Schulische Förderung von rechenschwachen Kindern


Bachelorarbeit, 2014

45 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1) Definition(en) der Dyskalkulie/Rechenschwäche und ihre Symptomatik

2) Ursachen und Diagnostik von Dyskalkulie/Rechenschwäche
2.1) Genetische Verursachungsfaktoren
2.2) Kongeniale Verursachungsfaktoren
2.3) Neuropsychologische und psychologische Verursachungsfaktoren
2.4) Soziokulturelle Verursachungsfaktoren
2.5) Schuldidaktische Verursachungsfaktoren
2.6) Diagnostik

3) Schulische Förderung
3.1) Förderprogramme
3.1.1) Das Dortmunder Zahlenbegriffstraining
3.1.1.1) Bewertung des Dortmunder Zahlenbegriffstrainings
3.1.2) Das Förderprogramm „Mengen, zählen, Zahlen“
3.1.2.1) Bewertung des Förderprogramms „Mengen, zählen, Zahlen“
3.1.3) Das Förderprogramm Kalkulie
3.1.3.1) Bewertung des Förderprogramms Kalkulie

Literaturverzeichnis

Anhang

Anlage 1 Übersicht über gängige Dyskalkulietests

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Stufen der Teilleistungsdiagnostik

Abbildung 2 Gliederung des Dortmunder Zahlenbegriffstrainings

Abbildung 3 Der Aufbau des Förderprogramms "Mengen, zählen, Zahlen"

Abbildung 4 Übersicht über die Bausteine des Kalkulie-Programms

Abbildung 5 Konzeptstruktur des Kalkulie-Programms

Einleitung

In unserem Schulsystem stellt der Mathematikunterricht ein zentrales Fach von weitreichender Bedeutung dar. Er vermittelt nicht nur allgemeine mathematische Kompetenzen, sondern leistet einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung kognitiver Prozesse. Die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) hat für den Mathematikunterricht 2004 folgende Zielsetzungen formuliert: „Mathematikunterricht trägt zur Bildung der Schülerinnen und Schüler bei, indem er ihnen folgende Grunderfahrungen ermöglicht, die miteinander in Verbindung stehen:

- Technische, natürliche, soziale und kulturelle Erscheinungen und Vorgänge mit Hilfe der Mathematik wahrnehmen, verstehen und unter Nutzung mathematischer Gesichtspunkte beurteilen,
- Mathematik in ihrer Sprache, ihren Symbolen, Bildern und Formeln, in der Bedeutung für die Beschreibung und Bearbeitung von Aufgaben und Problemen innerund außerhalb der Mathematik kennen und begreifen,
- In der Bearbeitung von Fragen und Problemen mit mathematischen Mitteln allgemeine Problemlösefähigkeiten erwerben“ (KMK 2004, 6).

Mathematik gehört aber auch zu den schulischen Unterrichtsfächern, in denen sich die meisten Schwierigkeiten im Lernen ergeben. Die Leistungsabfälle, die hier zu beobach- ten sind haben vielfältige Ursachen, angefangen von mangelnder Unterrichtung und Förderung über psychosoziale Ursachen bis hin zur schulischen Entwicklungsstörung. Diese schulische Entwicklungsstörung wird Dyskalkulie genannt und ist von der Welt- gesundheitsorganisation (WHO) als solche anerkannt (Ise, Haschke und Schulte-Körne 2013, 3)

Kinder, die unter Dyskalkulie leiden, versagen - für ihr soziales Umfeld oft grundlos - im Mathematikunterricht, obwohl sie von allen Seiten unterstützt werden und man ei- gentlich aufgrund ihres Intelligenzquotienten bessere Leistungen von ihnen erwarten würde. Diese Kinder brauchen viel Verständnis aus ihrem sozialen Umfeld. Sie benöti- gen eine besondere, auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Förderung. Wie kann so eine Förderung aussehen und welche Möglichkeiten gibt es dafür im schulischen Kontext? Mit dieser zentralen Fragestellung soll sich die geplante Bachelorarbeit unter dem Titel „Schulische Förderung von rechenschwachen Kindern“ beschäftigen.

