1 Einleitung
Zwischen den Jahren 1920 und 1922 entstand ein Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Milena Jesenská, von dem nur noch die Briefe Kafkas existieren. In diesen Briefen ist nachzulesen, wie er versuchte, eine Liebesbeziehung mit Milena Jesenská zu führen. Kafkas Wunsch nach einem gemeinsamen Leben und gleichzeitig seine Gegenwehr und Angst vor einer Bindung stellen wichtige Motive der Briefe dar. Auffällig sind die häufigen Anspielungen auf das Judentum,(1) die häufig in den Passagen zu beobachten sind, in denen Kafka sich selbst und seine Ängste beschrieb oder wenn er Situationen mit besonders abschätzigen Worten schilderte. Dadurch wirkt auch das Judentum selbst als von Kafka sehr negativ bewertet.
Im folgenden werde ich, nachdem ich die Brief-Beziehung Kafkas zu Milena Jesenská kurz umrissen habe, speziell auf die jüdischen Motive der Briefe eingehen und dabei nach möglichen Erklärungen für ihr Vorkommen suchen.
Einerseits handelt es sich dabei um Passagen, in denen Kafkas selbst erlebter Antisemitismus zum Ausdruck kommt. So ging er z.B. auf einen direkt erlebten Pogrom in Prag ein und beschrieb die Stimmungen in den Straßen. Außerdem bezog er sich in einem Brief auf eine Ritualmordbeschuldigung und übertrug sie auf einen Bekannten.
Andererseits gibt es viele Briefstellen, in denen Kafka jüdische Elemente verwendete, um sich selbst oder auch andere Juden - in meistens negativer Weise - zu beschreiben. Dazu gebrauchte er das mehrmals auftauchende Motiv des „Westjudentums“, mit dem die Problematik der assimilierten Juden aufgegriffen wird. Außerdem erwähnte Kafka den „Ewigen Juden“, um zu erklären, warum er sich viel älter fühlte, als er an Jahren gelebt hatte und um seinen Sexualtrieb zu beschreiben. Auffällig ist, daß Kafka gerade dann jüdische Elemente anführte, als er Milena Jesenská sein erstes, angsterfülltes, sexuelles Erlebnis schilderte. Überhaupt finden sich die jüdischen Bezüge oft in Zusammenhang mit Dingen, die Kafka Angst machten.
[...]
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1 Ich gebrauche das Wort ‘Judentum’, wie es Robertson verwendet. Das Wort ‘Judentum’ umfaßt sowohl die ‘jüdische Religion’, als auch die ‘jüdische Kultur’, ‘jüdisches Selbstgefühl’ und ‘jüdische Identität’. Vgl. Robertson, 1985, S. 1.
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Milena Jesenská und Franz Kafka
3 Kafkas erlebter Antisemitismus
3.1 Die Pogromschilderungen
3.2 Die Ritualmordlegende
4 Kafkas Judentum
4.1 Das Westjudentum
4.2 Der „Ewige Jude“
4.3 Sexualität, Angst und Judentum
5 Mögliche Motivation und Funktion der jüdischen Elemente in den Briefen an Milena Jesenská
5.1 Die Briefe an die christliche Tschechin
5.2 Die Briefe als Selbstreflexion
6 Schlußbemerkungen
7 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Zwischen den Jahren 1920 und 1922 entstand ein Briefwechsel zwischen Franz Kafka und Milena Jesenská, von dem nur noch die Briefe Kafkas existieren. In diesen Briefen ist nachzulesen, wie er versuchte, eine Liebesbeziehung mit Milena Jesenská zu führen. Kafkas Wunsch nach einem gemeinsamen Leben und gleichzeitig seine Gegenwehr und Angst vor einer Bindung stellen wichtige Motive der Briefe dar. Auffällig sind die häufigen Anspielungen auf das Judentum,[1] die häufig in den Passagen zu beobachten sind, in denen Kafka sich selbst und seine Ängste beschrieb oder wenn er Situationen mit besonders abschätzigen Worten schilderte. Dadurch wirkt auch das Judentum selbst als von Kafka sehr negativ bewertet.
