Ziel dieser Arbeit ist es, die Aneignungs- bzw. Modifikationsprozesse des im amerikanischen Kontext entstandenen HipHop-Wertesystems im deutschsprachigen Raum nachzuvollziehen und im Hinblick auf Beobachtungen, die Bourdieu in seiner Monographie „Die Regeln der Kunst“ präsentiert, zu problematisieren bzw. zu plausibilisieren.
Hierzu werden in einem ersten Schritt die Entstehungsprozesse der vier Elemente der HipHop-Kultur nachgezeichnet sowie die historische Entwicklung der amerikanischen als auch der deutschen HipHop-Szene in ihren jeweiligen Grundzügen dargestellt.
Der Ursprung der HipHop Kultur lässt sich in der South Bronx von New York City gegen Mitte der 1970er Jahre verorten. Zur damaligen Zeit gehörte die South Bronx zu den ärmsten und heruntergekommensten Ghettos der USA und war durch soziale Probleme wie Rassismus, Gewalt, Drogenkriminalität und Armut geprägt. Entsprungen aus diesem sozialen Kontext lässt sich HipHop als „Straßenkultur“ bezeichnen, deren erste Aktivisten sich größtenteils aus afro- und lateinamerikanischen Jugendlichen zusammensetzten, die kaum Kapitalien zur Verfügung hatten, um am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Interessanterweise hat sich bis heute gerade diese unter gesellschaftlich widrigen Bedingungen entstandene Jugend- bzw. Subkultur in einem Maße global ausgebreitet und dabei eine besondere Langlebigkeit an den Tag gelegt, wie es bei anderen Jugendkulturen kaum zu beobachten ist.
Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass HipHop sich als besonders „traditionsbewusst und wertorientiert“ charakterisieren lässt, womit auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen popkulturellen Bewegungen genannt ist. Zurückzuführen auf das ausgeprägte Traditionsbewusstsein innerhalb der Szene haben sich „Prinzipien, Regeln, Organisationsformen und Wertesysteme“ herausgebildet, die dauerhaft Bestand haben und bestimmen, wann eine HipHop-Praktik als gelungen angesehen werden kann. Ziel eines jeden HipHop-Aktivisten ist die Akkumulation von Anerkennung in Form von Respekt, die nur über die Einhaltung der spezifischen internen HipHop-Regeln und Normen generiert werden kann. Die HipHop-Kultur umfasst die vier gleichwertigen Grundelemente bzw. Praktiken des Rap, Djing, Graffiti und Breakdance, wobei im Kontext dieser Arbeit das Element des Rap im Vordergrund stehen wird.