Nach einer Einleitung, die zum Thema hinführt, sollen in Kapitel 1 verschiedene Definitionen der Dyskalkulie/Rechenschwäche diskutiert werden. In diesem Zusammenhang soll auch die Symptomatik anhand von typischen Fehlern, die von diesen Kindern immer wieder gemacht werden, thematisiert werden. In Kapitel 2 soll es um die möglichen Ursachen bzw. um das System der Wechselwirkungen zwischen Kind und Umwelt gehen, das eine Rechenstörung begünstigt (Gaidoschik 2011, 14) sowie um die Diagnostik der Dyskalkulie/Rechenschwäche.

Das vierte Kapitel, das das umfangreichste Kapitel dieser Arbeit werden soll und mit dem die zentrale Fragestellung dieser Arbeit vor dem Hintergrund der vorherigen Kapi- tel beantwortet werden soll, wird sich mit den verschiedenen Möglichkeiten schulischen Förderung bei Dyskalkulie/Rechenstörungen beschäftigen. In diesem Zusammenhang werden sowohl schulische Rahmenbedingungen und Voraussetzungen für Förder- maßnahmen wie auch didaktische Prinzipien und Förderprogramme vorgestellt wer- den, die im Einzel-, Kleingruppen- oder auch im Klassenunterricht eingesetzt werden können.

Die Arbeit soll mit einer abschließenden Schlussbetrachtung enden, in der noch einmal die wichtigsten Aspekte der Arbeit zusammengefasst werden.

1) Definition(en) der Dyskalkulie/Rechenschwäche und ihre Symptomatik

Mit dem Phänomen des „Nicht-rechnen-Könnens“ (Krajewski, Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule, 2003, S. 15) (synonym werden in dieser Arbeit die Begriffe Rechenstörung, mathematische Lernstörung, mathematische Lernschwä- che, mathematische Schulleistungsschwäche und Akalkulie verwendet) beschäftigen sich mehrere wissenschaftliche Disziplinen. Jede dieser Disziplinen verfolgt einen an- deren wissenschaftlichen Ansatz und hat darauf aufbauend ihre eigene Definition so- wie ihre eigene Theorie zu den möglichen Ursachen entwickelt. Eine allgemeingültige Definition, die alle Bereiche berücksichtigen oder umfassen würde, existiert nicht, auch wenn diese Bereiche teilweise gemeinsame Fragestellungen entwickeln und ihr Wis- sen austauschen. Die wissenschaftlichen Fachbereiche, die sich vorwiegend mit der Dyskalkulie/Rechenschwäche beschäftigen, sind Neuropsychologie, Psychologie, Pä- dagogik, Sonderpädagogik und Mathematikdidaktik (Schneider, Küspert, & Krajewski, Die Entwicklung mathematischer Kompetenzen, 2013, S. 187-188). Die Dyskalku- lie/Rechenschwäche tritt mit durchschnittlich 4,4 bis 6,6 Prozent mindestens genauso oft auf wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), die in ihren Ursprüngen und Er- scheinungsformen relativ gut und nahezu ausreichen erforscht ist. Unser Wissen über die Dyskalkulie/Rechenschwäche ist vergleichsweise dürftig, weil ihre wissenschaftli- che Repräsentation sehr gering ist (van Eimeren & Ansari, 2009, S. 25). Lorenz und Radatz (2008, S. 15-16) nennen dafür folgende Gründe:

- Es gibt kein Testverfahren, das vergleichbar mit dem DRT (Diagnostischer Rechtschreibtest) im mathematischen Anfangsunterricht einsetzbar wäre.
- Eine Dyskalkulie/Rechenschwäche ist diagnostisch schwerer erfassbar, da sie sich nicht so leicht isolieren lässt, wie eine LRS.
- Die gesellschaftspolitische Rolle der Dyskalkulie/Rechenschwäche ist vergli- chen mit der LRS sehr niedrig. Dadurch wird kein Druck durch die Lehrer- oder Elternschaft ausgeübt, für gegensteuernde Maßnahmen Geld auszugeben. Würde man offiziell zu der Erkenntnis gelangen, dass eine sehr hohe Zahl von Grundschülern einen erhöhten Förderbedarf hat, müsste in Bereichen wie zum Beispiel der Aus- und Fortbildung von Lehrern oder auch in der Wissenschaft sehr viel mehr investiert werden.

