Geistlicher Missbrauch. Ein Beitrag zur Aufklärung


Masterarbeit, 2014

86 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Was ist geistlicher Missbrauch?
1.1 Der Begriff „Missbrauch“
1.2 Formen des Missbrauchs
1.3 Begriffsdefinition „geistlicher Missbrauch“
1.4 Kennzeichen des geistlichen Missbrauchs
1.4.1 Vermittlung falscher Gottesbilder
1.4.2 Gesetzlichkeit
1.4.3 Unangemessene Einflussnahme auf Privatleben
1.4.4 Bevormundung und Beschämung
1.4.5 Macht- und Autoritätsansprüche
1.4.6 Unausgesprochene Regeln
1.4.7 Mangelnde Ausgewogenheit
1.4.8 Missbrauch der Bibel
1.4.9 Missbrauch von Prophetie und Geistesgaben
1.5 Abgrenzung: Was geistlicher Missbrauch nicht ist

2 Geistlicher Missbrauch in der Praxis
2.1 Aus der Sicht des Opfers
2.1.1 Fall „Sarah“
2.1.2 Fall „Alexander“
2.2 Aus der Sicht des Täters

3 Die Verwundungen durch geistlichen Missbrauch
3.1 Auswirkungen von geistlichem Missbrauch
3.1.1 Geistliche Nöte
3.1.2 Psychische Nöte
3.1.3 Soziale Nöte
3.2 Folgeverletzungen

4 Die Dynamiken geistlichen Missbrauchs
4.1 Die Dynamiken in missbräuchlichen Gemeindesystemen
4.1.1 Grenzverletzung
4.1.2 Machtmissbrauch
4.1.3 Manipulation
4.1.4 Weitere Taktiken in missbräuchlichen Gemeindesystemen
4.2 Exkurs: Abgrenzung zur Sekte
4.3 Täter-Opfer-Dynamik
4.3.1 Die Opfer
4.3.2 Die Täter
4.4 Systeme und wie sie funktionieren
4.4.1 Was ist ein System?
4.4.2 Strukturbildung
4.4.3 Gruppendynamische Wirkungen
4.4.4 Herausbildung von Normen
4.4.5 Identitätsverlust
4.4.6 Die Gruppe als „Kraftfeld“

5 Mögliche Hintergründe für geistlichen Missbrauch
5.1 Religiosität
5.2 Die religiöse Entwicklung des Menschen
5.2.1 Instinkttheoretischer Ansatz nach I.P. Pawlow - Ein Suchen nach Schutz
5.2.2 Ansatz nach B. Malinowski - Hoffnung auf Unsterblichkeit
5.2.3 Psychoanalytischer Ansatz nach Freud - Zwang und regressiver Wunsch nach Schutz
5.2.4 Objektbeziehungstheoretischer Ansatz - Eine Frage des Selbstwertgefühls
5.2.5 Der bindungstheoretische Ansatz - Das Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit
5.2.6 Der attributionstheoretische Ansatz - Eine Bereitschaft zu neugier-, kontroll- und selbstwertmotivierten Deutungen
5.2.7 Multimotivationaler Ansatz nach G.W. Allport - Verwurzelt in Wünschen, Werten und der Sinnfrage
5.3 Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsdimensionen und Religiosität
5.3.1 Zum Thema Persönlichkeit
5.3.2 Kontrollüberzeugungen
5.3.3 Extrinsisch und intrinsisch religiöse Orientierung
5.3.4 „Selbstbestimmte Fremdbestimmung“
5.4 Fazit

6 Heilung von geistlichem Missbrauch
6.1 Was können Betroffene tun?
6.1.1 Benennung des Missbrauchs
6.1.2 Traumatherapie
6.1.3 Trauer
6.1.4 Umgang mit Schuld
6.1.5 Bearbeitung von Triggern
6.1.6 Eigenreflektion
6.1.7 Konfrontation
6.1.8 Vergebung
6.1.9 Gemeindewechsel
6.2 Was können Leiter tun?
6.2.1 Persönliche Prädisposition
6.2.2 Allgemeine Vorsichtsmaßnahmen von Seiten der Leiter
6.2.3 Leitung nach biblischem Vorbild
6.2.4 Ausgewogene Verkündigung
6.2.5 Seelsorge- und Beratungssetting
6.3 Was können Angehörige und Freunde tun?

7 Schlussbetrachtung
7.1 Der Mensch - Ein Individuum
7.2 Die Alternative - Ein Leben ohne Gemeinde?
7.3 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Berichte über geistlichen Missbrauch decken ein weites Spektrum ab, vom offensichtlichen, durch Irrglauben geprägten Machtsystem über missbräuchliches Leiterverhalten, bis hin zum zerstörerischen Glauben innerhalb und außerhalb missbräuchlicher Umstände (vgl. Tempelmann, 2009, S. 12). Wo immer in religiösen Gemeinschaften Macht ausgeübt wird, die persönlichen Grenzen des Einzelnen nicht geachtet werden oder ein falsches Gottesbild vermittelt wird, werden Menschen geschwächt und behindert statt ermutigt und gefördert. Die Verletzungen, die daraus resultieren, können zu tiefen Nöten führen (vgl. Leben im Kontext e.V., Seminarbroschüre „Religiöser Missbrauch“, 2012). Die Gemeinde, die Schutzraum sein sollte, hat sich für diese Menschen als das Gegenteil erwiesen. Fakt ist dass Gemeinden, Seelsorgeeinrichtungen und Beratungsstellen, die sich für dieses Thema geöffnet haben und sich ehrlich damit auseinandersetzen, mit großer Not konfrontiert sind - in Deutschland sowie weltweit (vgl. Tempelmann, 2009, S. 9).

Doch was passiert genau, wenn Menschen, deren amtliche Funktion es ist, andere in Momenten der Verletzlichkeit zu schützen und geistlich beizustehen, stattdessen in deren Seelen eindringen? Dies geschieht häufig im Namen Gottes, aber mit eigenen Vorstellungen und Ansprüchen. Da es sich um eine Person handelt, die offiziell als geistliche Autorität fungiert, der also vertraut wird und die im Namen Gottes handelt, werden Übergriffe zugelassen, die sich Betroffene im „normalen Leben“ wahrscheinlich eher nicht bieten lassen würden (vgl. Wilbertz, 2006, S. 136). Sicher hat so gut wie jeder Mensch seine persönlichen Bruchstellen und Nöte, an denen er angreifbar und manipulierbar ist. Es stellt sich jedoch die Frage, ob nicht gerade die Gemeinschaft von Christen ein Ort sein sollte, an dem Menschen mit ihren Schwächen sicher sind und sich öffnen können (vgl. ebd.).