1 Einleitung
2 Die Entwicklung der vier Elemente des HipHop
2.1 Djing
2.2 B-Boying
2.3 Rap
2.4 Graffiti
2.5 Geschichtliche Entwicklung nach Phasen
2.5.1 Die Phase der Oldschool
2.5.2 Entstehungsbedingungen der HipHop-Kultur
2.5.3 Die Phase der Newschool
2.6. Die Entwicklung der deutschen HipHop-Szene
2.6.1 Oldschool
2.6.2 Newschool
3 Momente der Vernetzung und Beobachtung
3.1 Wild Style
3.2 Yo! MTV Raps!
3.3 KRS-One : „ 9 elements “
4 Das klassische HipHop-Selbstbild und das feste Wertesystem
4.1 Die Bedeutung der Authentiziät im HipHop
4.2 Bedeutungsdimensionen Authentizität
4.2.1 Sozialpsychologische Dimension
4.2.2 Ethnische Dimension
4.2.3 Politisch-ökonomische Dimension
4.2.4 Geschlechts-sexuelle Dimension
4.2.5 Sozial-lokale Dimension
4.2.6 Kulturelle Dimension
4.3 Kultur der Macher- „boasting“
4.4 HipHop ist Straßenkultur: street-credibility
4.5 Die Hauptsemantik: Das Ghetto
4.6 Kein Kommerz auf Kosten der Kredibilität
4.7 HipHop als Battle-Kultur
5 Robertsons Theorie der Glokalisierung
5.1 HipHop als glokale Kultur
6 Bourdieus Feldtheorie
6.1 Feldbegriff
6.2 Die innere Struktur des künstlerischen Feldes
6.3 Das künstlerische Feld und der soziale Raum
6.4 Genese und Entwicklung des künstlerischen Feldes
6.4.1 Logik des Autonomisierungsprozesses
6.5 HipHop feldtheoretisch betrachtet
6.6 Unterschiede zwischen dem Feld des HipHop und dem Feld der Kunst
6.7 HipHop im Spannungsfeld zwischen Kommerz und Autonomie
6.7.1 Autonomisierungsprozesse in den USA
6.7.2 Autonomisierungsprozesse in Deutschland - Hauptthese
6.7.3 Entwicklungen in Deutschland ab
7 Exemplarische Analyse der internen Bewertungskriterien
7.2 Feldzugang
7.3 Bewertungskriterien der HipHop-Veröffentlichungen von 1998 bis
7.3.1 Abwertung kommerzieller Orientierung
7.3.2 Fokus auf sprachliche und technische Fähigkeiten
7.3.3 Bezugnahme auf anspruchsvolle Themen
7.3.4 Betonung der Verbundenheit mit der HipHop-Kultur
7.4 Bewertungskriterien der HipHop-Veröffentlichungen ab 2003/
7.4.1 Verweise auf die soziale Herkunft (Inszenierung von street-credibility )
7.4.2 Bedeutungsverlust sprachlicher und inhaltlicher Fähigkeiten
7.4.3 Positive Konnotation kommerziellen Erfolges
7.5 Zusammenfassung der Ergebnisse mit Bezug auf die Dimensionen der Authentizität von McLeod
8 Fazit
9 Literatur
10 Internetquellen
11 Endnoten zu den Quellen der Plattenrezensionen
1 Einleitung
Der Ursprung der HipHop Kultur lässt sich in der South Bronx von New York City gegen Mitte der 1970er Jahre verorten. Zur damaligen Zeit gehörte die South Bronx zu den ärmsten und heruntergekommensten Ghettos der USA und war durch soziale Probleme wie Rassismus, Gewalt, Drogenkriminalität und Armut geprägt. Entsprungen aus diesem sozialen Kontext lässt sich HipHop als „Straßenkultur“ (Klein/Friedrich 2003: 22) bezeichnen, deren erste Aktivisten sich größtenteils aus afro- und lateinamerikanischen Jugendlichen zusammensetzten, die kaum Kapitalien (vgl. Bourdieu 1992: 53ff) zur Verfügung hatten, um am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (vgl. Dufresne 1991: 17f).
Interessanterweise hat sich bis heute gerade diese unter gesellschaftlich widrigen Bedingungen entstandene Jugend- bzw. Subkultur in einem Maße global ausgebreitet und dabei eine besondere Langlebigkeit an den Tag gelegt, wie es bei anderen Jugendkulturen kaum zu beobachten ist.
Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass HipHop sich als besonders „traditionsbewusst und wertorientiert“ (Klein/Friedrich 2003: 14) charakterisieren lässt, womit auch ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen popkulturellen Bewegungen genannt ist. Zurückzuführen auf das ausgeprägte Traditionsbewusstsein innerhalb der Szene haben sich „Prinzipien, Regeln, Organisationsformen und Wertesysteme“ (ebd.: 14) herausgebildet, die dauerhaft Bestand haben und bestimmen, wann eine HipHop-Praktik als gelungen angesehen werden kann. Ziel eines jeden HipHop- Aktivisten ist die Akkumulation von Anerkennung in Form von Respekt (vgl. ebd.: 41), die nur über die Einhaltung der spezifischen internen HipHop-Regeln und Normen generiert werden kann. Die HipHop-Kultur umfasst die vier gleichwertigen Grundelemente bzw. Praktiken des Rap, Djing, Graffiti und Breakdance, wobei im Kontext dieser Arbeit das Element des Rap im Vordergrund stehen wird.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Aneignungs- bzw. Modifikationsprozesse des im amerikanischen Kontext entstandenen HipHop-Wertesystems im deutschsprachigen Raum nachzuvollziehen und im Hinblick auf Beobachtungen, die Bourdieu in seiner Monographie „Die Regeln der Kunst“ präsentiert, zu problematisieren bzw. zu plausibilisieren.
