Islamistischer Terror, IS, Taliban: Der Nahe und der Mittlere Osten stehen im Westen vor allem für repressive Gesellschaftsordnungen, religiöse Intoleranz und Gewaltherrschaft. Navid Kermani, Orientalist und Schriftsteller, schildert in seiner Dankesrede anlässlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2015 eindrucksvoll die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart des Orients und des Islams. Er erinnert dabei an frühere islamische Kunst, Musikwissenschaft, Architektur und Poesie und damit an die Freiheit und die Kreativität, die im Islam einmal existierten.
Die vorliegende Arbeit stellt diesen Kontrast anhand unterschiedlicher Repräsentationen Afghanistans im zeitgenössischen deutschen Roman dar. Zum einen als Sehnsuchtsort in Mariam Kühsel-Hussainis Roman „Gott im Reiskorn“ , zum anderen als Ort des Schreckens und der Talibanherrschaft in Linus Reichlins Roman „Das Leuchten in der Ferne“.
Afghanistan fand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die deutsche Literatur. Als Beispiel ist das Gedicht "Trauerspiel von Afghanistan" von Theodor Fontane zu nennen. Der Titel hat nichts von seiner Aktualität verloren, auch wenn das Trauerspiel sich heutzutage nicht mehr auf den verlorenen Kampf der Briten bezieht, sondern vielmehr auf den Kampf Afghanistans gegen den Terrorismus und auf die Wiederherstellung von Frieden und Ordnung.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, anhand der Repräsentationen Afghanistans das Land als Sehnsuchtsort, der Afghanistan einmal war, aus der Vergessenheit und Unkenntnis hervorzuholen und demgegenüber zu untersuchen, was den Schreckensort Afghanistan kennzeichnet, der heute das einzige Gesicht des Landes darstellt.
Um Repräsentationen zu den soeben genannten gegensätzlichen Seiten Afghanistans zu erhalten, wurden die Romane „Gott im Reiskorn“ und „Das Leuchten in Ferne“ ausgewählt. Da es sich bei den Romanen um dieselbe Textsorte handelt, wird zugleich die Vergleichbarkeit der Repräsentationen erleichtert.
Neben den zwei Hauptrepräsentationen Afghanistans als Sehnsuchts- oder Schreckensort soll darüber hinaus ein Blick auf die Bevölkerung Afghanistans sowie das Aussehen, diverse Eigenschaften, Moral, Werte, verschiedene Probleme des Landes wie beispielsweise Hunger und Perspektivlosigkeit, das Stadtleben und die Landschaft geworfen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik, Ziel und Methode
1.2 Forschungsrelevanz, Rezeption und Erkenntnisstand
2. Theoretische Grundlagen und Begriffe
2.1 Interkulturelle Literaturwissenschaft und Komparatistische Imagologie
2.2 Postkolonialismus, Orientalismus und Ethnologische Perspektive
2.3 Repräsentation, Gegenwartsliteratur, Bacha Posh, Kalligraphie
3. Analyse der Repräsentationen Afghanistans
3.1 Geschichte, Politik und Biographie als Quellen für die Repräsentationen
3.1.1 Ein geschichtlicher Überblick Afghanistans
3.1.2 Die aktuelle politische Lage Afghanistans
3.1.3 Biographische Informationen zu Autorin und Autor
3.2 Inhalt, Form und Erzählstruktur
3.2.1 Der Roman Gott im Reiskorn
3.2.2 Der Roman Das Leuchten in der Ferne
3.3 Das Eigene: Europa und Deutschland
3.3.1 Das Eigene in Gott im Reiskorn
3.3.2 Das Eigene in Das Leuchten in der Ferne
3.4 Das Andere: Repräsentationen Afghanistans
3.4.1 Repräsentationen Afghanistans in Gott im Reiskorn
3.4.2 Repräsentationen Afghanistans in Das Leuchten in der Ferne
4. Fazit
4.1 Ergebnis
4.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
Sekundärliteratur
Printmedien
Internet
1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik, Ziel und Methode
„Hinein – in die Kreuzung der Welten! […] hinein in jene zwei so majestätischen Metaphern Orient und Okzident.“
In der gegenwärtigen Zeit, dem Zeitalter des Kampfes gegen den Terror des Islamischen Staates und der Taliban, der aus dem Nahen und Mittleren Osten in den Westen strebenden Flüchtlingsströme, der Anschläge auf Flüchtlingsheime und Politiker aus Fremdenfeindlichkeit aber auch der Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen, ist die Kreuzung von Orient und Okzident besonders deutlich zu spüren. Der Dialog zwischen der islamischen und westlichen Kultur spielt im Jahr 2015 nicht nur in der Politik sondern auch im Kulturbereich eine entscheidende Rolle. Zur Eröffnungspressekonferenz der Frankfurter Buchmesse 2015 wurde der Schriftsteller Salman Rushdie eingeladen und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015 erhielt der Orientalist und Schriftsteller Navid Kermani, der in seiner Dankesrede in der Paulskirche in Frankfurt den früheren „multiethnisch, multireligiösen und multikulturellen Orient“ ins Bewusstsein ruft, den es nicht mehr gibt. Er schildert eindrucksvoll die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart des Orient und des Islam, indem er die in jüngster Zeit zahlreichen, unter Berufung auf den Islam verübten Verbrechen in Syrien, Afghanistan, dem Irak und weiteren Ländern aufzählt. Im Gegenzug dazu an die frühere islamische Kunst, Musikwissenschaft, Architektur und Poesie erinnert, und damit an die Freiheit und Kreativität, die im Islam einmal existierte. Die frühere Poesie, die „vom Geist und den Buchstaben des Korans“ durchdrungen war, enthalte sogar weltliche, erotische und feministische Züge. Es sei auch damals keine heile Welt gewesen, aber diese Beispiele würden doch zeigen, was einmal „denkmöglich, oder sogar selbstverständlich innerhalb des Islam war“. Diesen Kontrast zwischen dem früheren und dem heutigen Orient beschreiben auch die Repräsentationen Afghanistans dieser Arbeit. In dem Roman Gott im Reiskorn geht es hauptsächlich um die vorhin angesprochenen Themen wie Kunst und Poesie sowie um das Afghanistan in der Vergangenheit. In dem Werk Das Leuchten in der Ferne stehen zum einen die Taliban im Mittelpunkt und zum anderen Verbrechen, wie die Steinigung einer Frau unter Berufung auf den Islam, eines der Verbrechen der Gegenwart, die Kermani mit Blick auf Afghanistan in seiner Rede anspricht.
