Das vorliegende Buch ist kein wissenschaftliches im landläufigen Sinne. Vielmehr gehört es zu einer Wissenschaft, für die subjektives und vom persönlichen Erleben geprägtes Vorgehen ausschlaggebend ist. Ich beginne nämlich – in diesem Fall beim Nachdenken über musikalische Vorgänge – bei meinem Erleben oder der persönlichen Erfahrung und versuche, den ungeordneten Reichtum der Eindrücke so tief wie möglich auszuloten. Erst dann mache ich mich auf die Suche nach vorhandenen Theorien und Konzepten.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Professor Dr. Hartmut Möller
Vorwort von Dr. Agnes Wild-Missong
Erster Teil
Vom Klang zum Ton - eine Einführung
1. Die anfängliche musikalische Situation oder die Musikalisierung des Menschen
2. Focusing oder die Bedeutung des Körpergefühls
3. Vom Körpergefühl zur Bedeutung
4. Der horchende Resonanzkörper
5. Der energetische Körper
6. Der ekstatische Körper I: Sirenen-Geburtlichkeit
7. Der ekstatische Körper II: Die Geburt der menschlichen Musik
8. Vom Singen zum Sagen
9. Der dreigliedrige Körper
Zweiter Teil
Zur musikalischen Praxis
Üben mit dem Körper
Das Was und Wie des Unterrichtens
Focusing mit einer Sängerin - ein Protokoll
Der Körper kennt den Ton - Intonation als Aspekt der Tongebung
Freie Improvisation oder Die kreative Intelligenz des Körpers
Lampenfieber
Der komponierende Körper
Die Bedeutung des Dirigenten für das Erleben der Musiker
"Die Musik" ist die Therapie
Mit dem Körper hören
Quellen, Bilder, Danksagungen
Vorwort von Prof. Dr. Hartmut Möller, Rostock
Das Besondere der Musik liegt allein schon in ihrer „ Seinsweise “ . Denn die erklingende Musik und der erlebende wahrnehmende und musizierende Mensch geh ö ren unmittelbar zusammen. Musikalisches Erleben ist auch wesentlich anders als die Auseinandersetzung mit musikalischen Objek- ten. Musik wird gesp ü rt, einverleibt, erkannt im Prozess des inneren Erle- bens. Und das Besondere von Musik liegt in der erlebten unmittelbaren Pr ä senz der Beziehung zwischen sinnlich Erfahrbarem und menschlichem Erleben. Damit offenbart sich an der Musik ü berdeutlich, was in anderen Bereichen erst allm ä hlich an Einsicht gewinnt: Wege zu suchen, nicht weiter den empfindungslosen Begriffen und Konzepten den Vorrang zu geben, sondern Wissen und Erleben zu einem neuem Gleichgewicht zu bringen. Ausnahmen freilich gab es. Etwa im Bereich der Physik wurde Werner Heisenberg, wie er in seiner Autobiographie berichtete, fast schwindlig „ bei dem Gef ü hl, durch die Oberfl ä che der atomaren Erschei- nungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merk- w ü rdiger innerer Sch ö nheit zu schauen “ . So wie Heisenberg haben viele Gelehrte und K ü nstler in unterschiedlichsten Bereichen seither die Erfahrung gemacht, dass die Wahrheit nicht im Denken allein liegt, sondern in der Relation von Denken und Erleben. Von da aus ist es nur konsequent, wenn der amerikanische Philosoph und Psychologe Eugene Gendlin die umfassende Rolle des K ö rpergef ü hls im Denken und Sprechen in seinem Philosophieren explizit zur Geltung kommen l ä sst. Gendlin entwickelt eine andere, neue menschliche Denkungsart, die das implizite Erleben einbezieht und damit arbeiten kann, in der Psy- chotherapie genauso wie in der ph ä nomenlogischen Praxis, in der Phi- losophie genauso wie auch in den Wissenschaften. Der Ausgangspunkt ist die von Gendlin entwickelte sog. Focusing-Methode: „ Focusing nenne ich die Zeit, in der man mit etwas verweilt, das k ö rperlich da, aber von innen noch nicht bekannt ist. Dort findet man Schritte und Ä nderungen, die man sonst nicht findet. “ (Eugene Gendlin)
Im vorliegenden Buch bietet der Musiker, Musikwissenschaftler und Psy- chologe Mathes Seidl neue und vertiefte Wege zum musikalischen Erleben an. Er geht von den lebendigen Vorg ä ngen des Ausdruckspro- zesses aus, der dem Erklingen von T ö nen vorausgeht, beim Nachsp ü ren des Ursprungsprozesses des Musikalischen genauso wie bei den ver- schiedenen Auspr ä gungen des Musizierens. Seidl gelingt es im ersten Teil von Fluidum Musik, die innerlich sp ü rbare „ pr ä tonale “ k ö rperliche Wirk- lichkeit des Musikalischen zur Sprache zu bringen - der Entwurf einer neuartigen Evolutionsgeschichte des Klanges und des Klangk ö rpers Mensch. Diese Evolutionsgeschichte vom Ursprungsprozess des Musika- lischen kann sich auf zahlreiche wissenschaftliche und k ü nstlerische Auffassungen st ü tzen und etwa Ergebnisse der pr ä natalen Psychologie und der musikalischen Energetik aufgreifen. Neu ist die an Gendlin orientierte Konsequenz, das innere Erleben so tief wie m ö glich auszuloten, um vertiefte Einsichten in den Weg vom Klangbewusstsein zum erklingenden Ton bei der Musikalisierung des Menschen zu gewinnen. Zentrale Einsicht des ersten Teils ist, dass ein einheitlicher Prozess die Geburt des Tones aus dem Klang und die Geburt der Person aus dem Menschsein verbindet - ausgehend vom „ ungreifbaren fluidalen Reichtum des Musikalischen “ .
Der zweite Teil bietet konkrete Anwendungen der erlebensbezogenen Untersuchungen des ersten Teils. Eine ganze Palette von anschaulichen Beitr ä gen widmet sich unterschiedlichen Ph ä nomenen aus dem gesamten Bereich musikalischer Praxis: Wege zum angemessenen Ü ben und Unter- richten, L ö sungswege im Umgang mit Intonation und Lampenfieber, Erfah- rungen mit Improvisieren, Komponieren und Dirigieren sind die Gegen- standsbereiche dieser Essays. Aus seinem reichen Erfahrungswissen als Musiker wie als Psychologe zeigt Mathes Seidl konkrete Schritte zu einer Erlebens- und Focusing-orientierten musikalischen Praxis.
Beide Teile sind vielf ä ltig aufeinander bezogen, doch kann durchaus mit der Lekt ü re auch bei einem der Essays des zweiten Teils begonnen werden.
Fluidum Musik ist ein Buch, das gleicherma ß en Praktikern und Theore- tikern, Musikern und Musiklehrern, Musikwissenschaftlern und Philoso- phen, Studierenden und Amateuren zu empfehlen ist: als Lesebuch zum vertieften Nachdenken ü ber das Erleben des Musikalischen, als Ein- f ü hrung in die Anwendung der Focusing-Methode auf die Musik, als Ar- beitshilfe, die eigenen musikpraktischen Erlebnisse in frischer Weise neu zu sehen. Fluidum Musik ist ein Buch, das im Bereich der Musik zu „ begriffenen Erfahrungen “ begleitet - ein Buch voller Schritte und Ä n- derungen, die man sonst nicht findet.
Vorwort von Dr. Agnes Wild-Missong, Zürich
Vor 30 Jahren unterhielten Eugene T. Gendlin - der Entdecker des Focu- sing-Prozesses und mein Lehrer - und ich uns dar ü ber, wie wir nur seiner Zeit ohne Focusing leben konnten. Es war kaum vorstellbar. So sehr ist Focusing in unser Leben eingeflossen und hat es ver ä ndert. Der Zugang zum verborgenen Wissen unseres K ö rpers bringt nicht nur eine Berei- cherung mit sich, sondern l ä sst das Eigentliche einer Situation, einer Sa- che, eines Problems ersp ü ren und erkennen. In Kontakt sein mit diesem inneren Fluidum heisst, das Leben in seiner Tiefe erfahren. Wer einmal mit Focusing in Ber ü hrung kam, wird es nicht mehr missen wollen. So hat sich die Anwendung des Focusing auf die verschiedensten Gebiete ausge- dehnt: Psychotherapie, Philosophie, Medizin, Traumarbeit, Paarberatung, Tanz, Malerei etc. Es ist die Quintessenz des kreativen Prozesses schlechthin.
Ich habe diese Entwicklung mit grossem Interesse verfolgt. Meines Wissens gibt es bis heute keinen Versuch, Focusing mit Musik zu ver binden und den subtilen Ursprungsprozess vom immateriellen Klang zum konkreten Ton pr ä zise zu beschreiben, und zwar aus der ureigensten Erfahrung. Dieses Buch ist ein gelungenes Werk der „ Erste-Person-Wis- senschaft “ . Diesen Begriff pr ä gte Gendlin, um pers ö nliche Erfahrung als aussagekr ä ftig f ü r die Wissenschaft zu erkl ä ren .
„ Mit Focusing k ö nnen wir jede musikalische Situation zu unserer pers ö n lich-k ö rperlichen machen “ , schreibt Seidl. Dies war der gr ö sste Gewinn, den ich aus diesem Buch zog: Als Focusing-Kennerin gelangte ich zu neuem, ergreifenden Erleben der Musik.
Wer mit Focusing vertraut ist, wird durch dieses Buch die Musik in einer zus ä tzlichen Dimension erleben lernen. Andererseits - und dies ist wohl noch bedeutsamer - bietet Seidl einen neuen Weg an, Focusing zu er lernen, indem er ü ber die Musik zum K ö rpererleben f ü hrt. Konkrete Beispiele und Ü bungen illustrieren das.
Im theoretischen Teil erf ü llt Seidl einen hohen Anspruch der Ph ä nomenologie. Im praktischen Teil gelingen ihm pr ä zise Formulierungen, zum Bei spiel zu Fragen der Improvisation, des Lampenfiebers, des sch ü lerzen trierten und Focusing-orientierten Musikunterrichts. Das ist zweifellos von grossem Gewinn f ü r praktizierende Musiker.
Im Focusing erleben wir einen tiefen inneren Entfaltungsprozess aus dem
Noch-Nicht-Bewussten. Faszinierend ist das Gewahrwerden, dass Musik auch Ausdruck eines inneren Werdeprozesses ist, der durch Focusing tiefer verstanden und gef ö rdert werden kann.
Erster Teil
Vom Klang zum Ton - eine Einführung
Die einzige wirkliche Anschauung
entsteht durch Erleben.
