Es sind jedoch gerade diese angeblichen positiven Effekte der Entwicklungshilfe und der Fortschritt in der entwicklungspolitischen Bekämpfung der Armut, die von einer Vielzahl von Kritikern zumindest angezweifelt wenn nicht sogar aufs Schärfste zurückgewiesen werden. So konstatiert beispielsweise Peter Bauer: „Man unterschätzt die Völker der Dritten Welt, wenn man behauptet, sie könnten im Gegensatz zum Westen materiellen Fortschritt nicht ohne Almosen von außen erlangen [...]. In Wirklichkeit haben sich große Teile der Dritten Welt rapide entwickelt, lange bevor sie Entwicklungshilfe erhielten [...]. Kurzum, ausschlaggebend für wirtschaftlichen Erfolg ist die Haltung der Menschen [...]. Hilfe von außen war noch zu keiner Zeit und nirgendwo für die Entwicklung eines Landes notwendig.“1
Gleichzeitig wird auch die uneigennützige Motivationslage in Frage gestellt und stattdessen nationale Interessen der Geberländer als die treibende Kraft in der Entwicklungspolitik unterstellt.2 Auch entwicklungspolitische Verfehlungen der Nehmerländer bleiben den Kritikern nicht verborgen. Gerade im Hinblick auf die nach wie vor desolate Lage in Afrika wird immer häufiger auf die Verantwortung der Entwicklungshilfenehmer hingewiesen. „Um Afrika südlich der Sahara war es [trotz Entwicklungshilfe] wohl noch nie so schlecht bestellt wie heute.“3 Dabei weist selbst der ghanaische UN-Generalsekretär darauf hin, „[...] dass Afrika längst nicht mehr Opfer, sondern Täter sei und in den mittlerweile fast fünf Dekaden seit Beginn der Unabhängigkeit praktisch nichts zur eigenen Entwicklung beigetragen habe.“4
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, inwieweit die traditionelle Entwicklungshilfe, wie sie seit 50 Jahren Anwendung findet, überhaupt noch gerechtfertigt werden kann. Kann und sollte die internationale Entwicklungszusammenarbeit so fortgeführt werden wie bisher? Welche Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge können auf Basis der gemachten Erfahrungen und jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse ausgesprochen werden? Die Betrachtung dieser Fragen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
[1 Bauer (1982), S.9. 2 Vgl. Wagner (1993), S.12f.; Mosley (1987), S.32. 3 Drechsler (2004), S.9. 4 Drechsler (2004), S.9.]
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Relevanz und Aktualität der Thematik – Zielsetzung der vorliegenden Arbeit
1.2 Aufbau und Vorgehensweise
2 Grundlagen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
2.1 Definition und Indikatoren von Entwicklung – Implikationen für die Beurteilung der Entwicklungshilfe
2.2 Ursprung der Entwicklungshilfe – Annahmen und ihre Auswirkungen
3 Die Entwicklungshilfe in der Diskussion
3.1 Beobachtungen, Ansichten und Forderungen der Kritiker
3.1.1 Geber im Spannungsfeld von Altruismus und Eigennutz
3.1.2 Kapazitäten und Leistungsfähigkeiten der Nehmerländer und ihr Einfluss auf den Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit
3.1.3 Zusammenarbeit und Koordination
3.1.3.1 Koordination zwischen verschiedenen Gebern
3.1.3.2 Koordination zwischen Gebern und Nehmern
3.1.4 Volatilität und Fungibilität der Entwicklungshilfezahlungen
3.1.5 Die „Holländische Krankheit“
3.1.6 Wirkung der Entwicklungshilfe auf die inländische Ersparnis
3.2 Schlussfolgerungen – Beendigung der Entwicklungszusammenarbeit?
4 Weltbank und die Verbesserung der Entwicklungszusammenarbeit
4.1 Weltbank und entwicklungspolitische Forschung
4.2 Voraussetzungen einer erfolgreichen Entwicklungszusammenarbeit
4.2.1 „Gute Politiken“ und Institutionen in den Nehmerländern
4.2.2 Wohlstandsniveau in den Empfängerländern
4.2.3 Anpassungsempfehlungen
5 Perspektiven und Konzepte für die Entwicklungshilfe im 21. Jahrhundert – Resümee, Ergänzungen, Schlussfolgerungen
Anhang
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Milleniums-Entwicklungsziele und Zielvorgaben
2 Fungibilität
3 Wirkung der Entwicklungshilfe – Das Beispiel Sambia: Annahmen des Zwei-Lücken-Modells und Realität
4 Wirtschaftliches Management und Wachstum in ausgewählten Entwick-lungsländern
5 Erfahrungen und Empfehlungen der Weltbank
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
1.1 Relevanz und Aktualität der Thematik – Zielsetzung der vorliegenden Arbeit
Trotz oder gerade wegen der bereits ein halbes Jahrhundert andauernden Geschichte der Entwicklungshilfe und der bis zum heutigen Tage erbrachten entwicklungspolitischen Hilfsleistungen der Geberländer im Gesamtwert von knapp einer Billion US-Dollar, ist das Thema Entwicklungshilfe so aktuell wie eh und je.[1] Zwischen 50 und 65 Milliarden US-Dollar werden jedes Jahr im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit[2] aufgewendet, d.h. von den „entwickelten“ Geberländern in die „unterentwickelten“ Nehmerländer transferiert.[3] Die Motivationen für diese Transferleistungen sind mannigfaltig, wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch aufgezeigt werden wird, doch findet sich die ursprüngliche Erklärung für die Notwendigkeit der Entwicklungshilfe im „Point Four Programme“ Harry S. Trumans aus dem Jahre 1949: „Fourth, we must embark on a bold new program for making the benefits of our scientific advance and technical progress available for the improvement and growth of under-developed areas [...]. I believe we should make available to peace-loving peoples the benefits of our store of technical knowledge in order to help them realize their aspirations for a better life. And in co-operation with other nations, we should foster capital investment in areas needing development.”[4] In der jüngeren Vergangenheit fasste der Senior Vice-President for Development Economics der Weltbank die Aufgaben und Auswirkungen der Entwicklungszusammenarbeit wie folgt zusammen: “Helping countries and communities generate the knowledge that they need for development is a prime role of assistance. [...] Though tremendous progress has been made in the past 50 years, global poverty remains a severe problem. […] More effective development means improvements in the lives of hundreds of millions of people: more food on the table, healthier babies, more children in school. These are things worth fighting for – and properly managed, foreign aid can make a big contribution.”[5]
Es sind jedoch gerade diese angeblichen positiven Effekte der Entwicklungshilfe und der Fortschritt in der entwicklungspolitischen Bekämpfung der Armut, die von einer Vielzahl von Kritikern zumindest angezweifelt wenn nicht sogar aufs Schärfste zurückgewiesen werden. So konstatiert beispielsweise Peter Bauer: „Man unterschätzt die Völker der Dritten Welt, wenn man behauptet, sie könnten im Gegensatz zum Westen materiellen Fortschritt nicht ohne Almosen von außen erlangen [...]. In Wirklichkeit haben sich große Teile der Dritten Welt rapide entwickelt, lange bevor sie Entwicklungshilfe erhielten [...]. Kurzum, ausschlaggebend für wirtschaftlichen Erfolg ist die Haltung der Menschen [...]. Hilfe von außen war noch zu keiner Zeit und nirgendwo für die Entwicklung eines Landes notwendig.“[6] Gleichzeitig wird auch die uneigennützige Motivationslage in Frage gestellt und stattdessen nationale Interessen der Geberländer als die treibende Kraft in der Entwicklungspolitik unterstellt.[7] Auch entwicklungspolitische Verfehlungen der Nehmerländer bleiben den Kritikern nicht verborgen. Gerade im Hinblick auf die nach wie vor desolate Lage in Afrika wird immer häufiger auf die Verantwortung der Entwicklungshilfenehmer hingewiesen. „Um Afrika südlich der Sahara war es [trotz Entwicklungshilfe] wohl noch nie so schlecht bestellt wie heute.“[8] Dabei weist selbst der ghanaische UN-Generalsekretär darauf hin, „[...] dass Afrika längst nicht mehr Opfer, sondern Täter sei und in den mittlerweile fast fünf Dekaden seit Beginn der Unabhängigkeit praktisch nichts zur eigenen Entwicklung beigetragen habe.“[9]
Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, inwieweit die traditionelle Entwicklungshilfe, wie sie seit 50 Jahren Anwendung findet, überhaupt noch gerechtfertigt werden kann. Kann und sollte die internationale Entwicklungszusammenarbeit so fortgeführt werden wie bisher? Welche Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge können auf Basis der gemachten Erfahrungen und jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse ausgesprochen werden? Die Betrachtung dieser Fragen ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
1.2 Aufbau und Vorgehensweise
Um alle Facetten und Zusammenhänge der Entwicklungszusammenarbeit in angemessener Weise erörtern zu können, ist es zunächst notwendig, sich einiger grundlegender Begrifflichkeiten und des Ursprungs der Entwicklungshilfe anzunehmen und diese hinreichend zu definieren und zu erläutern. Dies soll zu Beginn des folgenden Abschnitts geschehen. Im weiteren Verlauf werden dann die wichtigsten Kritikpunkte an der Entwicklungshilfe präsentiert und hinterfragt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Aufgaben, Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten der Protagonisten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Nachdem dem Leser die wichtigsten Problemfelder der Entwicklungshilfe deutlich gemacht wurden, dienen diese Problemfelder als Grundlage für die Erarbeitung konkreter Lösungs- und Verbesserungsvorschläge. Dabei wird vor allem auf die jüngsten Forschungsergebnisse und Befunde der Weltbank zurückgegriffen, welche sich durch besonders vielversprechende Verbesserungsvorschläge in diesem Bereich hervor getan hat. Die in diesem Rahmen gewonnenen Erkenntnisse über eine eventuelle effektive Entwicklungshilfe leiten über zum finalen Abschnitt der vorliegenden Arbeit und stellen die Basis für eine abschließende Erörterung der Zukunftsaussichten einer Entwicklungszusammenarbeit in der einen oder anderen Form dar.
2 Grundlagen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit
2.1 Definition und Indikatoren von Entwicklung – Implikationen für die Beurteilung der Entwicklungshilfe
In der entwicklungstheoretischen Literatur lassen sich eine Vielzahl von Definitionen von „Entwicklung“ finden, es hat sich aber bis heute keine prägnante Definition von Entwicklung durchsetzen können. In lexikalischen Werken wird sich dem Begriff Entwicklung häufig mit Schlagworten wie „Wachstum“, „fortschrittlicher“ oder „stärker“ angenähert.[10] Dabei liegt der Schwerpunkt in vielen Fällen auf der Komponente „Wachstum“ im Sinne eines ansteigenden Bruttoinlandsprodukts, einer Steigerung des realen Pro-Kopf-Einkommens[11] oder auch der „Industrialisierung, möglichst mit Schwerindustrie“.[12] Insgesamt wurde die Entwicklung im Zeitablauf aber keineswegs konstant und einheitlich definiert und betrachtet. So heißt es im Human Development Report 1991 der Vereinten Nationen: „[...] economic growth became the main focus after the Second World War and the growth rate of the gross national product became the goal of development in the 1950s and 1960s, the question of promoting individual well-being receded. In time distribution was altogether forgotten […] thus income moved from an admittedly partial measure of well-being to center stage as a measure of production and as the sole measure of welfare in per capita form. By the 1960s it was clear from many developing countries that income growth had not tackled the problem of mass poverty. Income distribution and equity came to the forefront as an additional objective of development.”[13] Dieses Zitat verdeutlicht gleichzeitig sowohl die Wechselhaftigkeit des entwicklungspolitischen Fokus, als auch die wachsende Bedeutung der Komponente „Armutsbekämpfung“ in der Entwicklung. Demnach ist auch die Beseitigung der absoluten Armut, d. h. die Sicherung eines materiellen Mindeststandards für die Menschheit, eine notwendige Bedingung für nachhaltige Entwicklung und primäres Ziel der Entwicklungszusammenarbeit.[14]
Der Versuch einer ganzheitlichen Definition des Begriffs Entwicklung erfolgte im Jahre 1974 durch den renommierten Ökonomen Gunnar Myrdal: „By development I mean the movement upward of the entire social system, and I believe this is the only logically tenable definition. This social system encloses, besides the so-called economic factors, all noneconomic factors, including all sorts of consumption by various groups of people; consumption provided collectively; educational and health facilities and levels; the distribution of power in society; and more generally economic, social, and political stratification; broadly speaking, institutions and attitudes […].”[15]
Vor dem Hintergrund einer ähnlich ganzheitlichen Auffassung von Entwicklung wurde 26 Jahre später, im September 2000, im Rahmen des Millenium-Gipfels der Vereinten Nationen ein Katalog von Zielgrößen der Entwicklung verabschiedet, der einen umfassenden Überblick über mögliche Zielkonstellationen der wirtschaftlichen Entwicklung bietet und von 189 Ländern angenommen wurde.[16]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Milleniums-Entwicklungsziele und Zielvorgaben
Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers
Zielvorgabe 1: Zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, deren Einkommen weniger als 1$ pro Tag beträgt.
