[26] Der Fokus liegt auf den grundlegendsten Fragen der Staatsphilosophie und möglichen Antworten in diesen beiden Werken.
Der Analyseprozess wird daher von folgenden Aspekten im Sinne von Forschungsfragen initiiert und geleitet:
Was ist der Sinn des Staates?
Wodurch wird ein Staat begründet?
Welche ist die beste Herrschaftsform?
Wie werden Herrschaftsformen argumentiert?
Welche Stellung nimmt das Individuum im Staat ein?
Wozu ist ein Mensch (ein Christ) dem Staat gegenüber verpflichtet?
Eine derartige Eingrenzung des Ziels der Arbeit auf jeweils ein Werk dieser Denker, wie sie hier vorliegt, schließt gleichzeitig andere Möglichkeiten aus. Platon und Augustinus haben beide ein umfangreiches Werk hinterlassen, staatsphilosophische Antworten zu Staat, rechter Herrschaft und Pflichten des Individuums finden sich auch in weiteren Schriften, z. B. in „ Über Gesetzgebung“ (Nomoi), „ Über die Königsherrschaft“ (Politikos) oder „ Über die christliche Lehre“ (De doctrina christiana). Die Auswahl erfolgte aufgrund der Kriterien „Reputation“ und „Staatsphilosophie als zentrales Thema“. Beide Schriften stellen die Hauptwerke der Philosophen dar (Reputation) und beide Schriften handeln explizit vom Staat (zentrales Thema). „ Politeia “ erweist sich lt. Fachwelt als Höhepunkt der mittleren Schaffensperiode Platons.[27] Es ist das wahrscheinlich bekannteste Werk dieses antiken Philosophen, in dem sich auch die zentralen Aspekte der platonischen Philosophie finden. „Vom Gottesstaat“ als Hauptwerk des Augustinus’ zu bezeichnen, dahingehend etwas mehr Rechtfertigung. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass „De civitate dei" das Hauptwerk des Corpus Augustianum darstellt, wird daher wie folgt begründet: Im Gegensatz zu „Politeia“ entstand „De civitate dei" gegen Ende des literarischen Schaffens Augustins, wohingegen die „ Bekenntnisse“ (Confessiones) ein Frühwerk darstellen, entstanden nach dem augustinischen Bekehrungserlebnis 396 n. Chr.[28] Der „Gottesstaat“ kann daher als eine Art Kompendium der augustinischen Theologie und Philosophie nach dem Bekehrungserlebnis gelten, wenngleich bei jedem Versuch einer Kategorisierung ein kritischer Blick geboten ist. „Eine Systematisierung der Theol. A‘ verbietet sich, weil er selbst eine solche nie vorgenommen hat u. weil die v. seiner Biographie nicht abtrennbaren persönl. u. kirchenpol. Anlässe seiner Schriften eine Systematisierung nicht zulassen.“[29] Über die Dauer seines Schaffens verfeinerte und änderte Augustinus, wie auch Platon, an manchen Stellen seine philosophisch–theologische Position, zum Teil sogar radikal. Somit ist es schwierig, die „eine“ augustinische Philosophie darzustellen, bei der Interpretation der Texte scheint die Berücksichtigung des biografischen Kontextes angebracht. Da das besondere Interesse in dieser Arbeit dem „politischen“ Augustinus gilt und seine Staatsphilosophie im Mittelpunkt stehen soll, schien es angemessen, „De civitate dei" diesbezüglich als Hauptwerk zu identifizieren. Diese Einordnung erfolgt daher im pragmatischen Sinn mit Bezug zur Themenstellung, damit soll jedoch keine Bewertung des Gesamtwerkes zum Ausdruck kommen.
Die Auswahl von zwei Texten mit staatsphilosophischem Inhalt erfolgte gezielt, mit der Analyse von lediglich einem der beiden würde ein weiteres Ziel dieser Arbeit verloren gehen. „Christentum ist Platonismus für‘s Volk“[30], schrieb Friedrich Nietzsche in „ Jenseits von Gut und Böse“ und erklärte damit das Christentum zum „vulgären“[31] Nachfolger der platonischen Philosophie. Diese These zu widerlegen scheint schwierig, besonders dann, wenn eine Kirche sich in den gedanklichen Bahnen eines Augustins versteht. Dazu Geerlings: „Darüber hinaus bilden für A. wie für jeden antiken Denker Philos. und Theol. eine Einheit. Von daher erweist sich die Alternative Christentum od. Platonismus als Scheinproblem. A. hat sich – u. nur dieses gab es – zu einem Christentum platon. Gestalt bekehrt.“[32] Diese Interpretation scheint kaum widerlegbar, vor allem, da die „Reinigung“ der ursprünglichen und unverfälschten christlichen Botschaft vom hellenistisch-philosophischen Ballast ein erklärtes Ziel der Reformationen des 15. und 16. Jahrhunderts darstellt. Diese Arbeit zielt aber nicht auf die Frage, ob es notwendig oder angebracht ist, eine solche „Reinigung“ zu forcieren, sondern darauf, inwieweit diese These des platonischen Einflusses auf christliches Selbstverständnis im untersuchten Bereich zutrifft. Das Ziel betrifft daher explizit diese Fragen: Wie viel vom platonischen Idealstaat steckt im Gottesstaat des Augustinus? Stimmt die Behauptung, „De civitate dei" stelle ein christliches Pendant zu „Politeia“ dar? Wie aber kann das sein, wenn Augustinus selbst die „Politeia“ im Original nicht kannte?[33] Zwischen den beiden Werken liegen über sieben Jahrhunderte. Wie sollte einem Mann mit lediglich rudimentären Griechischkenntnissen ein christlich-lateinisches Gegenstück zum wohl bedeutendsten Werk der antiken Staatsphilosophie gelingen? Um dieser Frage nachzugehen, bedarf es des Verweises auf einen Autor, der in chronologischem Sinn beinahe genau in der Mitte zwischen den beiden Denkern lebte. Marcus Tullius Cicero verfasste zwischen 54 und 52 v. Chr. sein Werk zur Staatsphilosophie. „ De re publica“ stellt seinen ausdrücklichen Versuch dar, eine römische Antwort auf den Staat des Platon zu geben.[34] Ohne diese „Mittlerfigur“[35] wäre es wohl kaum möglich, Übereinstimmungen bzw. Differenzen zwischen beiden Werken befriedigend darzustellen. Cicero war es, der den späteren Augustinus durch seinen „ Hortensius“ für die Philosophie begeistern sollte. Es bleibt Spekulation, ob Augustinus ohne das Werk Ciceros jemals zu solcher Bedeutung gelangt wäre, aber es darf mit Grund angenommen werden, dass dieser Gedanken heftig bestritten wird.
Die Ähnlichkeit der Titel von „De re publica“ und „De civitate dei" ist keine zufällige. Augustinus kannte das Werk Ciceros, durch ihn lernte er in weiterer Folge auch Platon kennen. Dieser Platon war aber nicht mehr derjenige, der um 400 v. Chr. seine „Politeia“ verfasst hatte, sondern ein antiker Philosoph und Autor, dessen Schriften durch Jahrhunderte in der Überlieferung und durch einen „römischen Filter“ verändert zum Kirchenvater gelangten. Aber genau diese Entwicklung kann die Frage nach dem platonischen Erbe in einem zentralen Werk der christlichen Staatsphilosophie besonders spannend machen.
Beide Schriften, „Politeia“ wie auch „De civitate dei“, entstanden jeweils in einem historischen Kontext. In beiden Werken spiegeln sich die Verhältnisse der Epochen wider. „De civitate dei“ wurde z. B. in diesem Sinne als apologetische Schrift gegen die Anschuldigungen heidnischer Gelehrter verfasst. Das intensive Studium beider Schriften führt zur Frage, ob die Erkenntnisse der Philosophen auch für den modernen Menschen des 21. Jahrhunderts eine Bedeutung haben können. Welche der Lehren haben auch nach fast 2400 bzw. 1600 Jahren noch immer Bedeutung und warum? Finden sich darin Wahrheiten, die die Jahrhunderte überdauerten und auch für den modernen Menschen einen Gewinn darstellen können? – Fehlten Antworten auf diese Fragen, führte sich die Auseinandersetzung mit den Texten ad absurdum. Daher wird hier davon ausgegangen, dass Platon und Augustinus auch heute noch etwas zu sagen haben und sehr wohl zu Einsicht und Erkenntnis des modernen Menschen beitragen können.