Im folgenden werde ich, nachdem ich die Brief-Beziehung Kafkas zu Milena Jesenská kurz umrissen habe, speziell auf die jüdischen Motive der Briefe eingehen und dabei nach möglichen Erklärungen für ihr Vorkommen suchen.
Einerseits handelt es sich dabei um Passagen, in denen Kafkas selbst erlebter Antisemitismus zum Ausdruck kommt. So ging er z.B. auf einen direkt erlebten Pogrom in Prag ein und beschrieb die Stimmungen in den Straßen. Außerdem bezog er sich in einem Brief auf eine Ritualmordbeschuldigung und übertrug sie auf einen Bekannten.
Andererseits gibt es viele Briefstellen, in denen Kafka jüdische Elemente verwendete, um sich selbst oder auch andere Juden - in meistens negativer Weise - zu beschreiben. Dazu gebrauchte er das mehrmals auftauchende Motiv des „Westjudentums“, mit dem die Problematik der assimilierten Juden aufgegriffen wird. Außerdem erwähnte Kafka den „Ewigen Juden“, um zu erklären, warum er sich viel älter fühlte, als er an Jahren gelebt hatte und um seinen Sexualtrieb zu beschreiben. Auffällig ist, daß Kafka gerade dann jüdische Elemente anführte, als er Milena Jesenská sein erstes, angsterfülltes, sexuelles Erlebnis schilderte. Überhaupt finden sich die jüdischen Bezüge oft in Zusammenhang mit Dingen, die Kafka Angst machten.
Nachdem ich auf verschiedene jüdische Motive in den Briefen eingegangen bin, versuche ich zu erklären, warum das Thema Judentum in Kafkas Briefen an Milena Jesenská so bedeutsam wurde. Welche Eigenschaften oder Verhaltensweisen Milena Jesenskás können Kafka dazu angeregt haben, so zu schreiben? Dabei soll auch die Möglichkeit beachtet werden, daß die Briefe - und vor allem dabei die Bezüge auf das Judentum - viel mehr der Selbstreflexion als dem Gedankenaustausch dienen sollten.
2 Milena Jesenská und Franz Kafka
Milena Jesenská war eine tschechische Christin, die zu der Zeit, in der die Briefe Kafkas an sie entstanden, mit einem Juden verheiratet war. Die Bekanntschaft zwischen Milena Jesenská und Franz Kafka begann im Jahr 1919 mit ihrer Bitte, seine Erzählungen ins Tschechische übersetzen zu dürfen.[2] Sie übersetzte zunächst „Der Heizer“. Während der bereits an Tuberkulose erkrankte Kafka im Frühling und im Sommer 1920 einen Kuraufenthalt in Meran verbrachte, nahm er den Briefwechsel im April auf. Bald schrieb er Milena Jesenská täglich[3] (auf deutsch, während sie in tschechischer Sprache antwortete); aus dem anfänglichen „Sie“ wurde ein „Du“;[4] der Ton wurde schnell intensiver. Kafka drückte viel von seinen Empfindungen und Ängsten aus (das Wort „Angst“ kommt in den Briefen sehr häufig vor).
Die Briefe Milena Jesenskás an Franz Kafka sind verschwunden, es existieren jedoch andere Briefe von ihr (u.a. an Max Brod), ein Nachruf auf Kafka und Feuilletons, die Ernst Pawel zu folgendem (euphorischen) Urteil veranlaßten:
„Man erhält aus diesen Zeugnissen einen guten Eindruck von der Vitalität und Tiefe, die sie als Schriftstellerin und Frau kennzeichneten. Und man versteht auch, warum Kafka von ihren Briefen so beeindruckt war: nun endlich hatte er eine ‘Briefgeliebte’ gefunden, die ihm gewachsen war. Sie war keine steife und zimperliche Berliner Geschäftsfrau, keine abweisende Festung, die erobert werden mußte, sondern ein ‘lebendiges’ Feuer, und schon nach ein paar Wochen oder sogar Tagen war er ihr so nahe gekommen, daß er sich verbrannte.“[5]
Wie nah sie sich scheinbar schon nach kurzer Zeit des rein schriftlichen Kontakts waren, zeigt z.B. die Tatsache, daß er ihr schon früh riet, ihren Mann (vorübergehend) zu verlassen (vgl. S. 52, S. 57f.).