Sergiu Celibidache
Das vorliegende Buch ist kein wissenschaftliches im landläufigen Sinne. Vielmehr gehört es zu einer Wissenschaft, für die subjektives und vom persönlichen Erleben geprägtes Vorgehen ausschlaggebend ist. Ich be- ginne nämlich - in diesem Fall beim Nachdenken über musikalische Vorgänge - bei meinem Erleben oder der persönlichen Erfahrung und versuche, den ungeordneten Reichtum der Eindrücke so tief wie m ö glich auszuloten. Erst dann mache ich mich auf die Suche nach vorhandenen Theorien und Konzepten.
So neu erscheint das Verfahren auf den ersten Blick gar nicht, denn Wissenschaft ist schon immer von der Beobachtung und dessen Systema- tisierung ausgegangen. Das Neue heisst allerdings: so tief wie möglich, und die Erfahrungsbasis ist der eigene lebendige Körper beziehungsweise das eigene Bewusstsein . Während wissenschaftliches Beobachten im Rahmen einer objektiven Wissenschaft sich weitgehend auf die äusseren Daten beschränkt und unpersönlich vorgeht, richtet sich meine Beob- achtung oder besser gesagt meine Aufmerksamkeit nach innen in die Tiefe auf die Qualit ä t des mit den Phänomenen verbundenen pers ö nlichen Erlebens.
Die moderne Psychologie, die sich mit dem Erleben und dessen subtiler Prozess-Ordnung beschäftigt, hat entdeckt, dass die inneren, unser Erle- ben bedingenden Vorgänge sich in einem spezifischen, umfassend organi- sierten und subtil spürbaren Körpergefühl niederschlagen. Unter bestimm- ten Bedingungen kann dieses Körperbewusstsein (der wissenschaftliche Terminus dafür heisst Felt sense) zu Erkenntniszwecken genutzt werden. Diese Art der persönlichen Wissenschaft nennt der Philosoph und Psycho- loge Eugen T. Gendlin, der Entdecker und Erforscher des genannten Körpergefühls, Erste-Person-Wissenschaft (first person science). Im Kontakt mit dem inneren Erleben die Ph ä nomene studieren - so könnten wir die Methode, die wissenschaftlich Focusing heisst, auf den Punkt bringen.
Mit der Focusing-Methode, die ich in einem eigenen Kapitel ausführlich darlege, werde ich versuchen, einem Prozess auf die Spur zu kommen, der sich objektivem Zugriff entzieht. Es geht dabei um den Ursprungsprozess des Musikalischen, der sich im Innern, in der Tiefe des menschlichen Körpers untönbar und unhörbar abspielt und der vom immateriellen Klang zum erklingenden stofflichen Ton führt. Meines Erachtens sind die Er- kenntnisse, die sich aus diesem Prozess gewinnen lassen, von grundle- gender Bedeutung für ein tieferes anthropologisches Verständnis des Mu- sikalischen. Aus der vertieften Perspektive wahrgenommen, bildet der Ursprungsprozess eine subtile Evolutionsgeschichte des Klanges und, untrennbar damit verbunden, des Klangkörpers Mensch, deren Kapitel sich über verschiedene Stufen beziehungsweise Erlebnisstufen erstrecken. Diese innere Geschichte werde ich anhand von Theorien und vorhandenen Konzepten, die auf dieses Erleben implizit oder explizit Bezug nehmen, nachzeichnen und objektivieren.
Durch das ganze Buch zieht sich als roter Faden ein persönlicher Erfahrungsbericht ("Rostock-Bericht"), in dem ich die lebendigen Vorgänge bis zum Spielen von Tönen auf der Bratsche schildere. Aus dem Verlauf lässt sich eine gewisse Ordnung ableiten, der ich beim Verfassen des Buches folge.
Die innere Geschichte vom Klang zum Ton, in die der Mensch als leben- diger Klangkörper nahtlos verwickelt ist, beginnt mit einer primären, die leiblich-körperliche Totalität umfassenden klanglich-fluidalen Ausbrei- tung. Lebensgeschichtlich lässt sich diese qualitative Verfassung in der pränatalen Situation und hier vor allem in der Beziehung zur mütterlichen Stimme objektivieren.
Ich werde darlegen, dass die ganzheitlich organisierte Berwusstseinsverfassung, die zu den Aspekten dieses frühen beziehungsweise einer tiefen Schicht zugeordneten „Klangbewusstseins“ gehört, auch Basis der auf subtile Körperwahrnehmung gerichteten Focusing-Methode ist.
Zu den Charakteristika der inneren undifferenzierten Klangwelt gehört die Dynamik des Strömenden, in der starke Kräfte zum Ausbruch aus dem Inneren drängen. Was ich als Werde-Qualit ä t oder Geburtlichkeit bezeichne, ergänzt sich mit der Lehre von der Energetik des österreichischen, in Bern lehrenden Musikwissenschafters Ernst Kurth (1886-1946), dessen Werk wir durch diese Zusammenschau neu lesen können.
Eine wesentliche Differenzierung der primären Klangwelt findet statt, wenn der Klang sich im oberen Körper, in Brust-, Herz- und Atemraum bewegt, staut und Ausdruckskraft gewinnt. Die Klangfülle löst in uns die Sehnsucht nach einem unaufhörlichen „Aufwärtstrend“ aus. In der Sirenengeschichte der Odyssee, die von der tödlichen Sehnsucht nach dem irrealen Gesang handelt, finde ich eine entsprechende und an- sprechende Form für dieses Lebens- beziehungsweise Klangstadium. Die unendliche Sehnsucht, die den Kontakt zum Boden aufzuheben droht, verliert ihre tödliche Kraft, wenn wir uns - wie Odysseus auf dem Floss - festbinden lassen. In der Musik wird der Klang gebunden, indem er an- statt im seligen Gesang verströmt zu werden, durch die Musikinstrumente zum „Boden“ gebracht und materialisiert wird. Der Verlust der Seligkeit, und die damit verbundene tiefe Traurigkeit, begründen die vielbeschwo- rene Ambivalenz der Musik, die uns einmal hinabzieht, ein andermal ins Leben bringt.
Der Klang- beziehungsweise Lebensschritt von der inneren Körperhöhle nach aussen in die Tageswelt des Bewusstseins markiert schliesslich die entscheidende Differenzierung: der Klang verwandelt sich zum Ton und der Mensch zur Person.
Dieser qualitative Umschlag findet seine Objektivierung in vielen Zeug- nissen der musikalischen Theoriebildung. So beispielsweise bei Richard Wagner: Bei ihm erscheint die innere Welt in Form der unendliche Me- lodie, die ihrereseits Ausdruck (besser müsste es heissen: Ausströmung) weiblicher Kr ä fte ist, während der manifeste Ton jenen gestaltbildenden m ä nnlichen Kräften gehorcht, die auch an der Wortbildung entschei- denden Anteil haben.
Ich komme zu dem Schluss, dass die Geburt des Tones aus dem Klang oder die Geburt der Person aus dem Menschsein - beides vollzieht sich, wie gesagt, in einem einheitlichen Prozess - ihrerseits wieder Gefäss oder Form für eine Kraft ist, die in der Musik ihren ersten und menschlichsten Ausdruck sowie ihre unmittelbarste erfahrbare Dimension erhält, nämlich die Kraft der Geburtlichkeit oder des immerwährenden Werdens des menschlichen Seins.
1. Die anfängliche musikalische Situation oder die Musikalisierung des Menschen
Meine k ö rpereigene Musik
Peter Weber
Die musikalische Welt fängt an, wenn der Mensch beginnt, sich musika- lisch auszudrücken. In der Regel sind wir der Meinung, dieser Moment sei identisch mit dem Hervorbringen und Hörbarwerden von Tönen beziehungsweise den objektiven musikalischen Formen. Daraus resultiert dann die Auffassung, „die Musik“ sei etwas vom Menschen Gesondertes.
In Wirklichkeit aber ist erklingende Musik Resultat eines im Menschen sich vollziehenden Umwandlungs-Prozesses, in dessen Verlauf der Mensch zu einem musikalisch-produktiven Wesen wird. Dieser Prozess verläuft freilich unhör- und untönbar, ist aber körperlich subtil zu spüren. Wenn wir diesen Prozess in die Wirklichkeit des Musikalischen mit- einbeziehen, erscheint die objektiv erklingende Musik nicht mehr als unabhängiges Geschehen, sondern als materielle Erfüllung substanzieller immaterieller, beziehungsweise energetischer Vorgänge im Innern des Menschen.
Die Gesamtheit der musikalischen Erscheinungen, die wir als Musik- geschichte zusammenfassen, stellt demnach eine äussere, zeitlich gebun- dene materielle Formenkette dar, die immer und immer wieder ein und dasselbe austrägt, nämlich die beschriebene Wandlung des Menschen zu einem sich musikalisch ausdrückenden Wesen. In diesem kreativen Pro- zess, der von der ersten spürbaren Regung einer inneren Musikalisierung bis zum Erklingen eines musikalischen Tons reicht, erfüllt sich der tiefste Sinn der Musik.
Um vertieft über Sinn und Wesen des Musikalischen nachzudenken, müssen wir genaue Kenntnis der anfänglichen „Umwandlungssituation“ erhalten. Die entscheidende Frage, die sich stellt, lautet: Wie kann ich mit den subtilen Vorgängen im lautlosen Innern möglichst nahe in Kontakt kommen?
Die Empfindungsbewegungen, welche die innere Wandlung des Men- schen zu einer musikalischen1 Existenzweise beziehungsweise seine Mu- sikalisierung ausmachen, sind zwar untönbar und nahezu immateriell, aber sie sind, wie ich bereits erwähnt habe, subtil spürbar. Sie sind einem besonders geschulten K ö rpergef ü hl beziehungsweise -bewusstsein zu- gänglich.
Der Ausgangspunkt, von dem aus alles Nachdenken über Musik zu be- ginnen hat, ist der menschliche K ö rper. Das bedeutet konkret, dass wir in die tiefsten und unscheinbarsten körperlichen Regungen hineinspüren und mit ihnen möglichst nahe in Kontakt kommen müssen. Erst wenn wir einen Einblick in die präphysiologischen energetischen Verhältnisse, die gegenüber den geregelten Verhältnissen des manifesten musikalischen Materials völlig ungeordnet anmuten, erhalten haben, können wir zum Denken kommen. Voraussetzung für diesen Erkenntnisweg zu den Ur- sprungsverhältnissen des Musikalischen ist allerdings die Subtilisierung unseres Spürsinns.