Afghanistan fand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Einzug in die deutsche Literatur. Als Beispiel ist das Gedicht Trauerspiel von Afghanistan von Theodor Fontane zu nennen. Der Titel hat nichts von seiner Aktualität verloren, auch wenn das Trauerspiel sich heutzutage nicht mehr auf den verlorenen Kampf der Briten bezieht, sondern vielmehr auf den Kampf Afghanistans gegen den Terrorismus und auf die Wiederherstellung von Frieden und Ordnung.
Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, anhand der Repräsentationen Afghanistans das Land als Sehnsuchtsort, der Afghanistan einmal war, aus der Vergessenheit und Unkenntnis hervorzuholen und demgegenüber zu untersuchen, was den Schreckensort Afghanistan kennzeichnet, der heute das einzige Gesicht des Landes darstellt. Damit wird der im folgenden Kapitel aufgeführte Erkenntnisstand Susan Zerwinskys konsolidiert. Um Repräsentationen zu den soeben genannten gegensätzlichen Seiten Afghanistans zu erhalten, wurden die Romane Gott im Reiskorn und Das Leuchten in Ferne ausgewählt. Da es sich bei den Romanen um dieselbe Textsorte handelt, wird zugleich die Vergleichbarkeit der Repräsentationen erleichtert. Neben den zwei Hauptrepräsentationen Afghanistans als Sehnsuchts- oder Schreckensort soll darüber hinaus ein Blick auf die Bevölkerung Afghanistans sowie das Aussehen, diverse Eigenschaften, Moral, Werte, verschiedene Probleme des Landes wie beispielsweise Hunger und Perspektivlosigkeit, das Stadtleben und die Landschaft geworfen werden.
Die Thematik Repräsentationen Afghanistans ist den Arbeitsgebieten Interkulturelle Literaturwissenschaft und Komparatistische Imagologie zuzuordnen, welche zu Beginn der theoretischen Einführung kurz erläutert werden. Für die Analyse der Repräsentationen Afghanistans seien sowohl die Orientalismus-Debatte, der postkoloniale Blickwinkel sowie die ethnologische Perspektive als auch historische und politische Einflüsse von Bedeutung. Daher wird als Vorbereitung auf die Analyse im zweiten Kapitel auf den Orientalismus- und Postkolonialismus-Begriff und die ethnologische Perspektive eingegangen. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird der Theorieteil um weitere relevante Begriffe wie Repräsentation, Gegenwartsliteratur, Bacha Posh und Kalligraphie ergänzt. Im dritten Kapitel erfolgt die Analyse der Repräsentationen Afghanistans in Anlehnung an Grabovszki und Corbineau-Hoffmann: Zuerst werden die Quellen für die Entstehung der Repräsentationen untersucht. Diese bestehen aus historischen, politischen und biographischen Hintergründen. Daraus können sich bestimmte Interpretationsschemata entwickeln, die sich in den Repräsentationen widerspiegeln können. Danach wird kurz auf die Form, den Inhalt und die Erzählstruktur eingegangen, da es einen großen Unterschied macht, ob es sich beispielsweise um einen Reisebericht handelt und sich der Autor somit freiwillig dem anderen Land ausgesetzt hat oder um einen von einem Exilanten geschriebenen Roman. Weiterhin gehe jedes Bild (hier: jede Repräsentation) aus einer Bewusstwerdung hervor, „die sich in einem Ich in Beziehung zum ‚Anderen‘ […] vollzieht.“ Dabei sei es wichtig, dass das Bild nicht „Abbild tatsächlicher Gegebenheiten“ sei, sondern „Darstellung im Medium der Sprache“ und sich damit dem Wahr-falsch-Kriterium entziehe. Hier wird die Relevanz des Eigenen, das für das Verständnis der Repräsentationen Afghanistans unabdingbar ist, wie im zweiten Kapitel gezeigt werden wird, betont. Dem Eigenen wird anhand der Charakterisierung der Protagonisten sowie ihrer Heimat Deutschland und Europa auf den Grund gegangen werden. Nun werden die Repräsentationen Afghanistans mithilfe der Fragen, wie Images (hier: Repräsentationen) im Text gebildet werden und welche Funktion sie dort erfüllen herausgestellt und interpretiert. Zum Schluss folgt im vierten Kapitel das Fazit, indem das Ergebnis zusammengefasst und ein Forschungsausblick gegeben wird.
1.2 Forschungsrelevanz, Rezeption und Erkenntnisstand
Die vorliegende Arbeit begründet ihre Forschungsrelevanz anhand fünf wichtiger Aspekte: Zum einen damit, dass das Afghanistanbild in Deutschland aufgrund ins Deutsche übersetzter Werke englischsprachiger Autoren entstanden ist und deutsche Autoren sowie ihre Werke in Bezug auf Afghanistan bisher kaum erforscht worden sind. Zum anderen erschließt sie sich aus der Berichterstattung über Afghanistan in den deutschen Medien, die sich fast ausschließlich auf „Schreckensmeldungen“ beschränkt und damit eine sehr einseitige Wahrnehmung vorherrscht. Details spielen „kaum noch eine Rolle, denn wie man längst weiß, ‚nichts ist gut in Afghanistan‘ “. Ein wichtiger Grund hierfür liegt darin, dass im Gegensatz zu den amerikanischen, britischen französischen und niederländischen Zeitungen sowie Radio- und Fernsehsendern die deutschen Medienanstalten weder ein Büro noch eine Mehrzahl akkreditierter deutscher Journalisten in Kabul haben oder in der Vergangenheit hatten. Die politischen Berichte stammen dagegen oft von Reportern, die mit der Bundeswehr anreisen und nicht über die Grenzen des Bundeswehrlagers hinausschauen können oder wie Friedrich Nowotny es formulierte, fiele „der Blick des Journalisten […] durch den Sehschlitz des Panzers. Und der ist nicht groß“. Eine „Verzerrung der Wahrnehmung“ erfolge jedoch auch durch den, von den deutschen Medien geforderten, obligatorischen „Deutschlandbezug“. An dieser Stelle können die Literatur und insbesondere die Auseinandersetzung mit den Repräsentationen Afghanistans in Gott im Reiskorn und Das Leuchten in der Ferne einen Beitrag zu Afghanistan jenseits der Grenzen des Bundeswehrlagers leisten, der nach der soeben geschilderten Problematik unbedingt notwendig erscheint. Dadurch erfährt die westliche Sichtweise auf Afghanistan eine Verfeinerung und der Dialog der Kulturen wird angeregt. Über Afghanistan wird im 21. Jahrhundert viel geschrieben. Deutsche und europäische Autoren, darunter bekannte Schriftsteller wie Soldaten schreiben vor allem über den Einsatz der NATO in Afghanistan und die traumatischen Erlebnisse der Bundeswehrsoldaten, deren Relevanz nicht negiert werden kann. Ein möglichst vollständiges Bild von Afghanistan kann jedoch nur gelingen, wenn alle Facetten des Landes in Augenschein genommen werden. Dazu gehören Repräsentationen des früheren Afghanistans, seinen Landsleuten und deren Eigenschaften genauso wie diejenigen der Taliban, Bacha Posh und Menschen mit afghanischen Wurzeln, die im Westen leben. Darüber hinaus sieht die Germanistin Susan Zerwinsky in Untersuchungen „deutschsprachiger literarischer Afghanistanbilder“ vor dem Hintergrund der Befürchtung des Ethnologen Alfred K. Treml, jede Berührung mit der westlichen dominanten Kultur würde zu einer Assimilation an dieselbe und damit zu einer Verarmung der fremden Kultur führen, einen „Beitrag zur Bewahrung des kulturellen Gedächtnisses Afghanistans.“ Und nicht zuletzt ist die Reflektion des Eigenen, die unvermeidlich mit den Repräsentationen Afghanistans verknüpft ist und vor allem anhand der beiden Protagonisten der Romane erfolgt, vor dem Hintergrund der in jüngster Zeit in Deutschland verübten Anschläge auf Flüchtlingsheime von großer Bedeutung.