Als es um die Planung eines gemeinsamen Treffens in Wien (und damit der ersten Begegnung seit Aufnahme ihres Briefkontakts) ging, zögerte Kafka das Treffen bis zuletzt hinaus:
„Ich will nicht (Milena, helfen Sie mir! Verstehen Sie mehr, als ich sage!) ich will nicht (das ist kein Stottern) nach Wien kommen, weil dich die Anstrengung geistig nicht aushalten würde. Ich bin geistig krank, die Lungenkrankheit ist nur ein Aus-den-Ufern-treten der geistigen Krankheit.“ (S. 29)
Im gleichen Brief schrieb er weiter:
„ Ich komme ganz bestimmt nicht, sollte ich aber doch - es wird nicht geschehn - zu meiner schrecklichen Überraschung in Wien sein, dann brauche ich weder Frühstück noch Abendessen, sondern eher eine Bahre auf der ich mich ein Weilchen niederlegen kann.“ (S. 32)
Er hatte Angst vor der Begegnung, und dennoch fand sie statt: Vom 29. Juni bis zum 04. Juli 1920 verbrachten sie vier gemeinsame Tage in Wien.[6] Zurück in Prag, löste Franz Kafka seine Verlobung mit Julie Wohryzek und schrieb Milena oft mehrmals am Tag. Er sendete Milena den „Brief an den Vater“,[7] was sicherlich als großer Vertrauensbeweis angesehen werden kann. Er schien zunächst auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr in Prag zu hoffen (vgl. S. 103). Dazu kam es jedoch niemals - sie wollte ihren Ehemann nicht verlassen, und Kafka hatte scheinbar Angst vor einer Bindung. Die Briefe klangen bald schon fast resigniert:
„Und eigentlich schreiben wir immerfort das Gleiche. Einmal frage ich ob Du krank bist und dann schreibst Du davon, einmal will ich sterben und dann Du, einmal will ich Marken und dann Du, einmal will ich vor Dir weinen wie ein kleiner Junge und dann Du vor mir wie ein kleines Mädchen. Und einmal und zehnmal und tausendmal und immerfort will ich bei Dir sein und Du sagst es auch. Genug, Genug.“ (S. 148)
Sie trafen sich noch einmal in Gmünd, danach schrieben sie sich seltener. Offensichtlich hatten sie aufgehört, an ein mögliches Zusammensein zu glauben.