Hier meldet sich augenblicklich die Frage nach dem Verhältnis von Erleben und wissenschaftlicher Erkenntnis. Nach wie vor gehört es zum guten akademischen Ton, „subjektivem“ Erleben und „subjektiven“ Erfahrungen als Erkenntnisquellen misstrauisch, wenn nicht gar naserümpfend zu begegnen. Man hält die Sondierungen im eigenen Inneren für zweifelhaft, vage und Resultat von Projektionen, und demzufolge hat sich die Auffassung verfestigt, dass Erleben selbst nichts Eigenständiges und Verbindliches hervorzubringen vermag.
Als Folge dieser Einstellung wird das Phänomen des Erlebens oder der Erlebensakt als solcher nicht unmittelbar am eigenen Leib studiert, son- dern in den ihn reflektierenden Formen.2 Dazu ein Beispiel: Der Mu- sikwissenschaftler Werner Danckert hat im Jahre 1955 einen Aufsatz publiziert mit dem Titel Wesen und Ursprung der Tonwelt im Mythos.3 Danckert geht es explizit um das unmittelbare Erleben als das Offene, Un verbaute. Um in dessen grösstmögliche Nähe zu kommen, bedient er sich der ältesten „ Sph ä re der Besinnung “ beziehungsweise den tiefsten Quellen menschlicher Erfahrung, nämlich den „ mythischen Spiegelungen “ . Nun steht es allerdings ausser Frage, dass es sich auch beim Mythos um Verarbeitungen, Symbolisierungen und Objektivierungen innerer Erlebensvorgänge und innerer lebendiger Realitäten handelt und nicht um die Darstellung der Erlebensvorgänge selbst.
Wenn ich tatsächlich von der Wirklichkeit des Erlebens ausgehen will, muss ich versuchen, in den inneren Erlebens- oder Resonanzraum selber einzutreten, um so nah als möglich mit den subtilen inneren Erlebensbewegungen oder besser Erlebensregungen in Kontakt zu kommen. Nur von dorther - „vor Ort“ - lässt sich etwas Verbindliches über den Reichtum des inneren Geschehens formulieren. Das wird allerdings nur dann möglich sein, wenn ich vom erlebenden Angesprochensein zu einer Aus-Sprache finde, in welcher die subtile und strömend-fliessende Qualität des Erlebens weitergeschleust wird.
Das kann nur einer künstlerischen oder intuitiv-anschmiegsamen Wissen- schaft gelingen. Zunächst - denn dabei kann ich es nicht bewenden lassen. Die lebendige innere Basis eines von allgemeinen Konzepten unvoreingenommenen persönlichen Erfahrungswissens eröffnet nämlich zwei verschiedene Perspektiven: Einerseits lenkt sie mich auf bereits vorhandene Verarbeitungen meiner Lebensvorgänge, sensibilisiert mich andrerseits aber auch - sie „gibt mir zu denken“ - für das Originäre meines persönlichen Erlebens, in dem sich unter Umständen eine noch nicht begriffene (konzeptualisierte) Erfahrung ankündigt.
Mein Ausgangspunkt ist eine persönlichen Erfahrung. Vor einiger Zeit hatte ich die erlebensorientierte Selbstwahrnehmungsmethode Focusing kennengelernt. Sie ermöglicht einerseits mit subtilsten Formen des Erle- bens in spürenden Kontakt zu kommen und andrerseits einen sich aus diesem Kontakt selbst organisierenden kreativen Gestaltungs- und Er- kenntnisprozesse in Gang zu setzen. Dank dieser Methode bin ich beim Musizieren (ich bin sowohl Psychotherapeut als auch ausgebildeter
Bratschist) auf gewisse, zunächst chaotisch anmutende, feinste innere Bewegungen aufmerksam geworden, die mein Spielen beziehungsweise die technisch-funktionalen Vorgänge durchdringen und begleiten. Es zeigte sich dann immer deutlicher, dass diese inneren Bewegungen nicht nur in einem untrennbaren Zusammenhang mit den viel gröberen mani- festen Bewegungen stehen, sondern im Grunde deren lebendigen Teil ausmachen. Mit der Zeit und durch verfeinerte Aufmerksamkeit wurden diese inneren untönbaren Strömungen oder Regungen für mich immer deutlicher fassbar: Waren es zunächst mehr oder weniger flüchtig-hau- chige Empfindungen oder Bewegungsvorläufer, nahmen sie zunehmend den Charakter innerer Wirklichkeiten an, die eine untergründige und dabei äusserst vielfältige Schicht bilden. Diese Schicht lässt sich für mich mit einer Art Ursuppe vergleichen, aus welcher die musikalischen Gestal- tungsprozesse in Bewegung gesetzt und hervorgebracht werden. Das zu- nehmende Vertrauen in die Realität der von mir gemachten Erfahrungen führte dazu, dass mir die manifesten musikalischen Äusserungen wie Resultate eines tiefen lebendigen körperlichen „Wissens“ erschienen. Mit diesem K ö rperwissen verband ich eine gewisse Selbstverst ä ndlichkeit, Organizit ä t und sch ö pferische Lebendigkeit. Eines Tages erhielt ich eine günstige Gelegenheit, im wissenschaftlichen Rahmen über diese inneren Erfahrungen zu berichten.
Anlässlich eines Symposiums zum Thema „Musikästhetische Erfah- rungen“, das im Jahr 2000 an der Musikhochschule in Rostock (Meck- lenburg-Vorpommern) stattfand, und zu dem ich eingeladen war, einen Vortrag zu halten, habe ich mich spontan entschlossen, über die erwähn- ten Vorgänge beim Spielen zu berichten. Ich war überzeugt, dass meine Wahrnehmungen Grundlage jeglicher musikästhetischen Erfahrungen sind beziehungsweise als solche bewusst gemacht werden sollten.
Es kam nun darauf an, möglichst so zu sprechen, dass meine inneren Er- fahrungen als das deutlich werden, was sie sind, nämlich lebendige Phänomene und nicht bereits Modelle oder gar wissenschaftlich reflek- tierte Konzepte. Ich musste mir also einerseits einen unmittelbaren Zugang zu den inneren Phänomenen beim Musizieren verschaffen und andrerseits einen gewissen Abstand bewahren, von dem aus ich verständ- liche und kommunikable Erläuterungen abgeben; psychologisch aus- gedrückt: Ich habe mein Ich gespalten in ein sich identifizierendes und ein beobachtendes Ich.
Aus der Erfahrung mit Focusing und Freier Improvisation wusste ich, dass aus dem spürenden Kontakt mit inneren subtilen Vorgängen sich Symbolisierungen4 wie Bilder, Wörter und Gefühle von selbst lösen oder eigentlich entpuppen, die bei den Zuhörern eben jene Erlebens- oder Resonanzräume öffnen, die auch bei mir im Spiel sind.
An dem besagten Symposium, bei dem ich schliesslich demonstriert habe, wie es ist, wenn ich einen Ton zu spielen beginne, gelang es mir in der Tat, mich einerseits ganz dem Spiel, das mit einer Reihe kleinster innerer und äusserer vorbereitender Handlungsimpulse und -schritte beginnt, zu überlassen, und andrerseits über die spürbare Resonanz, welche diese subtilen Bewegungen in meinem Erleben hervorrufen, in der möglichen Klarheit zu berichten.
Folgendes, nachträglich aufgezeichnete Protokoll gibt wieder, was ich in meinem Vortrag gesagt habe.5
Ich kenne von mir zwei Arten, einen Ton zu spielen:
1. eine äussere, objektive, sachbezogene
2. eine innere, subjektive, personbezogene
Stellen Sie sich nun mit mir die Note c vor, die vor mir auf dem Notenpapier aufgeschrieben steht.
Die ä ussere Art erlebe ich folgendermassen:
Ich sehe die Note...ich lese sie. Ich sp ü re etwas in meinem Gesicht. Gleichzeitig empfinde ich, wie sich der Schulterg ü rtel ein wenig zu- sammenzieht, konzentriert. Dort ist die Note, mir gegen ü ber. Nun bringe ich die Sachen zur Anwendung, die es zu tun gibt: Ich nehme mein Instrument, hebe es zu mir, greife den Ton c und gleichzeitig setze ich die Bogenbewegung in Gang. Ich tue das...ich errichte eine Strecke...eine Verbindung, die zwischen mir und dem ä usseren Ton verl ä uft...den Ton „ im Visier “ . Nun habe ich den Ton.
Die innere Art erlebe ich so:
Ich sehe und lese die Note...ich nehme mich gleichzeitig selbst wahr, be- ziehungsweise die Art und Weise, wie ich jetzt mit dem Ton in Beziehung trete... - und nun mit dem Ton bin. In diesem Moment geschieht etwas... mein K ö rper ö ffnet sich und dehnt sich zu dem Ton aus... aber auch der Ton zu mir. Es entsteht ein gr ö sserer Raum um mich herum, in dem etwas aus der Note sich mit mir selbst verbindet. Das ist aber nicht mehr nur die Note, das ist etwas Gr ö sseres, etwas k ö rperlich Sp ü rbares...mich Umfassendes, das mein Sein augenblicklich f ä rbt...schw ä ngert...umh ü llt... belebt.6
Ich sp ü re ein Gegenw ä rtigsein des Tones c, das sich mit meinem Sein ver- mischt...in ein und derselben Lunge atmet...in ein und dieselbe Bewegung m ü ndet. Ich bin in etwas drin... ich bin im Tonklang und der Tonklang ist in mir...
Ich bin in einer Bewegung...ich bin das Bewegtsein selbst...es str ö mt und geht weiter...zu etwas hin... - auf etwas zu...will mehr Bewegung...will aufgehen...sich erweitern...es ist wie ein Meer, aus dem sich etwas he- rausbewegen will. Aus der Ganz-K ö rperbewegung, die uneingeschr ä nkt ich selbst bin und die vor allem aus dem Becken und dem Kontakt mit dem Boden, der Erde kommt, belebt sich zunehmend der Brustraum, der nun die Arme hervorbringen will; die H ä nde sp ü ren schon den Handraum, sie wollen sich bewegen...kneten...lustvoll greifen...mit etwas in Kontakt kommen, sie wollen etwas in die H ä nde bekommen...ein Objekt, aber nicht lediglich ein ä usseres, sondern ein den Handbewegungen entsprechendes. Die H ä nde und Arme formen das Instrument vor...haben es, bevor es da ist...und nun setzt sich im Innern etwas in Gang, in dem eine Richtung deutlich sp ü rbar wird: Gest ü tzt aus der H ü ftgegend st ü lpt sich etwas um...nach oben...schiebt sich deutlich in Richtung Hals und Kehlkopf..., es will den Mund ö ffnen, den Mund-Rachenraum vergr ö ssern. Und nun wird die innere Bewegung abgeholt von einem kraftvollen Punkt zwischen Nase und Stirn an der Nasenwurzel; hier ist eine geballte Kraft am Werk, die einen Ü bergang vom Inneren zum Ä usseren bewirkt. Sie zieht das Innere nach aussen, b ü ndelt die innere Energie wie zu einem Lichtstrahl... ö ffnet ein wenig den Brustraum und will in den Ton m ü nden...zum Ton werden...sich in ihm ausdr ü cken...in ihm erscheinen...sich manifestieren... materialisieren... - Gestalt gewinnen.