Die Publikumswirksamkeit und Leserrezeption spiegeln sich einerseits in der Auflagenzahl, in Übersetzungen sowie wissenschaftlicher Sekundärliteratur wider. Andererseits stellt die Literaturkritik einen wichtigen Aspekt des Rezeptionsprozesses dar, da sie den Publikumserfolg durch die „subjektive, ideologisch gefärbte Sicht“ des Literaturkritikers auf das Werk entscheidend beeinflusst und zu Missverständnissen führen kann. Da zu den beiden Romanen bisher keine Übersetzungen in andere Sprachen sowie wissenschaftliche Beiträge vorliegen und die Auflagenzahl schwierig zu ermitteln ist, sind für die Rezeption der beiden Romane Rezensionen sowie das Interesse an Interviews und Lesungen ausschlaggebend.
Dem Roman Gott im Reiskorn wurde schon zu Beginn seines Erscheinens eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, wie die Westfälischen Nachrichten im Jahr 2010 berichten: „Das gibt es auch nicht jedes Jahr: Dass die Literaturbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ihre Buchmessen-Beilage mit einem Debütroman aufmacht.“ Auch die Konrad-Adenauer Stiftung wurde auf Kühsel-Hussaini aufmerksam und lud sie zu einer Lesung an ihrem traditionellen Kulturabend im Jahr 2012 ein. Zudem schreibt der bekannte deutsche Schriftsteller Martin Walser: „Die Reichtümer ihrer orientalischen Herkunft erzählt Mariam Kühsel-Hussaini jetzt in der grenzenlosen Ausdruckskraft ihrer deutschen Sprache. Die deutsche Sprache darf sich bereichert fühlen durch Mariam Kühsel-Hussaini.“ Und Feuilletonisten bringen den Roman sogar mit Goethes West-Östlicher Divan in Verbindung. Werden die Rezeptionen zu Gott im Reiskorn zusammengefasst, kommt man zu folgendem Schluss:
Es war höchste Zeit für solch ein Buch über Afghanistan. Anders als alle aktuellen Publikationen zeigt uns Mariam Kühsel-Hussaini kein von Krieg und Terror […] geschundenes Land. Sie erzählt von einem Afghanistan aus der Zeit vor den Islamisten und noch vor den Sowjets.
Der Roman Das Leuchten in der Ferne stammt von dem renommierten Autor Linus Reichlin, der im Gegensatz zu Mariam Kühsel-Hussaini schon mehrere Romane geschrieben hat und besonders als Krimi-Autor bekannt ist. Für seinen Debütroman Die Sehnsucht der Atome erhielt er beispielweise 2009 den Deutschen Krimipreis. Doch der Roman Das Leuchten in der Ferne wird mit mehr Kritik als Lob bedacht.
In den Rezensionen wird von einer literarischen Niederlage gesprochen und die Darstellung der Figuren wie die der Taliban und der Afghanen wird als „platt“ bezeichnet. Schuld an den negativen Rezensionen sind zum Teil jedoch auch die Erwartungen, die an den Roman gestellt werden, wie beispielsweise diese:
Linus Reichlins Afghanistanbuch „Das Leuchten in der Ferne“ hätte der große Gegenwartsroman des Frühjahrs werden können. […] Es hätte in diesem Buch um das Verhältnis der Deutschen zum Krieg in Afghanistan, um die dort stationierten Bundeswehrsoldaten, um einen Europäer unter Talibankämpfern gehen können- Reichlin lässt dieses Potential ungenutzt. Er interessiert sich kaum für die politischen Implikationen seines Stoffs […]. Reichlins erzählerische Aufmerksamkeit […] gilt der Schilderung kulinarischer Details.
Hinter den platten Schilderungen der Figuren und der kulinarischen Details kann auch eine Absicht stecken, auf die innerhalb der Analyse der Repräsentationen noch eingegangen werden wird. Darüber hinaus wird dem Roman auch Anerkennung zuteil, wie folgende Beispiele belegen: Der Germanist und Mitherausgeber der Zeitschrift für Germanistik Alexander Kosenina beschreibt Das Leuchten in der Ferne nicht nur als „große Literatur“, die „auch noch spannend erzählt“ ist, sondern der Roman rücke Afghanistan durch die Beschreibung der „wilden Welt der Mudschahedin“ in ein neues Licht. Das Bayerische Fernsehen hat Linus Reichlin und seinem Roman einen eigenen Beitrag gewidmet, indem Das Leuchten in der Ferne als „lesenswertes Buch“ beschrieben wird. Und die Süddeutsche Zeitung beschreibt Reichlins Afghanistanbuch als „gekonnt gebauten und spannenden Roman“. Entgegen der vielen negativen Kritiken kann Reichlins Roman jedoch auch als ein gelungener Einblick in das Land betrachtet werden, der „Verständnis für die Menschen und ihre Handlungsweisen“ weckt. Nicht umsonst stand er mehrere Wochen in der Schweiz auf der Bestsellerliste.