Hierzu werden in einem ersten Schritt die Entstehungsprozesse der vier Elemente der HipHop-Kultur nachgezeichnet sowie die historische Entwicklung der amerikanischen als auch der deutschen HipHop-Szene in ihren jeweiligen Grundzügen dargestellt. Bezüglich der amerikanischen Szene wird hier insbesondere auf dessen soziale Entstehungsbedingungen eingegangen, während hinsichtlich der deutschen Szene vor allem die Aneignungsprozesse bzw. -bedingungen in den 90er Jahren und die weitere Entwicklung bis ca. 2009 in den Blick genommen werden. In einem zweiten Schritt werden die Momente der globalen Vernetzung und Beobachtung der HipHop Kultur aufgezeigt und an relevanten Beispielen nachvollzogen, wie und wann HipHop sich weltweit verbreiten konnte.
Der dritte Teil widmet sich mit Bezug auf die von McLeod formulierten Dimensionen von Authentizität dem klassischen amerikanischen Wertesystem des HipHop, um an späterer Stelle Unterschiede zur modifizierten deutschen Variante herauszustellen. In einem vierten Schritt wird - mit Bezug auf die Glokalisierungsthese von Roland Robertson - HipHop als eine glokale Kultur beschrieben.
Im fünften Teil dieser Arbeit werden zunächst die grundlegenden feldtheoretischen Annahmen von Bourdieu sowie seine Erkenntnisse über das Feld der Kunst zusammengefasst, um daraufhin HipHop aus feldtheoretischer Perspektive zu betrachten. Da im Folgenden Bourdieus Beobachtungen auf dem Feld der Kunst als heuristische Hintergrundfolie dienen sollen, werden in einem nächsten Schritt die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Feld des HipHop und dem Feld der Kunst hervorgehoben. Geleitet von Bourdieus Thesen über die Entwicklungsprozesse von sozialen Feldern werden daraufhin sowohl die Prozesse des amerikanischen HipHop-Feldes als auch die des deutschen Feldes unter dem Gesichtspunkt der Autonomisierung in den Blick genommen. In dieser Stelle der Arbeit wird die These formuliert, dass sich im deutschen HipHop ein glokales HipHop-Wertesystem mit abgewandelten Bewertungskriterien bzw. Begriffen von „ credibility “ entwickelte. Im sechsten Teil der Arbeit, werde ich die aufgestellte These anhand der exemplarischen Analyse von deutschen Plattenrezensionen überprüfen und schließlich mit Bezug auf die Dimensionen der Authentizität von McLeod weiter spezifizieren. Abschließend werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und hinsichtlich der Glokalisierungsthese von Robertson und der Theorie von Bourdieu diskutiert.
2 Die Entwicklung der vier Elemente des HipHop
Im öffentlichen und medialen Diskurs wird HipHop meist nur auf das Element des Rap reduziert. HipHop ist jedoch nicht nur Rapmusik, sondern eine Kultur mit mehreren Elementen, die nicht nur Bereiche der Musik umfassen. In dem Dokumentarfilm „ Scratch “ (2003) weist einer der Pioniere der Kultur G randwizard Theodore auf diese fehlerhafte Wahrnehmung der Öffentlichkeit hin und betont, dass wenn über HipHop gesprochen wird: „ you say graffiti, you say breakdancing, you say Djs, you say Mcs, the way you dress, the way you talk.. all the elements into one, that's hiphop “ (TC 00:03:29- 00:03.43). Deswegen werden im Folgenden die vier zentralen Elemente und deren historische Genese im Wesentlichen vorgestellt.