Statistiken besagen, dass viele Menschen, die sich persönlich zum christlichen Glauben bekennen, heute keiner Gemeinde mehr zugehörig sind. Diese Tatsache gilt es ernst zu nehmen und sie kann nicht mit einer Stigmatisierung von „mangelnder Verbindlichkeit“ abgetan werden. Viele dieser Menschen haben Missbrauch in einem „frommen Gewand“ erlebt. Manche von ihnen sind fest entschlossen, ihr Glaubensleben außerhalb von einem „offiziellen“ Gemeindeleben weiterzuführen. Andere sind zu verletzt, um überhaupt weiter als „Gläubige“ leben zu wollen (vgl. Tempelmann, 2009, S. 10-11).

Wie Berichte über geistlichen Missbrauch aufzeigen, können in jedem System missbräuchliche Dynamiken auftreten (vgl. Wilbertz, 2006, S. 13). Die unterschiedlichen christlichen Bewegungen sollen in diesem Buch daher gleichermaßen mit Wertschätzung und ohne Vorurteile betrachtet werden. Das Thema des geistlichen Missbrauchs wird unabhängig von einer bestimmten Glaubensrichtung behandelt. Darüber hinaus soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass Leitern prinzipiell zu misstrauen sei. Dieses Buch soll sensibilisieren, dass auch das beste System kippen kann, wenn die Liebe, Freiheit und Wahrheit Gottes verloren gehen und der Respekt sowie die gegenseitige Wertschätzung untereinander vernachlässigt werden, um vermeintlich hohen Zielen nach zu jagen (vgl. ebd.).

Dieses Buch wurde geschrieben um zu helfen, nicht um zu verurteilen - damit Glaube nicht krank macht und ein Leben in Gemeinde und Kirche gelingt. Es soll herausfordern und ebenso ermutigen genauer hinzusehen, was die Lehre aber auch den Umgang miteinander angeht (vgl. Leben im Kontext e.V., Seminarbroschüre „Religiöser Missbrauch“, 2012). Mit dem Ergebnis, dass Glaube und Gottes Botschaft der Liebe in ein Leben von Freiheit und Eigenverantwortung führen und nicht in Abhängigkeit und Unterdrückung.

1 Was ist geistlicher Missbrauch?

1.1 Der Begriff „Missbrauch“

Statistiken zeigen, dass heutzutage jede 3. bis 4. Frau und jeder 7. bis 8. Mann zwischen dem 1. und 16. Lebensjahr Opfer sexueller Gewalt wird (vgl. www.befreitleben.org, Stand 03.01.2013). Wie viele Menschen durch emotionalen oder verbalen Missbrauch geschädigt wurden, ist statistisch nicht erfasst, jedoch lässt sich vermuten, dass Missbrauch häufiger geschieht als wir annehmen und in Formen existiert, die häufig nicht sofort als Missbrauch erkannt werden (vgl. ebd.).

In seinem Werk „Walking out of Spiritual Abuse” schreibt Marc Dupont über Missbrauch im Allgemeinen: „Missbrauch ist der missbräuchliche Gebrauch von Macht. Ob der Missbrauch emotional, körperlich, sexuell oder geistlich ist, immer geht es um den verkehrten Einsatz von Macht und Autorität: Die Macht, die ein Einzelner gebraucht, um andere zu kontrollieren, zu beherrschen, zu manipulieren oder zu benutzen. Für das Opfer ist das Endergebnis eine Schädigung, sei es ein körperlicher…emotionaler…sexueller…oder Geistlicher Schaden oder eine Kombination davon. Missbrauch handelt immer davon, dass diejenigen mit Macht und Autorität ihre Macht und Autorität verkehrt einsetzen, um ihre eigenen Ängste, Verletzungen oder Unsicherheiten zu kompensieren“ (Dupont, 1997, S. 8-9).

Ausgeübt wird Missbrauch also von einer Person gegenüber einer anderen Person in einer Täter-Opfer-Beziehung, oft unter Ausnutzung eines bestehenden Vertrauens- oder Schutzverhältnisses wie zum Beispiel Ehe, Verwandtschaft, Kind, Schüler oder Klient. Das Opfer erleidet durch die missbräuchlichen Handlungen - oft unter Ausnutzung der Widerstandsunfähigkeit der Betroffenen – meist starken psychischen oder physischen Schaden, oftmals auch beides (vgl. Streich, 2012, S. 2-3).

Nachfolgend werden einige Formen des Missbrauchs näher betrachtet. Der geistliche Missbrauch ist bei dieser Aufzählung ausgenommen, da ihm als zentrales Thema des Buches ein eigenes Kapitel gewidmet wird.

1.2 Formen des Missbrauchs

Sexueller Missbrauch

„Missbraucht ein Erwachsener ein Kind sexuell, so benutzt er die Liebe, die Abhängigkeit oder das Vertrauen für seine sexuellen Bedürfnisse und setzt sein Bedürfnis nach Unterwerfung, Macht oder Nähe mit sexueller Gewalt durch. Er gefährdet dessen Lebens- und Entwicklungsgrundlage und schädigt die Seele des Kindes“ (www.missbrauch-opfer.info, Stand 03.12.2013). Ein Missbrauch durch nahe Verwandte wie Vater, Mutter oder Geschwister weist meist noch schwerwiegendere Folgen für die Opfer auf, als wenn die Täter in großer Distanz zum Missbrauchsopfer stehen. Hier begeht nämlich derjenige, der für Liebe zuständig ist, den Verrat. Die Opfer zeigen oft eine typische Opferidentität mit psychischen Beeinträchtigungen und entwickeln häufig psychosomatische Störungen (vgl. Röhr, 2003, S. 169-170).

Seelischer Missbrauch

Unter seelischem Missbrauch versteht man die Tatsache, dass ein Kind regelmäßig dazu gebraucht wird, die Rolle eines erwachsenen Lebensgefährten, eines Beraters oder eines Vertrauten zu übernehmen (vgl. www.befreitleben.org, Stand 03.01.2013).

Emotionaler Missbrauch

Emotionaler Missbrauch kann verbal oder nonverbal ablaufen. Diese Art des Missbrauchs beinhaltet defensive Wut, die dazu dient, das Gegenüber zu bedrohen, einzuschüchtern oder auf Distanz zu halten. Dies kann durch Beschimpfungen, Kritik, ständige Schuldzuweisungen, Drohungen, Beschämung, Streitsucht, Verweigerung von Unterstützung, Demütigung, dominierendes und kontrollierendes Verhalten geschehen. Nonverbaler Missbrauch geschieht durch ständig ablehnendes und abwertendes Verhalten. Beispiele hierfür sind strafendes Schweigen, Ignorieren des anderen oder Verweigerung von Zuwendung. Diese Art von Missbrauch kann passiv oder aktiv sein, wie beispielsweise immer wiederkehrendes destruktives emotionales Verhalten durch Überforderung oder auch durch unterlassenes emotionales Verhalten wie Liebesentzug, Zurückhalten verdienter Anerkennung, Entzug von Geborgenheit und die Weigerung Gefühle auszudrücken (vgl. ebd.). Auch diese Opfer entwickeln im Laufe der Zeit eine „Opfer- und Helferidentität“ (vgl. Röhr, 2003, S. 167).