Um feststellen zu können, wann eine Dyskalkulie/Rechenschwäche vorliegt, ist es sinnvoll, sie auch per Definition von einer umfassenden Störung der schulischen Lernund Leistungsfähigkeit abzugrenzen.

Die Definition, die in der wissenschaftlichen Fachliteratur vermutlich am weitesten verbreitet ist, ist die der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) veröffentlicht wurde.

„ Rechenstörung (F81.2): Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchti- gung von Rechenfertigkeiten, nicht allein erklärbar durch allgemeine Intelligenzminde- rung oder unangemessene Beschulung; Defizit in der Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger in den abstrakteren mathematischen Fertigkeiten. “ (Dilling, Dierse, Freyberger, & Mombour, 2009, S. 153) .

Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV-TR) der American Psychiatric Association, woran sich die ICD-10 orientiert, werden darüber hinaus sensorische Defizite für die Vergabe der Diagnose Rechenstörung ausgeschlossen. Nach dem DSM-IV-TR liegt eine Rechenstörung dann vor, wenn die in den standardisierten Tests ermittelten mathematischen Fähigkeiten unter denen liegen, die aufgrund der gemessenen Intelligenz und des Alters zu erwarten wären. Auch sind die betroffenen Personen in ihrer schulischen Leistungsfähigkeit und in den Aktivitäten im Alltag, bei denen mathematische Fähigkeiten verlangt werden, stark eingeschränkt (Saß, Wittchen, Zaudig, & Houben, 2003, S. 86-87).

In der Definition der ICD-10 wird die Dyskalkulie/Rechenschwäche als eine Entwick- lungsstörung beschrieben, die dann auftritt, wenn es um die Vermittlung grundlegender Rechenfertigkeiten geht - also in den ersten Schuljahren oder schon im Vorschulalter. Bei der Dyskalkulie/Rechenschwäche handelt es sich um eine eigenständige um- schriebene Störung der schulischen Fähigkeiten, die unabhängig von der Lese- Rechtschreib-Störung auftritt (Landerl & Kaufmann, 2013, S. 94). Nach der Definition liegt eine tiefgreifende Beeinträchtigung der arithmetischen Fähigkeiten bei einer sonst normalen Intelligenz und adäquater Beschulung vor, das heißt, es sollte eine Diskre- panz zwischen der Intelligenzleistung des Kindes und seinen Rechenleistungen beste- hen. Bei Jacobs und Petermann (2003, S. 197) werden folgende Kriterien beschrieben, die für die Diagnose einer Dyskalkulie/Rechenschwäche bestehen müssen:

- Die schulischen Leistungen im Fach Mathematik müssen mit „mangelhaft“ oder „ungenügend“ bewertet worden sein,
- der Prozentrang von 10 darf in einem standardisierten Rechentest nicht über- schritten werden,
- der Intelligenzquotient liegt nicht unter 70,
- es wird eine Standardabweichung von mindestens von mindestens 1,5 zwischen dem Ergebnis des Rechentests und dem Intelligenzquotienten erreicht oder es besteht eine Diskrepanz von mindestens 12 T-Wertpunkten, was als Diskrepanzkriterium bezeichnet wird und
- diese Störung tritt innerhalb der ersten fünf Schuljahre auf.