2.1 DJing
Begonnen hat alles auf den „urban dance parties" (Klein/Friedrich 2003: 14) der 70er Jahre, die sich im späteren Verlauf zu den bekannten Blockparties entwickelten. Heute gilt Kool DJ Herc, einer der ersten Initiatoren der Block Parties in der Bronx, als der „Erfinder des Rap" (Dufresne 1991:39f).
Damals wurde die klassische Rolle des DJs als reinem Musikabspieler durch neue, manuelle Techniken des Mixens und des Scratchens erweitert und ermöglichte den DJs mit Hilfe von zwei Plattenspielern aktiv in die verschiedenen Musikstücke einzugreifen und diese nach ihren Wünschen zu manipulieren. Beispielsweise wurden mit Hilfe von zwei Plattenspielern die kurzen, rein instrumentellen Phasen eines Musikstückes (die sogenannten Breakbeats) durch bestimmte DJ-Techniken verlängert oder auch neu arrangiert, sodass die Partygäste länger und besser dazu tanzen konnten (vgl. Niemczyk 2000: 223ff).
Kombiniert mit den von DJ Grandmaster Flash erfundenen Techniken des Scratchens erlangte der DJ hierdurch den Status eines eigenständigen Künstlers, der Musik produziert, anstatt sie lediglich abzuspielen (vgl. Klein/Friedrich 2003: 30f).
Später legten diese neuen Herangehensweisen an Musik den Grundstein für neue technische Entwicklungen im Bereich der elektronischen Musikproduktion, die weit über den Kontext von HipHop hinausgingen.
Mit der Erfindung des Samplers hatten die HipHop Produzenten und DJs, die „ability to store, manipulate, and play back any sound that had been stored in it" (George 1999: 92). Da für die Bedienung dieser Geräte kaum musikalische Expertise notwendig war, hatte fast jeder die Möglichkeit seine eigene Musik zu produzieren, was dazu führte, dass die Musik nicht mehr aus Aufnahmen von gespielten Instrumenten bestand, sondern eher zu einer Collage von zuvor gespielten und gefundenen Sounds wurde (vgl. ebd.: 93).
2.2 B-Boying
Ebenfalls in der Bronx entstand, basierend auf den von den DJs ermöglichten Breakbeats, ein spezifischer Tanzstil, der unter dem Namen Breakdance schnell an Popularität gewann und ähnlich dem DJing eigene Techniken und Stile, wie z.B. das „Locking und Popping" oder die fast schon akrobatischen „powermoves" entwickelte (Klein/Friedrich 2003: 33). Im Breakdance werden Elemente des afroamerikanischen Tanzes durch „Elemente der Polyrhythmik und Polyzentrik" (ebd.: 31) erweitert, sodass sich die Tänzer in alle möglichen Richtungen und Achsen frei bewegen. Diese neu gewonnene Freiheit hat bis heute einen großen Einfluss auf viele popkulturelle Tanzstile und bescherte der Tanzwelt einige völlig neue „Körperfiguren" (ebd.: 32).
2.3 Rap
Zurückgehend auf die jamaikanischen Praktiken des „Toasting" (Dufresne 1991: 19), umfasste der Aufgabenbereich der DJs anfänglich auch das Animieren und Kommentieren des Partygeschehens. Mit der Zeit wurden die neu erfundenen DJ-Techniken jedoch so komplex, dass die Aufgabe der sprachlichen Partyanimation von einer weiteren Person übernommen wurde, die als „MC (Master of Ceremony)" bezeichnet wurde (vgl. Verlan/Loh 2006:130).
