„Was der Dichter diesem Bande/ Glaubend, hoffend anvertraut,/ Werd’ im Kreise deutscher Lande/ Durch des Künstlers Wirken laut./ So im Handeln, so im Sprechen/ Liebevoll verkünd’ es weit:/ Alle menschlichen Gebrechen/ sühnet reine Menschlichkeit.“
Diese Verse Goethes, die er für einen Schauspieler, der den Orest spielte, in dessen Exemplar von „Iphigenie auf Tauris“ schrieb, wurden von der Literaturwissenschaft über einen langen Zeitraum hinweg dahingehend ausgelegt, im Zentrum des Stückes stehe der Triumph der Humanität. Und Goethe stelle dies durch seine Figur der Iphigenie, quasi als Personifikation der Menschlichkeit, dar, wobei diese Grundthese der meisten Interpretationen nur selten hinterfragt wurde.
Genau das jedoch macht W. Rasch in seinem Buch „Goethes ‚Iphigenie auf Tauris’ als Drama der Autonomie“, daß eine moderne Deutung des Stücks darstellt und sowohl die Aussagen Goethes zu seinem Werk als auch die daraus folgenden traditionellen Forschungsergebnisse kritisch betrachtet. Er kommt daraufhin zu dem Schluß, daß als zentrales Thema nicht die Humanität Iphigenies, sondern vielmehr der Autonomiegedanke, den Goethe in diesem Werk ausführt und seinem Publikum vermitteln will, in den Mittelpunkt der Interpretation gerückt werden muß, eine Ansicht, die wiederum von Literaturwissenschaftlern kritisiert wird.
Die Unabhängigkeit der Figuren beschränkt sich aber nicht nur auf das persönliche Verhalten des Einzelnen, sondern zeigt sich zusätzlich dadurch, daß der Umgang mit den Göttern durch die menschliche Autonomie verändert wird, und in ein neues, gleichberechtigteres Verhältnis gesetzt wird.
Die Interpretation des Schauspiels durch Rasch will ich im folgenden in ihren Grundzügen darstellen, sowie dadurch auch die Unterschiede zwischen dieser und der traditionellen Sichtweise deutlich machen.
Danach möchte ich auf die rhetorischen Theorien in „Iphigenie auf Tauris“ eingehen, wobei der Rhetorikbezug Goethes, den wir im Verlauf des Seminars in allen behandelten Werken herausgearbeitet haben, hier sehr eng mit der neueren Deutung zusammenhängt. Denn um wirklich autonom agieren zu können, bedarf der Mensch der rhetorischen Mittel, da er nur, wenn er seinen Willen sich selbst und anderen gegenüber auszudrücken in der Lage ist, diesen daraufhin auch in die Tat umsetzen kann.
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Interpretation von Rasch im Vergleich zur traditionellen Sichtweise
3. Autonomie und die rhetorischen Strategien der Figuren
4. Die Rhetoriktheorie unter dem Aspekt Blumenbergs
5. Schlußbetrachtungen
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Was der Dichter diesem Bande/ Glaubend, hoffend anvertraut,/ Werd’ im Kreise deutscher Lande/ Durch des Künstlers Wirken laut./ So im Handeln, so im Sprechen/ Liebevoll verkünd’ es weit:/ Alle menschlichen Gebrechen/ sühnet reine Menschlichkeit.“[1]
Diese Verse Goethes, die er für einen Schauspieler, der den Orest spielte, in dessen Exemplar von „Iphigenie auf Tauris“ schrieb, wurden von der Literaturwissenschaft über einen langen Zeitraum hinweg dahingehend ausgelegt, im Zentrum des Stückes stehe der Triumph der Humanität. Und Goethe stelle dies durch seine Figur der Iphigenie, quasi als Personifikation der Menschlichkeit, dar, wobei diese Grundthese der meisten Interpretationen nur selten hinterfragt wurde.