Ein großes Problem, das hier keinesfalls außer Acht gelassen werden kann, stellt die Basis dar, auf der diese Intelligenzleistung festgestellt wird. Kinder, die visuell- räumliche Probleme haben, schneiden trotz einer durchschnittlich entwickelten Intelli- genz in vielen Testverfahren schlecht ab, weil diese viele Fragen zur visuell-räumlichen Kognition enthalten. Diese Kinder erfüllen somit nicht das Kriterium der Diskrepanz, das sie aber laut der WHO-Definition erfüllen müssten (Kajda, 2010, S. 21). Konstruiert man Intelligenztests, in denen man auf die mathematischen Inhalte verzichtet, „ so engt man die Breite des Konstrukts Intelligenz ein “ (Ehlert, Schroeders, & Fritz-Stratmann, 2012, S. 178). Zudem kommt es immer auf das Verfahren an, das zur Bestimmung des Diskrepanzkriteriums eingesetzt wird. Hier können sehr große Differenzen entstehen.

Die Festlegung eines Diskrepanzkriteriums setzt eigentlich auch die Annahme voraus, dass unter den rechenschwachen Kindern verschiedene Leistungsgruppen existieren: Kinder, die das Diskrepanzkriterium erfüllen, müssten sich in ihren mathematischen Fähigkeiten von anderen rechenschwachen Kindern abheben. In keiner bisherigen empirischen Studie konnte dies aber bisher nachgewiesen werden (Ehlert, Schroeders, & Fritz-Stratmann, 2012, S. 178).

In der Neurowissenschaft geht man inzwischen davon aus, dass die Rechenleistung im Gehirn unabhängig von anderen Funktionen abläuft und dass diese entweder in ihrer genetischen Entwicklung gestört ist oder aber gar nicht stattfindet. Dieselbe Annahme hatte man bisher von der Intelligenz. Die Intelligenz wurde bisher als ein Persönlich- keitsmerkmal gesehen, das genetisch festgelegt, unveränderbar und unabhängig von der Rechenleistung ist. Deshalb dachte man, man könne beides in Kontrast zueinander setzen. Neueste wissenschaftliche Forschungen u.a. mit Hilfe von bildgebenden Ver- fahren haben aber ergeben, dass diese Annahmen so nicht mehr stimmen. Deshalb ist geplant, beide Klassifikationssysteme zu reformieren (von Aster & Lorenz (Hg.), 2013, S. 15).

Im neuen DSM-IV soll dieses Diskrepanzkriterium nicht mehr vorkommen, „was der vielschichtigen Komplexität dieser Störungen hinsichtlich der beteiligten kognitiven Komponenten und der Häufigkeit komorbider Symptome besser gerecht zu werden verspricht.“ (von Aster & Lorenz (Hg.), 2013, S. 15). Die typischen Entwicklungsstörungen der schulischen Leistungsfähigkeit sollen im neuen DSM-V einer Klasse zugeordnet werden unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Sonderformen (von Aster & Lorenz (Hg.), 2013, S. 15).

Ein weiterer Definitionsansatz, der darauf hinweist, dass Dyskalkulie/Rechenschwäche eine Vielzahl von Ursachen haben kann und deshalb nicht eindeutig definierbar ist, kommt aus dem Bereich der Neuropsychologie:

„ Die in der Neuropsychologie inzwischen auch für im weitesten Sinne entwicklungsbezogene Rechenstörungen gebräuchliche Bezeichnung Dyskalkulie lehnt sich an erwor bene Störungen im Umgang mit Zahlen nach Hirnschädigungen bei Erwachsenen an. (...) Zur besseren Abgrenzung zwischen (meist traumatisch) erworbenen und „ angebo renen “ Rechenstörungen wird die zweite Gruppe (...) vielfach Entwicklungsdyskalkulie genannt. “ (Heubrock & Petermann, 2000, S. 234) .