„Sonst aber stimmst Du mit mir schon seit langem überein, daß wir einander jetzt nicht mehr schreiben sollten; daß ich es gerade gesagt habe, war nur Zufall, Du hättest es ebenso gut sagen können. Und da wir einig sind, ist es nicht nötig, zu erklären warum das Nicht-schreiben gut sein wird.“ (S. 264)
Kafka wollte nicht, daß der Briefkontakt aufrecht erhalten wurde. An Max Brod schrieb Milena Jesenská:
„Ich könnte Ihnen erzählen, wie und wodurch und warum alles geschehen ist; ich könnte Ihnen alles über mich, über mein Leben erzählen; aber wozu das - und ferner; ich weiß es nicht, ich halte nur Franks Brief aus der Tatra[8] in der Hand, eine ganz tödliche Bitte und zugleich einen Befehl: ‘Nicht schreiben und verhindern, daß wir zusammenkommen, nur diese Bitte erfülle mir im stillen, sie allein kann mir irgendein Weiterleben ermöglichen, alles andere zerstört weiter.’“[9] (S. 367f)
Aus den Jahren 1922 und 1923 existieren einige Briefe Kafkas an Milena Jesenská (in denen er sie wieder mit „Sie“ ansprach.) Sie trafen sich noch einige Male,[10] wobei Kafka ihr seine Tagebuchaufzeichnungen bis zum Jahr 1920 und den „Amerika“-Roman übergab.[11] In der Tagebucheintragung vom 8. Mai 1922 heißt es:
„M. hier gewesen, kommt nicht mehr, wahrscheinlich klug und wahr, und es gibt doch vielleicht eine Möglichkeit, deren geschlossene Tür wir beide bewachen, daß sie sich nicht öffne oder vielmehr, daß wir sie nicht öffnen, denn allein öffnet sie sich nicht.“[12]
Als Kafka starb, verfaßte Milena Jesenská einen Nachruf, der im „Národní listy“, einer tschechischen Zeitung, erschien. Die Tagebücher, den „Brief an den Vater“ und das Manuskript übergab sie Max Brod.[13] Kafkas Briefe an Milena bekam Willy Haas im Frühjahr 1939,[14] kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Prag und vor Milena Jesenskás Festnahme.[15] Sie starb im Konzentrationslager Ravensbrück.
3 Kafkas erlebter Antisemitismus
Kafka äußerte sich in seinen Briefen an Milena Jesenská des öfteren zu selbst erlebten antisemitischen Angriffen, die Zeit seines Lebens ein starkes Problem darstellten. Als deutschsprachiger Jude in Prag, wo überwiegend tschechisch sprechende Christen lebten, wurde er von Anfang an in doppelter Hinsicht in eine Außenseiterrolle gedrängt.[16] Hohe Arbeitslosigkeit und Armut ließen zusätzlich Mißgunst und Neid entstehen, wodurch sich die Wut der Tschechen vielfach auf die (vermeintlich wohlhabenderen) Juden konzentrierte.
Nachdem im Jahr 1916 Kaiser Franz Josef gestorben war, der für eine Entschärfung der Rivalitäten zwischen Juden und Tschechen eingetreten war[17] und 1918 die unabhängige tschechische Republik ausgerufen worden war, verschlechterte sich die Situation für die Juden. Im August 1918 veröffentlichte die „Selbstwehr“ folgenden Appell:
„Die Verhältnisse in Prag sind unerträglich geworden. Für uns bleibt die Tatsache bestehen, daß wir von Haß so eng umkreist sind, daß wir keinen Weg gehen können, ohne diesem widerlichen Ausdruck nationaler Gehässigkeit zu begegnen. Uns Nationaljuden, die wir vollstes Verständnis für den Emanzipationskampf eines Volkes hegen, erscheint es als so ganz eigen, wenn wir sehen, wie neben weitgesteckten nationalen und kulturellen Zielen so niedrige Instinkte Platz finden können... An die führenden Männer des tschechischen Volkes wenden wir uns mit der Aufforderung, den unseligen Gehässigkeiten ein Ende zu bereiten... Heute ist es in Prag unerträglich.“[18]
In den Jahren darauf jedoch wurden Juden immer stärker verfolgt, beschimpft, geschlagen und durch die Straßen gejagt, ihre Geschäfte wurden boykottiert.[19] Im Oktober 1920 erschien im „Venkow“, einer Landzeitung, folgender feindseliger Aufruf:
„Wenn wegen der ausländischen Juden auch nur ein Haar auf unserem Haupte gekrümmt wird, wird das tschechische Volk alle jüdischen und halbjüdischen Führer... im wahrsten Sinne des Wortes zerstampfen, und in der ganzen Republik werden Pogrome ausbrechen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Wir rufen der Provinz zu: ‘Seid bereit bis zum letzten Mann.’“[20]
3.1 Die Pogromschilderungen
Mitte November schrieb Kafka Milena Jesenská folgendes:
„Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. ‘Prasivé plenemo’ [„Räudige Rasse“] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, daß man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.
Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.“ (S. 288)
Der politisch-soziale Hintergrund der Worte Kafkas ist folgender: Am 16.11.1920 war es in Prag zu einem Pogrom gekommen. Die Büros deutschsprachiger Zeitungen wurden geplündert, jüdisch aussehende Menschen angegriffen, und vor der Alt-Neu-Synagoge wurden hebräische Handschriften verbrannt.[21]
Kafka setzte Juden, die nicht aus der Stadt weggingen, mit Ungeziefer (mit „Schaben“) gleich, die nicht wegzutreiben waren. Da Kafka ebenfalls in Prag blieb, bezog er dieses negative Bild auch auf sich selbst. Erst 1923 zog er zu Dora Dymant nach Berlin.[22]
Schaben sind Tiere, die als unangenehm empfunden werden, als Plage. Wenn der Wunsch besteht, sie zu verjagen, so ist dies nachvollziehbar. Als merkwürdig erscheint es, daß Kafka Juden mit Schaben verglich und damit die Abneigung der Bevölkerung gegen sie auch implizit (unbedacht?) als begründet darstellte.
In einem weiteren Brief im November 1920 schrieb er:
„Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen u.s.w. müßte - schon das ist ja mühselig genug - sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähn, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabricieren, den Stock zurechtschneiden u.s.w. Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z.B. fällt plötzlich alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende stößt er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht. “ (S. 295)
Das Motiv des Juden, der sich alles erkämpfen muß und dann doch nichts behalten kann, der kein Recht auf eigenen Besitz hat, taucht häufiger in den Briefen auf. Es drückt aus, wie erniedrigend und beängstigend das Bewußtsein des Hasses sein mußte, den ein (großer) Teil der nicht-jüdischen Bevölkerung auf Juden hatte. Kafka erlebte die antisemitischen Vorurteile und Angriffe sein ganzes Leben lang, was ihn sicherlich in seiner (auch in den Briefen immer wieder erwähnten) Angst bestärkte.
3.2 Die Ritualmordlegende
Ein antisemitisches Phänomen der Zeit stellten die Ritualmordbeschuldigungen dar. Seit dem Mittelalter gab es immer wieder Legenden, die besagten, Juden haben Christen (-kinder) ermordet, sie geschächtet und ihr Blut dann zum Backen der Mazzen (des ungesäuerten Brotes) verwendet.[23] Varianten der Ritualmordlegenden gab es in vielfacher Hinsicht, so z.B. die, daß an den Christenkindern die Passion Christi wiederholt werden sollte[24] und die Opfer sogar gekreuzigt wurden. Waren die typischen Ritualmordopfer zunächst überwiegend Jungen, deren Blut als von höherer Qualität für rituelle Zwecke angesehen wurde,[25] so änderten sich später die Beschuldigungen dahingehend, daß nun christliche Jungfrauen von Juden vergewaltigt worden sein sollten.[26] Einem anderen Gerücht nach wurde das Blut für medizinische Zwecke verwendet, um die Hörner zu beseitigen, mit denen angeblich jedes Judenkind geboren wurde.[27]
[...]
[1] Ich gebrauche das Wort ‘Judentum’, wie es Robertson verwendet. Das Wort ‘Judentum’ umfaßt sowohl die ‘jüdische Religion’, als auch die ‘jüdische Kultur’, ‘jüdisches Selbstgefühl’ und ‘jüdische Identität’. Vgl. Robertson, 1985, S. 1.
[2] Vgl. Kafka-Handbuch, Bd. I, 1979, S. 547 - 553.
[3] Die Briefe Kafkas an Jesenská waren nicht datiert, außerdem fehlten einige Briefe. Die Datierungen wurden vom ersten Herausgeber Willy Haas vorgenommen und von den Herausgebern der erweiterten und neu geordneten Ausgabe von 1983 - Michael Müller und Jürgen Born - ergänzt. Ich beziehe mich im folgenden immer auf diese Ausgabe. Dort sind auch Briefe Frau Jesenskás an Max Brod enthalten, sowie Feuilletons und ihr Nachruf auf Kafka. Bei direkten und indirekten Zitaten aus den Briefen wird die Seitenzahl nach dem Zitat angegeben. Gemäß dieser Ausgabe wird die Schreibweise Kafkas beibehalten.