Um die Aussagen beider Schriften möglichst werktreu darstellen und interpretieren zu können, schien ein Blick in die jeweils aktuelle Zeitgeschichte sowie die Einbindung in ihren philosophischen und biographischen Kontext unerlässlich. Dabei ist zu beachten, dass beide Bücher auch jeweils eigene und in sich geschlossene Kunstwerke darstellen. Mit Grund darf angenommen werden, dass beide Autoren diese Monumentalwerke nicht ausschließlich für einen lokal und zeitlich begrenzten Leserkreis verfasst haben. Obgleich eine gewisse Skepsis gegenüber einer kultur- und epochenunabhängigen Betrachtung angebracht ist, sei dennoch und Kant folgend[36] angemerkt, dass auch in diesen Werken bedeutsames Wissen für jedermann, sofern er nur Vernunft hat, enthalten ist. Ein knapper Exkurs möge dies bildhaft verdeutlichen:
Eine Person geht in ein Museum und betritt einen Raum, in dem zwei Bilder hängen. Unter den jeweiligen Bildern stehen der Titel des Werkes sowie der Name des Autors. Mehr nicht. So ausdrucksstark und vielsagend die beiden Kunstwerke auch sein mögen, beide erhalten ihre Begrenzung durch den sie umfassenden physischen Rahmen. Die Person spaziert auf und ab im Raum und betrachtet in Ruhe die Bilder. Die Frage ist nun, welche Botschaft der Besucher von beiden Werken erhält. Sind es klare, eindeutige Aussagen, oder sind sie derart abstrakt, dass der Versuch einer vernünftigen Interpretation misslingen muss? Wird der Betrachter durch die Bilder zu Nachforschung animiert, oder wendet er sich verstört ab? Was bewirken die Bilder im Betrachter? Wird er über sie nachdenken? Gewinnt er Einsichten? Erfährt er durch sie vielleicht sogar eine neue Perspektive auf die ihn täglich umgebende Wirklichkeit? Oder sind es nur zwei Bilder in einem Raum, die in ihrer nicht näher bestimmten Zeit angefertigt wurden? Das Bild bleibt das Bild. Die Schrift bleibt die Schrift. Mehr können sie nicht sein in ihrem eingeschränkten Rahmen. Es ist zunächst das einzelne Werk, dem die Person gegenübertritt. – Ein weiteres Ziel der vorliegenden Arbeit ist Erkenntnisgewinn, die im vorgestellten Bild erwähnte zusätzliche Betrachtungsweise, im besten Fall eine neue Blickrichtung auf themenrelevante Aspekte.
Die Durchführung der vorliegenden Arbeit dient einem umfassenden Einblick in beide Werke, dazu sind vor jeder der beiden Analysen auch Erläuterungen zum Autor und zur Entstehungszeit vorgesehen. Im Anschluss erfolgt jeweils eine Zusammenfassung des Werkes, der Fokus richtet sich dazu auf den staatsphilosophischen Charakter der Schriften. Danach wird ausführlich auf einzelne Aspekte und Fragestellungen der Staatsphilosophie eingegangen, sie werden in einem Wechselspiel beider Autoren dargestellt und wo dies möglich ist auch beantwortet. Sich aus der Analyse entwickelnde Thesen werden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der Vernunft begründet. Die hier diskutierten subjektiven Interpretationsansätze, Aussagen und Meinungen mögen zumindest in Teilen einer kritischen Rezeption im Sinne Sokrates´ standhalten. „Das Wichtigste in meiner Kunst ist jedoch die Fähigkeit, mit allen Mitteln zu prüfen, ob die Überlegung des jungen Mannes ein bloßes Trugbild und etwas Falsches herausgebracht hat oder etwas Lebenskräftiges und Wahres.“[37]
3. Der Philosoph der griechischen Klassik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2 Platon, Ausschnitt aus Raffaels Schule von Athen, 1510/11
Keine Philosophie, keine Idee und keine Überzeugung entsteht im luftleeren Raum. Das Denken einer Person ist immer auch ein Spiegel seiner Lebensprägung sowie der ihn umgebenden und mitformenden Kultur. Um zu verstehen, wie Platon zu seinen politischen Ideen, seiner Form der politischen Philosophie gelangte, ist es notwendig, sein Leben, soweit dies uns heute möglich ist, zu betrachten. Bei diesem Vorhaben zeigt sich bereits ein erstes, in den Geschichtswissenschaften nicht unbekanntes Problem: der Mangel an vertrauenswürdigen Quellen. Obgleich Platon ein gewaltiges Schrifttum hinterließ – 43 Werke[38] werden in seinem Namen überliefert –, findet sich darunter keine Autobiografie, die einen authentischen Blick in sein bewegtes Leben ermöglichen könnte. Daher muss bezüglich auf andere Quellen zurückgegriffen werden. Die zwei wichtigsten Dokumente bezüglich Platons Leben finden sich bei Diogenes Laertios aus dem 3. Jahrhundert n. Chr., der eine Vita der bis zu seinen Lebzeiten anerkannten Philosophen verfasste[39], und im siebten, unter Platons Namen[40] überlieferten Brief. Sein Leben anhand seiner Dialoge zu rekonstruieren, hieße den redlichen Pfad der Wissenschaft zu verlassen und zu spekulieren, besonders da Platon sich in seinen Werken nie als Person zu Wort meldet. Den genannten Quellen ist Folgendes zu entnehmen:
Platon wurde 427/428 v. Chr. vermutlich in Athen geboren. Diese Zeit, später in der Philosophiegeschichte als „Attische Philosophie“ oder „Klassik“ bezeichnet, war das Zeitalter der Polis. Der Begriff kann mit „ Stadt “ oder auch „ Burg “ übersetzt werden und stellt einen eigenen regional abgegrenzten politischen Bereich dar, der ein urbanes Zentrum – das ist manchmal aber nicht mehr als eine größere Dorfsiedlung – aufweist, zu dessen Einflussbereich auch das bäuerliche Umland zählt. Jedes Polis-Zentrum verfügte, auch wenn es noch so klein war, über eine eigene Administration und diente dem gesamten Umland auch als kultischer Mittelpunkt.[41] „Wesentlichstes Merkmal der Polis war die enge Identität von Siedlungsgemeinschaft und politischer Gemeinschaft. […] Für den auch geographisch klar umrissenen Raum einer Polis beanspruchten die Bürger eleuthería und autonomía, volle außenpolitische Freiheit und eine uneingeschränkte Möglichkeit zur Gestaltung der inneren Ordnung.“[42]
Platons Familie galt als eine der vornehmsten und ältesten von ganz Athen. Sein Vater Ariston führte seine Ahnenreihe bis auf den mythischen König Kodros[43] zurück. Auch seine Mutter Periktione konnte eine beeindruckende Stammtafel vorweisen, sie zeigte eine Verwandtschaft mit dem großen Gesetzgeber Solon auf. Seine Brüder Adeimantos und Glaukon erhielten beide eine Rolle im Dialog der „Politeia“. Seine Schwester hieß Potone, die Mutter des Speusipp, den Platon zum Nachfolger für die Leitung seiner Akademie einsetzte. Sein Vetter Kritias war, wie auch sein Onkel Charmides[44], im Jahre 404/403 v. Chr. Teilnehmer am oligarchischen Putsch in Athen. Beiden wurde die Ehre zuteil, als Namensgeber für zwei platonische Dialoge zu fungieren, wobei beide auch in anderen Dialogen als Gesprächspartner des Sokrates auftreten. Die Dialoge sind jedoch keineswegs Biografien, sondern behandeln zentrale Themen der platonischen Philosophie[45]. Die knappen Angaben deuten auf eine bestimmende politische Richtung in der Herkunftsfamilie Platons: Eine Adelsfamilie, die Zugang zu höherer Bildung hat und die wahrscheinlich ihren politischen Einfluss durch die zunehmende Demokratisierung der athenischen Polis schwinden sieht. Einen Höhepunkt findet diese politische Tendenz in der Unterstützung der von Sparta installierten Oligarchie in Athen.
Nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges im Jahre 404 v. Chr., das die Kapitulation Athens bei Aigospotamoi zur Folge hatte, offenbarte sich erneut die tiefe Krise der griechischen Staatenwelt. Sparta ging als Sieger aus dem Konflikt hervor und versuchte, durch diesen Erfolg seine Position auf dem Peloponnes wie auch im restlichen Griechenland zu stärken. In Athen wurde die Demokratie abgeschafft und es folgte die berüchtigte Herrschaft der 30 Tyrannen, eine strenge Oligarchie, unterstützt von einer spartanischen Besatzungseinheit. Obgleich sich diese Regierung nur acht Monate halten konnte, forderte sie das Leben von knapp 1500 politischen Gegnern.[46]
Es ist nicht auszuschließen, dass auch für Platon eine politische Karriere vorgesehen war und er diese vielleicht auch anstrebte. Die Brutalität und Ineffizienz der politischen Herrschaft der Tyrannenregimes schockierte ihn jedoch und erschütterte sein Vertrauen in die Politik zutiefst. Nach dem frühen Tod des Vaters heiratete seine Mutter erneut, und zwar einen Freund des Perikles, Pyrilampes. Mit ihm war ein pro-demokratischer Vertreter in der Familie präsent.[47] Dennoch legte Platon seine Skepsis gegenüber einer rein demokratischen Staatsform nie ab, wie auch aus seinen politischen Schriften hervorgeht.
Die attische Demokratie [48] des 4. und 5. Jh. v. Chr. beruhte in ihren Grundsätzen auf dem politischen Reformprogramm Solons (640 v. Chr. – 560 v. Chr.) aus dem 6. Jh. v. Chr. Sie entstand nicht aus einer philosophischen Theorie, sondern war geprägt vom Gedanken nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit der griechischen Bürger sowie von den jeweiligen gesellschaftlichen Veränderungen.[49] Die isonomía[50] des Kleisthenes (570 – 507 v. Chr.), der als ein weiterer zentraler Wegbereiter der attischen Demokratie gilt, war ein ebenfalls erfolgreicher Versuch, eine möglichst gleichwertige Partizipation aller Bürger, nicht nur des Adels, zu verstärken. Es darf davon ausgegangen werden, dass dieser Trend zu einer politischen Gleichberechtigung nicht überall mit Wohlwollen gesehen wurde; aber entgegen aller inneren und äußeren Widrigkeiten setzte sich die Demokratie durch und fand, wie Gehrke es ausdrückt, in der Zeit des Perikles (490 – 429 v. Chr.) und mit dessen Unterstützung ihre „Vollendung“.[51]
Diese turbulenten Verhältnisse, in die Platon hineingeboren wurde – seine Geburt fiel in die Zeit des Peloponnesischen Krieges –, und der ständige Wechsel der politischen Machtkonstellationen dürfte wohl einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu einer allgemeinen Skepsis in der Bevölkerung gegenüber allen realpolitischen Herrschaftsmodellen geleistet haben. In den letzten drei Büchern der „Politeia“ werden die möglichen Gefahren der Entartung der verschiedenen Staatsformen aufgezeigt.