Missbrauch durch den Ehepartner

Hier tritt ein Muster von gewalttätigem Verhalten auf, um durch Angst, Einschüchterung, emotionalem Missbrauch oder soziale Isolation Kontrolle über den Partner zu gewinnen. Oft geschieht dies unter Androhung von physischer oder sexueller Gewalt (vgl. www.befreitleben.org, Stand 03.01.2013).

Körperlicher Missbrauch

Jede Art ständiger körperlicher Verletzung wie zum Beispiel Schlagen, Stoßen, Treten bis zum Gebrauch von Waffen, um zu verletzten oder zu töten ist körperlicher Missbrauch. Dieser liegt auch dann vor, wenn körperliche Bedürfnisse bewusst vernachlässigt werden (vgl. ebd.).

Ritueller (satanischer) Missbrauch

Diese Art des Missbrauchs geschieht durch in Okkultismus involvierte Personen oder durch Mitglieder von geheimen Vereinigungen. Sie erlangen Macht, indem sie Satan anrufen und ihn auffordern, sich in ihren Gruppenritualen, Zeremonien und Treffen zu manifestieren. Die Absicht dahinter ist es, Macht durch Verletzung oder Tötung unschuldiger Personen zu gewinnen. Alles was diese Gruppierungen tun ist eine Perversion des Christentums (vgl. ebd.).

1.3 Begriffsdefinition „geistlicher Missbrauch“

Der in deutschen Gemeinden kursierende Begriff des „geistlichen Missbrauchs“ wurde aus dem Englischen „spiritual abuse“ abgeleitet (vgl. Tempelmann, 2009, S. 14-15). Vermutlich wird dieser Ausdruck viele Menschen stören, wenn nicht sogar schockieren. Dies ist nicht Absicht des vorliegenden Buches. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um ein ernstzunehmendes Problem handelt, das im Folgenden näher beleuchtet wird. Hierzu eine Begriffsdefinition von Johnson & VanVonderen aus ihrem Werk „Geistlicher Missbrauch - Die zerstörende Kraft der frommen Gewalt“:

„Geistlicher Missbrauch ist der falsche Umgang mit einem Menschen, der Hilfe, Unterstützung oder geistliche Stärkung braucht, mit dem Ergebnis, dass dieser betreffende Mensch in seinem geistlichen Leben geschwächt und behindert wird“ (Johnson & VanVonderen, 2003, S. 23). „Die weitreichende Folge davon ist eine Störung seiner Beziehung zu Gott - sofern er überhaupt in der Lage ist, eine Beziehung zu Gott aufzubauen“ (ebd. S. 16).

Eine weitere Begriffserklärung findet sich bei Tempelmann: „Es gibt geistliche Systeme, in denen die Meinungen, Gefühle und Bedürfnisse eines Menschen nicht zählen. Sie bleiben unbeachtet. In diesen Systemen sollen die Mitglieder die Bedürfnisse ihrer Leiter befriedigen - das Bedürfnis nach Macht, Ansehen, Nähe, Wert. Diese Leiter versuchen im religiösen Wohlverhalten der Menschen, denen sie eigentlich dienen und weiterhelfen sollten, Erfüllung zu finden. Das stellt die Gemeinde Christi auf den Kopf. Es ist geistlicher Missbrauch“ (Tempelmann, 2009, S. 19).

Ronald M. Enroth drückt das Phänomen des geistlichen Missbrauchs in „Churches that abuse“ wie folgt aus: „Anders als der körperliche Missbrauch, den man meist an den entsprechenden Wunden erkennen kann, hinterlässt der geistliche Missbrauch psychische Wunden tief in der menschlichen Seele. Er wird von denjenigen Menschen zugefügt, denen unsere Gesellschaft normalerweise Respekt und Achtung erweist, weil sie eine Leiterfunktion im geistlichen Amt ausüben und als Vorbilder gelten. Wenn solche Menschen jedoch das ihnen anvertraute Amt missbrauchen und ihre kirchliche Position dazu benutzen, ihre Herde unter Druck zu setzen und zu manipulieren, kann dies zu katastrophalen Folgen führen“ (Enroth, 1992, S. 29).

Bei den Betroffenen führt dies zu Verwundungen in ihrem Glaubensleben, was den emotionalen und körperlichen Bereich in der Regel mit betrifft. Menschen, denen geistliche Autorität übertragen ist, missbrauchen in diesem Fall das Vertrauen der ihnen anbefohlenen Menschen. Sie können so fest entschlossen sein ihre geistliche Autoritätsstellung, eine Doktrin oder eine Handlungsweise zu verteidigen, dass sie jede Person, die sie in Frage stellt, anderer Meinung ist oder sich nicht so verhält, wie sie es für richtig halten, zurechtweisen. Wenn die Worte und Handlungsweisen solcher Autoritäten einen anderen Menschen niederdrücken oder seine Stellung als Christ angreifen und schwächen, um sich selbst, die eigene Stellung und Überzeugungen zufriedenzustellen, dann kann dies als Missbrauch bezeichnet werden (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 27). So angewandt, wird Macht dazu missbraucht, die Stellung einer führenden Persönlichkeit zu bestätigen oder deren Bedürfnisse zu befriedigen.

Geistlicher Missbrauch kann auch geschehen, wenn eine geistliche Stellung benutzt wird, andere dazu zu veranlassen einem bestimmten „geistlichen Standard“ entsprechend zu leben. Dabei wird ein äußeres „geistliches Verhalten“ gefordert. Dies geschieht ebenfalls ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der jeweiligen Betroffenen (vgl. ebd. S. 24).

1.4 Kennzeichen des geistlichen Missbrauchs

Es gibt bestimmte Merkmale, die in allen Systemen in denen geistlicher Missbrauch vorherrscht, zu beobachten sind. Nachfolgend werden einige der häufigsten Kennzeichen dargestellt und kurz beschrieben. Die Kräfte, die dabei in geistlich missbräuchlichen Systemen am Werk sind, gilt es zu verstehen, da Menschen die Opfer geistlichen Missbrauchs geworden sind, häufig leicht von einem missbrauchenden System in ein anderes rutschen. Viele Betroffene bringen zwar den Mut auf eine Gemeinde zu verlassen in der Missbrauch herrscht, doch nicht selten übersehen sie in der nächsten Gemeinde die Signale oder reden sich ein, in dieser Gemeinde seien nicht dieselben Kräfte am Werk wie dort, wo sie gerade herkommen (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 75).

1.4.1 Vermittlung falscher Gottesbilder

Es ist nicht unbedeutend, welches Gottesbild eine Gemeinde verbal oder nonverbal vermittelt. Dabei stellt sich die Frage, ob statt einem Gott der Liebe, wie es die Bibel berichtet, von einem strafenden Gott ausgegangen wird, der pedantisch alle Fehler anrechnet oder ob von einem emotional fernen Gott die Sprache ist, der nur auf Gehorsam aus ist. Ebenso kann das Bild eines perfektionistischen Gottes gepredigt werden, bei dem lediglich Leistung zählt und Annahme verdient werden muss. Wie diese Leistung aussieht, unterscheidet sich von System zu System (vgl. Tempelmann, 2009, S. 45). Natürlich spielt hier auch das Gottesbild aus der eigenen Herkunftsfamilie eine Rolle, das in einem ungesunden Gemeindesystem im schlimmsten Fall noch negativ verstärkt werden kann.