Später entwickelte sich aus diesen anfänglichen moderationsartigen Animationseinlagen die eigenständige kulturelle Praxis des Rappens. Die traditionellen Wurzeln des Rap und der damit verbundene Umgang mit „Rythmen und Tonsprache" (Klein/Friedrich 2003:15) sind in den westafrikanischen Kulturen, insbesondere im „Voodoo-Kult" (Dufresene 1991:18) zu finden. Diese kulturelle Praxis wurde von den schwarzen Communities der USA und der „performance orientierten Poesie des black arts movement in den 60er und 70ern" (Klein/ Friedrich 2003:15) aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. dazu Toop 1992:43 ff).
Aber nicht nur auf politischer Seite, sondern auch auf kirchlicher und religiöser Seite wurden diese Praxen übernommen und spiegeln sich in den „Gospels (...) oder den Sermons mancher schwarzer Priester zu Beginn des 20. Jahrhunderts" (Dufresne 1991: 18) wider. Diese hatten wiederum großen Einfluss auf afroamerikanische Musikrichtungen wie „Soul, Rythm & Blues und den Funk" (ebd.: 20). Besonders Soul ist größtenteils „aus dem Kampf um Gleichberechtigung entstanden" (ebd.: 20) und präsentiert eine tänzerische Kraft, einen bestimmten Humor sowie den Stolz auf die Zugehörigkeit zur afroamerikanischen Community. Diese Eigenschaften wurden später allesamt von Rap übernommen und prägen dessen Praxis bis heute.
Einer der Gründe, warum die kulturellen Praktiken des Gesanges und des Sprechens in der Community der Afroamerikaner so hohe Relevanz und Wichtigkeit aufweisen, lag in dem Verbot „ihre Trommeln zu spielen" (ebd.: 18), was bereits kurz nach der Ankunft der ersten Afrikaner in Amerika eingeführt wurde.
Da die ersten MCs ihr Können zunächst nur auf Parties entwickelten, ist es verständlich, dass die ersten Rap-Texte sich noch nicht mit politischen oder gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzten, sondern in erster Linie die Party selbst zum Thema hatten. Schnell wanderte der Fokus des Publikums, der zu Beginn noch auf dem DJ lag, auf den Rapper, der damit zur „Hauptattraktion" (Klein/Friedrich 2003: 26) des jeweiligen Events wurde und von der medialen Öffentlichkeit bis heute am meisten Aufmerksamkeit erfährt. Friedrich und Klein beschreiben Rap als „ein Sprachspiel voller ironischer Übertreibungen, Wortspiele und Slang-Fragmente, bei dem nicht nur rhythmisch gesprochen, sondern auch mit Tempo, Tonhöhe und Klangfarbe gespielt wird" (ebd.: 15). Die Praxis des Rappens fand in erster Linie in spontanen und informellen Performances auf der Straße statt. Hierbei wurden die sprachlichen Präsentationen der MCs von den B-Boys (Breakdancern) körperlich unterstützt. Die bekanntesten Formen dieser Performances stellen die Block Partys oder auch die meist spontan entstandenen Freestyle-Battles an den Straßenecken der Ghettos dar.
2.4 Graffiti
Parallel zu diesen Entwicklungen entstand in New York mit der „Bildtechnik des Graffiti" (ebd.: 16) ein weiteres Element der HipHop-Kultur. Die ersten jugendlichen Sprayer, bei denen nicht die Afroamerikaner sondern „Weiße und Puertoricaner" (George 2006: 29) die dominanten Ethnien darstellten, begannen, sich durch meist illegales Besprühen von Wänden und Zügen den „öffentlichen Raum symbolisch anzueignen" (Klein/ Friedrich 2003:16). Auch diese Praxis wurde schnell komplexer und entwickelte mit der Zeit bestimmte Stile und Techniken. Zunächst ging es lediglich darum, seinen eigenen Künstlernamen, im HipHop-Jargon „ Tag" genannt, an möglichst vielen Orten des urbanen Raums zu platzieren, um fame (Bekanntheit) innerhalb der Szene zu generieren. Die informelle Regel diesbezüglich besagt, dass „je sichtbarer, risikoreicher und waghalsiger" (ebd.: 31) der Namenszug im öffentlichen Raum platziert wird, desto größer sind die Respektsbekundungen gegenüber dem Writer.