Genau das jedoch macht W. Rasch in seinem Buch „Goethes ‚Iphigenie auf Tauris’ als Drama der Autonomie“, daß eine moderne Deutung des Stücks darstellt und sowohl die Aussagen Goethes zu seinem Werk als auch die daraus folgenden traditionellen Forschungsergebnisse kritisch betrachtet. Er kommt daraufhin zu dem Schluß, daß als zentrales Thema nicht die Humanität Iphigenies, sondern vielmehr der Autonomiegedanke, den Goethe in diesem Werk ausführt und seinem Publikum vermitteln will, in den Mittelpunkt der Interpretation gerückt werden muß, eine Ansicht, die wiederum von Literaturwissenschaftlern kritisiert wird.[2]
Die Unabhängigkeit der Figuren beschränkt sich aber nicht nur auf das persönliche Verhalten des Einzelnen, sondern zeigt sich zusätzlich dadurch, daß der Umgang mit den Göttern durch die menschliche Autonomie verändert wird, und in ein neues, gleichberechtigteres Verhältnis gesetzt wird.
Die Interpretation des Schauspiels durch Rasch will ich im folgenden in ihren Grundzügen darstellen, sowie dadurch auch die Unterschiede zwischen dieser und der traditionellen Sichtweise deutlich machen.
Danach möchte ich auf die rhetorischen Theorien in „Iphigenie auf Tauris“ eingehen, wobei der Rhetorikbezug Goethes, den wir im Verlauf des Seminars in allen behandelten Werken herausgearbeitet haben, hier sehr eng mit der neueren Deutung zusammenhängt. Denn um wirklich autonom agieren zu können, bedarf der Mensch der rhetorischen Mittel, da er nur, wenn er seinen Willen sich selbst und anderen gegenüber auszudrücken in der Lage ist, diesen daraufhin auch in die Tat umsetzen kann.
Um den Zusammenhang zwischen der Rhetoriktheorie bzw. den rhetorischen Strategien der einzelnen Charaktere im Drama und dem Autonomiebegriff zu untersuchen, werde ich einen Aufsatz von Hans Blumenberg[3] miteinbeziehen, der sich stellenweise sehr gut auf „Iphigenie auf Tauris“ anwenden läßt.
2. Die Interpretation von Rasch im Vergleich zur traditionellen Sichtweise
Rasch stützt die Grundgedanken seiner Deutung darauf, daß einige Aussagen Goethes zu „Iphigenie“ bislang falsch ausgelegt wurden, so könne sich z.b. das zu anfangs bereits angeführte Zitat, da es direkt ‚an den Orest’ gerichtet ist, nicht auf die „reine Menschlichkeit“ Iphigenies beziehen. Diese Worte müssen von Goethe also anders gemeint gewesen sein, und zwar so, daß er die Schuld, die er durch den Muttermord auf sich geladen hat, selbst verantworten und ohne Hilfe von außen, also von Iphigenie oder den Göttern, auf eine menschlich-autonome Art sühnen muß.
Hier entwickelt sich bereits ein starker Gegensatz zu den vorangehenden Interpretationen, die davon ausgehen, daß Orests Verbrechen erst durch die Hilfe seiner Schwester und die darauf folgende Absolution der Götter vergeben werden kann. Laut Rasch spiegelt sich in seiner Form der Auslegung auch Goethes Abneigung gegen die christliche Kirche und ihre Vertreter wieder, deren Lehre, daß nur Gott die Menschen von ihren Sünden befreien kann, er hiermit widerspricht. Denn Goethe befürchtete eine weitere Ausbreitung der kirchlichen Macht, wodurch er die Fortschritte der Aufklärung, die ihm überaus wichtig waren, in Gefahr sah.[4]
In dieser Zitatauslegung sind schon die zwei wichtigsten Punkte enthalten, durch die Rasch von anderen Literaturwissenschaftlern, die sich mit diesem Werk beschäftigt haben, unterschieden werden kann.
Erstens die Verschiebung des Mächteverhältnisses zwischen Menschen und Göttern, da dem Menschen Orest die Möglichkeit zugesprochen wird, sich für sein Vergehen selbständig, durch seine eigene Reue, und ohne göttliche Unterstützung zu verantworten, wodurch die Götter einen großen Autoritätsverlust erleiden. Dieser Aspekt muß für Goethe besonders wichtig gewesen sein, da er selbst die Szene, in der sich die Sühne vollzieht, als „Achse des Stücks“[5] bezeichnet.