Aus der internationalen Forschung sind bezüglich der literarischen Darstellung Afghanistans einzelne englischsprachige Studien zu dem Afghanistanbild in einem Roman und Reisebericht zu nennen. Die deutschsprachige Forschung verzeichnet vor allem Beiträge zu Repräsentationen und Images anderer Länder. Es gibt zwar Studien, in denen Repräsentationen Afghanistans zu finden sind, sie beziehen sich jedoch nicht auf die Literatur. Untersuchungen zu dem Afghanistanbild in der deutschen und insbesondere der zeitgenössischen deutschen Literatur fehlen noch. Jedoch hat die Germanistin Susan Zerwinsky mit dem Aufsatz Imaginationen vom Hindukusch. Afghanistanbilder in der deutschen Literatur auf diesem Gebiet einen wichtigen Anfang gemacht. Darin hält sie fest, dass in der deutschsprachigen Literatur häufig ein ambivalentes Afghanistanbild vorherrscht:
Afghanistan wird entweder zu einem faszinierenden literarischen Sehnsuchtsort stilisiert, an dem paradiesische Ursprünglichkeit und Schönheit anzutreffen sind, oder aber das Land und seine Menschen geraten zu einem literarischen Schreckensort, der mit seiner „Wildheit“ und „Grausamkeit“ den Beobachter verunsichert und verstört.
2. Theoretische Grundlagen und Begriffe
2.1 Interkulturelle Literaturwissenschaft und Komparatistische Imagologie
Die Interkulturelle Literaturwissenschaft befasst sich mit „Bilder[n] des Fremden in der deutschen Literatur und deren Bezug zu Selbstdefinitionen der Deutschen im Kontext von Begegnungen, die nicht ohne Macht und Herrschaft zu denken sind.“ Dies weist bereits auf die postkoloniale Perspektive hin, die für die interkulturelle Literaturwissenschaft von großer Bedeutung ist, ebenso wie die Begriffe Interkulturalität, Kultur und Fremdheit wichtige Komponenten dieses Arbeitsfeldes darstellen. Interkulturalität wird als ein „intermediäres Feld, das sich im Austausch der Kulturen als Gebiet eines neuen Wissens herausbildet und erst dadurch wechselseitige Differenzidentifikation ermöglicht“ verstanden. Dabei ist die Sichtweise von Homi Bhabha von Bedeutung, die darin besteht, dass „Interkulturalität nicht als das Aufeinandertreffen distinkter, homogener einzelner Kulturen begriffen werden kann, […] [sondern] schon die Einzelkultur, aus der ein Mensch stammt, durch die Kreuzung und Opposition der verschiedensten Tendenzen gekennzeichnet ist.“Kultur als das „vom Menschen Gemachte“ wird hier ebenso entgegen der allgemein üblichen Betrachtungsweise, sie sei „ein Komplex von Werten, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Praktiken, die die Lebensweise einer bestimmten Gruppe ausmachen“ differenzierter aufgefasst. Die Aufmerksamkeit gilt auch „intrakulturelle[n] Differenzen und Alteritäten“ und damit wie von Bhabha und Nünning gefordert, der Heterogenität einer Gemeinschaft. Fremdheit ist für die Interkulturelle Literaturwissenschaft besonders aufgrund drei Erscheinungsformen relevant: Einerseits beschreibt sie das „Unverfügbare und Unzulängliche“, andererseits den unbekannten Außenraum als Gegensatz zu dem vertrauten Eigenen und darüber hinaus den „Einbruch in einen als eigen definierten Innenraum.“
Der Begriff Komparatistische Imagologie (lat. imago: Bildnis) […] bezeichnet eine lit. wissenschaftliche Forschungsrichtung innerhalb der vergleichenden Lit.wissenschaft, die nationenbezogene Fremd- und Selbstbilder in der Lit. selbst sowie in allen Bereichen der Lit. wissenschaft und - kritik zum Gegenstand hat.
Die Fremdbilder (Heteroimages) und Selbstbilder (Autoimages) bedingen sich gegenseitig, da das Fremde auf der Basis des Eigenen beurteilt wird und zugleich zur Bestimmung des Eigenen beiträgt. Das Fremde beziehungsweise das Andere steht besonders im Mittelpunkt der Komparatistischen Imagologie, wie Corbineau-Hoffmann betont: „Hier wird das ‚Bild‘ vom anderen Land, seinen Bewohnern, seiner Kultur untersucht.“ Dabei können die Träger der Bilder Individuen aber auch Gruppen sein. Im letzteren Falle muss immer kritisch hinterfragt werden, inwieweit diese kollektiven Bilder Aufschluss über den Nationalcharakter geben können und dürfen. Darüber hinaus muss „nicht jede Aussage, die über Bereiche des Andersnationalen getroffen wird, […] zwangsläufig auch die Bestimmung irgendeines Nationalcharakters im Visier haben bzw. dessen Vorhandensein […] voraussetzen“. Die komparatistische Imagologie als Teildisziplin der Komparatistik und der Vergleichenden Literaturwissenschaft, ist sowohl mit der Stereotypenforschung als auch mit der Xenologie, der Fremdheitsforschung, verwandt.
2.2 Postkolonialismus, Orientalismus und Ethnologische Perspektive
Die postkoloniale Perspektive besitzt für das interkulturelle Aufeinandertreffen einen großen Stellenwert, da sie daran erinnert, dass es sich bei interkulturellen Begegnungen um das Zusammentreffen von Nachkommen ehemaliger Kolonialmächte und kolonialisierter Völker handelt. Dabei ist zu beachten, dass die Vorsilbe post zwar auf das Ende der Kolonialzeit verweist, jedoch auch Formen eines „Neo-Kolonialismus“ existieren. Die Voraussetzung postkolonialer Existenz ist Hybridität. Darunter wird in Anlehnung an Homi Bhabha eine Mischung aus verschiedenen Strömungen einer Einzelkultur sowie anderer Kulturen verstanden, die das einzelne Subjekt, vor allem dasjenige in westlichen Metropolen, betrifft. Hybridität, die „durch das Überschreiten kultureller und ethnischer Grenzen entsteht“, macht „die Erfahrung fremder Repräsentationen“ erst möglich. Eine wichtige Rolle für die postkoloniale interkulturelle Literaturwissenschaft spielt darüber hinaus Edward Saids Orientalismus-Konzept, das im Folgenden erläutert wird.