Mit der Zeit brachte die Graffitiszene jedoch immer komplexere und größere Schriftzüge und Bilder (genannt: pieces) hervor, welche später auch Einzug in den avantgardistischen Kunstdiskurs erhielten. Inzwischen reicht die „Bandbreite des Malens vom einfachsten Namenszug bis zum dreidimensionalen Bild, das nicht nur aus der Kennung des Writers besteht, sondern auch Figuren, Gebäude, Situationen und Phantasiewelten zeigt“ (ebd.: 31). Im Unterschied zu den anderen Elementen des HipHop ist die Praxis des Graffiti stark durch die Illegalität der nächtlichen Aktionen geprägt, was dazu führte, dass die Anerkennung und der Respekt fast ausschließlich von Gleichgesinnten innerhalb der Szene kam. Die Aktivisten erhalten durch Graffiti die Möglichkeit, im Kontext der urbanen Anonymität ihre eigene Existenz sichtbar zu machen und dadurch HipHop-spezifische Anerkennung in Form von Bekanntheit und Respekt zu generieren.
2.5 Geschichtliche Entwicklung nach Phasen
Im Folgenden wird die historische Entwicklung der HipHop-Kultur lediglich in ihren Grundzügen dargestellt, wobei ein Schwerpunkt auf die Phase der „Oldschool" und der frühen „Newschool" gelegt wird. Diese Entscheidung ist damit begründet, dass besonders die anfänglichen Entwicklungen, bezogen auf das an späterer Stelle erläuterte HipHop- Wertesystem (feldinternen Spielegeln) und dessen genaueren Inhalt, aufschlussreich sind. Um die HipHop-Kultur und ihre Traditionen und Normen besser nachvollziehen zu können ist es wichtig, zunächst die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen in den Blick zu nehmen, mit denen die frühen Innovatoren der Kultur konfrontiert waren. Dieser Hinweis auf die Entstehungsbedingungen ist besonders wichtig, da, wie an späterer Stelle gezeigt wird, genau diese Bedingungen in Deutschland anders ausgesehen haben und sich dementsprechend andere bzw. modifizierte Normen bzgl. der HipHop-Kultur entwickelt haben.
Die folgende geschichtliche Rekonstruktion hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da aufgrund des Umfanges dieser Arbeit nur die relevantesten Künstler und Ereignisse genannt werden können. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass Begriffe wie Oldschool oder Newschool einen relationalen Charakter haben und die Festlegung der zeitlichen Grenzen dieser Phasen von Akteur zu Akteur variieren können.
2.5.1 Die Phase der Oldschool
Als Oldschool wird „in der Regel die Phase vor den ersten Plattenveröffentlichungen“ (Ver- lan/Loh 2006: 140) betitelt, in der die erste Generation der Szene „in Pionierarbeit Strukturen und Voraussetzung" (ebd.: 164) geschaffen hat, auf der die spätere Entwicklung der Kultur aufbaut.
Diese Anfangsphase der Innovatoren und Pioniere der HipHop-Kultur lässt sich in etwa auf die Zeit zwischen dem Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre datieren.
2.5.1.2 Entstehungsbedingungen der HipHop-Kultur
Der Beginn der Entstehungsgeschichte des HipHop lässt sich Mitte der 70er Jahre im New Yorker Stadtviertel Bronx verorten. Die Bronx wurde zu dem Zeitpunkt häufig als „Americas worst slum or the epitome of urban failure“ (Emmet 2006: 4) bezeichnet und diente als Nährboden für das Aufkommen der HipHop-Kultur. Das Bild des Viertels war geprägt durch eine sehr hohe Armutsquote sowie die starke Verbreitung von Drogen und Gewalt. Ein weiterer Faktor, der die sozialen Bedingungen der Bronx und anderer amerikanischer Großstädte zu dieser Zeit maßgeblich beeinflusste, war die Entstehung vieler Straßengangs.