Zielvorgabe 2: Zwischen 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die Hunger leiden.
Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Primarschulbildung
Zielvorgabe 3: Bis zum Jahr 2015 sicherstellen, dass Kinder in der ganzen Welt, Jungen wie Mädchen, eine Primarschulbildung vollständig abschließen können.
Ziel 3: Förderung der Gleichheit der Geschlechter und Ermächtigung der Frau
Zielvorgabe 4: Das Geschlechtergefälle in der Primar- und Sekundarschulbildung beseitigen, vorzugsweise bis 2005, und auf allen Bildungsebenen bis spätestens 2015.
Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit
Zielvorgabe 5: Zwischen 1990 und 2015 die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren um zwei Drittel senken.
Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern
Zielvorgabe 6: Zwischen 1990 und 2015 die Müttersterblichkeitsrate um drei Viertel senken.
Ziel 6: Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zielvorgabe 7: Bis 2015 die Ausbreitung von HIV/AIDS zum Stillstand bringen und allmählich umkehren.
Zielvorgabe 8: Bis 2015 die Ausbreitung von Malaria und anderen schweren Krankheiten zum Stillstand bringen und allmählich umkehren.
Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit
Zielvorgabe 9: Die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und Programme einbauen und den Verlust von Umweltressourcen umkehren.
Zielvorgabe 10: Bis 2015 den Anteil der Menschen um die Hälfte senken, die keinen nachhaltigen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
Zielvorgabe 11: Bis 2020 eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern herbeiführen.
Ziel 8: Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft
Zielvorgabe 12: Ein offenes, regelgestütztes, berechenbares und nichtdiskriminierendes Handels- und Finanzsystem weiterentwickeln.
Zielvorgabe 13: Den besonderen Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder Rechnung tragen.
Zielvorgabe 14: Den besonderen Bedürfnissen der Binnen- und kleinen Inselentwicklungsländer Rechnung tragen.
Zielvorgabe 15: Die Schuldenprobleme der Entwicklungsländer durch Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene umfassend angehen und so die Schulden langfristig tragbar werden lassen.
Zielvorgabe 16: In Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern Strategien zur Beschaffung menschenwürdiger und produktiver Arbeit für junge Menschen erarbeiten und umsetzen.
Zielvorgabe 17: In Zusammenarbeit mit den Pharmaunternehmen erschwingliche unentbehrliche Medikamente in den Entwicklungsländern verfügbar machen.
Zielvorgabe 18: In Zusammenarbeit mit dem Privatsektor dafür sorgen, dass die Vorteile der neuen Technologien, insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologien, genutzt werden können.