1.4.2 Gesetzlichkeit

Unter Gesetzlichkeit kann der Druck verstanden werden, der oft im Zusammenhang mit dem Thema geistlicher Missbrauch auf Menschen ausgeübt wird, damit sie sich „richtig“ verhalten. Wiederum kann dieses „richtige“ Verhalten je nach System unterschiedlich aussehen. Dies kann eine bestimmte Form der Hingabe oder Verbindlichkeit sein oder es kann bedeuten, bestimmte Dinge auf jeden Fall zu meiden oder auf jeden Fall zu tun, um angenommen zu sein. So werden Menschen oft nach den Maßstäben des Systems bewertet und dann als „geistlich“ oder „ungeistlich“ eingestuft (vgl. Tempelmann, 2009, S. 48-49).

1.4.3 Unangemessene Einflussnahme auf Privatleben

Sobald Meinungen und Ratschläge von Leitern für einzelne Menschen so viel an Bedeutung gewinnen, dass sie zur hauptsächlichen Grundlage persönlicher Lebensentscheidungen werden (z.B. im Hinblick auf Zeit, Geld, Partnerwahl, Familie, Familienplanung, Kindererziehung, Wahl des Wohnortes, Karriere und Gesundheit), kann von einer unangemessenen Bevormundung gesprochen werden. Oftmals geschieht dies unter dem Deckmantel des „sich Unterordnens unter geistliche Autorität“. Anstatt einen Raum zu schaffen, in dem Menschen sich in guter Weise unterstützen und Lebens- und Glaubenserfahrungen austauschen können, wird so ein System von Übergrifflichkeit und Kontrolle erschaffen (vgl. Tempelmann, 2009, S. 64-65).

1.4.4 Bevormundung und Beschämung

Menschen die an körperlichen oder seelischen Krankheiten leiden oder andere Lasten zu tragen haben, befinden sich meist in einer inneren Not. Hilfreiche Begleitung kann demnach nicht beinhalten, diesen Menschen eine unbedachte Einschätzung ihrer Störung mit auf den Weg zu geben. Ratschläge, die besagen dass jemand aufgrund von Sünde oder Unversöhnlichkeit in seinem Leben krank geworden ist oder Aussagen darüber, dass Gott durch einen größeren Glauben und mehr Gebet längst geheilt hätte, beschämen Menschen und verletzen deren geistliche Grenzen (vgl. Tempelmann, 2009, S. 73).

1.4.5 Macht- und Autoritätsansprüche

Ein herausragendes Merkmal eines religiösen Systems, das geistlichen Missbrauch betreibt, ist die Machtstellung einer oder mehrerer Personen. Leiter in solchen Systemen verwenden eine Menge Zeit darauf, die eigene Autorität zu festigen und diese andere spüren zu lassen. Notwendig kann dies für sie sein, weil ihre geistliche Autorität nicht „echt“ ist. Sie basiert nicht auf einer echten, persönlichen Abhängigkeit von Gott, sondern sie wird eingefordert. Leiter die aus eigener Autorität handeln sind oft daran zu erkennen, dass sie viel Kraft darauf verwenden zu zeigen, welche Autorität sie besitzen. Sie bestehen außerdem darauf, dass andere Menschen sich ihnen, ihrem Wort und ihrer Autorität unterordnen (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 77).

1.4.6 Unausgesprochene Regeln

Wo geistlicher Missbrauch stattfindet, wird das Leben der Menschen oft durch unausgesprochene Regeln beherrscht. Bemerkbar werden diese oft erst dann, wenn sie gebrochen wurden. Durch eine Ausformulierung würden diese Regeln oftmals sehr schnell als unlogisch und ungesund entlarvt werden. Als Beispiel für solch eine unausgesprochene Regel kann folgende Aussage aufgeführt werden: „Der Predigt des Pastors ist niemals zu widersprechen, sonst wird einem Gemeindemitglied unmittelbar der Dienst entzogen.“ Nicht selten werden um Aussagen wie diese eine Art „Schutzwall des Schweigens“ errichtet, was einen Pastor vor kritischer Überprüfung somit komplett schützt (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 80). Bei einem öffentlichen Widersprechen und somit einem Brechen des Schweigens wird diese Person sehr wahrscheinlich „bestraft“ werden: entweder sie wird ignoriert oder gemieden oder zur Verantwortung gezogen und in extremen Fällen gebeten zu gehen. Das heißt die Person, die ein solches Problem laut ausspricht, wird nicht selten selbst zum Problem. Damit vermitteln viele Gemeinden eine beschämende Botschaft: „Das Problem besteht nicht darin, dass deine Grenzen überschritten oder verletzt worden sind, sondern darin, dass du geredet hast.“

So herrscht in missbräuchlichen Systemen oft ein vorgetäuschter Friede. Fakt ist jedoch dass Menschen, die Probleme ansprechen, nicht die Ursache dafür sind sondern lediglich auf sie aufmerksam machen. Dass solche unausgesprochenen Regeln sehr viel Macht besitzen versteht sich von selbst (vgl. ebd.).

1.4.7 Mangelnde Ausgewogenheit

Ein weiteres Merkmal eines Systems, in dem geistlicher Missbrauch stattfindet, ist ein unausgewogener Ansatz, christliche Wahrheiten in der Praxis des Alltags umzusetzen. Dies kann zum einen durch eine sehr subjektive Haltung dem christlichen Leben gegenüber zum Tragen kommen oder sich zum anderen in einer sehr objektiven Haltung äußern. Beide Haltungen werden im Nachfolgenden kurz skizziert:

Extremer Objektivismus

Dieses Extrem ist eine wissenschaftliche Haltung dem Leben gegenüber, die besonders die objektive Wahrheit betont und eine gültige subjektive Erfahrung eher ausschließt. In Systemen wo diese Haltung zum Ausdruck kommt, wird das Werk des Heiligen Geistes zwar theologisch anerkannt, praktisch aber angezweifelt oder auch geleugnet. Autorität beruht in einem solchen System allein auf Bildungsgrad und intellektuelle Fähigkeiten der Autoritätspersonen und nicht auf einer persönlichen Beziehung des Einzelnen zu Gott. Ein objektives geistliches System begrenzt Gott auf ein Handeln, das erklärbar, beweisbar oder erfahrbar ist. Es beschränkt sich auf das Auswendiglernen von Bibelworten oder den Gebrauch von Liedern, die davon berichten, wie Gott früher gehandelt hat. Andere oder subjektive Erfahrungen wie Gott auch erlebbar werden kann, werden hier ausgeschlossen (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 83-84).