Eines der prägendsten Erlebnisse für den jungen Platon war wahrscheinlich die Begegnung mit Sokrates. Mit 20 Jahren schloss er sich ihm an und blieb bis zu seiner Verurteilung 399 v. Chr. sein Schüler.[52] Sein Denken und vor allem seine Auffassung von Philosophie als eine Art Therapie für die unsterbliche Seele, die dem Ziel des wahrhaft guten Lebens dienen solle, spiegeln sich in allen Dialogen Platons wider.[53] Die platonische Ideenlehre entspringt der Grundlegung des Gedankens der sokratischen Gesprächsführung, die davon ausgeht, dass es möglich ist, eine für alle verbindliche und verständliche Definition der verschiedenen Begriffe (z. B. Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit) zu erkennen, da diese bereits a priori in der für den Philosophen einsichtigen Welt der Ideen existieren.[54] Platon ist kein Fach-Philosoph, der in strikt abgegrenzten Bereichen denkt.[55] Sein Denken vollzieht sich universalistisch. Er versucht die Grundprinzipien allen Seins hinter den gegebenen Erscheinungen der Einzeldinge zu erkennen. Somit ist auch die Politik nicht abgekoppelt von anderen Lebensbereichen, sondern ein zentraler Teil zu einem glücklichen Leben des Einzelnen. Sie ist für ihn zugleich Grundbedingung und Notwendigkeit, damit der Mensch eine gute Lebensführung erreichen kann. Der Mensch ist, wie es Aristoteles später benennen wird, ein zoòn politikòn, ein Polis-Wesen.[56] Politik im Großen, im gesamtgesellschaftlichen Bereich, und Ethik im Kleinen, im zwischenmenschlichen und individuellen Bereich, dienen für Platon dem gleichen Ziel: der eudaimonìa („Glückseligkeit“).[57]
Laut Platon kann dieses Ziel jedoch nur vom wahren Politiker gewährleistet werden, d. h., von Menschen, die ihr Leben ganz der Philosophie verschrieben haben und ihre Einsichten zum Wohle des Volkes nutzen. „Platons politischer Hauptgedanke ist, daß [sic] theoretische Einsicht mit politischer Praxis vereint werden muß [sic]: der König muß [sic] Philosoph oder umgekehrt der Philosoph König werden.“[58] Mit dieser Haltung vor Augen lässt sich erahnen, welchen Verlust und welchen Schmerz der Tod des Sokrates, den Platon in Gorgias als den einzig wahren Politiker bezeichnet[59], für ihn und vermutlich auch für andere Schüler, bedeutet haben muss. Dieses Ereignis dürfte auch den Ausschlag für den völligen Bruch Platons mit der Athener Politik gegeben haben. Falsche Vorstellungen von Gerechtigkeit, korrumpierte Amtsausübung und die zunehmende Einsicht betreffend die Unzulänglichkeit und Ziellosigkeit der athenischen Politik begründen unter anderem auch Platons zeitweiligen Abschied von der Stadt.
389 – 387 v. Chr. unternahm Platon eine längere Bildungsreise. Deren genaue Route ist nur unvollständig zu rekonstruieren, als gesichert gilt ein längerer Aufenthalt in Unteritalien und Sizilien[60], der unter anderem zu einem Austausch mit den ansässigen Pythagoreern und vermutlich auch zu Kontakten mit orphisch-dionysischen Kreisen genutzt wurde.[61] In Sizilien verweilte Platon auch einige Zeit am Hofe des Tyrannen Dionysios I. von Syrakus. Der Versuch, diesen für seine politischen Ideen zu begeistern, endete jedoch in einem Fiasko, das dazu führte, dass Platon bei seiner Rückreise in Gefangenschaft geriet und sogar als Sklave verkauft wurde. Erst als sein Herr Annikeris erkannte, wen er eigentlich erworben hatte, ließ dieser ihn wieder frei. Die in Syrakus entstandene Freundschaft zu Dion, dem Schwager des Dionysios und begabten Philosophieschüler, erhielt Platon jedoch über die folgenden Jahre hinweg aufrecht. In dieser biografischen Episode zeigt sich einer von vielen gescheiterten Versuchen Platons, philosophische Theorie in die Praxis überzuführen.
Zurück in Athen eröffnete Platon 387 v. Chr. schließlich seine Akademie. Lange nach seinem Tod sollte diese Akademie noch bestehen bleiben und die Gedanken ihres Gründers fortführen sowie den Nährboden für einige der berühmtesten Philosophen der Weltgeschichte bieten, allen voran seinem wohl bekanntesten Schüler Aristoteles von Stageira. Die Schließung Akademie 529 n. Chr. und die im selben Jahr erfolgte Gründung der Abtei Montecassino stellt für viele Historiker das symbolische Übergangsdatum von der Antike zum europäischen Mittelalter dar. Der Besuch der Akademie war unentgeltlich, sie wurde aus Platons Privatvermögen finanziert. Das Verhältnis der Schüler, darunter auch Frauen, zur Akademie war unterschiedlich: Während einige ihren Lebensmittelpunkt in ihr fanden, waren andere nur temporäre Gäste. Die diskutierten Themen beinhalteten den gesamten Bereich der damaligen Wissenschaften (Rhetorik, Astronomie, Ethik etc.).
In den ersten beiden Jahrzehnten der Lehrtätigkeit Platons soll unter anderem auch die Politeia entstanden sein. Unterbrochen wurde die Arbeit daran durch zwei weitere Reisen nach Sizilien (367/366 und 361/360 v. Chr.). Erneut versuchte Platon seine staatstheoretischen Vorstellungen, diesmal unter Dionysios II., in die Tat umzusetzen und wieder endete der Versuch in einem Fehlschlag. Sein Freund Dion putschte gegen den Tyrannen, geriet in Gefangenschaft und starb bei einem Attentat. Platon hatte sich gegen den Putsch ausgesprochen, das gewaltsame Ende der Episode sollte schließlich auch das Ende der Bemühungen Platons, aktiv auf die Real-Politik seiner Zeit Einfluss zu nehmen, darstellen. Die restlichen Jahre bis zu seinem Tod (348/347 v. Chr.) verbrachte er forschend und lehrend in Athen. Trotz des Spottes, dem er zu Lebzeiten in Teilen der Öffentlichkeit, besonders in den Komödien des griechischen Theaters, ausgesetzt war, starb er als hochgeehrter Philosoph mit großem Ansehen. Sein Vermächtnis sollte die Jahrhunderte überdauern, sein Gesamtwerk, das Corpus Platonicum [62], eine Rezeption bis in die Gegenwart erfahren.
Platon scheint in seinen staatsphilosophischen Anschauungen und Ideen beharrlich, obwohl seine Bemühungen um die Etablierung des Modells scheitern. Das Thema beschäftigt ihn bis zu seinem Tod, wovon sein umfangreichstes (staatstheoretisches) Werk, Nomoi („Über die Gesetzgebung“), das postum erscheint, lebhaft Zeugnis ablegt. Die Beharrlichkeit Platons kann auch als Bekenntnis zu einer Philosophie, die sich vor allem dem Dienst am Menschen verpflichtet fühlt, interpretiert werden.
4. Die Politeia
4.1 Gliederung und Inhalt
Die Politeia ist das zentrale Werk des Corpus Platonicorum. Sie entstand lt. aktuell gültiger Zuordnung in der mittleren Schaffensperiode ihres Autors und stellt eine Art Zusammenfluss aller bis dahin erlangten Einsichten und Erkenntnisse bzw. den Versuch einer Beantwortung der letzten Fragen dar. „In diesem Werk findet man fast sämtliche Grundmotive platonischen Philosophierens 'architektonisch' […] von einem Prinzip oder Ursprung, dem Guten, her wohlgegliedert zusammengestellt: das ästhetische, das ethische, das politologische, das religiöse, das metaphysische, das psychologische, das wissenschafts- und erkenntnistheoretische, das 'paideutische' [„erzieherische“] etc. Grundmotiv. Nur der kosmologische Themenkreis fehlt. Dieser wird später mit dem, sich an den Staat ausdrücklich anlehnenden, neuen Hauptwerk Timaios ergänzt.“[63] Die Werke der Spätphase können daher (mit Einschränkungen) auch als Spezialisierungen und Vertiefungen der in der Politeia aufgezeigten Grundgedanken verstanden werden. Das Werk entstand vermutlich über einen längeren Zeitraum hinweg, genau ist seine Entstehungszeit jedoch nicht zu bestimmen. Der Hauptteil dürfte wohl zwischen 390 und 370 v. Chr. entstanden sein.[64] Andere Teile, wie etwa Buch I, könnten schon früher abgefasst worden sein. Umstritten ist, ob Buch I zunächst als eigenständiges Werk angelegt war und erst später zum Hauptteil der Politeia adaptiert wurde. Die große Ähnlichkeit zu den aporetischen Schriften der Frühphase lässt dies vermuten. Oftmals wird dieser Teil auch als Thrasymachos bezeichnet, angelehnt an die Betitelung der Dialoge nach ihrem Hauptgesprächsteilnehmer. Ob es sich bei Buch I wirklich um einen zunächst selbstständigen Dialog handelte, ist jedoch nicht mit Gewissheit zu bestimmen, da die vorbereitende und thematisch einleitende Funktion dieses Teiles für das restliche Buch deutlich hervortritt.[65]
Die heute geläufige Einteilung des Werkes in zehn Bücher, unterteilt in 13 bis 24 Kapitel, dürfte wohl nicht von Platon selbst, sondern von einem späteren Herausgeber stammen (Thrasyllos, 1. Jh. n. Chr.?). Die einzelnen Teile der Politeia lassen sich jedoch gut in fünf Bereiche wie folgt strukturieren:
1) Buch I – Buch II, 9 als eine Art Proömium und Vorbereitung;
2) Buch II, 10 – Buch IV erzählt von der Entstehung des (Wächter-)Staates und von der Erziehung der Wächter;
3) Buch V – VII behandelt einzelne Lebensaspekte im Idealstaat sowie die Erziehung und das Wesen der Philosophenherrscher;
4) in Buch VIII – IX werden die Verfallsformen des Staates aufgezeigt;
5) Buch X gilt als Schluss und beinhaltet neben der abschließenden Beleuchtung einzelner Themen den Mythos des Er und die Erzählung vom Lohn der Gerechtigkeit.[66]
Auch andere Gliederungen sind möglich, doch scheint diese durchaus sinnvoll und übersichtlich und gilt daher auch für die vorliegende Arbeit.