Heubrock und Petermann geben in ihrem „Lehrbuch der klinischen Kinderneuropsy- chologie“ eine Akalkulie-Klassifikation wieder, die zwar für die Therapie von Erwachse- nen entwickelt wurde. Da die vier Varianten der Dyskalkulie/Rechenschwäche, die da- rin beschrieben werden aber schon im Grundschulalter feststellbar sind, ist sie aber auch auf Kinder anwendbar. Bei Kindern mit einer sogenannten Entwicklungsdyskalku- lie kommen sehr oft Mischformen vor, der Schwerpunkt liegt jedoch meist auf einer der vier Formen:

- Positionell-serielle Akalkulie: Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, Zahlen- reihen positionell und seriell zu ordnen und sind auch nicht mehr in der Lage, diese auf ihre Plausibilität zu überprüfen bzw. sich selbst zu korrigieren.
- Operationale Akalkulie: Arithmetisches Wissen ist nicht oder nicht mehr vor- handen und notwendige Rechenregeln können nicht oder nur unzureichend angewendet werden.
- Akalkulie bei räumlich-konstruktiven Störungen: Die räumliche Anordnung von Zahlen oder die Anwendung von Rechenoperationen beim schriftlichen Rechnen ist gestört.
- Akalkulie bei Gedächtnisstörungen: Die Zahlenmerkspanne ist infolge eines ge- störten Kurzzeitgedächtnisses stark reduziert und das Kopfrechnen mit mehrstelligen Zahlen kann von Betroffenen nicht mehr ausgeführt werden (Heubrock & Petermann, 2000, S. 237-238).

Heubrock und Petermann definieren zwar vier Varianten der Entwicklungsdyskalkulie und entwickeln damit eine Klassifikation, sie sagen aber auch, dass sich die Diagnostik nicht allein daran orientieren darf, sondern immer die Grundstörung erfassen muss, aufgrund derer es zu der Dyskalkulie/Rechenschwäche kam. Von einem Diskrepanzkri- terium wird hier nicht gesprochen. Heubrock und Petermann orientieren sich allein da- ran, welche Störungen auftreten und wie diese entstanden sind (Heubrock & Petermann, 2000, S. 239-241).

Aufgrund der aktuellen schulischen Situation, in der alle Kinder gemeinsam in integrati- ven Klassen unterrichtet werden und alle Kinder nach ihren individuellen Fähigkeiten gefördert werden sollen, ist es aber wenig sinnvoll, Definitionsprobleme in den Vorder- grund zu stellen. Vielmehr sollte die differenzierte Frage nach der Erkennung und Be- hebung der mathematischen Probleme der Schüler im Vordergrund stehen. Die fol- gende Definition bringt genau das zum Ausdruck: „ Wenn ein Kind von normalem Intel- ligenzniveau im Rechnen durchgehend schwach ist oder darin völlig versagt, so kann es berechtigt sein, eine Rechenschwäche zu vermuten. Nicht jedes Kind, das schlecht rechnet, hat eine Rechenschwäche. ( … ) Es gibt auch nicht die Rechenschwäche, son- dern so viele verschiedene Rechenschwächen, als es rechenschwache Kinder gibt. Keine gleicht exakt der anderen. Die Rechenschwäche ist ein abstrakter Sammelbe- griff. Im konkreten Falle haben wir es mit der individuellen Rechenschwäche eines be- stimmten Schülers zu tun. “ (Schilling & Prochining, 1995, S. 11).

Trotzdem ist es nicht möglich, alle Kinder gemäß ihren persönlichen Begabungen und individuellen Fähigkeiten zu fördern. Es wird immer Kinder geben , „… die einer Förde rung jenseits des Standardunterrichts bedürfen “ (Lorenz & Radatz, Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht, 2008, S. 16).

Um Kinder optimal Fördern zu können ist es notwendig, sich über Symptome und Ursachen ihrer Schwierigkeiten und Störungen bewusst zu werden. Die Ursachen von Dyskalkulie/Rechenschwäche werden in Kapitel 2 dieser Arbeit näher betrachtet werden. Einige Symptome der Entwicklungsdyskalkulie wurden schon in der Klassifikation von Heubrock und Petermann beschrieben. Weitere Symptome werden durch eine Fehleranalyse sichtbar, wie sie Lorenz und Radatz (2008, S. 24-26) oder auch Grond, Schweiter und von Aster (2013, S. 52-54) beschreiben.