Extremer Subjektivismus

Diese Haltung beschränkt sich auf eine Definition von Wahrheit aufgrund der ausschließlichen Basis von Gefühlen und Erfahrungen. Diesen wird mehr Bedeutung beigemessen als biblischen Aussagen. In System ist es oftmals wichtiger, dem Wort des Leiters entsprechend zu handeln, als danach, was der Mensch aus der Bibel oder im Lauf seines Lebens erkannt hat. Die Tatsache, dass ein Leiter einem Dritten ein Bibelzitat vorliest, bedeutet nicht unbedingt, dass dieser Leiter ein direktes Wort von Gott für diese Person hat. Ein korrigierendes oder auch richtungsweisendes Wort von Gott, sei es aus der Bibel oder in Form einer geistlichen Gabe, wird vom Heiligen Geist bestätigt werden, der in jedem gläubigen Christen lebt. Wird dieses Wort nicht bestätigt, muss es auch nicht als ein direktes Wort von Gott angesehen werden - auch wenn dies von einem Pastor oder Leiter kommt.

Es kann darüber hinaus auch bedenklich, wenn nicht sogar gefährlich werden, einer geistlichen Anweisung ungeprüft Folge zu leisten, aus dem einzigen Grund der „Unterordnung“ oder weil jemand innerhalb eines Gemeindesystems Autorität innehat (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 84-85). In der Bibel selbst heißt es: „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1. Thess. 5, 21).

Christen mit einer sehr subjektiven Haltung sind häufig der Meinung, Bildung sei unnötig und schlecht. Oft sind diese Personen stolz darauf, nicht gebildet zu sein und verachten nicht selten jene, die das anders sehen. In ihren Augen vermittelt alles notwendige Wissen der Heilige Geist (vgl. ebd. S. 85).

1.4.8 Missbrauch der Bibel

Ein grundlegendes Merkmal von geistlichem Missbrauch ist der Missbrauch der Bibel, beziehungsweise die Verdrehung der ursprünglichen Bedeutung des Textes. Missbräuchliche Handlungsweisen erhalten dann „im Namen der Bibel und im Namen Gottes“ eine fromme und geistliche Fassade. Werden biblische Aussagen verdreht, klingt die Sprache dabei zwar fromm, meist jedoch sind die Inhalte weit entfernt vom ursprünglichen Kontext und der eigentlichen Botschaft Gottes durch sein Wort (vgl. Tempelmann, 2009, S. 84). Dies kann auf zwei verschiedene Weisen geschehen. Biblische Begriffe werden entweder umgedeutet oder Textaussagen werden falsch interpretiert und nicht selten in einem falschen Zusammenhang angewandt:

1) Umdeutung biblischer Begriffe

Biblische Begriffe erhalten in geistlich missbräuchlichen Systemen fast unmerklich neue Bedeutungen. Beispielsweise wird „Unterordnung“ inhaltlich dann zu „Unterwürfigkeit“ gegenüber geistlichen Leitern (vgl. ebd.). Nachstehend einige Beispiele:

„Reich Gottes“

In ungesunden Gemeindesystemen beschränkt sich der Aufbau des „Reich Gottes“ lediglich auf die eigene Gemeindebewegung. Dies geht oft soweit, dass die eigene Gemeinde der einzige Ort sein sollte, an dem ein Gemeindemitglied tätig werden soll. Menschen, die sich zusätzlich anderweitig engagieren, wird nicht selten ein „geistliches Fremdgehen“ vorgeworfen (vgl. ebd.).

Rebellion

In missbräuchlichen Gemeinden beinhaltet der Begriff „Rebellion“ jede Art von anders denken, eigenverantwortliche Entscheidungen treffen oder die eigene Meinung kundtun. Dies steht im Gegensatz zur biblischen Erklärung, wo mit Rebellion das „sich Auflehnen“ gegen Gott und seine Gebote bedeutet (vgl. ebd. S. 85).

Vergebung

Der Appell an jeden gläubigen Christen zu vergeben, kann in missbräuchlichen Kreisen sehr schnell dazu führen, dass Unrecht geduldet wird, Ungerechtigkeiten nicht angesprochen werden und jede Art von Fehlverhalten damit gerechtfertigt wird, dass Christen zu vergeben haben. Es wird ein Friede angestrebt, der jegliche Klärung vermissen lässt (vgl. ebd.).

Dienen

Oft beinhaltet ein Dienst in missbräuchlichen Systemen eine Erwartungshaltung an die Mitglieder von übermäßigem Engagement und Einsatzbereitschaft bis hin zum Ausbrennen oder völliger Überforderung. Dies geschieht in der Überzeugung, damit die von Gott geforderte Demut und Hingabebereitschaft zu leben (vgl. ebd.).

Glaube

Die Aufforderung an Gemeindemitglieder Gott zu glauben und zu vertrauen, kann in Missbrauchssystemen oft soweit gehen, dass persönliche Missstände ausgehalten werden und in einem blinden Vertrauen auf Gottes Wirken in einer bestimmten Situation gewartet wird. Es wird missachtet, dass Betroffene selbst in der Verantwortung stehen und in den meisten Fällen in der Lage wären, ihre aktuelle Situation zu verändern (vgl. ebd.).

Spenden

Die Liste von Bibelversen, mit denen Menschen in missbräuchlichen Gemeinden zum Spenden aufgefordert werden, ist lang. Eine falsche Lehre dieser Botschaft kann dazu führen, dass Gemeindemitglieder durch manipulierende Phrasen und Appelle aufgefordert werden, immer mehr und zum Teil unverantwortliche Beträge zu spenden (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 108).

2) Falsche Interpretation und Anwendung biblischer Aussagen

Oftmals werden Bibelstellen aus dem Zusammenhang gerissen, um die Forderung einer Gemeinde zu belegen und dieser ein Fundament zu geben. Im Folgenden zwei Beispiele für solche Bibelworte:

„Tastet den Gesalbten Gottes nicht an“

Ungeachtet des Textzusammenhangs in der Bibel kann dieses Wort in missbräuchlichen Gemeinden verwendet werden, um kritisches Denken gegenüber geistlichen Leitern zu unterbinden. Da Christen in der Regel Gott gegenüber gehorsam sein möchten, verfehlt diese Warnung ihre Wirkung meist nicht und viele Menschen behalten so ihre eigene Meinung und kritischen Gedanken für sich (vgl. ebd. S. 87-88).

„Gott trennt die Spreu vom Weizen“

Diese Bibelstelle wird zitiert, wenn Gemeinden feststellen, dass Menschen aufgrund des zunehmenden Drucks das System verlassen. In den meisten Fällen sind die Personen die gehen diejenigen, die sich stark engagierten und versuchten, die stattfindende Manipulation und anderes Unrecht anzusprechen. Meist geschieht dies jedoch ohne Wirkung. Entscheidet sich eine solche Person das System zu verlassen, steht sie nicht selten in der Gefahr beschuldigt und angeklagt zu werden. Häufig werden innerhalb des Gemeindesystems Unwahrheiten über diese Person verbreitet und intern der Erklärungsversuch abgegeben, dass „Gott die Spreu vom Weizen trennt“ um die damit entstandenen Turbulenzen zu erklären (vgl. ebd., S. 88).