Quelle: United Nations Development Programme (2003), S.1-4
Bei einer derartigen Vielzahl von Zielen der Entwicklungspolitik und gleichzeitig auch Äußerungsformen der Entwicklung wird deutlich, dass sich eine kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklungshilfe äußerst schwierig darstellt, da hierbei die gesamte Wirkungsbreite entwicklungshelferischer Leistungen im Auge behalten werden muss. Die OECD definiert die offizielle Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) wie folgt: „[...] those flows to developing countries and multilateral institutions provided by official agencies, including state and local governments, or by their executive agencies, each transaction of which meets the following tests: a) it is administered with the promotion of the economic development and welfare of developing countries as its main objective, and b) it is concessional in character and contains a grant element of at least 25 per cent.”[17] Die Zielgröße wirtschaftliches Wachstum ist in diesem Zusammenhang als langfristig besonders wichtig akzeptiert. 61% der EU-Bevölkerung gaben im Rahmen einer Eurobarometerumfrage aus dem Jahre 1991 an, dass das Hauptziel der Entwicklungszusammenarbeit die Erlangung der ökonomischen Unabhängigkeit der Länder der Dritten Welt sein sollte, so dass diese ihre schwerwiegendsten Probleme lösen können. Diese Unabhängigkeit ist letztlich nur mit Wachstum zu erreichen.[18] Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass in vielen Fällen andere Indikatoren neben dem ökonomischen Wachstum geeigneter sind, um kurzfristig den Erfolg von Entwicklungsprojekten einschätzen zu können. So führt beispielsweise die Eindämmung schwerer Krankheiten oder der Aufbau eines Frischwasserversorgungssystems nicht zwangsläufig zu unmittelbarem Wachstum, hat aber zweifelsohne einen positiven Einfluss auf die Lebensqualität.
Letztendlich hat dieses breite Spektrum die Entwicklung reflektierender Größen zur Folge, dass es bei einer kritischen Auseinandersetzung mit der Entwicklungshilfe unabdingbar ist, sich hinsichtlich der Erfolgsbeurteilung verschiedener Hilfsprogramme nicht ausschließlich auf den Indikator Wachstum in Form der Veränderung des Bruttoinlandsprodukts zu stützen. Stattdessen kann es sinnvoll sein, entsprechend der betrachteten Entwicklungsmaßnahme andere Größen heranzuziehen, wie beispielsweise den Gini-Koeffizienten, der den Grad der Einkommensverteilungsgerechtigkeit widerspiegelt, oder den Human Development Index.[19] „GDP is not a foolproof measure of well-being. Wealth may be unevenly spread, so that a high average disguises widespread wretchedness. Nor does GDP take account of the hidden costs of pollution, for example. But when GDP grows, social indicators tend to improve with it.”[20]
Bei der Betrachtung der Kritik an der Entwicklungshilfe auf verschiedenen Ebenen kann es also durchaus angebracht sein, den Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit anhand von verschiedenen Indikatoren zu hinterfragen und dabei auch gegenläufige Zielgrößen Berücksichtigung finden zu lassen. Wie wirkt sich beispielsweise das Dilemma zwischen notwendigem Wachstum und unausweichlichem Natur- und Ressourcenverbrauch bei einer exponentiell wachsenden Weltbevölkerung hinsichtlich einer Beurteilung der Entwicklungshilfe aus?[21] Letztendlich bleibt nicht nur bei der Ausführung sondern auch bei der Beurteilung der Entwicklungszusammenarbeit nur die Möglichkeit, „[...] aus Erfahrungen Lehren [zu] ziehen, Optionen [zu] entwickeln [und] das Mögliche und Notwendige voraus[zu]denken.“[22] Dennoch dienen vor allem das langfristige Wirtschaftswachstum und die Verminderung der Armut als die entscheidenden Größen für den Entwicklungserfolg, soll die Komplexität der Betrachtung handhabbar bleiben. Sie werden, genau wie in der überwiegenden Mehrzahl aller Studien zum Thema Entwicklungshilfe, auch in dieser Arbeit als entscheidende Indikatoren für den Entwicklungserfolg verstanden .[23]
2.2 Ursprung der Entwicklungshilfe – Annahmen und ihre Auswirkungen