Auch wenn aus dem Bericht hervorgeht, dass in der inneren Erfahrung mein produzierendes Ich und die subtilste Entfaltung des prästrukturellen musikalischen Materials sich kaum voneinander trennen lassen - die tendenzielle Verschmelzung von beiden ist Charakteristikum des beschriebenen Prozesses - regt ein weiterer organischer Prozess-Schritt an, eine Unterscheidung zu treffen und zwar
1. zwischen meinem persönlichen Erleben einerseits und
2. der Gewahrwerdung sich herauslösender vieldeutiger unhörbarer Klangbewegungen andrerseits.
Auf diesem Wege komme ich zu folgenden Formulierungen:
1. Den Beginn des inneren Prozesses der Tonwerdung erlebe ich als In- Verbindungkommen mit etwas mich Durchhauchendem, Immateriel- lem, In-Sich-Str ö mendem. Ich nenne es ein Fluidum, das mich ganz- körperlich erfasst und mich gleichzeitig umfassend werden lässt. Es ist ein umfängliches und totales, einheitliches und ungerichtetes Mit- Etwas-Sein, in dem allerdings ein primärer elementarer Beweggrund „enthalten“ ist, der eine ausgreifende Fortbewegung auslöst, die sich in der Heraushebung meines Oberkörpers aus dem Beckenbereich und einem Ausfüllen der Bauch-Brust-Lungen-Region zu einem aus- drucksvollen Oberkörper konkretisiert. Der Oberkörper wird durch das Kreuz im Rücken angeschoben und gestützt. Nun werden Kehlkopf und Mundhöhle belebt, und schliesslich tritt eine Kraft hinzu, die aktivierend zu dem entscheidenden Ausdrucksschritt führt. Es handelt sich um eine Kraft oder mehr noch eine Ausdruckskraft, die das bisherige innere Strömende wie durch ein Nadelöhr nach aussen, ins klingende Tonmaterial zieht. Sie bezeichne ich als Willens-bewegung. Dem Prozess als Ganzem wohnt eine Qualität inne, die ich als Getragen-werden bezeichne und die das Gefühl vermittelt, dass es wie von selbst geht. (Das ist im Übrigen genau jene Qualität, deren Aus bleiben mir als Musiker das Gefühl gibt, verloren und „abgeschnitten von Etwas“ zu sein.7 )
2. In meinem inneren Erfahrungsraum bilden die unhörbaren zum Ton führenden Anregungen ein bewegungsreiches und energievolles Er- eignis, in dem eine sich ständig erweiternde und umfassend wirkende Dynamik vorherrscht. Diese Dynamik ist gekennzeichnet durch eine merkwürdige Stimmigkeit, Organizit ä t und Konsequenz. Sie scheint einem Ausdehnungsgesetz zu folgen, deren Ziel es ist, sich selbst in die Welt zu bringen. Dieser Prozess ist also einerseits auf ein bestimmtes Ende oder Ziel wie es bei der Herausbildung einer Identität der Fall ist, gerichtet, die mit dem Hörbarwerden des Tones auch erreicht scheint; andererseits erweckt dieser Ton in seinem Aspekt als erlebbarer Ton, den Eindruck, als würde er den Prozess seiner Verlautbarung selbst ins Leben bringen. Im Ton vereinigen sich offenbar Ziel (Identität) und lebendiger Prozess. Oder anders aus- gedrückt: Der unhörbare innere Prozess der Tonwerdung ist leben- diger Sinn des äusseren, manifesten und identifizierbaren Tones wie aller weiteren sich aus diesem differenzierenden musikalischen Formen.
Nun kann ich, ausgehend von meinen geschilderten inneren Erfahrungen, die mir wesentlich erscheinenden Aspekte auflisten. Es zeichnet sich dabei eine Veränderung der überkommenen Auffassungen von Musik ab.
- In der nach innen gerichteten Aufmerksamkeit erlebe ich die Klang- welt als etwas Lebendiges, das ebenso mit mir zu tun hat, wie ich mit ihm.
- Musik entfaltet sich aus der Qualität inniger Verschmolzenheit meines persönlichen Daseins und der Essenz des Musikalischen. Von dieser ursprünglichen essenziellen Erlebensqualität aus gesehen, ist Musik kein losgelöstes Gemachtes sondern etwas, das von selbst kommt und mit dem Leben unmittelbar verbunden ist. Und zwar mit einem unge- teilten Leben, in dem es noch keine verschiedenen Bereiche und Abteilungen gibt. Es gibt kein Hier und kein Dort. Diese Verschmelzung ist so eng, dass auch im manifesten Ton meine körperliche Verfassung als Klangqualität hervortritt. Das eine ist wie das andere.
- Im vertieften inneren Erlebensraum erscheint der erklingende Ton wesentlich reichhaltiger und umfassender als in seiner Form als akustisches Phänomen. Er ist nicht ein Etwas, das von mir hergestellt wird und zwischen mich und die Note als hinzutretendes, gesondertes Objekt tritt. Er ist vielmehr Resultat eines im zeitlosen und imma- teriellen Werden wurzelnden lebendigen Prozesses , der erst im Zu- sammentreffen mit den äusseren zeitlichen Bedingungen materielle Strukturen erhält.
- Der Kontakt mit der umfassenden inneren Erfahrung wirkt sich auf die Qualität der Wahrnehmung der musikalischen Phänomene aus. Das innere Werden setzt sich aussen als dynamische Klangbewegung fort, und verwandelt die Wahrnehmungsvorgänge in Erlebensvorgänge. Wir können nicht mehr von einem Vorhandensein der tönenden Welt sprechen. Es geht um ein unbegrenztes Werden, und die Auffassung, der Ton sei ein fertiges Schönes, verwandelt sich zur Erfahrbarkeit seiner nie-fertigen Lebendigkeit.
Ein entsprechendes Beispiel ist die um die Tiefendimension bereicherte Wahrnehmung unseres Notensystems: Noten sind in einer erlebnsnahen Sicht (Schau) lebendige Schlüssel-Systeme: Als organische Symbole innerer Vorgänge wirken die Notenköpfe als Tongefässe, die für das innere Lebendige, Dynamische, Bewegliche, Flüssige einer bestimmten unterschiedlichen Klangdauer stehen (die hohlen Köpfe umfassen mehr Dauer als die gefüllten) und gleichzeitig beim Spieler die entsprechenden inneren Resonanz- beziehungs weise Entfaltungsräume öffnen.
Ich möchte zum Schluss auf eine den gesamten Prozess in der Tiefe durchwirkende Qualität hinweisen: Durch die Erfahrung des Tones als Resultat eines Prozesses der Tonwerdung und durch die zunehmende Erfahrung des organischen Von-selbst mischt sich in mein musikalisches Erleben eine Qualität ein, die ich vorläufig als Urspr ü nglichkeit, Frische, Lebendigkeit, Authentizit ä t, Angeschlossensein und Verbundenheit mit etwas mich Umfassendes bezeichne.
Meine Erfahrungen münden in die zentrale Frage. Sie lautet: Mit wel- chem wesentlichen Aspekt des Lebens oder Menschseins bringen mich die im Zusammenhang mit der Tonwerdung geschilderten Grunderfahrungen in Verbindung - oder anders gefragt: Wo in der Welt bin ich, wenn ich mit dem Innersten der Töne bin? Das ist die tiefstgründigste Frage nach der Bedeutung des Musikalischen überhaupt.
Bevor ich dieser Frage nachgehe, werde ich zunächst näher auf die ange- deutete Theorie und Methode der vertieften Selbsterfahrung und der da- raus hervorgehenden Selbstauskunft eingehen - ohne sie ist meine Auf- fassung der geschilderten Tiefenph ä nomene des Musikalischen nicht zu verstehen. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form von K ö rper- bewusstsein, welche die Wahrnehmung ganz bestimmter subtilster ener- getischer k ö rperlicher Resonanzen ermöglicht . Wissenschaftlich erforscht und beschrieben wurde diese Bewusstseinsform und der Zugang zu ihr von dem Philosophen und Psychologen Eugene T. Gendlin. Er hat seine Erkenntnisse unter dem wissenschaftlichen Namen Focusing vorgestellt hat.
2. Focusing oder die Bedeutung des Körpergefühls
Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstande innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des Verm ö gens aber geh ö rt einer hochgebildeten Zeit an.
J. W. v. Goethe: Spr ü che in Prosa, Naturwissenschaften IV
Meine „zarte Empirie“, die sich mit den subtilen prätonalen Vorgängen beim Hervorbringen von Musik „identisch macht“ und mich in spürbaren Kontakt mit ihnen bringt, heisst Focusing. Focusing ist in der Tat diejenige dynamische Methode, die sich ihrem jeweiligen Gegenstand so eng anzuschmiegen vermag, dass sie selbst zu dessen Theorie wird. Auf diese Weise impliziert sie in meinem Falle Sinn und Bedeutung der Tiefenschicht des Musikalischen.
Erforscht und beschrieben wurde Focusing von dem 1926 in Wien gebo- renen und 1938 nach Amerika ausgewanderten Philosophen und Psycho- logen Eugene T. Gendlin. Die philosophische Frage nach prinzipiellen Möglichkeiten menschlichen Veränderns liess Gendlin die Berührung mit der Psychotherapie suchen. Auf diese Weise lernte er den Repräsentanten der Humanistischen Psychologie Carl Rogers kennen, dessen Mitarbeiter und späterer Nachfolger er an der Universität in Chicago (Departements für Verhaltenswissenschaften und Philosophie) wurde. Dort begann Gen- din in den frühen sechziger Jahren mit Forschungen zur Wirksamkeit von Psychotherapien, die ihn eine Entdeckung machen liess, die von grund- egender aber auch weitreichender philosophisch-anthropologischer Be- deutung werden sollte.1
Mittels Überprüfung einiger hundert Tonbänder von Therapiesitzungen gelang Gendlin der Nachweis, dass nur diejenigen Klienten in Therapien Erfolg haben, die über das externalisierende Verbalisieren der Inhalte, dem Was ihrer Geschichte oder Situation, hinauskommen und beim Er- zählen im spürenden Kontakt mit der tieferen Qualität, dem Wie oder dem inneren Erleben bleiben. Das lässt sich an charakteristischen Verhaltens- weisen ablesen: Die erfolgreichen Klienten nehmen sich beim Erzählen immer wieder Zeit, schieben Pausen ein, in denen sie nach innen gehen, sich spürend orientieren und das Verbalisierte an der inneren Erlebnis- qualität überprüfen und „abschmecken“.