Orientalismus ist einer der Schlüsselbegriffe für das „okzidentale Orient-Verständnis“ und bezeichnet nach Edward Said „einen westlichen Stil der Herrschaft, Umstrukturierung und des Autoritätsbesitzes über den Orient.“ Der eigentlich heterogene Raum Orient sei eine von Europa vereinheitlichte Konstruktion und Erfindung, die den Orient als das unterlegene Andere zu einer Gegenfolie stilisieren, um Europa zu seiner Identität, und zwar die einer überlegenen Kultur, zu verhelfen. Das Orientalismus-Konzept von Said wurde vielfach kritisiert, wobei für die vorliegende Arbeit die Kritik an der einheitlichen Betrachtung Europas besonders hervorgehoben werden soll, da sich die Beziehungen der einzelnen europäischen Länder zum Orient voneinander unterscheiden. Im Rahmen des geschichtlichen Überblicks wird der Unterschied zwischen der Beziehung von Deutschland und England zu Afghanistan deutlich werden.
Zerwinsky weist im Zusammenhang mit der Postkolonialismus- und Orientalismusdebatte auf die Bedeutung der Überlegungen des Ethnologen Treml sowie von Kant hin und fasst diese wie folgt zusammen: Laut Treml empfinde sich der Europäer selbst als zivilisiert gegenüber dem Anderen, dem Außereuropäischen, das als wild und damit minderwertig betrachtet werde. Mit Kants Worten „wurde und wird auch heute noch ‚der Andere‘ nach dem Ideal der eigenen Weltanschauungen und -vorstellungen ‚erzogen‘.“
2.3 Repräsentation, Gegenwartsliteratur, Bacha Posh, Kalligraphie
Dem Begriff Repräsentation können je nach Kontext eine Vielzahl von Bedeutungen zugeordnet werden. In dieser Arbeit handelt es sich um die Repräsentation in der Literatur, die mithilfe von Ansgar Nünnings Definition erläutert wird:
Der Begriff Repräsentation (lat. rapraesentatio: Darstellung/Vertretung) […] lässt sich im weitesten Sinn definieren als ein Prozess der Sinnkonstituierung, in dessen Verlauf die Komponenten Referenz und Performanz insofern eine eminente Rolle spielen, als sie Ambiguität und Neues schaffen. […] In der Lit. verweisen Wörter bzw. Texte auf die externe Welt, auf andere Wörter/Texte, auf sich selbst oder auf den Verweisprozess an sich.
Repräsentationen können Ähnlichkeiten mit Klischees, mit Stereotypen und besonders mit Images aufweisen. Während Images vor allem Vorstellungen und Bilder beschreiben, wird Repräsentationen wie Nünnings Definition zeigt, die Funktion der Vertretung und Darstellung addiziert. Dies entspricht Spivaks Ansatz, die den Repräsentationen eben diese beiden Bedeutungen zuschreibt, indem sie zwischen der Form des Darstellens als sprechen von wie in der Philosophie und der Form des Vertretens als sprechen für unterscheidet. Weiterhin basieren Repräsentationen und Images des Anderen auf der Wahrnehmung des „kulturell, sozial und ethnisch Anderen“, die für Identität, Umbruch und Zusammenhalt ebenso verantwortlich ist, wie für Konflikte.
Die im Titel dieser Arbeit genannte Bezeichnung zeitgenössisch bezieht sich auf die Gegenwartsliteratur. Der Literaturwissenschaftler Oliver Jahraus plädiert dafür, die Gegenwartsliteratur nicht nur aus dem historischen Blickwinkel, das heißt als Epoche und „Reflexionsmedium für jene sozialen und psychischen Belange […] die ‚an der Zeit‘ waren“ wahrzunehmen, sondern „Gegenwartsliteratur über ihre Gegenwärtigkeit zu definieren.“ Jahraus meint damit, dass man diese Literatur gegenwärtig zum Beispiel durch eine Autorenlesung erfahren kann und die Gegenwärtigkeit an die Präsenz des Autors geknüpft ist. „Stirbt eine Autorin/ein Autor, […] oder zieht sich zurück, verliert Literatur ihre Gegenwärtigkeit.“ Nachfolgend wird anhand der Biographien die Präsenz von Kühsel-Hussaini und Reichlin und damit die Gegenwärtigkeit der beiden, dieser Arbeit zugrunde liegenden Romane, deutlich.
Als Bacha Posh wird ein Mädchen in Afghanistan bezeichnet, „das als Junge aufwächst.“ Aus Sicherheit und für mehr Freiheit aber auch aufgrund von Ehre und Stolz werden Mädchen die Haare kurzgeschnitten und als Söhne verkleidet. Dieses Phänomen wird jedoch verschleiert und von den Afghanen selbst als falsch zurückgewiesen. Die schwedische Journalistin Jenny Nordberg konnte hingegen aufgrund jahrelanger Recherche die Existenz der Bacha Posh beweisen, worüber sie in einem Buch ausführlich berichtet. Doch nicht nur Nordberg greift diese Thematik auf, sondern auch der afghanische Film Osama des Regisseurs Siddiq Barmak. Damit gilt das Phänomen der Bacha Posh als belegt.
Kalligraphie ist die Kunst der Schönschrift, die seit dem 10. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil islamischer Kunst ist. Sie umfasst die Herstellung von Büchern und anderen Schriftstücken, aber auch Inschriften auf Gegenständen und Gebäuden.