Diese extrem gewalttätigen Organisationen entwickelten sich in den 70er Jahren und waren berüchtigt für lebensbedrohliche Aktionen und andere kriminelle Handlungen (vgl. ebd.: 8). Die Mitglieder dieser Gangs setzten sich meistens aus Jugendlichen zusammen, deren Leben durch schlechte Lebensbedingungen ihrer Umgebung geprägt waren. Sie stammten aus zerrütteten Elternhäusern, die von Drogen- und Alkoholmissbrauch sowie häuslicher Gewalt gezeichnet waren. Das Fehlen einer intakten Familie kombiniert mit dem allgemein niedrigen sozialen Status aufgrund der Hautfarbe und dem damit verbundenen Rassismus, machten die Gangzusammenschlüsse für die Jugendlichen daher sehr attraktiv (vgl. ebd. 8). Die Jugendlichen fanden hier eine Art Familienersatz und die Chance einen gewissen sozialen Status durch das Erlangen von „street-credibility“ (ebd.: 8) zu erreichen.
Anfang der 70er Jahre erreichte die Welle der Ganggewalt ihren Zenit, sodass sich am 8.
Dezember 1971 hunderte Gang-Mitglieder zusammengefunden haben, um zu diskutieren, wie die andauernde Gewalt auf den Straßen vermindert werden könnte. Die Folge dieses Treffens war allerdings nicht das Ende der Gewalt, sondern eher eine Öffnung dahingehend, überhaupt andere Möglichkeiten und Perspektiven zu diskutieren, Aggression und Frustration auszuleben (z.B. durch Tanz) (vgl. ebd.: 10). Diese Entwicklung gab den Anstoß für die Prozesse der 80er und 90er Jahre, in denen die Gangkultur immer mehr in den Kontext der „urban culture“ (ebd.: 11) eingebettet wurde.
Heute heißt es, dass die erste HipHop-Band, bestehend aus MCs, Tänzern, Securities und Roadies von DJ Kool Herc unter dem Namen Kool Herc and the Herculords gegründet wurde. Obwohl die Band Gangleader und -mitglieder direkt ansprach und aufforderte die Kriminalität und die Gewalt hinter sich zu lassen und sich einem positiveren Lebensstil zu öffnen, hatte sie kaum Erfolg dahingehend, die Gangkriminalität zu senken. Erst als Mitte/ Ende der 70er Jahre der ehemalige Gangleader Afrika Bambaataa unter dem Banner seiner Organisation Zulu Nation verschiedene DJs, Tänzer, Graffiti Künstler, MCs und andere Interessenten in der HipHop Kultur vereinte, ließen sich erste positive Entwicklungen hinsichtlich der Ganggewalt beobachten.
Das Motto der Zulu Nation lautete: „Die negative Energie der Kämpfe in positive konstruktive Energie durch diese neue Straßenkultur umwandeln: den HipHop" (Dufresne 1991: 48) und wird von bestimmten Regeln wie Pazifismus, Liebe oder der Ablehnung von Drogen bestimmt. Kaum ein bekannter Rapper vor ihm hat „HipHop nicht nur als Kunst, sondern als politisches Medium verstanden" (Klein/Friedrich 2003: 27), das in der Lage war, der schwarzen marginalisierten Bevölkerung als Sprachrohr und Problemlöser zu dienen. 1982 veröffentlicht er die Single „ Planet Rock", die durch ihren elektronischen Sound maßgeblichen Einfluss auf die darauf folgenden Musikveröffentlichungen nahm. Heute wird Bambaata ebenfalls zugesprochen das Battle-Prinzip in der HipHop-Szene eingeführt zu haben (mehr dazu im Kapitel 4.9). Inspiriert von dieser positiven, auf Frieden orientierten Bewegung legten viele Gangmitglieder und Drogendealer ihre Waffen nieder und wurden Teil der Zulu-Nation und damit auch Teil der HipHop-Community.