1.4.9 Missbrauch von Prophetie und Geistesgaben

Hierbei geht es um das Phänomen, dass Christen in missbräuchlichen Systemen Prophetien oder Geistesgaben häufig dazu benutzen, andere in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Diese Personen können versuchen eigene Ansichten durchzusetzen, indem sie geistliche Eindrücke in unangemessener oder bevormundender Weise auf andere anzuwenden versuchen. Diese Art von missbräuchlichem Verhalten ist von Betroffenen sehr schwer zu durchschauen. Häufig sind es Verantwortungsträger, die dieses Verhalten bewusst oder unbewusst ausüben. Bei den Betroffenen appelliert dies an die christliche Überzeugung, dass geistliche Leiter die Unterstützung Gottes erhalten, was biblisch gesehen nicht falsch ist. Wird diese Unterstützung jedoch missbräuchlich angewandt, bekommt dieses Verhalten eine geistliche Fassade und Legitimation (vgl. Tempelmann, 2009, S. 91).

Eine weitere Möglichkeit des Missbrauchs von Geistesgaben kann sich darin zeigen, dass Menschen in Verantwortung Informationen als übernatürliche Offenbarung weitergeben, die aus der Beziehungsdynamik einer Gruppe logisch ableitbar und somit naheliegend sind (vgl. ebd., S. 93).

1.5 Abgrenzung: Was geistlicher Missbrauch nicht ist

Zum Abschluss dieses Kapitels ist es von Bedeutung, eine Abgrenzung zu bestimmten Verhaltensweisen innerhalb des christlichen Umfelds vorzunehmen, die in keinem Fall mit geistlichem Missbrauch zu verwechseln sind.

Steht beispielsweise eine gesunde und starke Kampfnatur im Namen Gottes gegen Verfall und Unmoral auf oder tritt diese Person für das Reich Gottes ein, so kann dieser Mensch leicht als machtbesessen abgestempelt werden (vgl. Lovas, 2010, S. 72). Dies darf jedoch nicht mit einem Missbrauch von Macht im Rahmen des geistlichen Missbrauchs verwechselt werden.

Nachfolgend daher einige Ausführungen zur Verdeutlichung dieser Abgrenzung:

Es ist kein Missbrauch, wenn ein geistlicher Leiter, dem die Verantwortung obliegt Entscheidungen zu treffen, nach bestem Wissen und Gewissen eine andere Entscheidung als die von einigen Gemeindemitgliedern vorgeschlagene trifft. Missbrauch ist es erst dann, wenn die entgegengesetzte Meinung eines Menschen dazu benutzt wird, den geistlichen Stand des Betreffenden in Frage zu stellen.

Es ist darüber hinaus kein Missbrauch, wenn ein Christ, sei dieser in leitender Funktion oder nicht, einen anderen Christen mit einer Sünde, einem Fehlverhalten oder einem Fehler konfrontiert, welcher korrigiert werden muss. Das Ziel sollte dann nicht sein zu beschämen, sondern zu heilen und zu erneuern.

Es ist auch kein Missbrauch, wenn eine Person, die eine Führungsrolle innehat, gebeten wird, wegen emotionaler, körperlicher oder geistlicher Probleme von ihrem Amt zurückzutreten. Das Ziel muss jedoch sein, dieser Person dabei zu helfen, eine angemessene Unterstützung zu finden, damit diese schließlich ihr Amt zu gegebener Zeit wieder übernehmen kann.

Es ist kein geistlicher Missbrauch, wenn bestimmte Personen mit Lehrmeinungen oder anderen Themen nicht einer Meinung sind und diese gegensätzliche Meinung auch öffentlich äußern - solange der Respekt vor dem Gegenüber gewahrt und dieser von niemandem heruntergesetzt oder angegriffen wird.

Es ist kein Missbrauch an bestimmten Maßstäben des Gruppenverhaltens festzuhalten (zum Beispiel beim Thema Kleidung). Zum Missbrauch wird es erst dann, wenn andere Menschen geistlich degradiert oder beschämt werden, wenn sie diese Ansicht nicht teilen (vgl. Johnson & VanVonderen, 2003, S. 28-29).

Darüber hinaus ist zu erwähnen: Ein starker Leiter übt nicht automatisch Missbrauch aus, weil er oder sie stark und entschlossen ist. Eine Person kann gleichzeitig Opfer und Täter sein. Diese kann beispielsweise von einem christlichen Leiter herabgewürdigt oder bedrängt werden, richtig zu „funktionieren“ und gleichzeitig den eigenen Kindern vorwerfen rebellisch zu sein, weil diese das Glaubenssystem, das von klein auf gepredigt wurde, irgendwann in Frage stellen. Oder eine Frau kann sich von ihrem Mann, der seine geistliche Autorität in der Familie ausübt, schikaniert oder vernachlässigt fühlen und gleichzeitig die Bibel dazu benutzen, ihre eignen Kinder zu gehorsamen Verhalten ihr gegenüber zu zwingen (vgl. ebd. S. 29).

Weiterhin ist zum Thema Machtmissbrauch zu sagen, dass viele Menschen irgendwann im Verlauf ihres Lebens gelegentlich „Machtgelüste“ verspüren. Nur wer sich solchen Gedanken und Begierden kontinuierlich hingibt, kann machtsüchtig werden - muss es aber nicht. Es ist ein großer Unterschied, ob jemand ab und an seine Kompetenzen überschreitet, zeitweilig seine Macht missbraucht oder ob er machtsüchtig ist. Genauso wie es ein Unterschied ist, ob jemand hin und wieder Alkohol trinkt, oder ob diese Person alkoholsüchtig ist. Gelegentlicher Machtmissbrauch soll damit keinesfalls beschönigt werden. Es ist jedoch wichtig, hier einen Unterschied zu erkennen (vgl. Kessler, 2001, S. 9).

Manche Leitungsperson, die es mit einer herausfordernden Situation zu tun hat, überschreitet gegebenenfalls ihre Kompetenzen. Es werden Entscheidungen getroffen, die im Nachhinein eventuell bereut werden oder die einer Absprache mit anderen Personen erfordert hätten. Dies gehört zum Reifungs- und Lernprozess eines jeden guten Leiters und zu unserem Menschsein dazu. Eine angemessene Reue und die Entscheidung, es in der nächsten ähnlichen Situation aufgrund der gewonnen Erfahrung anders zu machen, stellt hier den entscheidenden Unterschied dar. Hin und wieder in manipulative Verhaltensweisen zu fallen oder eine Person auf ungute Art zu beeinflussen, macht noch keine manipulierende Persönlichkeit aus. Erst die Kontinuität einer bestimmten Vorgehensweise macht daraus ein missbräuchliches Verhalten (vgl. ebd.).