[4] Während Kafka Milena im auf den 10. Juni 1920 datierten Brief (S. 49ff.) noch in der Höflichkeitsform anredete, ging er am 11. 06. (S. 53ff.) (scheinbar unvermittelt, nach anfänglichem „Sie“ im gleichen Brief) zum „Du“ über.
[5] Pawel, 1990, S. 440. Was Pawel mit „verbrennen“ meint, erläutert er nicht weiter. Es kam zu keinem gemeinsamen Leben der beiden - aber mußte er deshalb „verbrannt“ sein?
[6] Kafkas Überlegungen, ob er nun fahren sollte oder nicht und seine Ängste und Zweifel, sind außerdem gut sichtbar in den Briefen vom 02.06. (S. 37f.), vom 12.06. (S. 55) und vom 14.06. (S. 62ff.)
[7] Am 04.07.20 schrieb er ihr: „Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen.“ (S. 85)
[8] Anmerkung der Verfasser: Kafka befand sich seit dem 18. Dezember 1920 zur Kur in Matliary (Hohe Tatra) (S. 368).
[9] Laut Angabe der Verfasser wurde der letzte Satz aus dem - offenbar verlorenen - Abschiedsbrief Kafkas deutsch zitiert (S. 368).
[10] Vgl. Tagebücher, 1922.
[11] Ein Tagebucheintrag Kafkas am 15. Oktober 1921 lautet: „Alle Tagebücher, vor einer Woche etwa, M. gegeben. Ein wenig freier? Nein.“ S. 397.
[12] Tagebücher, 8. Mai 1922, S. 425. Die Tagebücher liegen mir nicht in der ‘kritischen Ausgabe’ vor, sondern in der erstmalig 1950 von Max Brod herausgegebenen Fassung. Dementsprechend wurde Kafkas Schreibweise teilweise korrigiert.
[13] Pawel, 1990, S. 445f.
[14] Vgl. Hrsg. Born/ Müller 1983, S.408.
[15] Milena Jesenská galt als Nazi-Gegnerin und hatte mehreren Juden bei deren Flucht bzw. beim Verstecken geholfen. Vgl. Pawel, 1990, S. 460.
[16] Zum Antisemitismus in Prag und Oesterreich-Ungarn: Vgl. Stölzl, 1975; Pawel, 1990, S. 48 ff., S. 172 ff.
[17] Vgl. Stölzl, 1975, S. 95.
[18] „Selbstwehr“, 16.08.1918. Zitiert nach Stölzl, 1975, S. 96.
[19] Vgl. Stölzl, 1975, S. 96ff.
[20] „Venkow" (Das Land), 26.9.1920. Zitiert nach Stölzl, 1975, S. 99.
[21] Vgl. Pawel, 1990, S. 458 und Stölzl, 1975, S. 99.
[22] Stölzl merkt dazu an, daß Kafka Böhmen verließ, als sich dort die antisemitische Stimmung etwas beruhigt hatte, „um sich in einem bösen Deutschland anzusiedeln. Der Herbst des Jahres 1923 hatte in ganz Deutschland eine Welle gewalttätiger Judenfeindschaft gebracht.“ Stölzl, 1975, S. 106.
[23] Wambach, 1993, S.107ff.; Stölzl, 1975 S. 67ff.
[24] Wambach, 1993, S. 107.
[25] Ebd., S. 108.
[26] Ebd., S. 109.
[27] Trachtenberg, Joshua: The Devil and the Jews - The Medieval Conception of the Jew and ist Relation to Modern Antisemitism, S. 45ff. Zitiert nach Wambach, 1993, S.108.