Kinder, die unter Dyskalkulie leiden, kehren Rechenoperationen um, haben Schwierig- keiten beim Zehnerübergang und beim Multiplizieren und Subtrahieren mit der 0 und mit der 1 sowie bei der schriftlichen Division. Bei der schriftlichen Addition und Subtraktion können die Schüler keine korrekten Überträge machen (Lorenz & Radatz, Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht, 2008, S. 24-26).

Diese Fehler wurden unabhängig von der Klasse, der Lehrkraft, der Methodik und der verwendeten Schulbuchliteratur beobachtet. Die Fehler sind keine zufälligen Fehler und entsprechen einem immer wieder auftretenden Fehlermuster (Lorenz & Radatz, Handbuch des Förderns im Mathematikunterricht, 2008, S. 24-26).

Schilling und Prochining sprechen von „Dyskalkulietypischen Störungsbildern“ (1995, S. 13-14). Sie teilen diese Störungsbilder in zwei verschiedene Kategorien ein:

1. Störungen im quantitativen Denken:

- Defekte im visuell-räumlichen Erkennen und in der Verarbeitung nicht-verbaler Erfahrungen,
- außergewöhnliche auditive Fähigkeiten,
- schnelle Lernfähigkeit auf den unteren Stufen des Leseverständnisses,
- Störungen beim Erfassen des eigenen Körperschemas,
- Störungen der visuell-motorischen Integration (Apraxie),
- Desorientierung: Schwierigkeiten im Unterscheiden von rechts und links sowie fehlender Richtungssinn und
- Beeinträchtigung des sozialen Verständnisses und der Urteilsfähigkeit

2. Störungen im Rechnen:

- Mangelhaftes Abstraktionsvermögen,
- Schwierigkeiten beim Verstehen von Rechenregeln,
- mathematische Zeichen und Symbole werden nicht erkannt oder verwechselt,
- Ziffern werden fehlerhaft angeordnet, ihr Stellenwert und das Zehnersystem werden nicht erfasst,
- Schritte und Handlungsabläufe können nicht in der richtigen Reihenfolge aus- geführt werden,
- die visuell-räumliche Auffassung beim Lesen graphischer Darstellungen und Tabellen ist erschwert,
- die Eins-zu-Eins-Zuordnung ist beeinträchtigt,
- Größen, Formen, Mengen und Längen können nicht oder nur unzureichend er- fasst werden,
- mangelhaftes Verstehen der Mengenkonstanz

Außerdem nennen Landerl und Kaufmann (2013, S. 119-137) Defizite im Langzeitge- dächtnis. Dyskalkuliker haben Schwierigkeiten, auf das semantische Gedächtnis zu- zugreifen. Faktenwissen kann nicht abgerufen werden. Auch haben sie Schwierigkei- ten sowohl Zahlen als auch Buchstaben rückwärts und vorwärts nachzusprechen, was auf Defizite im verbalen Arbeitsgedächtnis schließen lässt. Die räumliche Vorstellung von einem Zahlenstrahl bzw. die Vorstellung von der natürlichen Anordnung der Zahlen ist durch eine mangelnde räumlich-visuelle Verarbeitung stark beeinträchtigt. Diese Fähigkeit spielt auch eine bedeutende Rolle, wenn es um Aufgaben aus dem Themen- komplex der Geometrie geht. Im Bereich der motorischen Fähigkeiten, die im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der arithmetischen Fähigkeiten stehen, ist die Fingermotorik von herausragender Bedeutung. Die Finger werden beim Zählprozess eingesetzt. Ist die Fingermotorik beeinträchtigt, kommt es hier zu Schwierigkeiten.