Indem sie nach dem rechten Ausdruck suchen, stossen sie schrittweise zu Bedeutungen vor, die spürbar mit ihnen selbst zu tun haben. Das Auftau- chen solcher persönlicher und verbindlicher Bedeutungen wird als wohl- tuend, meistens sogar als erlösend erlebt - es ist wie wenn ein spürbares „Ja, natürlich, so ist es“ und „So kann’s weitergehen“ durch den Körper geht. Die befriedigende Erfahrung, dass es möglich ist, aus sich selbst zu tiefen, existenziell bedeutsamen Aussagen zu kommen, führt mit der Zeit zu einem inneren Organ, einer Art „Spürorgan“, welches untrüglich auf Authentizität oder deren Gegenteil reagiert. Diese Fähigkeit, aus sich selbst zu bedeutsamen Antworten zu kommen (mit sich selbst jederzeit „etwas anfangen“ zu können), wird zur Grundlage persönlicher Selbstverf ü gbarkeit, Selbstgewissheit und echter Kreativit ä t.
Was die innere Erlebens-Qualität betrifft, auf welche die erfolgreichen Klient/innen Bezug nehmen, erbrachten weitere Untersuchungen Gendlins den Nachweis, dass diese Qualität sich in einem subtil spürbaren K ö rper- gef ü hl, einer Art k ö rperlichem Resonanzfeld niederschlägt und abzeich- net. Das geschieht allerdings nur dann, wenn die Aufmerksamkeit nach innen beziehungsweise auf dasjenige Gefühl gelenkt wird, von dem spür- bar ist, dass es mit der gegenwärtigen persönlichen Lebenssituation zu tun hat. Dieses spezielle Gefühl zeichnet sich aus durch ein schwe bendes, vages Empfindungsklima, das sich zwischen Körperlichem und Seelischem, zwischen konkret („da spüre ich etwas Bestimmtes“) und diffus („ich weiss nicht so recht...irgendwie“) bewegt. Gendlin selbst nennt es manchmal „einfach so ein dotdotdot...“. Wissenschaftlich nennt er diese Form von Körperbewusstsein felt sense (gespürte Bedeutung, gespürter Sinn, sinnhaftes Gefühl).2
Es zeigte sich, dass sich bei wohlwollendem und erwartungsfreiem Ein- gehen auf das besagte Körpergefühl ( Felt sense) Bedeutungen und Zu- sammenhänge, die mit der erlebten Situation zu tun haben, wie von selbst entfalten und zum Ausdruck kommen können. Denn offensichtlich han- delt es sich beim Felt sense um eine Art Verdichtung oder ein Zentrum, in dem mit der äusseren Situation zusammenhängende innere Erfahrungen und deren Bedeutung in Form eines undifferenzierten Situation-Wissens verschmolzen sind.3 Zu dem auf diese Weise sich vollziehenden Entfal- tungsprozess gehört der Eindruck, das persönliche Leben oder besser Er- leben würde sich selbst bedeuten, sich selbst neue, der gegenwärtigen Situation besser entsprechende Antworten geben und sich, indem es aus sich selbst Neues generiert, sich selbst voranbringen, - ein Eindruck, der für Evidenzerfahrungen charakteristisch ist.
Erwartungsfreies Verweilen und wohlwollend-urteilsfreies, persönlichinteressiertes Verschmelzen mit dem, was der Körper von einer bestimmten Situation hat (das ist Goethes „sich identisch machen“), - das sind die elementaren Aspekte des Focusing, wie Gendlin es im eigentlichen Sinn versteht: „ Focusing nenne ich die Zeit, in der man mit etwas ist, das man k ö rperlich sp ü rt, ohne schon zu wissen, was es ist “ .4
Im umfassenden Sinn bedeutet Focusing eine genau beschriebene und erlernbare Methode zur körperorientierten Bedeutungsfindung.5
Es hat sich herausgestellt, dass im Felt sense offenbar ein umfassendes Wissen von einer Situation „versammelt“ (implizit) ist, ein Wissen, das über die äusseren und bewussten Oinformationen von einer Situation weit hinausgeht. So weist die selbstverständliche Art, mit der sich bedeutsame Schritte aus dem Inneren lösen, darauf hin, dass im Felt sense auch die weiterführenden Schritte beziehungsweise die Fortsetzung oder Verände- rung der gesamten Situation schlummert. Es ist der in jeder Situation diskret verborgene lebensdynamische Aspekt, der mit dem Erlebensakt ins Spiel kommen kann. Erleben so verstanden, erscheint als eine spe- zifische Art von Aktivität, die in der wachen, hellhörigen, hellspürigen Bereitschaft besteht, im Flusse des Lebendigen - „im Erleben“ eben - zu bleiben und sich diesem lebendigen Strome zu überlassen. Es ist diese Art von Aktivität, die sich durch mich hindurch bewegt und mich selbst weiterträgt und die dafür sorgt, dass ich es wie von selbst aus meinem Inneren kommend erlebe.
Ein weiterer Aspekt gehört dazu: Die inneren subtilen und zur Bedeutung drängenden Anregungen machen sich zunächst als sich aus dem inneren Chaos des Erlebens lösende und sich zunehmend selbstgestaltende Aktivitäten bemerkbar. Diese gewinnen zunehmend an innerer spürbarer Gestalt und greifen - sofern wir in spürendem Kontakt bleiben - in ver- schiedene Formen von manifesten Symbolisierungen verbaler, gestischer und sonstiger ausdruckshaltiger Aktivitäten aus, bis sie schliesslich zu Bedeutungen führen, welche der ins Erleben geholten Situation den Na- men geben. Das In-Erscheinung-Treten solcher Symbolisierungen, welche die innere Lebenssituation nach aussen führen, unseren Körper in leben- diger Bewegung halten, ihn zu einem handelnden erweitern und im gewis- sen Sinne von seinem Befangensein im Spürsinn befreien, wird als wohltuend und erleichternd erlebt: Bedeutungsfördernde Symbolisie- rungen wirken wie Schlüssel- oder Zauberzeichen, die unsere persönliche Lebendigkeit mit den Anforderungen der Welt zusammenführen und unser Leben auf diese Weise im Fluss halten.
Dieses Moment des wohltuenden Entschlüsselns wird im Focusing felt shift genannt6 , während die im Felt sense implizite organische evolutive Dynamik, als Fortsetzungsordnung bezeichnet wird7 .
Eine wichtige Frage mag hier auftauchen: Wer oder Was sagt mir, dass diese sich aus dem Körpergefühl lösenden Bedeutungen zutreffend sind? In der Tat gibt es dafür ein untrügliches Kennzeichen: Der organische und sich mittels der Focusing-Methode selbst organisierende Fortsetzungs- prozesses des Lebendigen - aus dem sich schliesslich Bedeutungen kon- kretisieren - verläuft nicht beliebig. Zwar gibt es unendlich viele Mög- lichkeiten, eine im Innern sich abzuzeichnen beginnende symbolische Tendenz aufzunehmen und fortzuführen. Aber es gibt andrerseits eine sehr genaue und eindeutige Rückmeldung unseres Körpers, wenn diese Ordnung auf willkürliche Art verlassen wird beziehungsweise n i c h t sinnvoll weitergeführt wird. Ein Beispiel aus der Musik: Eine begonnene Melodie kann auf sehr viele Arten fortgesetzt werden, unser Körpersinn reagiert jedoch sofort, wenn die innere und organische „Aus-und-Weiter- Schwingungs-Ordnung“ verletzt wird.8 Die Fortsetzungsordnung hat also nichts mit Beliebigkeit zu tun, aber viel mit Verbindlichkeit. Die Sinn- haftigkeit des Inneren bewährt sich an einem sehr genauen Verbindlich- keits-Gespür oder Organizitätsempfinden beim Austasten und Auskosten der symbolischen Bedeutungen. Hier liegt die Wurzel unseres Authen- tizitätsempfindens.
Körperlich lassen sich diese oft unscheinbaren und unserem intellektuell geschärften Bewusstsein zunächst verborgenen, die neue werdende Lebendigkeit aber spürbar bezeugenden Fortsetzungsvorgänge bis in feinste Bewegungsspuren wie Kribbeln, Beben, Zittern verfolgen.9
Ich möchte ein Beispiel aus der Musik anführen, um zu zeigen, dass die Entdeckungen Gendlins nicht exklusive fachspezifische Auswirkungen für die Psychologie beziehungsweise Psychotherapie haben, vielmehr das menschliche Bewusstsein betreffen, das sich in allen Äusserungsformen nieder-schlägt - also auch und wohl am unmittelbarsten im musikalischen Bereich.
Die geschilderten subtilen Übergangs- oder Fortsetzungsbewegungen unseres Körpers wie Kribbeln, Beben, Zittern symbolisieren sich in der Musik in Form von Ton- Randphänomenen, wie es etwa die Verzierungen oder die Ein- beziehungsweise Ausschwingvorg ä nge sind10 : In diesen Momenten zeigen sich diskontinuierliche Klangformen höchster Lebendigkeit wie etwa Geräuschspuren, in denen verschie- denste Möglichkeiten einer Fortführung des Klangsverlaufs stecken. In der Neuen Musik werden diese subtilsten Klang-regungen zu kaum notierbaren Klangformen genutzt, bei denen es darum geht, die Töne zerbr ö ckeln, verhauchen, verfliessen zu lassen. In einem Kontext, in dem das Werden und Vergehen des Klangs Anlass zu differen-ziertester Klanggestaltung wird, sind das keine Endstationen, sondern eben kreative Vorläufer, Neuanfänge, Hinüberführungen, Weiterleitungen in neue Hör- und Horchzonen. Was ich hier auf objektiver musikalischer Ebene dar-gestellt habe, geht ursprünglich vom musizierenden Körper aus: Die im Klangverlauf objektivierten subtilsten Regungen sind Resultate körperlicher Bewegungsformen beim Hervorbringen von instrumentalen Klängen. Wie wir allerdings bei meinem Eingangsbericht (Rostock-Bericht) gesehen haben, sind diese wiederum Resultat feinster innerer Bewegungsanregungen, aus denen die manifesten Spielbewegungen erst als deren Konkretisierung (Symbolisierung) heraustreten.