2 Geistlicher Missbrauch in der Praxis

Ken Blue berichtet in seinem Werk „Heilung erfahren nach geistlichem Missbrauch“ von Menschen, die diese Art von Missbrauch am eigenen Leib erfahren haben. Nachfolgend werden drei dieser Berichte vorgestellt. Hierbei wird der Missbrauch sowohl aus Sicht des Opfers als auch aus Sicht des Täters beleuchtet.

2.1 Aus der Sicht des Opfers

2.1.1 Fall „Sarah“

Sarah ist 36 Jahre alt und seit einigen Jahren als Bürokauffrau bei einer Versicherung angestellt. Sie ist seit vielen Jahren aktives Mitglied einer evangelischen Gemeinde. Ihr Ehemann und ihre Kinder sind ebenfalls regelmäßige Besucher dieser Kirchengemeinde. Als Sarah immer mehr in ein depressives Tief rutscht, vereinbart sie einen Termin bei einer Beratungsstelle außerhalb ihrer Gemeinde und beginnt die Sitzung mit den Worten: „Entweder werde ich verrückt oder ich stehe kurz vor einem großen Durchbruch in meinem geistlichen Wachstum.“ Der Berater bemerkt, dass dies zwei vollkommen entgegengesetzte Dinge seien und fragt Sarah, wie sie darauf käme. Sie berichtet, dass sie vor einigen Monaten verzweifelt ihren Pastor aufgesucht habe, da ein Gefühl von Traurigkeit sie nicht mehr losließ. Sie erzählt, wie der Pastor angeblich ohne Umschweife auf ihr „Grundproblem“ zu sprechen kam. Als der Berater nachfrägt, was dies genau sei, senkt Sarah den Blick und beteuert: „Ich bin selbst an allem schuld. Mein Pastor sagt, ich würde mich gegen Gott auflehnen.“

Was folgt, ist eine unglückliche und nur zu häufig vorkommende Geschichte innerhalb christlicher Gemeinden. Als Sarah ihren Pastor um Hilfe bittet, nennt dieser ihr als „Rezept“ einige Bibelstellen. Diese sollte sie auswendig lernen und immer wieder aufsagen. Auf diese Weise würden ihre Gedanken von sich selbst abgelenkt und auf Gott gerichtet. Die Depression würde laut Aussage des Pastors verschwinden, sobald Sarah ihre sündige Ich-Bezogenheit überwunden hätte.

Sarah hat den Vorschlag ihres Pastors ausprobiert, ihre Depression ist davon jedoch nicht verschwunden. Das Gegenteil ist der Fall - es kommen massive körperliche Beschwerden hinzu. Sarah fühlt sich von ihrem Pastor verurteilt und beteuert dem Berater, dass sie dessen Ratschläge alle treu umgesetzt hatte. Sie berichtet von plötzlich auftretenden Albträumen und zunehmender Schlaflosigkeit. In solchen Augenblicken sei sie überzeugt davon, ein schlechter Mensch zu sein, da ihr Leben sonst sicher nicht solch ein Chaos wäre.

Insgesamt kämpft Sarah sechs Monate auf diese Weise mit sich und ertappt sich immer wieder bei dem Gedanken, all dem bald ein Ende setzen zu wollen. Dann wiederum beschäftigen sie die Gedanken, dass sie eventuell doch kurz vor einem Durchbruch vor einer größeren „Heiligkeit“ stünde, wie viele Gemeindemitglieder ihr das prophezeiten. Immer wieder überkommt Sarah jedoch das Gefühl, dass sie ihre aktuelle Lage und akute Last nicht mehr lange aushalten und ertragen könne (vgl. Blue, 1993, S. 116-117).

Kurzbetrachtung: Fall „Sarah“

Bei der Betrachtung von Sarahs Geschichte fallen einige Faktoren ins Auge: Sarahs Pastor ignoriert die körperlichen und emotionalen Dimensionen ihres Problems und vollzieht eine Problemlösung mit einem engen, stark „vergeistlichten“ Ansatz. Er glaubt ohne viel nachzufragen Sarahs Grundproblem zu kennen. Allerdings sind hier wenig greifbare Faktoren am Werk und dieses kaum Fassbare ist es, was den Tätern von geistlichem Missbrauch die Macht gibt, großen Schaden anzurichten, bewusst oder unbewusst (vgl. Blue, 1993, S. 22).

Sarah hatte sich ihrem Pastor gegenüber verletzlich gezeigt, indem sie über ihre persönlichen Probleme sprach. Sie ging von der Annahme aus, dass der Pastor in diesem Problembereich „gesünder“ war als sie bzw. dass dieser zumindest besser darüber Bescheid wusste und ihr somit helfen konnte. Wird zusätzlich die Position des Pastors als geistliche Autorität hinzugenommen, so wird leicht verständlich warum dessen Worte so viel Gewicht in Sarahs Denken hatten. Als sie mit ihm über ihre Depression sprechen wollte, unterstellt der Pastor ihr, selbst die Ursache für ihr Problem zu sein. Seiner Meinung nach lehnt Sarah sich gegen Gott auf und ist in seinen Augen somit auch das Problem. Er lenkt die Aufmerksamkeit von einer Emotion auf einen Menschen, von Sarahs Gefühlswelt auf ihr Wesen. Nun ist nicht mehr die Depression das Problem, sondern der Mensch selbst. Der Pastor hält Sarah für jemanden, der sich auflehnt und sich bemühen sollte, mehr nach biblischen Maßstäben zu leben. Die Ratsuchende bemerkt in ihrem Fall nicht, dass sie nicht die Hilfe bekommt, die sie sie sucht und braucht. Anstelle der notwendigen Hilfeleistung wird ihre geistliche Stellung vor Gott in Frage gestellt und im Ansatz verurteilt (vgl. ebd.).

Die Dynamik, die dieser Begegnung zugrunde liegt, ist subtil. Ein nach Hilfe Ausschau haltender Mensch wendet sich mit seiner Frage an eine Autorität, die sich offensichtlich selbst über jeden Zweifel erhaben fühlt. Der Pastor ist der Meinung, aufgrund seiner Autoritätsstellung müssten seine Gedanken und Überzeugungen richtig sein. Darüber hinaus geht er davon aus, dass die Fragen seiner Ratsuchenden aus einer falschen Geisteshaltung heraus gestellt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass er das Schlimmste und nicht das Beste von der Ratsuchenden annahm. Daraufhin entsteht ein Machtkampf.

Zweifellos ist der Pastor Sarah gegenüber offen und ehrlich und sicher war es seine Absicht zu helfen. Die Manipulation setzt erst dann ein, als Sarah eine Frage stellt und er sich auf seine Position als Autoritätsperson zurückzieht (vgl. ebd.).