Die Politeia ist wie alle anderen Werke Platons als Dialog konzipiert. Diese den Autor auszeichnende Dialogform ist nicht nur ein bestechendes literarisches Merkmal, sondern auch ein Ausdruck des platonischen Philosophie- und Lehrverständnisses. Der Dialog ist offen, nimmt Fragen des Gegenübers ernst und bedient sich, um des Verständnisses willen, einer einfachen und nachvollziehbaren Sprache. Eine protreptische, also zur Philosophie anregende Intention des Verfassers darf angenommen werden.[67] Zudem finden wir in Platons Schriften auch oftmals Worte des Vorbehaltes gegenüber einer geschriebenen Lehre. Die Art und Weise der sokratischen Gesprächsführung in den Werken Platons mahnt Respekt ein und wirft ein oft allzu beschämendes Licht auf die (politische) Diskussionskultur der Moderne.
„ Über das Gerechte “ lautet der Untertitel der Politeia. Die Frage nach der wahren Gerechtigkeit und wie diese im Staate, vor allem aber im Menschen zu verwirklichen sei, ist das Leitthema des gesamten Buches. Auch in den Dialogen Gorgias und Menon wird dieses Thema behandelt, jedoch keineswegs in der Ausführlichkeit der Politeia. Die Gerechtigkeitsfrage ist der eigentliche Ausgangspunkt des Dialoges. Die Entwicklung eines Staatskonzepts dient Platon nahezu ausschließlich der Suche nach dem Wesen der wahren Gerechtigkeit. Ausgehend vom Individuum entwickelt sich der Dialog anhand der größeren Dimension des Staates.
>>Das will ich dir sagen! Gerechtigkeit ist doch Sache des einzelnen Menschen wie eines ganzen Staates?<< Sokrates
>>Gewiß!<< Adeimantos
>>Ein Staat ist doch größer als ein einzelner Mann?<<
>>Natürlich!<<
>>Vielleicht ist nun in einem größeren Gebilde eine größere Gerechtigkeit drinnen, die leichter zu erkennen ist? Wenn ihr wollt, dann untersuchen wir zuerst an den Staaten ihr Wesen und dann wollen wir sie auch in jedem einzelnen betrachten, wobei wir das Größere in seiner Ähnlichkeit mit der Gestalt des Kleinen überprüfen.<<
>>Das sagst du trefflich!<<[68]
Dieser Aspekt, die Analogie der Gerechtigkeit im Individuum wie im Staat, scheint bei der Betrachtung des gesamten Werkes ausschlaggebend für interpretative Ansätze. Mit dieser Perspektive sollte auch der Zugang zu diversen Thesen, die heute nur mit Mühe nachvollziehbar scheinen, möglich werden.[69]
4.2 Proömium (Buch I – Buch II, 9)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3 Künstlerische Darstellung der Agora des klassischen Athens
In der Vorrede oder Einleitung des Werkes erzählt Sokrates (Platons Lehrer) über seine und Glaukons (Platons Bruder) Teilnahme am Fest zu Ehren der thrakischen Göttin Bendis. Auf dem Heimweg werden sie von Polemarchos, Sohn des Kephalos (Emigrant und Unternehmer aus Syrakus) und Freund des Sokrates, und dessen Begleitern, darunter Adeimantos (Bruder Platons) und Nikeratos (Sohn des athenischen Feldherrn Nikias) aufgehalten und zu einem Besuch im Haus des Polemarchos genötigt. Freundlich werden sie dort von Kephalos, Lysias und Ethydemos (ebenfalls Söhne des Kephalos), Thrasymachos (Sophist; stammt aus einer früheren Generation als Platon) und dessen Schüler Kleitophon und Charmantides empfangen.[70]
Das Gespräch beginnt mit einer Unterhaltung über die Bürde und die Freude des Greisenalters und entwickelt sich schnell zum zentralen Begriff der Gerechtigkeit. Laut Kephalos besteht Gerechtigkeit darin, weder Menschen noch Göttern etwas schuldig und stets bei der Wahrheit zu bleiben. Somit erweist sich Reichtum als verdienstvoll und nützlich für ein gerechtes Leben und Sterben.[71]
>>[…] Der Besitz des Geldes ist sehr wertvoll, doch nicht für jedermann, sondern nur für den vernünftigen und ordentlichen Menschen. Denn wenn man niemanden auch nur unabsichtig betrogen oder belogen hat, wenn man nicht Gott ein Opfer noch Menschen Geld schuldet und daher ohne Furcht hinüber gehen kann, dann hat ein reichlich Verdienst daran der Besitz an Vermögen […]<< Kephalos[72]
Sokrates nimmt diese Worte zwar wertschätzend an, doch entkräftet sogleich die These mit dem Beispiel, dass es nicht gerecht sei einem dem Wahnsinn verfallenen Freund die von ihm erhaltenen Waffen zurückzugeben. An dieser Stelle meldet sich Polemarchos zu Wort. Er versucht, die Meinung des Vaters zu stützen und präzisiert mit einem Wort des Simonides[73].
>>Die Schuld einem jeden zurückzuerstatten ist gerecht: das hat er doch gut gesagt!<< Polemarchos [74]
Einem Freund das ihm Geschuldete, das Gute, zu erstatten und einem Feind das Böse, das man ihm schulde, sei, so Polemarchos, gerecht.
>>Also: den Freunden zu nützen, den Feinden zu schaden, das nennt er Gerechtigkeit?<< Sokrates
>>Ja!<< Polemarchos [75]
Sokrates führt diese Definition anhand von Beispielen an ihre Grenzen. Nach der Frage, wer eigentlich ein wahrer Freund bzw. wahrer Feind und nicht nur dem Anschein nach ein solcher ist, schließt Sokrates seine Widerlegung mit der Behauptung, dass sich ein Gerechter nicht der Ungerechtigkeit bedienen dürfe, um Gerechtigkeit herzustellen.[76]
>>Wer also meint, jedem dem schuldigen Teil abzustatten sei gerecht, und er meint damit, den Feinden gebühre vom Gerechten zu schaden, den Freunden zu Nutzen – dieser Mensch ist nicht weise; denn er sagt nichts Wahres. Unter keinen Umständen ist es nach unserem Ergebnis gerecht jemand zu schädigen!<< Sokrates[77]
Im Anschluss an dieses Gespräch ergreift Thrasymachos energisch das Wort und wirft Sokrates in aggressiver Weise leere Worte vor.[78] Sokrates bittet Thrasymachos um seine Sicht der Dinge. Dieser will für seine Lehren, in sophistischer Manier, Bezahlung einfordern, verzichtet aber, um des erhofften Lobes willen.
>>Höre nun!<< sagte er [ Thrasymachos ]. >>Denn ich behaupte dies: Das Gerechte ist nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren. Warum lobst du mich nicht? Du willst eben nicht!<<
[…]
>>Jede Herrschaft gibt die Gesetze nach ihrem Vorteil, die Demokratie demokratische, die Tyrannis tyrannische usw. Nach diesen Gesetzen kündigen sie diesen ihren eigenen Vorteil als das Gerechte für die Untertanen an, und jeden, der es übertritt, bestrafen sie, weil er das Gesetz verletze und Unrecht tue. Und dies ist, mein Bester, was – so behaupte ich – in allen Staaten in gleicher Weise >gerecht< ist, nämlich der Vorteil der bestehenden Herrschaft. Diese ist an der Macht, so daß für jeden, der nur richtig überlegt, daraus folgt: Überall ist das Recht dasselbe, nämlich der Vorteil des Mächtigeren!<< Thrasymachos [79]
Gerechtes Handeln, im konventionell anerkannten Sinne, bringe sogar mehr Nachteile als Vorteile. Der Ungerechte sei daher der Klügere und Glücklichere (Gerechtigkeit als „dummedle Gutmütigkeit“[80] ). Nach einigen Bitten um Präzisierungen seiner Meinung beginnt Sokrates, in einem Wechselspiel mit Thrasymachos, bei welchem sich auch Kleitophon zu Wort meldet, seine Gegendarstellung. Am Beispiel der Künste (Technê-Analogie) zeigt Sokrates auf, dass diese immer dem dienen, für den sie angewendet werden (z. B. die Heilkunst zum Wohle des Patienten, die Herrschaft zum Wohle der Beherrschten).[81] Des Weiteren behauptet Sokrates, mit Zustimmung des Thrasymachos, dass das Wesen der Ungerechtigkeit darin liege, Zwietracht und Hass zu verbreiten.[82] Da dies im Kleinen wie auch im Großen gelten müsse, so kann ein ungerechter Mensch oder Staat nicht bestehen, da er von innerem Hader zerfressen und somit handlungsunfähig ist. Nur die Gerechtigkeit schafft Ordnung im Menschen wie im Staate und ist somit Garant für ein seliges und glückliches Leben.