Gendlins Forschungen münden zunächst in ein therapeutisches Konzept, das eine schrittweise Fühlungnahme mit der körperlichen Resonanz (Felt sense) vorsieht. Aus diesem Kontakt mit der gegenwärtigen Lebenssitua- tion entwickelt sich, wie beschrieben, ein sich selbst organisierender the- rapeutischer Prozess, der ein vom Körper gesteuerter Individuationspro- zess ist.
Weit über den psychotherapeutischen Rahmen hinaus reicht allerdings die Bedeutung, die Gendlins neues Verst ä ndnis vom menschlichen K ö rper beansprucht. Der Körper beziehungsweise das Körperbewusstsein ist ins Zentrum von Welterfahrung und Welterkenntnis gerückt. Das mensch-li- che In-der-Welt-Sein manifestiert sich als resonanzartiges Körpersein, denn der Körper ist dem Kosmos nicht gegenübergestellt, sondern ist Teil von ihm - mit dem Körper ist das „Wissen“ von der Welt lebendig präsent. Dadurch ist der Körper mit allem Lebendigen verbunden und „weiss“ von den organismischen Fortsetzungsmöglichkeiten oder evolu- tiven Wachstumsschritten. Der Körper selbst ist es, der diejenigen Bedeu- tungen hervorbringen kann, die eine Situation entschlüsseln. Gendlins Sicht vom Körper bedeutet zweifellos ein neues wissenschaftliches Pa- radigma, dessen zentrale Botschaft lautet: Erkenntnisprozesse beginnen beim Körper des Erlebenden.
Das Entscheidende und Neue, das Gendlins Erkenntnisse für die Wissen- schaft bedeuten, liegt vor allem in dem radikalen Richtungswechsel: Der erste forschende oder Erkenntnis fördernde Schritt führt nicht in die Breite des verfügbaren Wissens, sprich: in die Bibliotheken, sondern in die Tiefe der Person. Focusing stellt demnach zwar eine allgemein g ü ltige wissenschaftliche Methode dar, die durch ihr erwähntes paradigmatisches Charakteristikum aber eine mystische ist und insofern eine zukünftige nach dem Diktum Karl Rahners: Der zuk ü nftige Mensch wird ein Mysti- ker sein, oder er wird nicht sein.11
Den Weg, den ich mit meinem Buch einschlage, richtet sich nach dieser Tiefen-Methode. Ich fange, wie gesagt, nicht bei den Theorien und Konzepten an, die ich zu meinem Thema schon da sind, sondern gehe vom Kern meines persönlichen Erlebens aus, um mich von dort nach Verarbeitungen umzusehen, bei denen meine persönliche Erfahrungs- qualität auf Resonanz stösst. Auf diese „spürsinnige“ Weise kann ich auch auf noch unentdecktes Neues im Alten aufmerksam werden und schritt- weise zu einer sinnvollen stofflichen Verdichtung des zunächst von mir nur gesp ü rten Sinns kommen. Dieses Vorgehen bietet mir auch die Ge- währ, dass ich zu dem vorstosse, was mich pers ö nlich bewegt. Das ist nun nicht eitle Nabelschau, sondern der einzig gangbare Weg, der in die Tiefe führt. Das Neue erscheint zuerst im einzelnen Menschen, vage, unsicher - die Evolution bedient sich der Person. Aus diesem Grund mündet Gendlins Focusing-Konzept in eine Forderung nach einer personorien- tierten Wissenschaft, die er first person science (Erste-Person-Wissen- schaft) nennt.12
Damit Sie als Leser nun eine über die Kenntnis der Theorie hinausreichende eigene Körperresonanz- beziehungsweise Felt-sense-Erfahrung machen können, schlage ich Ihnen eine kurze Übung vor:
Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, schieben Sie alle Gedanken für einen Moment auf die Seite und kommen Sie zur Ruhe.
Vergegenwärtigen Sie sich ein wichtiges vergangenes oder bevorstehendes Ereignis. Achten Sie dabei auf die subtile Veränderung Ihres Körpergefühls.
Sie können diese Übung auch machen, indem Sie sich zwei wichtige (unterschiedliche) Personen Ihres Lebens auswählen. Wenn Sie sich nun diese Personen nacheinander vergegenwärtigen, achten Sie auf die Veränderung des Körpergefühls. Sie können ein paarmal hin und herpendeln, um die Qualitätsveränderung gut zu spüren. Bleiben Sie eine Weile mit den entstehenden Gefühlen und achten Sie darauf, was damit wird, was sich herauslöst, zum Beispiel ein Gefühl, ein Bild, ein Wort, eine Geste...
Der Sinn meiner Arbeit liegt darin, Zugang zu den im Dunkeln liegenden Ursprungsbewegungen des Musikalischen und zu deren Bedeutungen zu finden. Gendlins in subtilste Wirklichkeitsbereiche vordringende Focu- sing-Methode verspricht beides zu leisten: Sie führt uns zur unmittelbaren Wahrnehmung der tiefsten Schichten beziehungsweise der damit ver- bundenen Erfahrung und darüber hinaus zu sich daraus entfaltenden Theorien - zu begriffenen Erfahrungen. Oder im Sinne Goethes: Sie macht uns mit dem Gegenstand so identisch, dass wir dessen Sinn und Bedeutung nicht ausserhalb des Phänomens suchen müssen.
Wir betreten nun den Bereich des Musikalischen, und ich werde ver- suchen, Gendlins Focusing in diesen Kontext einzuschleusen. Dabei ziehe ich verschiedene Konzepte heran, die sich sowohl in musikalischer Hinsicht als auch durch innere Verwandtschaft mit dem Gendlinschen Erkenntnissen hervorheben. Deren Vergleich und Diskussion mit Gend- lins Forschungsergebnissen wird das jeweils Besondere greifbar machen und mir ermöglichen, Aussagen über deren „Tiefgründigkeit“ im Hinblick auf die für mein Thema relevante anthropologische Fundie rung des Musikalischen zu machen.
Ich beginne mit dem 1890 in Wien geborenen Entwicklungspsychologen Heinz Werner13, der vor dem 2. Weltkrieg bis zu seiner Emigration nach Amerika - die Parallelen zu Gendlins Lebenslauf sind frappant - in Ham- burg lehrte und forschte, und dem wir einen massgeblichen Überblick über syn ä sthetische Theorien14 verdanken. Aufgrund eigener experimen- teller Forschungen, die musikästhetische Erfahrungen zum Gegenstand hatten und die er vor dem Krieg in Hamburg durchgeführt hatte formuliert er zwei Prinzipien, die sowohl einen engen Zusammenhang mit den Erkenntnissen Gendlins aufweisen als auch mit meinen eigenen Wahrneh- mungen bei der Tonproduktion.
Werner formuliert15:
1. ein genetisches Prinzip, das besagt, dass der Organismus sich aus einem einheitlichen psychophysischen Grunde zu immer schärfer dif- ferenzierten, hierarchisch geordneten Funktionen und Phänomenen strukturiert (oder unter gegebenen Umständen sich umgekehrt von der erreichten Differenzierungshöhe zur undifferenzierten Einheitsschicht wiederum nähert).
2. ein organismisches Prinzip, das besagt, dass alle psychischen Erschei- nungen, sosehr sie auch anscheinend ein statisches Endprodukt dar- stellen, bedingt sind durch die stetige Aktivität des Organismus und damit im totalorganismischen Geschehen tief verwurzelt sind.
Werner postuliert „ Schichten beim Kulturmenschen [...] , die genetisch vor den Wahrnehmungen stehen, und die als urspr ü ngliche Erlebnisweisen beim ‚ sachlichen ‘ Menschentyp teilweise versch ü ttet sind. In dieser Schicht kommen die Reize der Umwelt nicht als sachliche Wahrneh mungen sondern als ausdrucksm ä ssige Empfindungen, welche das ganze Ich erf ü llen, zum Bewusstsein “
Es ist zunächst nicht schwierig, zwischen Werner und Gendlin zu ver- mitteln: Werners einheitlicher psychophysischer Grund heisst bei Gendlin felt sense, und das totalorganismische Geschehen heisst bei Gendlin Fort- setzungsordnung. Für beide ist das Körpergefühl der springende Punkt: Während Werner es für „ sehr wahrscheinlich “ hält, dass das synästheti- sche Einheitserlebnis auf „ Tonusvorg ä ngen des K ö rpers “ beruht - er spricht von einem „ sensorisch-tonischen Urgrunde “16 - ist bei Gendlin die Rede von k ö rperlicher Befindlichkeit, die sich von einer Körperem- pfindung deutlich unterscheidet. Es handelt sich dabei um Erlebensvor- gänge, die sich einerseits subtil körperlich zeigen und gespürt werden können, die sich aber im Verlaufe spürender, absichtsloser und verwei- lender Zuwendung in ihre spezifische nur erlebbare Qualität „entma- terialisieren“. Erst in diesem Vorgang, in dem sich Körperliches auflöst, verflüchtigt und uns Seelisches und Gefühlsmässiges anmutet, offenbart sich deren Lebendigkeit und Bedeutungs-Qualität.