Das Lernverhalten von rechenschwachen Kindern ist genauso problematisch wie bei Kindern mit anderen Lernstörungen. „ Bei Lernstörungen bleibt der Lernende durch innere oderäußere Bedingungen weit hinter der sonst möglichen Lernentwicklung zu- rück, so dass seine Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigt oder gefährdet ist. “ (Matthes, 2009, S. 12) . Die typischen Verhaltensweisen, die allgemein auf Kinder mit Lernstörungen zutreffen, treffen demnach auch auf rechenschwache Kinder zu. Die Kinder leiden unter Begleiterscheinungen wie Nervosität, motorischer Unruhe, sie kön- nen sich nicht konzentrieren, sie werden schnell müde und sind nicht belastbar, sind schnell frustriert, entwickeln Vermeidungsstrategien, können schlecht Hilfe annehmen, leiden unter Stimmungsschwankungen, versuchen durch auffallendes Verhalten von ihren Defiziten abzulenken und haben Angst davor diese zu zeigen. Im häuslichen Um- feld spielen sich oft Dramen ab, die für alle Beteiligten zur dauerhaften Stresssituatio- nen, verbunden mit körperlichen Beschwerden, werden. Meistens gibt es keinen identi- fizierbaren Auslöser für eine Lernstörung, sondern viele Bedingungen, die sie begüns- tigen (Matthes, 2009, S. 12-15). Alle hier genannten Symptome und Verhaltensweisen treten in unterschiedlicher Kombination in sogenannten Störungsbildern mit unter- schiedlichen Ursachen auf.

2) Ursachen und Diagnostik von Dyskalkulie/Rechenschwäche

Die Dyskalkulie/Rechenschwäche ist eine multikausale Störung, für die in der Literatur vielfältige Verursachungsfaktoren genannt werden, die sich im Zusammenwirken zu einem Störungsbild entwickeln, das durch zusätzliche negative Einflüsse verstärkt wer- den kann. Als Verursachungsfaktoren kommen sowohl Faktoren in Frage, die geneti- schen, kongenialen, neuropsychologischen oder psychologischen Ursprungs sind, wie auch psychosoziale oder schuldidaktische Faktoren (Jacobs & Petermann, 2003, S. 204).

2.1) Genetische Verursachungsfaktoren

In verschiedenen Studien, die u.a. von Geary (1993, 1994) Alarcón (1997) und Shalev (1998) durchgeführt wurden, wurde nachgewiesen, dass genetische Ursachen für das Entstehen von Rechenstörungen mitverantwortlich sein können und dass in Familien, in welchen schon derartige Störungen aufgetreten sind, eine wesentlich höheres Risiko besteht, dass nachfolgende Familienmitglieder auch eine Rechenstörung entwickeln. Da es aber nicht möglich ist, ausreichend große Stichproben für solche Studien zu fin- den, ist bei der Interpretation solcher Studien eher Vorsicht geboten ( (Moser Opitz, 2007, S. 42-44). Plomin und DeFries sehen aber beispielsweise in der modernen Gen- forschung Möglichkeiten Risikogruppen für Dyskalkulie/Rechenstörungen zu erkennen bevor Symptome sichtbar werden und darauf aufbauend Therapien zu entwickeln (Plomin & DeFries, 1999).

2.2) Kongeniale Verursachungsfaktoren

Die Ursachen, die als kongenital (angeboren) bzw. erblich bedingt bezeichnet werden können, hängen mit der Intelligenz, ihren Faktoren und ihrer Struktur zusammen (Grissemann & Weber, 2004, S. 28). Eine geminderte Intelligenzleistung im Zusam- menhang mit einer Rechenstörung ist aber nur dann relevant, wenn die Rechenstörung im Sinne einer umschriebenen Lernstörung betrachtet wird, nicht aber im Sinne der WHO-Definition, die von einer Intelligenz im Normalbereich ausgeht.

[...]

Ende der Leseprobe aus 45 Seiten

Details

Titel
Schulische Förderung von rechenschwachen Kindern
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Rehabilitationswissenschaften)
Veranstaltung
Lernbehindertenpädagogik
Note
2,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
45
Katalognummer
V321113
ISBN (eBook)
9783668205338
ISBN (Buch)
9783668205345
Dateigröße
3057 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
schulische, förderung, kindern
Arbeit zitieren
Kathrin Friederichs (Autor:in), 2014, Schulische Förderung von rechenschwachen Kindern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/321113

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