3. Analyse der Repräsentationen Afghanistans
3.1 Geschichte, Politik und Biographie als Quellen für die Repräsentationen
3.1.1 Ein geschichtlicher Überblick Afghanistans
Der Name Afghanistan für das Gebiet zwischen Seidenstraße, Wüstenregionen und dem Hindukusch fiel erstmals im 18. Jahrhundert. Das Land gilt als Schmelztiegel vieler Völker und Religionen , von denen der griechische Einfluss Alexanders des Großen, der um 330 v.Ch. mit seinen Truppen durch Afghanistan zog, besonders hervorzuheben ist. Um 642 n. Ch. begann die Verbreitung des Islam durch die Araber. Der Beginn der afghanischen Nationalgeschichte wird mit dem Jahr 1747 verbunden, in dem Ahmad Sha Abdali einen lockeren Herrschaftsbund einzelner Fürstentümer kontrollierte. Das 19. Jahrhundert war von The Great Game, dem Machtkampf um Afghanistan zwischen England und Russland geprägt. Es ist jedoch weder den Briten noch den Russen gelungen, Afghanistan über einen längeren Zeitraum zu beherrschen. Afghanistan war nie eine Kolonie, sondern ein „Spielball der konkurrierenden, kolonialen Interessen von Russland und Großbritannien.“ Im Jahr 1880 entstand der heute noch gültige Staat Afghanistan mit seinen Grenzen. Zwischen 1933 und 1973 erlebte Afghanistan unter König Zahir Shah eine verhältnismäßig friedliche Zeit. In den 50er und 60er Jahren beispielsweise besaßen die Frauen das Wahlrecht und durften mit Rock und ohne Kopftuch auf die Straße gehen und die Universität besuchen.
Sie arbeiteten für die Regierung, als Lehrerinnen und Ärztinnen und deutsche Lehrer und Lehrerinnen lebten in Kabul und unterrichteten an der Amani-Oberrealschule in Kabul. Weiterhin wurde der Erforschung der Kunstgeschichte Afghanistans große Bedeutung beigemessen. Danach folgten die Machtübernahme Da`ud Khans sowie seine Ermordung, der Einmarsch der Sowjetunion 1979 und später der Taliban 1994. Gewalt, Mord und Unterdrückung, besonders der Frauen und damit eine bis heute andauernde Anarchie sowie die ersten großen Flüchtlingsbewegungen zeichnen das Land seit geraumer Zeit aus.
Die Taliban-Bewegung entstand in Pakistan in den 1990er Jahren aus ehemaligen Widerstandskämpfern gegen die Sowjetunion und afghanischen Flüchtlingen, islamisch-sunnitische Fundamentalisten, die sich auf die Scharia und das Paschtunwali, „der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunenstämme“ berufen. „Talib“ ist die Bezeichnung für „Koranschüler.“ Die in Pakistan aus Flüchtlingslagern und Koranschulen, die „unter dem Einfluss von wahhabitischen Theologen standen“, rekrutierten Taliban eroberten seit 1994 Teile Afghanistans und 1996 Kabul. Sie versprachen der Bevölkerung mithilfe der „wahren“ islamischen Vorschriften für Frieden und Ordnung zu sorgen. Das Ausmaß dieser verheißungsvollen Aussicht konnte die Bevölkerung damals nicht erahnen. Frauen wurde jedes Recht auf Selbstbestimmung durch einen Beruf genommen und Mädchenschulen wurden gewalttätig geschlossen. Musik und Sport wurde untersagt und Männer mussten sich Bärte wachsen lassen. Die Taliban zerstörten die Buddha-Statuen von Bamiyan und „griffen […] [damit] die Kultur ihres eigenen Landes und ein Symbol islamischer Toleranz an“. Nachdem sie sich nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 geweigert hatten, den aus Saudi-Arabien stammenden Osama bin Laden auszuliefern, wurden sie und mit ihnen Afghanistan für den Westen zur Keimzelle des Terrorismus.
3.1.2 Die aktuelle politische Lage Afghanistans
Noch im Jahr 2001 nimmt die USA mit internationaler Hilfe den Kampf gegen die Taliban auf, was zu einem Rückzug dieser führt, aber nicht zu ihrer Vernichtung. Bis heute befindet sich Afghanistan mithilfe der NATO und der UNO im Wiederaufbau und dem Kampf um Frieden. Derzeitig sind beispielsweise etwa noch achthundert deutsche Soldaten vor allem im Norden Afghanistans im Einsatz. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden, sowie Führungspositionen und das Verteidigungsministerium in Kabul zu unterstützen und zu beraten. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, dass Afghanistan mit Deutschland seit den ersten Kontakten um 1915 eine freundschaftliche Beziehung verbindet. Die Hoffnung, dass in Afghanistan Stabilität einkehrt, bleibt, aber auch die Zweifel, da das Land von Korruption, ethnischem Denken und der Koexistenz von drei Gesetzessystemen (Stammesgesetz, Scharia, modernes Recht) beeinträchtigt wird. Ferner wird Afghanistan von der trotz internationaler Hilfe andauernden Gewalt der Taliban dominiert, wie hier beschrieben wird:
Die deutsche und die internationale Afghanistanpolitik sind heute von Skepsis und Ernüchterung geprägt […]. In den mehr als sieben Jahren der internationalen militärischen und zivilen Präsenz in Afghanistan wurden der geographische Rahmen des Militäreinsatzes – der sich früher auf Kabul und seine direkte Umgebung beschränkte –, die Truppenstärke und die zuerst eng gefasste Dauer des Einsatzes immer weiter ausgedehnt. Das Gewaltniveau ist seit 2003 immer weiter gestiegen, die Sicherheitslage hat sich […] deutlich verschlechtert.
3.1.3 Biographische Informationen zu Autorin und Autor
Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren und floh mit ihrer Familie im Alter von drei Jahren nach Deutschland. Sie ist mit einem deutschen Kunsthistoriker verheiratet und lebt in Berlin. Sie kam früh mit der Poesie in Kontakt, da ihr Vater Rafat Sekretär im afghanischen Schriftstellerverband war, und zu Hause Gedichte vortrug sowie ihr Großvater Sayed Da‘ud Hussaini der Kalligraph des Königs Zahir Schah war. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren verfasste sie Gott im Reiskorn, ihren ersten Roman, der die Geschichte ihrer Familie und vor allem die ihres Großvaters erzählt. Er war für den aspekte-Literaturpreis 2010, der jährlich von dem deutschen Fernsehsender ZDF für den besten deutschsprachigen Debütroman des Jahres verliehen wird, nominiert. Kühsel-Hussaini sagt, dass ihre Eltern ihr seit ihrer Kindheit von Afghanistan erzählt hätten und dass sie immer gewusst habe, dass sie dieses Buch schreiben müsse. Sie würde auch gern eines Tages ihren sogenannten Heimatboden betreten und alles nachempfinden, was sie in Gott im Reiskorn aufgeschrieben habe. Afghanistan sei ihr Pompeji. Nach ihrem erfolgreichen Romandebüt verfasste Kühsel-Hussaini die Romane Abfahrt (2011) und Attentat auf Adam (2012).