Bei der Wahrnehmung von Tönen - hier können wir nun sehr gut verfolgen, zu welchen unterschiedlichen Ästhetiken die jeweiligen Wahrnehmungsmodalitäten führen - unterscheidet Werner mehrere Arten:
- Einmal eine objektive, bei welcher der Ton unabhängig von der Person und gegenständlich an ein Instrument gebunden erscheint;
- Im weiteren eine r ä umlich bestimmte, welche den Ton als Raumton erscheinen lässt;
- Und schliesslich in eine tiefere, k ö rperliche, bei welcher der Hörer zum Gef ä ss wird, das mit dem Aufnehmen des Tones erklingt. In diesem Zusammenhang erwähnt er folgende Aussage einer Versuchs- person: „ Ich bin erf ü llt von jener leuchtenden, klingenden Tonmaterie, wie wenn ich zu einer Geige geworden w ä re oder zu einer Glocke, auf der gespielt wird. “17
Die „körperliche Erlebnisweise“ Werners macht den Unterschied zu Gendlin greifbar: Während in Werners Auffassung der Körper sich wie ein Gefäss verhält, das den Ton aufnimmt, und in dem dieser als ein Etwas erscheint, sodass der Mensch passiv vom Ton erfüllt wird - den Ton quasi hat - führen mich Gendlins Erkenntnismethode des Nach- innen-Spürens u n d die Theorie vom organismischen Körper zu einer ganz anderen Auffassung: „ Ich b i n erf ü llt... ich bin “ heisst - und das ist unserem Spürsinn leicht zugänglich, - dass in dieser Erfahrung nichts Objektives und von mir Unterscheidbares ist, nichts, das heissen könnte „ich habe den Ton“ sondern in der Tat heisst, wie es die Versuchsperson auch präzise formuliert, „ich bin erfüllt“, ich bin schwingender Resonanz- körper (Geige, Glocke) und ich bin untrennbar mit dem Ton wie der Ton mit mir ist. Resonanzkörper sein heisst, Kraft der substanziellen ener- getischen (nicht physiologischen!) Mitschwingungsfähigkeit des Körpers, mit allem, was in den Dingen schwingt, klingt und singt , also auch mit dem Inneren der Töne beziehungsweise der in der Tonmaterie an- klingenden lebendigen Schwingungssubstanz - zu verschmelzen. Diese innere Erfahrung führt mich zu folgender, selbstverständlichen Auffas- sung: Es ist der Rezipient, der den Ton kraft seiner energiekörperlichen Resonanzfähigkeit aktiv verk ö rpert und in der Fortsetzung der Verk ö r- Werner, H.: Das Problem des Empfindens und die Methoden seiner experi mentellen Pr ü fung. Zschr. Psychol. 1929, 156. perung (im wirklichen aktiven Sinne des Wortes) auch kreiert. Substanziell ist keine Unterscheidung möglich von Körper und Ton. Damit bestätigt sich Gendlins Auffassung, dass der Körper ein Organ ist, das in und mit der Welt ist und nicht ein Organ, das die Welt hat.18
Von hier ist es kein grosser Schritt zum Darmstädter Philosophie-Prof- essor Gernot Böhme, der aus dem Umfeld der Leibphilosophie des Kieler Phoilosophen Hermann Schmitz kommt und sich ebenfalls mit primären Wahrnehmungsarten und den daraus folgenden ästhetischen Theorien beschäftigt. Er interpretiert Heinz Werners Erkenntnisse im Rahmen sei- ner eigenen Philosophie und spricht von Leiberfahrungen. Er spürt offen- bar die Gefahr, die in einer Identifizierung der undifferenzierten Vor- gänge mit Tonusvorgängen liegt. Die tieferen Schichten, von denen Wer- ner spricht, hält er für die „ mehr oder weniger sp ü rbaren Zust ä nde des eigenen K ö rpers “ .19 In diesen Zusammenhang gehört das eigenleibliche Sp ü ren, ein Begriff, der an den Felt sense Gendlins erinnert.
Betrachten wir das etwas genauer: Die einheitliche, undifferenzierte Wahrnehmung (der Gesamteindruck), die genetisch vor der Wahrneh- mung der differenzierten Einzelelemente kommt, nennt Böhme in An- lehnung an Hermann Schmitz Atmosph ä re.20 Beim Betreten eines Rau- mes beispielsweise (denken wir an eine Kirche, einen Konzertsaal) ist es „ das Fluidum, das einem entgegenschl ä gt “ . Es „ schl ä gt entgegen, man f ü hlt sich umfangen, man ist wie fortgerissen “ . Der Wahrnehmende erlebt die Dinge in die einheitliche Aktivit ä t der Atmosphäre gehüllt: „ Die M ö bel dr ä ngen sich in kleinb ü rgerlicher Enge, das Blau des Himmels scheint zu fliehen, die leeren B ä nke der Kirche laden zur Andacht ein. “ Die Atmosphäre geht aber nicht im eigenleiblichen Sp ü ren auf, vielmehr bleibt die Objektivität der Sphäre als ein Etwas erhalten. Die Atmosphäre strahlt allerdings etwas aus - eine Stimmungsqualität, der gegenüber ich als Wahrnehmender exponiert bleibe, „ indem ich in meiner Befindlichkeit an dieser Stimmung teilhabe und darin gewahre, dass ich jetzt hier bin.
Wahrnehmung qua Befindlichkeit ist also sp ü rbare Pr ä senz. Umgekehrt sind Atmosph ä ren die Weise, in der sich Dinge und Umgebung ´ pr ä sentieren` “
So, wie ich Böhme verstehe, verhüllen sich die Dinge in ihrer Sphäre und treten erst durch die differenzierteren Wahrnehmungsakte in ihre Einzel- haftigkeit. Der atmosphärisch erlebende Mensch „auf der anderen Seite“ entspricht dieser Situation mit seiner Befindlichkeit, die ihm das Gefühl vermittelt, in einer Atmosphäre von sich selbst (sp ü rbare Pr ä senz) zu sein. Das Gemeinsame, beide Seiten Umfassende, ist, dass ich an der Befindlichkeit aber auch an der aus der Atmosphäre herausstrahlenden Stimmung teilhabe. Die Präsentation der Dinge und die Präsenz meines Ichs wird vermittelt durch das Medium der herausstrahlenden Stim- mungsqualität.
Ich werde versuchen, meine eigene Erlebensweise beim Hervorbringen eines Tones, mit der besagten atmosphärischen Erlebensweise Böhmes in Beziehung zu setzen. (Das Folgende sollte als Protokoll meiner inneren Erfahrung gelesen werden:)
Bevor der Ton da ist, umfasst und umh ü llt mich etwas, das mit dem noch nicht erklingenden, aber sich ank ü ndigenden Ton sp ü rbar wird. Ich bin darin verwickelt, das hat mit mir zu tun - in diesem auftauchenden Eindruck ist die Ank ü ndigung von etwas Zuk ü nftigem beigemischt und von etwas, worauf das Ganze hinauslaufen und wohin es w e r d e n will: Das w i r d mit mir zu tun haben, das w i r d auf etwas mit mir hinauslaufen...
Im Unterschied zu Böhmes Teil-Habe kommt für mich eine wesentlich andere Qualität ins Spiel. Es ist ein Teil-Sein, Im-Medium-Sein, ohne ein Dazwischen von sich pr ä sentierendem Ton und pr ä sentem Ich. In diesem Moment bin ich nichts als lebendig. Ich erlebe.
Doch das gilt nicht nur für den Fall des Im-Ton-Seins, diese Seins- Qualität gilt in absolut identischer Weise für das Felt-sense-Bewusstsein beziehungsweise für die mit dem unmittelbaren Erleben verbundene Bewusstseinslage generell. Ich halte an dieser Stelle fest, dass In-der- Musik-Sein, In-der-Resonanz-Sein (Im-Felt-sense-Sein) und Im-Erleben- Sein identische Verfassungen sind: In den entsprechenden Momenten bin ich verbunden mit einem Medium, das die Situation zu meiner macht. Ich bin die Situation oder: Ich und die Situation sind ein und dasselbe. Daraus entstehen, lösen und objektivieren sich erst die differenzierten Positionen und Bedeutungen. Sie entfalten sich , heisst es im Focusing. Sie sind nicht verhüllt und nicht latent, sondern sie sind mit meiner Existenz und meiner Lebendigkeit potenziell gegeben. Die Dinge sind nicht in einer Atmos- phäre verhüllt, und ich muss sie nicht erst enthüllend entdecken - vielmehr kann ich sie aus mir heraus zur Entfaltung bringen: „ Was man mit dem K ö rper erf ü hlt, impliziert die Welt “ , heisst es entsprechend beim amerikanischen Psychologen John Welwood.21 Und dieses Herauskom- men hat mit mir und meiner Beziehung zu dem Äusseren zu tun - ich nehme die Dinge wahr, als wäre ich selbst der umfassende Bildschirm oder Hintergrund, aus dem sie in den Vordergrund treten.
Worin besteht der Unterschied zwischen Böhme und Gendlin?
Bei Böhmes atmosph ä rischem Dasein spüre ich bereits das differen- ziertere Hin-und-Her von Objekt und Subjekt. Auch appeliert das At- mosphärische an mein Gesicht. Im Falle k ö rperlicher Resonanz (Felt sense) bin ich noch „vor“ dieser Bewegung: Es ist ein Moment un- mittelbaren Seins, ein Moment, in dem noch kein Lichtstrahl und keine Bewegung in meine Situation fällt. Es ist „reine Situation“. Während beim Atmosph ä rischen der obere Körperbereich anklingt, ist es beim Felt sense meine Körpermitte, die Gegend der Bauchhöhle. Ich kann es für meine Person so sagen: Atmosph ä risches Wahrnehmen gehört mehr zur „hellen Augenwelt“, In-Resonanz-Sein mehr zur „dunkel-tiefen Ohren- welt“, in der es ist, als habe der ganze Körper die Augen gesenkt und erweitere sich in die eigene Umwelt, während sich gleichzeitig die Ohren öffnen und zu Verbindungsorganen von innerem Körper und Aussenwelt werden, - es gibt keine Grenzen zwischen innen und aussen, alles ist eine Welt, eine Klangwelt. Mein Körper ist horchend da, ein Horchkörper, der die Welt erhorcht und alles in den Allklang und Einklang bringt - den eigenen Körper mit der Welt vermengt.
Ich will versuchen, die Wahrnehmungs-Qualität des Felt sense bezie- hungsweise diejenige des Atmosph ä rischen in Werners hierarchisches, von einheitlich bis differenziert reichendes Wahrnehmungsmodell (s. S.) einzuordnen.
Resonanzhafte Wahrnehmung (Felt sense) gehört zweifellos zu einer archaisch-ganzheitlichen, undifferenzierten Tiefenschicht, in der wir mit der Welt resonanzartig verbunden sind - ich möchte sagen: in der wir spirituell sind.
Das Atmosph ä rische gehört hingegen einer Schicht an, in der die Dinge schon ein wenig als Objekte mit uns zu spielen beginnen und ihre Aufmerksamkeit erheischen.
Es scheint mir, dass Böhme zum Resonanzbewusstsein nicht vorstösst, da er dem Erscheinungsglanz der Atmosphäre verhaftet bleibt. Wenn er fast beiläufig und ohne es zu vertiefen von Fluidum spricht als einem Etwas, das uns entgegenschl ä gt, rührt er kurz an einen für mich wichtigen Unter- schied: Mit dem Fluidum erhalte ich Zugang zu etwas Lebendigem, das in den Dingen strömt und das die Dinge nur dann verheimlichen, wenn wir sie aus objektiver Perspektive betrachten. Aus körperlicher Resonanz erlebt, offenbaren sie das substanziell gemeinsame Lebendige, das alle Erscheinungen in der Welt verbindet, indem es das Einzelne auflöst und in einer grossen Lösung zusammenfliessen und -strömen lässt. In diesem Sinne ist resonanzhaftes Spüren für mich mehr als eigenleibliches Sp ü ren. Es ist ein aufgelöstes In-Kontakt-Kommen mit tiefen inneren Verhältnis- sen, mit dem, was in den Dingen gegenwärtig ist, ihr Lebens-Klang, ihre Lebens-Ladung, ihre Wesentlichkeit, Substanz, Essenz, Energie. Ich kenne nichts anderes, was diese Zusammenhänge schöner ausdrückt als die Gedichtzeilen von Joseph von Eichendorff:
Schl ä ft ein Lied in allen Dingen, die da tr ä umen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.