Das Buch I endet, mit dem Eingeständnis des Sokrates, das eigentliche Wesen der Gerechtigkeit nicht dargelegt zu haben, in einer Aporie.[83]
Zu Beginn von Buch II betitelt Sokrates selbst die Ausführungen aus Buch I als Vorspiel. Glaukon fragt nun, zu welcher Art von Gut die Gerechtigkeit zu zählen sei? Geschieht Gerechtigkeit um ihrer selbst willen oder ihrer selbst und der Folgen willen oder nur um der Folgen willen? Für Sokrates ist Gerechtigkeit als solche und ihrer Konsequenzen wegen erstrebenswert.[84] Um Sokrates nun endlich zu einer Stellungnahme gegen die Thesen des Thrasymachos zu drängen, nimmt Glaukon, wie in weiterer Folge auch Adeimantos, die Position des Thrasymachos ein – dies gegen ihre eigene Intention – und verschärft diese noch.[85] Gerechtigkeit wird zunächst kontraktualistisch dargestellt, sie walte, um Unrecht zu verhindern. Verträge und Gesetzte werden zu diesem Zwecke errichtet.
>> Dies sei Ursprung und Wesen der Gerechtigkeit, die in der Mitte zwischen dem höchsten Gut – Unrecht zu tun, ohne Strafe zu erleiden – und dem größten Übel – Unrecht zu leiden, ohne sich rächen zu können – gelegen sei<< Glaukon[86]
Menschen handeln nur gerecht, weil sie ohnmächtig sind, ungerecht zu handeln.[87] Das Leben als Ungerechter im Scheine eines Gerechten, sei dem Leben als wahrhaft Gerechten, der aber als ungerecht gilt, vorzuziehen. Diese Position des Scheins der Gerechtigkeit zum Ziele gesellschaftlicher Anerkennung und positiver Folgen greift auch Adeimantos auf und behauptet, dass dieses Verhalten bereits in der Erziehung der Jugend propagiert wird. Auch in Bezug auf die Götter hätte der Ungerechte ein besseres Los, da dieser die Götter durch seinen ungerecht erworbenen Reichtum mit großen Opfern, wohlgesonnen stimmen kann, sofern diese überhaupt existieren.[88]
>>Mit welcher Begründung sollen wir also der Gerechtigkeit den Vorzug vor der schwersten Ungerechtigkeit geben? Wenn wir uns diese unter dem Schein der Anständigkeit aneignen, werden wir uns vor Göttern und Menschen im Leben und im Tod wohl fühlen, wie es die meisten und hervorragendsten Menschen behaupten. Wo gibt es, mein Sokrates, nach all dem Gesagten noch ein Mittel, die Gerechtigkeit zu wollen, wenn man hochbegabt an Leib und Seele, reich und edler Abkunft ist? Müsste man daher nicht eher lachen, wenn man sie loben hörte?<< Adeimantos [89]
4.3 Die Entstehung des Staates sowie Ausbildung und Leben des Wächterstandes (Buch II, 10 – Buch IV)
Um die Untersuchung des Wesens der Gerechtigkeit zu würdigen und die Anfragen der Vorredner zufriedenzustellen, beginnt Sokrates zunächst seine Ausführungen über die Entstehung des (Ideal)Staates.[90] Als Begründung führt er die Analogie von Individuum und staatlicher Herrschaft (Polis) bezüglich der Gerechtigkeit an. Die Gerechtigkeit als Eigenschaft des Individuums lässt sich besser verstehen, wenn man zunächst ihr Wesen im Staat untersucht.[91] Ursprung des Staates ist die Bedürftigkeit des Einzelnen und der Wunsch nach Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnen).
>>Ein Staat entsteht, wie ich glaube<<, so begann ich, >>deshalb, weil keiner von uns auf sich allein gestellt sein kann, sondern vieler anderer Bedarf. Oder glaubst du an einen anderen Ursprung des Staates?<< Sokrates[92]
Dieser Staat besteht zunächst (nur) aus Handwerkern, Bauern und Händlern, ist aufgrund der verschiedenen Begabungen der einzelnen „Bürger“ arbeitsteilig gestaltet und darf, um seinen Erhalt zu garantieren, nicht zu groß oder zu klein sein.[93] Er wird von Glaukon (Pol. II, 13) als „Schweine-Staat“, von Sokrates aber als der gesunde Staat bezeichnet.[94] Da sich dieser Staat lt. Glaukon nur wenig von der Lebensweise der Tiere unterscheidet, müsse eine „Zukost“ hinzukommen.[95] Durch diese Zukost bzw. das Mehrwollen der Bürger (Theater, Schmuck, Rhapsodien, …) entwickelt sich der gesunde zu einem üppigen, einem aufgeschwemmten Staat.[96] Aufgrund der steigenden Bedürfnisse des Staates und seiner Einwohnerzahl reicht das Land zur Bedürfnisbefriedigung nicht aus. Der Staat gerät daher in kriegerische Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn[97] und benötigt dazu einen neuen Berufsstand: die Wächter.[98] Im Folgenden schildert Sokrates ausführlich Auswahl, Erziehung, Leben und Aufgaben der Wächter im Staat. Diese sollen aus den Besten des Staates, nach ihren natürlichen Anlagen, rekrutiert werden. Er vergleicht das Wesen eines guten Wächters mit jenem eines guten Wachhundes.
>>Unterscheidet sich, glaubst du, ein edler Wachhund in seiner Eignung zum Wachen von einem edlen Jüngling?<< Sokrates
>>Wie meinst du das?<< Glaukon
>>Beide müssen wohl höchst wachsam sein, behend im Verfolgen, wenn sie etwas bemerkt haben, auch noch kräftig genug, wenn es gilt, nach dem Zupacken zu kämpfen.<<
>>Natürlich!<<
>>Kann ein Wesen tapfer sein, wenn es nicht mutvollen Herzens ist, ob Hund oder Pferd oder ein anderes Lebewesen? Oder hast du noch nicht bemerkt, wie unwiderstehlich und unbesiegbar der Mut ist, durch den jede Seele gegen jede Gefahr furchtlos wird und unüberwindbar?<<
>>Gewiss bemerkte ich dies!<<[99]
Grimmig und aggressiv den Feinden, aber treu dem eigenen, vertrauten Volk gegenüber müssen die Wächter sein. Lerneifer und Mut, Schnelligkeit und Kraft zeichnen diesen Stand aus. Sogleich nimmt Sokrates eine mögliche Frage vorweg und beschreibt, wie nun die Erziehung zu solchen Idealen gestaltet sein muss.[100]
>>Wie sieht nun diese Erziehung aus? Es lässt sich wohl schwer eine bessere finden als die seit uralter Zeit erprobte? Es ist dies für den Körper die Gymnastik, für die Seele die Kunst der Musen.<< Sokrates[101]
Sokrates beginnt, die beste Form der musischen Erziehung mit einem Hinweis auf die richtige Erzählung näher zu erläutern. Auf den richtigen Inhalt der Erzählungen ist großer Wert zu legen.
>>Fürs erste müssen wir die Märchendichter bewachen; ihre guten Schöpfungen lassen wir zu, ihre schlechten scheiden wir aus. Die ausgewählten lassen wir dann den Kindern von Ammen und Müttern erzählen und so ihre Seelen durch die Erzählungen mehr formen als die Körper durch ihre Hände. Die gegenwärtig erzählten Märchen sind zumeist auszuscheiden.<< Sokrates[102]
Alles, was Zucht und Anstand zuwider läuft, soll verboten werden. Sokrates verwirft auch Homer und Hesiod, da diese in ihren Erzählungen Heroen und Götter als in ihrem Wesen schlecht darstellen.[103] Auf die Frage des Adeimantos, welche Erzählungen nun förderlich sind, gibt Sokrates nur eine Richtlinie vor – er selbst sei ja kein Dichter. Epos, Lied und Tragödie haben sich an der Wahrheit und am Guten der Götter zu orientieren, da diese Garant für Nützlichkeit und somit auch Ursache des Glücks sind.[104] Der Gott, im Gegensatz zu den weltlichen Dingen vollkommen und unwandelbar, trügt den Menschen auch nicht durch Formwandlung.[105] Die Erkenntnis des Wahren hinter möglichen Trugbildern ist für den Menschen zentral.[106] Gott bedarf des Truges bzw. der Lüge nicht, doch dem Menschen kann sie, sofern für das Gute eingesetzt (gegen Wahnsinnige oder Feinde), dienlich und somit erlaubt sein.
Des Weiteren sollen die Dichter angewiesen werden, Erzählungen über den Hades, somit über das Leben nach dem Tod, als positiv darzustellen, um der Angst vor dem Tod vorzubeugen.[107] Wehklagen und Jammer der Heroen und Götter in den Erzählungen sollen ebenfalls getilgt werden. Auch der musische Bereich der Erziehung diene somit der „Abhärtung“ der Wächter. „Lachlustig“ sollen sie nicht sein und auch das Lügen ist ihnen verboten. Nur den Herrschern ist es zum Wohle des Staates erlaubt, zu lügen.