Linus Reichlin wurde 1957 in der Schweiz geboren. Er lebt heute als freier Schriftsteller in Zürich und Berlin. 1990 erhielt er den Züricher Journalistenpreis und schrieb die satirische Kolumne Moskito für Die Weltwoche, eine Schweizer Wochenzeitung, bevor ihm für seinen Debütroman Die Sehnsucht der Atome der Deutsche Krimipreis 2009 verliehen wurde. Er schrieb weitere Kriminalromane, wovon Der Assistent der Sterne als Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 im Bereich der Unterhaltung ausgezeichnet wurde. Mit seinem dritten Roman Das Leuchten in der Ferne verabschiedet sich Reichlin vom Krimi-Genre. Wie er in einem Interview berichtet, sei er selbst nie in Afghanistan gewesen. Seine Informationen über Afghanistan und die Taliban habe er vor allem durch Gespräche mit Kriegsreportern und einem afghanischen Freund, der sehr schlechte Erfahrungen mit den Taliban gemacht habe, erhalten. Aufgrund seiner Herkunft aus der Schweizer Bergwelt habe er sich jedoch in das Leben in den Bergen Afghanistans, das Leben der Taliban, einfühlen können.
3.2 Inhalt, Form und Erzählstruktur
3.2.1 Der Roman Gott im Reiskorn
Jakob Benta lebt in Berlin und reist wegen des Todes eines Freundes, der in Kabul bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, nach Afghanistan. Er möchte herausfinden, warum sein Freund Europa verlassen hat. Zu Beginn soll sein Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein, er verlängert sich jedoch mit jedem neuen Einblick, den er durch seine Gastfamilie in die Kunst der Kalligraphie und die Kultur Afghanistans erhält. Er ist Gast im Hause des bekannten Kalligraphen Sayed Mohammed Da`ud Hussaini in Kabul, mit dem er Diskussionen und Gespräche führt und dessen Söhne ihn zu Ausflügen einladen. Schließlich tritt Jakob Benta doch seine Heimreise an. Damit endet der Roman jedoch noch nicht. Rafat, der jüngste Sohn Da´ud Hussainis heiratet die junge Lehrerin Malalai und sie bekommen drei Töchter, von denen die Jüngste die Autorin Mariam Kühsel-Hussaini selbst ist. Währenddessen überschlagen sich die politischen Ereignisse. König Zahir wird von seinem Cousin Da`ud Khan gestürzt. Dieser bricht die Beziehungen zu Russland ab, wird jedoch bald darauf zusammen mit seiner Familie von Kommunisten ermordet. Da´ud Hussaini stirbt und erlebt nicht mehr, wie sein Enkel Léqor, der Sohn von Rafats älterem Bruder Nejat, auf offener Straße erschossen wird. Die Lage in Afghanistan wird unerträglich und Rafat bringt seine Familie und seine Schwiegereltern in Indien in Sicherheit, um zunächst eine Besserung abzuwarten und dann selbst seiner Familie nach Indien zu folgen, bevor sie nach Deutschland flüchten, wo sie schließlich bleiben.
Der Roman Gott im Reiskorn kann als biographischer Roman mit autobiographischen Zügen bezeichnet werden, da Kühsel-Hussaini die Geschichte ihrer Familie erzählt, diese jedoch aufgrund des fiktiven Protagonisten Jakob Benta, einem jungen Kunsthistoriker aus Berlin, vom Historischen abweicht. Weiterhin enthält der Roman Elemente eines Reiseberichts.
Es handelt sich hier nach Stanzl um eine auktoriale Erzählsituation, die zudem innere Monologe sowie Dialoge und damit einen Wechsel zwischen Außen- und Innenperspektive enthält. Weiterhin ist festzustellen, dass der Protagonist sowie auch andere Figuren bei ihrem Vornamen genannt werden. Dadurch wird zum einen das junge Alter des Protagonisten unterstrichen sowie eine Nähe und Vertrautheit zwischen dem Leser, dem Protagonisten und den anderen Figuren hergestellt. Eine Besonderheit ist der Wechsel beziehungsweise das Zurücktreten des Protagonisten. Im letzten Drittel des Romans ist Jakob Benta nach Berlin zurückgekehrt und der Fokus wird auf Da`ud sowie seinen Sohn Rafat gelegt.
3.2.2 Der Roman Das Leuchten in der Ferne
Der arbeitslose und geschiedene Kriegsreporter Moritz Martens trifft auf die alleinerziehende Mutter Miriam, die ihn mit der Geschichte über eine Bacha Posh, die unter den Taliban lebt, nach Afghanistan lockt, um ihren, von den Taliban gefangen gehaltenen Ex-Mann mithilfe von Lösegeld zu befreien. Martens, dem Alltagsleben überdrüssig, wittert eine spannende Reportage, er verliebt sich in Miriam und folgt ihr mit der Bundeswehr nach Afghanistan. Bald darauf gesteht Miriam ihm die Wahrheit und Martens beschließt, ihr zu helfen. Sie verlassen das Bundeswehrlager und begeben sich zu den Taliban in die Berge. Die Lösegeld-Übergabe wird jedoch von einem Luftangriff der Amerikaner gestört, was dazu führt, dass Mirjam und ihr Ex-Mann nach Deutschland entlassen werden und Martens als Geisel bei den Taliban, unter denen sich tatsächlich eine Bacha Posh befindet, zurückbleibt, bis Miriam eine weitere Geldsumme überbringt. Martens lebt bis dahin vier Monate unter den Taliban und beobachtet ihren Alltag.
Afghanistan ist in diesem Buch fremdländisch wirkende Kulisse für eine Erzählung mit den Mitteln des Abenteuerromans des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Kaum ein Stereotyp des Exotismus und kaum ein Geschlechterklischee wird dabei ausgelassen.