Das Phänomen der k ö rperlichen Resonanz bringt mich zu den Gedanken des österreichischen Musikwissenschaftlers Friedrich von Hausegger (1837-1899), einem Vertreter der Ausdrucks ä sthetik, die als Gegenent- wurf zur Hanslickschen Form ä sthetik angelegt war. Er kommt zu dem Ergebnis, „ dass es die dem menschlichen Organismus eigenen Aus- drucksbewegungen sind, welche den Produkten der Musik, die ja ihren Ursprung dem Gesange, verbunden mit der Tanzbewegung verdanken, ihre Gesetze und ihre Gestaltung nach diesen verleihen... Durch un- bewusste innere Mitbewegung wirken sie in homogener Art auf den H ö - renden und erheben ihn in den Zustand erh ö hten Daseinsgef ü hles, welchem sie auch im K ü nstler entsprungen sind, und in welchem sie denselben zur Bet ä tigung in den seinem K ö rperorganismus eigenen Ausdrucksformen hingerissen hatten “ .22 Für Hausegger geht das, was ich als resonanzhafte Wahrnehmung bezeichne, prinzipiell auf eine Aktivität des Subjekts zurück. Diese Aktivität besteht in Form von k ö rperlicher Mitbewegung, durch welche der Körper zum Medium tieferer Ausdrucks- gehalte wird und auf diese Weise eine objektive musikalische Situation in eine subjektive verwandelt. Dabei kommt das Subjekt zusammen mit der Substanz des in den musikalischen Objekten eingeschlossenen Leben- digen, das natürlich mehr ist als die Summe der es vermittelnden physiologischen Prozesse - Wahrnehmung wird so zur Kommunikation mit den in den Dingen waltenden Substanzen. Für die Musik bedeutet das, dass der Hörer in lebendigen Kontakt mit den Erlebensweisen des Kom- ponisten kommt. Das liest sich zunächst wie reines Focusing, wenn nicht - im Unterschied zu Gendlin - für Hausegger das tiefere Erleben Resultat der „Tätigkeit“ eines unfassbaren Subjekts - man müsste heute sagen: eines abgespaltenen und nicht erspürbaren Persönlichkeits-Teils - wäre, das sich in Erzeugnissen von Wahnsinn, Traum und Kunst auf mysteriöse Weise realisiert. Die Austragungsschicht der auf Mitbewegung beruhen- den Resonanzen, sieht Hausegger weitgehend im Physiologischen: Auch wenn er sich einer Theorie23 anschliesst, die im Satz gipfelt: „ Wir durchdringen mit unserem K ö rpergef ü hl das Objekt “ , meint er auch mit dem Focusing- beziehungsweise Felt sense-verdächtigen Wort „Körper- gefühl“ den physiologischen Körper und nicht den subtilen energetischen Felt-sense-Körper Gendlins - ich vermute, dass Hausegger nicht genau zwischen Gefühl und Empfindung unterscheidet.
[...]
1 Das Wort musikalisch meint eine allgemeine Existenzweise und nicht die spezielle Begabungsform.
2 Siehe dazu: Revers, Wilhelm Josef: Das Musikerlebnis. Düsseldorf und Wien, 1970, S. 51-98.
3 In: Archiv für Musikwissenschaft. 12. Jg. 1955/ H.1, S.97-121.
4 Den Begriff gebrauche ich im Sinne von bedeutungsträchtigen Ausdruckszeichen, wie Gesten, Bilder, Wörter.
5 Mein Beitrag ist veröffentlicht als Teil einer CD, hg. von der HMT Rostock: Zwei Arten den Ton c zu spielen. In: 1. Fachübergreifendes Symposium. "Musik- ästhetische Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in der Veränderung" Vom 02.-04.11.2000 in der HMT Rostock. Rostock 2001. CD 0051.
6 Die durch (...) verbundenen Wörter nehmen auf dieselbe Erlebensqualität Bezug. Sie bilden keine Reihenfolge, sondern eine Umkreisung des Eindrucks.
7 Siehe dazu in diesem Buch, Zweiter Teil: Die Bedeutung des Dirigenten f ü r das Erleben der Orchestermusiker.
1 Eine umfassende theoretische Darstellung seiner Erkenntnisse legte Gendlin 1964 vor: Gendlin, E. T. : A theory of personality change. Fortführung nächste Seite In: P. Worchel & D. Byrne (Eds.), Personality change (102-148). New York 1964 (Wiley). Deutsch: Eine Theorie der Persönlichkeitsveränderung. In: H. Bommert & H.-D. Dahlhoff (Hrsg.): Das Selbsterleben (Experiencing) in der Psychotherapie. München 1978, S. 1-62.
2 Alle Focusing-Termini werden erklärt in Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W.: Grundbegriffe der Personenzentrierten und Focusing-orientierten Beratung und Psychotherapie. Stuttgart 2003.
3 Der Felt sense wird auch als erfahrene Manifestation holographischer Verdich- tung angesehen. Siehe bei Welwood, John: Das holographische Weltbild und die Struktur der Erfahrung. In: Wilber, Ken: Das holographische Weltbild . Bern 1986. Der Felt sense wird auch als situativer Grund aufgefasst; siehe Fn. 2.
4 S. z. Bsp. Gendlin, E./Wiltschko, J.: Focusing in der Praxis. Eine schulenübergreifende Methode für Psychotherapie und Alltag. Stuttgart 1999, S. 13.
5 Gendlin, Eugene T.: Focusing. Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme (amerikanische Originalausgabe 1978); deutsch: Salzburg 1981. Neu bearbeitete Ausgabe: Reinbek bei Hamburg 1998.
6 Das ist eine Art Aha-Erlebnis.
7 Ursprünglicher Terminus bei Gendlin: the order of carrying forward. Deutsche Übersetzung von Johannes Wiltschko. Der Begriff erinnert an den musikalischen Begriff der Fortspinnung=die Art, den urspr ü nglichen musikalischen Bewegungs impuls fortzuf ü hren.
8 Es ist bezeichnend, dass bei improvisierter Musik das Kriterium der Verbindlichkeit massgebend ist - Beliebigkeit ist ein schlimmer Vorwurf. Auch bei explizit „anorganischen“ Tonsystemen wie der Zwölftonmusik, haben Komponisten immer wieder zugunsten der Verbindlichkeit eingegriffen; dass Verbindlichkeit nicht einfach das „Gewohnte“ meint, sehen wir daran, dass auch unerwartete Schritte (etwa bei der Fortführung einer Melodie) nicht a priori den Ganzheit stiftenden Fortschwingungscharakter verletzen.
9 Im Rahmen seiner an der Leiblichkeit der Erfahrung orientierten Neuen Ph ä nomenologie spricht der Philosoph Hermann Schmitz von diesen Phänomenen als Bewegungssuggestionen..
10 Einschwing- beziehungsweise Ausschwingvorg ä nge bezeichnen die von Instrument zu Instrument unterschiedliche charakteristische Art und Weise, wie ein Ton in Erscheinung tritt, beziehungsweise ausklingt.
11 In diesem Zusammenhang weise ich auf die Mind and Life Tagungen hin, bei denen hochrangige Repräsentanten der westlichen Wissenschaft mit dem Dalai Lama als Repräsentant der tibetisch-buddhistischen „Bewusstsseinswissenschaft“, die auf Meditationsmethoden beruht, zusammenkommen. Zu den wichtigsten Erkenntnissen dieser Tagungen gehört, dass ganz offensichtlich nur die gewissenhafte Pr ü fung der eigenen Erfahrung beziehungsweise die unmittelbare Untersuchung des Bewusstseins (Introspektion, Meditation, ich nenne zusätzlich Focusing) Zugang zu Phänomenen verschafft, die der herk ö mmlichen Wissen- schaft verborgen bleiben. Mit anderen Worten: eine moderne Wissenschaft muss empirische Untersuchungen auch auf die Tiefendimensionen des eigenen Bewusstseins ausdehnen. Siehe dazu: Varele, F.: Traum, Schlaf und Tod. Grenzbereiche des Bewusstseins. Der Dalai Lama im Gespräch mit westlichen Wissenschaftlern. Massachusetts 1997. Deutsch: München 1998, S. 190 f.
12 Dazu: Gendlin, Eugene T.: Ein philosophisches Auto f ü r Focusing-Leute (Modell ’99). Focusing Journal Nr. 4 Mai 2000. Würzburg (DAF). (Original in www.focusing.org) sowie: ders.: Ein neues Modell. Weder Atomismus noch Holis- mus, sondern Prozesse. Focusing Journal Nr. 5, November 2000. Würzburg (DAF). (Original in Journal of Consciousness Studies, Vol.6, 1999.)
13 Werner, Heinz: Intermodale Qualit ä ten (Syn ä sthesien), 9. Kap., in: Handbuch der Psychologie, I. Bd., I. Halbband. Göttingen 1966.
14 Syn ä sthesie heisst Mitempfindung und meint die subjektive Wahrnehmung von Phänomenen, die auf die Aktivität verschiedener Sinnesmodalitäten zurückgehen: z. Bsp . farbige Kl ä nge, duftige Farben usw.
15 Werner, Heinz: Einf ü hrung in die Entwicklungspsychologie. München 1959 (4. Aufl.). Nachdruck 1970. (Erstausgabe 1926?).
16 Werner, Heinz.: Intermodale Qualit ä ten, a.a.O.
18 Das heisst aber nicht, dass der Schritt vom Sein zum Haben nicht sinvoll wäre: Im Focusing objektivieren wir das körperliche Sein mittels der Frage: "Wie hat der Körper dieses oder jenes Sein“. Erst aus dieser Spielraum stiftenden Distanzierung können sich Symbolisierungen wie Bedeutungen lösen.
19 Böhme, G .: Atmosph ä ren. Frankfurt am Main 1995, S. 92.
20 Ebd. S. 95.
21 Welwood, John: s. S. 31, Fn 3.
22 Hausegger, Friedrich von: Zum Jenseits des K ü nstlers. In: Gedanken eines Schauenden. Gesammelte Aufsätze, hg. von Siegmund von Hausegger, München 1903, S. 372 f.
23 Hausegger beruft sich hier auf den Philosophen Johannes Volkelt (1848-1930).
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- Mathes Seidl (Author), 2015, Fluidum Musik. Die körperliche Wirklichkeit der Töne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/311079
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