Die Entwicklung, wie auch immer sie definiert sein mag, in der „unterentwickelten“ Welt zu fördern, wurde, wie bereits in der Einleitung erwähnt, erstmals im Rahmen von Trumans „Point Four Programme“ als Aufgabe der „entwickelten“ westlichen Welt explizit formuliert. Die Auffassung, dass ebendies eine Aufgabe der Industrienationen sei und auch innerhalb ihrer Möglichkeiten läge, entstand vor allem vor dem Hintergrund des außerordentlich erfolgreichen Marshallplans zum Wiederaufbau des im zweiten Weltkrieg zerstörten Europas.[24] Der Marshallplan wurde weitestgehend als uneingeschränkt erfolgreich betrachtet. „What is more, virtually all the goals [of the Marshall Plan] were achieved; and they were achieved within the projected four-year time span and at a cost of about $4 billion below the $17 billion appropriated by Congress. The Marshall Plan remains the most successful program in the history of foreign aid.”[25] Dies führte teilweise zu Forderungen nach einem Marshallplan für die dritte Welt. Rückblickend muss aber gesagt werden, dass diese Forderungen weder durchdacht waren, noch den tatsächlichen ökonomischen Gegebenheiten entsprachen, da keine zusätzlichen Faktoren neben der Kapitalausstattung, wie beispielsweise das Humankapital oder vorhandene Technologie, Berücksichtigung fanden.[26] In diesem Zusammenhang konstatiert Peter Bauer: „Dieser Vergleich [zwischen Marshallplan und Entwicklungshilfe an die Dritte Welt] versagt vollkommen. In Europa bedurfte es nach dem Krieg keiner Entwicklung, sondern des Wiederaufbaus. Die Fähigkeiten der Bevölkerung sowie die Institutionen und die politische Ordnung waren [...] einem dauerhaften Wohlstand durchaus angemessen.“[27] Die besondere Situation Europas nach dem zweiten Weltkrieg kann noch weiter verdeutlicht werden: „After World War II the European countries had the necessary social structure and economic and institutional infrastructures needed to sustain economic and social progress. All that was missing was capital; and this was provided in the Marshall Aid Plan, with the result that Western Europe was able to achieve considerable economic and social progress quite rapidly.”[28] Dass gerade diese, für den wirtschaftlichen Fortschritt notwendigen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und institutionellen Strukturen in Ländern der Dritten Welt nicht vorhanden waren, wurde oftmals nicht berücksichtigt. Infolgedessen lag den entwicklungspolitischen Überlegungen in Geberländern in der Regel das relativ einfache Zwei-Lücken-Modell zugrunde, das auf der makroökonomischen Identität von gesamtwirtschaftlicher Nachfrage und Angebot beruht. Die Gleichung des Zwei-Lücken-Modells lautet
(M-X) = (I-S),
wobei M für Importe, X für Exporte, I für Investitionen und S für Ersparnis steht. Als Entwicklungshemmnisse in den Entwicklungsländern wurden dann zwei Lücken, die Devisen- und die Ersparnislücke[29], identifiziert. Ausländische Kapitalimporte, in erster Linie Entwicklungshilfezahlungen, sollten diese Lücken schließen und die Entwicklung so entscheidend beschleunigen.[30]
Es ist nicht zuletzt die realitätsferne Annahme einer Übertragbarkeit des Konzepts der Kapitalhilfe für den Wiederaufbau Europas auf die Bedürfnisse der Entwicklungsländer, die über viele Jahre hinweg zu weitestgehend enttäuschenden Ergebnissen der Entwicklungszusammenarbeit geführt hat. „[...] the problems of the Third World underdevelopment have proven to be far more intractable than Western policymakers and aid officials first realized. Yet […] there is no radical discontinuity between the Marshal Plan and the later aid programs focused more exclusively on the Third World.”[31] Entwicklungshilfe an die Dritte Welt wurde also in der Mehrzahl aller Fälle nicht an die spezifischen Gegebenheiten in den Ländern der Dritten Welt angepasst, sondern vielfach wurden Marshallplankonzepte schlicht kopiert. Die vollkommen unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in Europa nach dem zweiten Weltkrieg und in den unterentwickelten Länden Afrikas, Asiens und Lateinamerikas fanden keine Berücksichtigung.
Es sollte deutlich geworden sein, welche grundlegenden Überlegungen der Entwicklungshilfe in ihren Anfängen zugrunde lagen, und vor allem welche Unzulänglichkeiten diesen Überlegungen zu eigen waren. Die Entwicklungszusammenarbeit war in keiner Weise in ausreichendem Maße an den vielfältigen Bedingungen in den verschiedenen Empfängerländern ausgerichtet, die zahlreichen negativen Erfahrungen können da kaum mehr überraschen. Gleichzeitig sind sie aber auch nur sehr eingeschränkt geeignet, als entscheidendes Argument gegen zukünftige Entwicklungshilfe zu dienen. Die entwicklungspolitische Forschung der Gegenwart setzt sich in vielen Fällen weitaus differenzierter mit Leistungen an unterentwickelte Länder auseinander und hat mit den Anfängen der Entwicklungshilfe nur noch wenig gemein. Vor allem neuere Erkenntnisse der Weltbank können dazu herangezogen werden, die im nachfolgenden Abschnitt behandelten Kritikpunkte zu relativieren. Diesen Argumenten der Weltbank widmet sich der Autor im vierten Abschnitt der vorliegenden Arbeit.