Wie in der Rezension beschrieben, handelt es sich hier um einen Abenteuerroman und damit um eines „der beliebtesten Genres des Trivialromans.“ Der Schwerpunkt dieses Romantypus liegt dabei „auf ungewöhnlichen, spektakulären, den Rahmen des Alltagslebens sprengenden Geschehnissen.“ Der moderne Abenteuerroman schildert Erlebnisse von Personen, „die aus einer konventionellen Lebensweise in der Zivilisation ausbrechen, weil sie dazu gedrängt […]werden oder weil sie sie als zu eintönig und lähmend empfinden.“
Das Erzählverfahren von Das Leuchten in der Ferne wird unterschiedlich bewertet. Während es auf Spiegel Online und Zeit Online stark kritisiert wird, wird es in der FAZ gelobt:
Für die atemlos vorwärts strebende Spannung sorgt nicht nur die präzis kalkulierte Geschichte, sondern die Erzählweise. Von den ersten Seiten an wechseln beständig innere und äußere Perspektive. Der Leser geht mit Martens durch eine Hölle aus Hunger und Kälte, Gedanken und Gefühlen. Er begreift hautnah die richtige Einsicht, dass es „keinen unbeteiligten Beobachter“ geben kann.
In Das Leuchten in der Ferne herrscht ebenfalls eine auktoriale Erzählsituation vor, die vereinzelt durch innere Monologe sowie Dialoge und den Wechsel zwischen Außen- und Innenperspektive angereichert ist. In beiden Romanen kann somit aufgrund der auktorialen Erzählsituation von einer das Fremde einnehmenden Haltung gesprochen werden, wie Grabovszki es beschreibt:
Rhetorische Techniken stellen ebenfalls bereits eine Beziehung zum Fremden insofern her, als sie dieses etwa durch die Einhaltung einer bestimmten Erzählsituation bewusst oder unbewusst zu dominieren suchen oder es etwa als gleichwertig neben ein erzählendes Ich stellen. So darf eine auktoriale Erzählsituation auf eine das Fremde einnehmende Haltung schließen lassen.
Der Protagonist wird jedoch wie auch die Bundeswehrmitglieder bei seinem Nachnamen genannt, während andere Figuren wie Miriam oder Dilawar bei ihrem Vornamen genannt werden. Dies betont zum einen das Alter des Protagonisten und zum anderen eine gewisse Distanz zwischen ihm und dem Leser sowie zwischen ihm und den anderen Figuren.
3.3 Das Eigene: Europa und Deutschland
Das Eigene in Gott im Reiskorn wird anhand einer Charakterisierung des Protagonisten Jakob Bentas, seinem verstorbenen Freund Y.B. sowie Deutschlands aufgezeigt. In Das Leuchten in der Ferne wird das Eigene ebenfalls an dem Protagonisten sowie seiner Geliebten, Bundeswehroffizieren und -soldaten und Deutschland dargestellt.
3.3.1 Das Eigene in Gott im Reiskorn
Jakob Benta ist Kunsthistoriker (vgl. 44) und stammt aus einer wohlhabenden Familie. Er hat dunkles lockiges Haar (vgl. 35, 68), schwarze Augenbrauen (vgl. 55), graublaugrüne Augen und trägt eine Hornbrille (vgl. 77). Er besuchte zusammen mit seinem in Afghanistan verstorbenen Freund ein Internat (vgl. 24) und reiste durch Italien, das er wegen seiner schönen Landschaft, Malerei und Baukunst schätzt (vgl. 25). Er ist von Naivität geprägt (vgl. 25) und kennt keine Geduld, da er davon „nie Gebrauch zu machen gezwungen war, bewegte er sich doch freilich in seinem Europa“ (27). Er „war ein Solist des Lebens, ein Einzelner des Weges, der immer schon kostspieliger empfand als alle anderen Menschen“ (34) und dessen Blicken nichts entgeht (vgl. 58). Er lebt in einer Altbauwohnung mit hohen Decken und großen Fenstern in Berlin, besitzt viele Bücher und an einer Wand hängt ein Gemälde mit einer Frau und einem Blumenstrauß, das an den französischen Maler Henri Matisse erinnert (vgl. 34).
Die Begegnung Jakob Bentas mit Afghanistan kann als eine fünfstufige Entwicklung begriffen werden. Die erste Stufe ist geprägt von dem Idealbild Europas und der Abneigung gegenüber Afghanistan. „Nicht ein einziges Mal hatte Jakob Benta auch nur mit dem Gedanken zu spielen gewagt, Europa zu verlassen […] Und weshalb sollte er auch, schließlich verlässt ein Europäer Europa nicht“ (23). Eben dies, Europa verlassen zu haben, macht er seinem toten Freund zum Vorwurf und kann es sich „durch nichts erklären“ (24). In Kabul, „wo Anstrengungen […] sein Gemüt betrübten, sodass ihm jegliche Berührung mit dieser anderen Welt von vornherein mühselig und im Grunde auch nicht sonderlich notwendig“ (23) erscheint, trifft er „schwitzend und verärgert“, verzweifelt und zornig (vgl. 26) ein und die erste Begegnung mit Afghanen verfolgt er mit „düsterem Ernst“ (39). Jakob ist „[g]anz bei sich, […] ebendieser ständige Eigenbezug, das Zweifeln an so vielem und erst recht an einer solchen Reise hierher “ (28f), doch „[a]m allerwenigsten […] an sich selbst zu zweifeln“ (34) zeichnen ihn aus. Der Vorwurf an den Freund kann indirekt auch auf eine Bedrohung und Konkurrenz hinweisen, die Jakob in Afghanistan sieht. Die zweite Stufe ist von wiederholten Reizen, sich Afghanistan zu öffnen, geprägt, wie folgende Textstellen zeigen: „Hemmnis verbot ihm, sich für diese Fremde zu begeistern, dennoch aber […] ließ sich ein stilles Begehren, irgendein Flüstern nicht verleugnen“ (28) und „obwohl er unter dem Fremden litt, stülpte sich zur selben Zeit ein Entzücken aus ihm heraus“ (34) sowie „Gerade als er sich enttäuschend zu Bewusstsein führen musste, dass sein europäischer Gliederbau ihn am Schneidersitz hinderte“ (43). Darauf folgt die dritte Stufe, Vertrautes im Anderen wahrzunehmen, Europa in Afghanistan zu finden, das durch Vergleiche mit europäischer Musik und Kunst hervorgehoben wird:
[...]
- Arbeit zitieren
- Friederike Aminy (Autor:in), 2015, Repräsentationen Afghanistans im zeitgenössischen deutschen Roman. Mariam Kühsel-Hussainis „Gott im Reiskorn“ und Linus Reichlins „Das Leuchten in der Ferne“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/316979
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