>>Schließlich muss man die Wahrheit über alles stellen! Denn wenn unsere frühere Behauptung richtig ist, die Götter also die Lüge tatsächlich nicht brauchen, Menschen sie aber wie eine Arznei verwenden können, dann muss man sie offensichtlich den Ärzten anvertrauen. Laien aber dürfen sie nicht berühren! […] Nur den Herrschern des Staates kommt es – wenn jemandem überhaupt – zu, die Lüge um der Feinde oder der Bürger willen zum Nutzen des Staates zu gebrauchen.<< Sokrates[108]
Selbstbeherrschung, Standhaftigkeit, Unbestechlichkeit und Demut sind weitere Tugenden, die die Wächter vereinigen müssen.[109] Erneut bekräftigt Sokrates die wichtige Vorbildfunktion der Heroen in den Erzählungen. Sie müssen in makellosem Licht erstrahlen, um die Jugend nicht durch ihre Schwächen zum Schwachen zu verleiten.
Als nächster Schritt erfolgt ab Pol. III, 6 die Untersuchung der besten Form der Erzählung. Die für Sokrates auf Nachahmung[110] beruhenden dichterischen Formen der Tragödie und Komödie scheiden aus. Da sich die Wächter an makellosen Heroen orientieren sollen, spricht sich Sokrates für die epische Dichtung zur Erziehung aus.[111] Auch die Rhythmik (am besten mit geringer Abwechslung) spielt dabei eine Rolle. Wie die Erzählung müssen auch Gesang und Lied sowie die Auswahl der Instrumente kontrolliert werden. Das Lied, zusammengesetzt aus Wort, Tonart und Rhythmus darf nicht jämmerlich oder verweichlichend wirken (Dorisch-phrygische Tonart wird bevorzugt).
>>Deshalb also, mein Glaukon<< sagte ich [Sokrates], >>ist die Erziehung durch Musik so überaus wichtig, weil am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihr edle Haltung verleihen: solch edle Haltung erzeugen sie, wenn man richtig erzogen wird, wenn nicht, dann die entgegengesetzte.[…]<< Sokrates[112]
Für Sokrates stellt die Beaufsichtigung der Künstler (Dichter, Maler, …) und die Ausweisung jener, welche nicht dem Bildungsideal entsprechen, eine Reinigung der Polis dar, der die üppige Polis bedarf.[113]
Nun geht Sokrates näher auf den gymnastischen Teil der Erziehung ein.
>>[…] Ein tüchtiger Körper schafft sich, glaube ich, niemals durch seine Tüchtigkeit eine gute Seele, sondern im Gegenteil vervollkommnet eine tüchtige Seele durch ihre Kraft den Körper aufs beste.[…]<< Sokrates[114]
Folgende Grundsätze sind lt. Sokrates für die Ausbildung eines vitalen und gesunden Körpers notwendig: Von Trunkenheit müssen die Wächter absehen. Gebratenes Fleisch ohne Gewürze sollen sie verzehren. Einfache und vernünftige gymnastische Übung sollen sie verrichten. Wie die Musik soll auch die Gymnastik einfach und gemäßigt sein. Lt. Sokrates sollen sich die Wächter dabei nicht an Athleten orientieren, da diese nicht, für den Krieg trainieren. Neben der Stärkung des Körpers soll die Gymnastik auch den Mut der Wächter stärken. Ziel der gymnastischen Erziehung ist es, „die Ärzte zu schonen“.
>>Wenn Zügellosigkeit und Krankheiten im Staate überquellen, dann öffnen sich Gerichte und Krankenhäuser, und die richterliche und ärztliche Kunst macht sich wichtig, zumal wenn sich Freie eifrig ihrer annehmen!“ […] Es gibt keinen besseren Beweis für die schlechte und schmähliche Erziehung in einem Staat, als wenn nach bedeutenden Ärzten und Richtern nicht nur die geringen Leute und Handwerker rufen, sondern auch jene Männer, die vorgeben, in freier Haltung erzogen zu sein. […]<< Sokrates [115]
Nur akute Behandlungen soll ein Arzt durchführen und nicht „Diäten“ zur Heilung des Körpers aufsetzen. Im Gegenteil, Sokrates verlangt von den Ärzten sogar, Menschen mit siechen Körpern sterben zu lassen und seelisch unheilbar Missratene zu töten. Ohne Umschweife stimmt ihm Glaukon auch zu.[116]
Abschließend erklärt Sokrates erneut das Ziel der Erziehung: Wildheit und Weichlichkeit durch maßvolle Abstimmung aufeinander in ein harmonisches Verhältnis zu bringen, um Besonnenheit und Tapferkeit der Seele zu fördern.
>>Wer nun, lieber Glaukon, eine Erziehung auf musischer und gymnastischer Erziehung aufbaut, macht dies nicht in der Absicht, die viele vermuten, damit nämlich durch die eine Kunst der Leib, durch die andere die Seele ausgebildet werde.<< Sokrates
>>Sondern warum?<< Glaukon
>>Beides richtet man vor allem wegen der Seele ein!<<[117]
[…]
>>Für diese beiden Anlagen gab, so glaube ich, ein Gott dem Menschen die zwei Künste der Musik und der Gymnastik, für das Mutvolle und das Geistige in ihm, nicht für die Seele und den Leib getrennt, oder doch nur nebenbei, sondern für beide Anlagen gemeinsam, damit sie in maßvoller Spannung und Lockerung zur Harmonie zusammenklingen.<< Sokrates[118]
In III, 19 geht Sokrates nun einen Schritt weiter und fragt, wer im Staate nun Herrscher sein soll. Für ihn gilt, dass nur die Besten, ausgewählt aus dem Wächterstand zur Herrschaft berufen sind. Diese müssen älter sein als die Beherrschten, von großem Verantwortungsgefühl dem Staat und der Gemeinschaft gegenüber erfüllt, sowie die Kundigsten in der Staatsbewachung sein.[119]
>>Die Wahl trifft also unter allen Wächtern solche Männer, die nach unserer Beobachtung am stärksten den von ihnen erkannten Vorteil des Staates mit allem Eifer ihr Leben lang verfolgen, aber nie etwas Gegenteiliges tun wollen!<< Sokrates[120]
Von Kindheit an sollen die Wächter charakterlich, intellektuell und körperlich geprüft und beobachtet werden, um ihren inneren Kern zum Vorschein zu bringen. Diese ständigen Prüfungen dienen dazu, die vollkommensten Wächter herauszufiltern. Somit teilt sich der Wächterstand in Wächter, die herrschen, und Wächter, die die Herrschaft vollstrecken und ihr dienen.
>>Wir nennen diese mit vollem Recht und wahrheitsgemäß die vollkommenen Wächter gegenüber den Feinden draußen und den Freunden im Innern, damit die einen nichts Schlechtes tun können, die anderen es nicht einmal wollen.[121] Die jüngeren Leute, die wir bisher Wächter genannt haben, bezeichnen wir als Helfer und Vollstrecker für Beschlüsse der Herrscher, nicht?<< Sokrates[122]
[...]
[1] Vgl. M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 11f.
[2] J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Berlin: rororo 18. Auflage 1993, 838.
[3] N. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, 11.
[4] Siehe auch: W. Kersting, Staatsphilosophie,47 – 61. „Der Begriff der Staatsphilosophie sollte für die philosophische Reflexion der Wirklichkeit rationaler Staatlichkeit reserviert bleiben -> Neuzeit und Moderne – und systematisch auf die Untersuchung der Legitimationsgründe, Legitimationsrisiken und normativen Funktionsprofile des rationalen Staates eingegrenzt werden. Staatsphilosophie ist die begrifflich avancierteste Form des Nachdenkens über die weltgeschichtlich neue politische Herrschaftsgestalt des rationalen Staates, die genuine Reflexionsform der politischen Selbstverständigung der Moderne.“ (W. Kersting, Staatsphilosophie, 48).
[5] Die klassische Epoche Griechenlands umfasst den Zeitraum von ca. 500 – 323 v. Chr.
[6] Vgl. W. Kersting, Staatsphilosophie, 48.
[7] N. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, 19.
[8] A. N. Whitehead, Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 91. „The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato." Zu Deutsch: „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ (A. N. Whitehead, Prozeß und Realität, 91)
[9] Vgl. W. Wildermuth, Atlas Politik, 23ff.
[10] Vgl. Aristoteles, Politik I, 2. Die Entwicklung des Staates (F. Schwarz, Reclam 2010, 76ff.)
[11] Vgl. Cicero, De re publica. Vom Staat (M. von Albrecht, Reclam 2013, 399 – 408)
[12] Vgl. Mt. 22, 15-22, Mk. 12, 13-17, Lk. 20, 20-26, Röm. 13,1-7.
[13] Vgl. W. Wildermuth, Atlas Politik, 31. Weiters: M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 24 – 34.
[14] K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, 9.
[15] Vgl. H.-W. Goetz, Europa im Frühen Mittelalter, 127 – 129 (Königsidiologie).
[16] Vgl. Vierecke, Dtv-Atlas, Politik, 32f.
[17] Vgl. W. Wildermuth, Atlas Politik, 32f.; J. Listl, Kirche und Staat, In: LThK 5, 1497ff.; M. Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat, 62 – 73 (Von Papst Gelasius zum Triumph des politischen Augustinismus).
[18] Vgl. M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 34 – 43.
[19] T. Hobbes, Vom Menschen – Vom Bürger, (G. Gawlick, Meiner 1994, 66)
[20] Vgl. W. Wildermuth, Atlas Politik, 46f.; M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 44 - 52; W. Kersting, Staatsphilosophie, 49.
[21] Vgl. W. Wildermuth, Atlas Politik, 48-55; M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 48-62; W. Kersting, Staatsphilosophie, 49 - 51.
[22] Vgl. P. Ehlen/G. Haeffner/F. Ricken, Philosophie des 20. Jahrhunderts, 147 – 172.
[23] N. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, 12.
[24] M. Llanque, Geschichte der politischen Ideen, 9.
[25] N. Hoerster, Klassische Texte der Staatsphilosophie, 18.