3 Die Entwicklungshilfe in der Diskussion
3.1 Beobachtungen, Ansichten und Forderungen der Kritiker
Nicht zuletzt wegen des bereits zuvor angesprochenen fragwürdigen Erfolgs der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit in der Vergangenheit wurde die Entwicklungshilfe sowohl von Seiten der Wissenschaft, als auch von einigen in der Praxis der Entwicklungshilfe vor Ort tätigen Entwicklungshelfern oftmals sehr scharf kritisiert.[32] Im Rahmen dieser Kritiken wurden die verschiedensten Wege und Ziele der Entwicklungszusammenarbeit in Frage gestellt und eine Vielzahl von Forderungen von Seiten der Kritiker laut. Im folgenden sollen nun die wichtigsten Kritikpunkte und Problemfelder der Entwicklungszusammenarbeit dargelegt, teilweise aber auch relativiert werden.
[...]
[1] Vgl. Lachmann (1999), S.XVIII.
[2] Anm. d. Verf.: Die Begriffe Entwicklungszusammenarbeit, Entwicklungshilfe, Auslandshilfe, Hilfszahlungen und Hilfsleistungen sollen im folgenden synonym verwendet werden. Zu Grunde liegt die Definition offizieller Entwicklungshilfe (Official Development Aid) der OECD (siehe S.6).
[3] Vgl. Bliss (2001), S.7; Lachmann (1999), S.1.
[4] Vgl. Browne, S.: Foreign Aid in Practice, London 1990, S.14; zitiert nach: Omer (2002), S.5.
[5] Dollar/Pritchett (1998), S. ix-x.
[6] Bauer (1982), S.9.
[7] Vgl. Wagner (1993), S.12f.; Mosley (1987), S.32.
[8] Drechsler (2004), S.9.
[9] Drechsler (2004), S.9.
[10] Vgl. Wehmeier (2000), S.344.
[11] Vgl. Huber (1975), S27.
[12] Vgl. Schoeck (1972), S.8.
[13] United Nations Development Programme (1990), S.104.
[14] Vgl. Braun (1994), S. 109.
[15] Myrdal (1974), S.729.
[16] Vgl. United Nations Development Programme (2003), S.V.
[17] OECD (1985): Twenty-Five Years of Development Co-operation – A Review, Paris 1985, S.171; zitiert nach: Raffer/Singer (1996), S.3.
[18] Kaltefleiter (1995), S.5.
[19] Vgl. Anhang 1: Der Index für menschliche Entwicklung
[20] O.V. (1999), S.24.
[21] Vgl. Nuscheler (1997), S.32.
[22] Nuscheler (1997), S.20.
[23] Vgl. Dollar/Pritchett (1998), S.7.
[24] Vgl. Omer (2002), S.4.
[25] Packenham, Robert A.: Liberal America and the Third World: Political Development Ideas in Foreign Aid and Social Science, Princeton 1973, S.34; zitiert nach: Wood (1986), S.30.
[26] Vgl. Lachmann (1999), S.115-119.
[27] Bauer (1982), S.15.
[28] Wall, David: The Charity of Nations: The Political Economy of Foreign Aid, New York 1973, S.37; zitiert nach: Wood (1986), S.30.
[29] Die Devisenlücke entsteht dabei durch für die heimische Produktion und Investition notwendige Importe, die die Exporteinnahmen überschreiten, die Ersparnislücke durch für notwendige Investitionen nicht ausreichende (heimische) Ersparnis.
[30] Vgl. Lachmann (1999), S.127f; Eckhoff (1996), S.15f.
[31] Wood (1986), S.65.
[32] Vgl. Myrdal (1981); Bauer (1984); Riddell (1987); Erler (1990); Keweloh (1997).
- Arbeit zitieren
- Marco Schmidt (Autor:in), 2004, Die Kritik an der Entwicklungshilfe. Argumente, Befunde, Konsequenzen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31347
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