Zweitens vollzieht sich durch diese Art der Interpretation eine Trennung zwischen der Person der Iphigenie und den Worten „reine Menschlichkeit“, die vorher als Bezeichnung eines hervorstechenden Merkmals ihres Charakters gesehen wurden, worauf alle ihre Handlungen und Aussagen mit dem (vermeintlichen) Wissen um diese Charaktereigenschaft als Interpretationshintergrund gedeutet wurden.
Durch diese neue Ausgangsbasis gelangt Rasch zu einer anderen Sicht der Figurenkonstellation des Dramas. Im traditionellen Textverständnis wird diese so beurteilt, daß Iphigenie allein durch ihr gutes, durch und durch humanes Wesen in der Lage ist, sowohl Orest von seiner psychischen Verkehrtheit zu „heilen“ als auch Thoas, und dadurch indirekt die Bevölkerung Tauriens, die vor ihrer Ankunft auf der Insel völlige Barbaren waren, zu einem menschlicheren Verhalten zu „erziehen“. Rasch entfernt sich hingegen von diesem kontrastierenden Gut-Böse-Schema, indem er zeigt, daß der König der Taurier auch vor dem Auftauchen Iphigenies schon menschlich war, da er sie von der sonst üblichen Hinrichtung verschonte, außerdem bezeichnet Iphigenie selbst ihn als „edle[n] Mann“[6], der ihr ein „zweiter Vater ward“[7], weshalb sie sich auch scheut diesen durch eine Flucht und den Raub des Götterbildes „tückisch zu betrügen, zu berauben.“[8]
Daran kann man sehen, daß Iphigenies offene und ehrliche Haltung gegenüber Thoas nicht allein ihrem starken Humanitätsempfinden entspringt, sondern auch eine Reaktion auf dessen eigenes humanes Verhalten ihr gegenüber darstellt. Die, in der traditionellen Deutung etwas einseitige, Sicht der grausamen Barbaren sollte sich eigentlich schon allein dadurch relativieren, daß Iphigenie selbst von ihrem Vater geopfert wurde und daß außerdem das Menschenopfer einen religiösen Kultus darstellt, der zu jener Zeit nicht unüblich war.
Wie bereits angesprochen sieht Rasch auch die Genesung Orests nicht als Iphigenies Leistung an, denn sie erfolgt erst, als dieser sich mit seinem Verbrechen innerlich auseinandersetzt. In einer Vision begegnen ihm seine Eltern vereint und er versöhnt sich mit ihnen, indem er sagt: „Seht euern Sohn! Heißt ihn willkommen!“[9] Erst daraufhin gelingt es ihm dann, wieder einen klaren Verstand zu erhalten. Iphigenie möchte ihm zwar helfen und ihm durch „den reinen Hauch der Liebe (...) Die Glut des Busens leise wehend kühlen“[10], doch eine Veränderung an Orests Zustand zeigt sich durch „der reinen Schwester Segenswort“[11] nicht.
[...]
[1] Rasch, Wolfdietrich: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979, S. 17.
[2] Vgl. z.B. Wittkowski, Wolfgang: Goethe und Kleist: Autonome Humanität und religiöse Autorität zwischen Unterbewußtsein und Bewußtsein in Iphigenie, Amphitryon, Penthesilea. In: Ders. (Hrsg.): Goethe im Kontext. Tübingen 1984.
[3] Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Reclam, Stuttgart 1981.
[4] Vgl. Rasch, Wolfgang: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als Drama der Autonomie. München 1979. S. 19f.
[5] Vgl. Rasch (1979), S. 17.
[6] Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris. Reclam, Stuttgart 2001. S. 5, V. 33. (Im Folgenden nur: Iphigenie, S. x, V. x.
[7] Iphigenie, S. 51, V. 1641.
[8] Iphigenie, S. 51, V. 1642.
[9] Iphigenie, S. 41, V. 1295.
[10] Iphigenie, S. 37, V. 1157 f.
[11] Iphigenie, S. 37, V. 1166.
- Arbeit zitieren
- Sarah Trede (Autor:in), 2003, Rhetorik und Autonomie in Goethes "Iphigenie auf Tauris", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31500
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