2.1.2 Fall „Alexander“

Alexander ist 49 Jahre alt, verheiratet und hat mit seiner Ehefrau einen gemeinsamen fünfjährigen Sohn. Er ist als kaufmännischer Leiter in einem mittelständigen Unternehmen tätig. Seit einigen Jahren ist er Teil der Gemeindeleitung und Fürsprecher einer Gruppe, die sich innerhalb der Gemeinde eine größere Öffnung für den Heiligen Geist wünscht. Dieser Wunsch wird in der Gemeinde allerdings nicht als Chance, sondern als Gefahr gesehen. Während verschiedener Treffen einer übergemeindlichen Gruppe, in der Raum für Anbetung und Ausüben von Geistesgaben gegeben wird, suggeriert der Leiter von Alexanders Gemeinde, dass auch bei ihnen dieser Raum für Anbetung zukünftig angeboten werden sollte. Kaum sind sie jedoch wieder im normalen Gemeindealltag eingetroffen, wird vor diesen „seelischen Dingen“ strikt gewarnt und Alexander wird von einigen Mitgliedern der Gemeindeleitung immer mehr in Rechtfertigungsdruck gebracht. Schließlich wird ein klärendes Gespräch mit den Ältesten der Gemeinde, einem Mediator und ihm einberufen. Einer der Ältesten schließt die Tür des Besprechungsraums ab, steckt den Schlüssel in die Hosentasche und sagt: „Wir verlassen diesen Raum nicht eher, bis wir wieder eines Sinnes sind1 “. Das „eines Sinnes sein“ schien Alexanders Verzicht auf die Erfahrungen mit dem Heiligen Geist zu beinhalten. Während diesem Treffen wird über Stunden seelischer Druck auf ihn ausgeübt und Alexander bekommt einige aus dem Kontext gerissene Bibelzitate sowie stimulierende Gebete zu hören. Alexander kann und will jedoch nicht hinter das zurück, was ihm wichtig und wertvoll geworden ist. Er sehnt sich nach einer Gottesbeziehung, die von Anbetung und Freiheit geprägt ist. Er wechselte daraufhin kurzentschlossen mit seiner Familie die Gemeinde.

In der neuen lebendigen Gemeinde fühlen Alexander und seine Familie sich zu Beginn rundum wohl und am richtigen Ort. Er übernimmt nach kurzer Zeit die Leitung des Seelsorgedienstes und erlebt, wie Menschen innerlich und äußerlich heil werden. Die Gemeinde erfährt großen Zuspruch und schließlich wird das Gemeindehaus mit seinen mitreißenden Gottesdiensten zu klein. Ein renovierungsbedürftiges Gebäude wird erworben und bald beginnen in Alexanders Augen damit die ersten Schwierigkeiten: Die mit großem Eifer begonnenen baulichen Arbeiten führen die Gemeinde sehr bald an die Grenzen des kräftemäßig und finanziell Machbaren. Das Gebäude wird dennoch fertiggestellt und die Gemeindemitglieder und die Leitung sind stolz darauf, endlich eine „große Gemeinde“ zu sein. Es hatte bereits vor dem Gebäudeerwerb Wachstums-Prophetien gegeben, die nun nach Fertigstellung des Gebäudes in Zahlen konkretisiert wurden. Der Wunsch nach Größe wirkt sich auf verschiedenste Art und Weise aus. Die Technik muss vom Besten sein, bekannte Gastredner werden engagiert, die Beleuchtung muss so gestaltet werden, dass alle Aktivitäten „auf der Bühne“ optimal zur Geltung kommen und der Chor soll einheitliche Kleidung tragen. Was für Alexander noch von viel entscheidenderer Auswirkung ist, betrifft die Tatsache, dass er beobachtet, wie die Gemeinde immer mehr vom Pastor alleine gesteuert wird. Seine Vorstellungen und Wünsche bezüglich der Gemeindeangelegenheiten werden auf einmal in einer Art und Weise vorgetragen und durchgesetzt, die fast einer Gleichschaltung gleichkommt. Alexander scheint es, als würde der erzielte Erfolg nach und nach allen Verantwortlichen zu Kopf steigen. Er war inzwischen Verantwortlicher für die Finanzen innerhalb der Gemeinde geworden, da er als kaufmännischer Leiter eines mittelständischen Unternehmens hier eine kompetente Rolle einnehmen konnte. Seine Nüchternheit in finanziellen Dingen erregt allerdings immer mehr Skepsis bei der übrigen Leiterschaft. Seine Fachkompetenz wird als mangelndes Vertrauen in die Wege Gottes, als Ungehorsam, fehlende Unterordnung und auch als Rebellion gedeutet. Er selbst weigert sich jedoch, seinen von Gott gegebenen Verstand und seine jahrelange berufliche Erfahrung in finanziellen Dingen zu ignorieren. Parallel dazu entwickelt sich verstärkt eine Art Unfehlbarkeitsdogma für den Pastor. Nichts darf in irgendeiner Form hinterfragt oder kritisiert werden. Dass auch Leiterschaft Rechenschaft abliefern muss wurde weder gepredigt noch gelebt2. Eine offene Konfrontation diesbezüglich durch Alexander wird von den übrigen Ältesten abgetan und es wird ihm vorgeworfen, er würde sich nicht so verhalten wie dies von einem Leiter zu erwarten wäre. Seine Fragen und Nöte bleiben unbeantwortet. Er ist in die Rolle des „Bösewichts“ geraten. Verdächtigungen zu verschiedenen Themen und üble Nachrede nehmen ihren Lauf. Nach vielen weiteren Vorkommnissen, die bei Alexander irgendwann Herzrhythmusstörungen und psychosomatische Folgen hervorrufen, sehen er und seine Familie keinen anderen Ausweg, als dem mittlerweile vertrauten geistlichen Umfeld erneut den Rücken zu kehren (vgl. Wilbertz, 2006, S. 33-44).

[...]


1 „Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig! Haltet euch nicht selbst für weise.“ (Römer 12.6)

2 „Gehorcht euren Vorstehern und ordnet euch ihnen unter, denn sie wachen über euch und müssen Rechenschaft darüber ablegen; sie sollen das mit Freude tun können, nicht mir Seufzen, denn das wäre zu eurem Schaden.“ (Hebräer 13, 17)

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Geistlicher Missbrauch. Ein Beitrag zur Aufklärung
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
86
Katalognummer
V310201
ISBN (eBook)
9783668084667
ISBN (Buch)
9783668084674
Dateigröße
799 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Es gibt sehr wenig Literatur zu diesem Thema. Diese Arbeit gibt daher einen sehr guten Überblick über das Thema "Geistlicher / Religiöser Missbrauch" und enthält ein detailliertes Literaturverzeichnis sowie Quellenangaben.
Schlagworte
Religion, Kirche, Missbrauch, Macht, Geistlich, Abhängigkeit, Leiterschaft, Psychologie, Persönlichkeit
Arbeit zitieren
Diana Schultz (Autor:in), 2014, Geistlicher Missbrauch. Ein Beitrag zur Aufklärung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310201

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