[26] Ich erwähne dies deshalb, da beide Werke auch aus vielen anderen Blickwinkeln (u. a. Rhetorik, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, ...) untersucht werden könnten.
[27] Vgl. M. Erler, Platon, 27 – 43.
[28] Vgl. K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, 41 – 55; Augustinus, Confessiones VIII, 12, 413ff. (nach J. Bernhart).
[29] W. Geerlings, Augustinus/Augustinismus, In: LThK 1, 1243.
[30] F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Stuttgart: Reclam 2003, 4. Wörtlich heißt es wie folgt: „Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s >>Volk<< zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden – denn Christentum ist Platonismus für’s >>Volk<< - hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schießen.“
[31] Ebd.
[32] W. Geerlings, Augustinus/Augustinismus, In: LThK 1, 1243.
[33] Vgl. K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, 37ff.
[34] Vgl. W. Stroh, Cicero, 58ff.
[35] Dieser Ausdruck ist keineswegs despektierlich gemeint, für die vorliegende Auseinandersetzung scheint er durchaus sinnvoll und dienlich.
[36] Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1990, Kap. 128.
[37] (Üs.)MARTENS, Ekkhardt/Platon, Theätet, Stuttgart: Reclam 1981, 150b9.
[38] Bereits in der Antike bestand weitreichender Konsens darüber, dass nicht alle Werke von Platon selbst stammen, sondern nur unter seinem Namen bekannt gemacht wurden, ähnlich den paulinischen Briefen im Neuen Testament. Grund dafür dürfte wohl der Versuch der Autoren gewesen sein, dem Werk eine höhere Autorität und somit eine breitere Leserschaft zu verschaffen (vgl. M. Erler, Platon, 27ff.; Wischmeyer, Paulus, 123ff.).
[39] Diogenes, Laertios, Leben und Lehre der Philosophen, Stuttgart: Reclam 1998. Buch III.
[40] Die Autorenschaft zu diesem Brief ist strittig, vielleicht stammt der besagte Brief auch von einem Schüler.
[41] E. Wirbelauer, Geschichte Lehrbuch Antike, 181ff.
[42] Ebd. 177.
[43] Kodros gilt aufgrund mythischer Erzählungen als letzter König Attikas vor dem Einfall der Dorer in das Gebiet, ca. 1200 v. Chr.
[44] Bruder seine Mutter
[45] Charmenides, aporetischer Dialog über die Tugend der Besonnenheit. Kritias, unvollendete Erzählung über den Konflikt zwischen Athen und dem mythischen Atlantis.
[46] Vgl. D. Lotze, Griechische Geschichte, 77ff.
[47] Besonders auffällig durch die Namensgebung des Sohnes von Pyrilampes, den er in die Ehe mitbringt, dieser heißt Demos (gr. für „Volk“).
[48] „ Demokratie “ – ein Kompositum aus gr. „ demos“, das Staatsvolk, und „ kratía “, „ Herrschaft “.
[49] Vgl. H. Vorländer, Demokratie, 26.
[50] „Gleichmäßige Verteilung“; gemeint ist die politische Gleichheit aller Vollbürger einer Polis. Frauen, Sklaven und Metöken, das sind Fremde ohne Bürgerrechte, waren somit ausgeschlossen.
[51] H.-J. Gehrke, Geschichte der Antike, 150.
[52] Der Prozess gegen Sokrates beruhte vornehmlich auf den gegen ihn gerichteten Vorwurf der Asebie („Gottlosigkeit“, „Gotteslästerung“). Ihm wurde vorgeworfen, die athenische Jugend mit seiner Philosophie zu verführen, diese zu einem „gottlosen“ Leben zu verleiten und somit zur Instabilität der athenischen Gesellschaftsordnung beizutragen.
[53] Vgl. M. Erler, Platon, 64f.
[54] Vgl. F. Ricken, Philosophie der Antike, 80ff.
[55] Vgl. TRE, XXVI, Wylle, Platon, 681.
[56] Vgl. Aristoteles, Politik I, 2. Die Entwicklung des Staates, 76ff. / Weiters: TRE, XXVI, Wylle, Platon, 684.
[57] Vgl. M. Erler, Platon, 173 bzw. 21.
[58] TRE, XXVI, Wylle, Platon, 684.
[59] Vgl. Platon, Gorgias, In: Loewanthal, Sämtliche Werke, Band 1, 402.
[60] Unsicher ist, ob auch ein Aufenthalt in Ägypten bzw. Kyrene erfolgte. Vermutungen in dieser Richtung ergeben sich durch die Erwähnung eines Gesprächsteilnehmers in Theaitetos mit Namen Theodoros (475 – 399 v. Chr.), der ein bedeutender Mathematiker jener Zeit war.
[61] Wichtige Hinweise hierfür stellen die verschiedenen Mythen in einigen platonischen Dialogen dar. Vgl. Mythos des Kugelmenschen, Symposion; Jenseitsmythen in Phaidon, Gorgias, Politeia; u. a.
[62] Nach aktuellem Stand der Forschung stammen vermutlich 30 Werke des Corpus‘ direkt von Platon, wobei die Authentizität einiger weiterer Titel (Brief 7.) noch diskutiert wird. Die Zuordnung der Werke variiert über die Jahrhunderte, aktuell wird eine chronologische Gliederung des Werkes in drei Hauptphasen (Früh-, Mittel- und Spätphase) bevorzugt. Die durchgehend sokratisch geprägten Werke der Frühphase mit dem Schwerpunkt in der sokratischen Ethik kulminieren in den Werken der mittleren Phase, insbesondere in seinem zentralen Hauptwerk, der Politeia. Die Werke der Spätphase können mit Vorsicht auch als eine Art Ausprägung und Vertiefung der Fragestellungen (ergänzt durch die Kosmologie in Timaios) betrachtet werden (vgl. TRE, XXVI, Wylle, Platon, 678ff.; M. Erler, Platon, 173 bzw. 27; F. Ricken, Philosophie der Antike, 75ff.).
[63] TRE, XXVI, Wylle, Platon, 680.
[64] Das ist auch die Zeit der Gründung der Akademie.
[65] Vgl. O. Höffe, Politeia, 6ff.
[66] Vgl. O. Höffe, Politeia, 6ff.
[67] Vgl. F. Ricken, Philosophie der Antike, 78ff.; vgl. O. Höffe, Politeia, 11f.
[68] Pol. II, 10.
[69] Vgl. O. Höffe, Politeia, 4ff.
[70] Vgl. K. Vretska, Platon, Der Staat, Anmerkungen, 487f.
[71] Zitate aus Primärtexten werden in Bezug auf Stil, Syntax, Vokabular und Orthografie getreu den Vorlagen übernommen, auf die Kennzeichnung der alten Form der deutschen Rechtschreibung durch [sic] wird für den weiteren Verlauf der Arbeit zugunsten des Textflusses, aber auch aufgrund ästhetischer Überlegungen verzichtet. Nicht zuletzt soll mit diesem Verzicht auch die Leistung der Übersetzung gewürdigt werden.
[72] Pol. I, 5.
[73] Der griechischer Dichter aus Keos (vermutlich 556 – 466 v. Chr.) genoss aufgrund der Weisheit seiner Sprüche und Dichtungen hohes Ansehen und hatte große Autorität inne.
[74] Pol. I, 6.
[75] Pol. I, 7.
[76] Polemarchos und sein Vater Kephalos stellen im Dialog die alten und gesellschaftlich gebräuchlichen, konventionellen Vorstellungen von Gerechtigkeit dar. Sie verstehen Gerechtigkeit als Nutzen für ein gutes Leben in dem Sinne, dass zu Handeln sei „wie es sich gehört“. Da es dabei mehr um den Schein von Gerechtigkeit geht, ist diese Definition für Platon völlig ungenügend. Die Schwierigkeiten des Sokrates, die beiden Diskutanten und ihre Position zu hinterfragen und ihre Vorstellungen zu reflektieren, dürfte eine Metapher sein. Platon zeigt, wie schwierig es ist, die breite Gesellschaft und ihre weitläufigen Vorstellungen von Gerechtigkeit aufzubrechen (vgl. O. Höffe, Politeia, 24ff).
[77] Pol. I, 9.
[78] Vgl. Pol. I, 10.
[79] Pol. I, 12; Thrasymachos bringt ein neues Verständnis von Gerechtigkeit vor. Es sprengt die gesellschaftlichen Normgrenzen des Vorgespräches und wirkt universalistisch. Das Recht des Stärkeren hatte sowohl im Archaikum als auch in den Staaten der damaligen Zeit seine Gültigkeit. Diese Vorstellung entspricht auch dem sophistischen Werterelativismus (vgl.: F. Ricken, Philosophie der Antike, 60ff.), welcher von Platon in mehreren Dialogen (z. B. in Gorgias) angegriffen wird. Die universale Vorstellung der immer geltenden Macht des Stärkeren dürfte auch durch den Peloponnesischen Krieg und den damit einhergehenden Gesetzeswandlungen bestärkt worden sein. Das Recht des Stärkeren galt jedoch damals (wie heute?) als allgemein anerkannt. Somit besteht auch die Möglichkeit, in Thrasymachos einen desillusionierten Idealisten zu sehen.
[80] Pol. I, 20.
[81] Vgl. Pol. I, 18.
[82] Vgl. Pol. I, 23.
[83] Vgl. Pol. I, 24.
[84] Vgl. Pol. II, 1.
[85] Sokrates fungiert zu Beginn des Buches II als stummer Zuhörer und lässt beide ihre Argumentation ausführen.
[86] Pol. II, 12.
[87] Glaukon bringt als Beispiel die Parabel vom Ring des Gyges (Pol. II, 3). Dieser verleihe dem Träger Unsichtbarkeit, somit muss der Täter keine Strafe fürchten. Mit dieser Macht ausgestattet wäre ein jeder ungerecht.
[88] Vgl. Pol. II, 8.
[89] Pol. II, 9. Ähnlich wie zuvor Kephalos und Polemarchos greifen hier Glaukon und Adeimantos eher auf konventionelle Gerechtigkeitsvorstellungen zurück.
[90] Dies ist in Bezug auf Sokrates der markante Übergang vom kritischen zum konstruktiven Gesprächspartner. Platon gibt sich nicht mehr mit Destruktion und Infragestellung verschiedener Gerechtigkeitsvorstellungen zufrieden, sondern beginnt nun mit konstruktiven Ausführungen über das Wesen der Gerechtigkeit.
[91] Vgl. Pol. II, 10.
[92] Pol. II, 11.
[93] Zwar wird in der Politeia selbst keine Zahl genannt, aber in den Nomoi findet sich die Angabe von 5040 Einwohnern, auf welche die Größe des Staates beschränkt sein sollte (vgl. Leg., V, 737e). Es handelt sich beim Staat des Platon daher nicht um ein nationales Staatsgebiet gegenwärtiger Dimensionen, sondern um den historisch belegbaren Stadtstaat, die Polis.
[94] In der gesunden Polis stellt sich die geforderte Gerechtigkeit spontan ein. Diese, eigentlich herrschaftsfreie, anarchistische Gesellschaft verwirklicht die Gerechtigkeit nicht bewusst, sondern sie wird durch das Prinzip der Arbeitsteilung zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse erfüllt. Innere Zufriedenheit des Menschen ist somit laut Platon auf dieser Stufe der Entwicklung der Garant für äußeren Frieden des Staates. Die schweigende Verwirklichung des Idiopragie-Prinzips (jeder tue das Seine) hält die Eintracht aufrecht.
[95] Der Verlust dieser spontanen Gerechtigkeit, mit dem lt. Platon zu rechnen sei, führt schließlich zu einem gesteigerten Mehrwollen der Bürger und daher auch zu einer inneren Unzufriedenheit. Der eher negativ gehaltene Tenor in Pol. II, 13, lässt eine kulturkritische Sicht Platons vermuten. Dennoch dürfte auch dieses Verhalten für Platon Teil der conditio humana sein. Das Verlangen nach Kultur und Luxus führt schließlich zu einem Prozess der Denaturierung (vgl. O. Höffe, Politeia, 51ff). Der Hang zu persönlichem und gesellschaftlichem Verfall und Verderb zählt lt. Platon zum Grundbestand der menschlichen Natur. In den Büchern VIII und IX der Politeia wird dieser Gedanke breit entfaltet.
[96] Vgl. Pol. II, 13.
[97] Fraglich ist, weshalb Platon hier als einzige Möglichkeit der vermehrten Bedürfnisbefriedigung die militärische Expansion ausweist?
[98] Die Entwicklung eines eigenständigen Wächterstandes ist notwendige Folge, um den steigenden Bedürfnissen und den kommenden kriegerischen Auseinandersetzungen gewachsen zu sein. Die Bedingtheit der Gewalt zur Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit im Staat stellt einen Widerspruch zu der in Pol. I, 9 geforderten Gewaltlosigkeit dar. Diese Gewalt wird auch in weiterer Folge, nach Erläuterung der Aufgaben und Auswahl der Wächter, nicht geschwächt. Die Radikalität der Forderung von Berufskriegern wird erst anhand eines Vergleiches mit den vorherrschenden Verhältnissen jener Zeit deutlich. Im demokratischen Athen war jeder Bürger aufgefordert, Kriegsdienst zu leisten. Das Heer war die Volksversammlung unter Waffen, die Polis im Feld, während die Polis die Gemeinschaft von Kriegern war, die ihre politischen Rechte erst durch den Eintritt in das Volksheer gewannen (vgl. Canto-Sperber/Brisson, Zur sozialen Gliederung der Polis, In: O. Höffe, Politeia, 70f.).
[99] Pol. II, 15.
[100] Die mehrere Bücher umfassenden Erläuterungen des Erziehungsideals in der Polis lassen deutlich erkennen, welch verantwortungsvolle Aufgabe die Erzieher im Staat haben. Es scheint als eine Art literarisches Pendant zur eigenen (Sokrates und Platon) Lebens- und Erziehungsauffassung zu sein. Ob auch der dritte Stand Anteil an einer Erziehung im Staat hat (z. B. eine „Fachausbildung“?) ist nicht herauszulesen.
[101] Pol. II, 17.
[102] Pol. II, 27.
[103] Vgl. Pol. II, 17.
[104] Diese Ausführungen münden in einer Theodizee: >>Das Gute ist also nicht für alles die Ursache, sondern nur für alles, was sich wohl verhält, am Übel ist es unschuldig?<< Sokrates >>Ganz und gar!<< Adeimantos >>Da Gott nun gut ist, so ist er nicht an allem schuld, wie die meisten behaupten; vielmehr ist er für die Menschen die Ursache nur von wenigem, an vielem ist er unschuldig […]<< Pol. II, 18.
[105] Angriff auf den Anthropomorphismus in den Göttersagen, welche auch von Formwandlungen der Götter berichten, die erfolgt, um andere zu täuschen (vgl. Cant, Sperber/Brisson, Zur sozialen Gliederung der Polis, In.: O. Höffe, Politeia, 76.) Der durch den Mythos initiierte Nachahmungsprozess im Menschen soll gesteuert werden und nicht der Infiltration schlechter Gewohnheiten geöffnet. Durch die negative Darstellung der Götter und der Heroen würden diese gefördert, befürchtet Platon. Daher die ausführliche Mythos-Kritik. Auch hier wird die Radikalität dieser Kritik erst deutlich, wenn die zentrale Bedeutung der Poesie im 5. Jhdt. v. Chr. in Griechenland für die Überlieferung eines Wertesystems mitbedacht wird.
[106] Vgl. Pol. II, 20.
[107] Vgl. Pol. III, 1.
[108] Pol. III, 3.
[109] Vgl. Pol. III, 4.
[110] Für Platon ein Widerspruch zu der zuvor entwickelten Erkenntnis, dass jeder Bürger nur eine Lebensaufgabe gut erfüllen kann und somit von der Nachahmung anderer absehen muss.
[111] Vgl. Pol. III, 8,9.
[112] Pol. III, 12.
[113] Vgl. Pol. III, 10: >>Beim Hund, ohne es zu merken, haben wir da unseren Staat, den wir eben den üppigen genannt haben, wiederum gereinigt!<< Sokrates. Weiters: Pol. III, 11,12. Die staatliche Zensur wird bei Platon klar ausgesprochen und für den Erhalt des Staates als unumgänglich aufgezeigt. Er schreibt in Pol. III, 9, dass große Dichter, die in den Staat kommen, aber nicht dem Bildungsideal entsprechen, zwar gut behandelt werden sollen, ihnen der Aufenthalt im Staat aber verwehrt werden soll. Jede Form der Veränderung, auch wenn sie sich „nur“ auf den künstlerischen Bereich bezieht, kann, lt. Platon, für die Harmonie im Staat tödlich sein. Das Potential der Verführung der Jugend durch (falsche) Erziehung und Kunst wird von Platon klar erkannt und zu unterbinden versucht. Er stellt klar, dass in seinem Idealstaat Freiheit zugunsten der Gerechtigkeit/Harmonie und des wahrhaft glücklichen Lebens geopfert werden muss.
[114] Pol. III, 13.
[115] Pol. III, 14. Für Platon ist es die innere Haltung jedes einzelnen Bürgers, die den Erhalt des Staates und seiner Bürger gewährleistet. Die Menschen, vor allem aber die Wächter, sollen keine Verantwortung abgeben, sondern sich ihrer eigenen bewusst werden und demgemäß handeln. Die Notwendigkeit von Ärzten (ärztlichen Behandlungen ohne akute Dringlichkeit) ist, lt. Platon, ein Zeichen für die seelische/mentale Schwäche der Bürger. Ebenso ist die Notwendigkeit von Gesetzen und Richtern ein Zeichen für mangelnde Vernunft und Verantwortung.
[116] Pol. III, 17. Eine der vermutlich verstörendsten Forderungen für den Leser von heute. Platon spricht sich hier klar für die Tötung „Behinderter“ aus. Sowohl körperlich als auch seelisch Erkrankte fallen für ihn unter diese Kategorie. Die Klarheit dieser Aussage wie auch die Tatsache, dass dieses Thema nicht näher bearbeitet wird und die vorbehaltlose Zustimmung der Beisitzenden erhält, macht es vom staatsphilosophischen Blickpunkt aus schwierig, diese „abzufedern“. Somit muss diese Passage als ein Bekenntnis zur staatlichen Euthanasie gewertet werden. Für Platon offenbar nicht mehr als ein notwendiges Opfer zum Erhalt des Gesamtstaates.
[117] Pol. III, 17.
[118] Pol. III, 18.
[119] Pol. III, 19.
[120] Pol. III, 19.
[121] Wächter, die Herrscher sein werden, müssen, um dies zu erreichen, moralisch makellos sein. Da sie in ihrem innersten Kern, so Platon, völlig rein vom Gedanken an und Willen zur Ungerechtigkeit sind, ist es ihnen nicht einmal möglich, das Böse zu wollen.
[122] Pol. III, 20.
- Quote paper
- Rudolf Felber (Author), 2016, Von der Herrschaft der Philosophen zum Gottesstaat. Staatsphilosophische Aspekte in "Politeia" und "De civitate dei" im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321427
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