1979 veröffentlichte die Band Sugar Hill Gang über das Independent-Label Sugar Hill Records die erste kommerziell erfolgreiche HipHop-Single „ Rappers Delight “ , die sich bis heute über zwei Millionen mal verkauft hat. Die Single wurde als erster HipHop-Song zum Radiohit, der auch überregional Anklang fand.
Durch diese Single verließ die HipHop-Kultur also zum ersten Mal „das lokale Ghetto" und folgte den „Marktgesetzen einer sich globalisierenden Kulturindustrie" (ebd.: 16). Die Veröffentlichung und Pressung der ersten HipHop-Platten markiert somit den Beginn der Kommerzialisierung und stellt gleichzeitig den Moment dar, in dem der situative „Ereignischarakter der Dj-Musik" verlorenging und zum Text wurde, „der unabhängig von Autor und Publikum existiert" (ebd.: 20).
Als Folge dieses unerwarteten Erfolgs strebten auch die anderen HipHop-Künstler, wie Afrika Bambaataa, Grandmaster Flash, Cold Crush Brothers und viele andere, die an der Erfindung der Kultur beteiligt waren, Plattenverträge an, um auch finanziell von ihren Bemühungen zu profitieren. Im Gegensatz zu den Rappern erhielten die DJs, GraffitiKünstler und Breaker bereits zu dieser Zeit nur noch periphere Aufmerksamkeit von den Medien, da das Element des Rap bessere Vermarktungsmöglichkeiten bot.
1980 wurde mit „ The Breaks “von Kurtis Blow der zweite kommerzielle Hit aus der HipHop-Kultur veröffentlicht. Die Single erlangte bereits in ihrem Erscheinungsjahr mit 500.000 verkauften Einheiten Goldstatus und weckte damit endgültig das kommerzielle Interesse der großen Major-Plattenfirmen (Emmet 2006: 139), die bis dato unbekannte Gruppen wie Run DMC oder Grandmaster Flash and the Furious Five unter Vertrag nahmen und ihnen ermöglichten, Alben auf professionellem Niveau aufzunehmen.
Besonders neu und erfolgreich waren damals Grandmaster Flash and the Furious Five, die mit „ The Message" ebenfalls eine der ersten populären HipHop-Singles veröffentlichten. Das Neue an „ The Message" war, dass sie zum ersten Mal explizit die sozialen Probleme der afroamerikanischen Bevölkerung in den Großstädten thematisierte und damit eine „Mission" erhielt, die die HipHop-Kultur „an ein halbes Jahrhundert afroamerikanische Ideologie bindet" (Dufresne 1991: 45).
Eine Folge der involvierten Major-Labels war, dass HipHop von nun an vermehrt in den nationalen Radios gespielt wurde und damit erstmals seinen Weg in die Massenmedien fand. HipHop verbreitete sich über die gesamte USA hinweg und schaffe damit Motivation für eine ganze Generation an Jugendlichen sich der HipHop-Kultur anzunehmen. Während in den ersten Tagen der Kultur, lediglich ein Ventil bzw. eine Alternative zum tristen Leben im Ghetto gesucht wurde, mischten sich diese Motivationsgründe nun immer mehr mit der Aussicht auf finanziellen und medialen Erfolg (vgl. Emmet 2006: 24).
2.5.2 Die Phase der Newschool
Als Folge des Einzugs von HipHop in die Massenmedien entstanden ab Mitte der 80er Jahre die ersten HipHop Szenen außerhalb von New York. Die Newschool entstand in Los Angeles und anderen großen Metropolen der USA und nahm politisch noch direkter Bezug auf die größtenteils marginale Situation schwarzer Jugendlicher, die geprägt war von Gewalt, Drogenproblemen und Rassismus (Klein/Friedrich 2003:17).
Während in New York sozialkritische Gruppen wie Public Enemy mit teilweise politischen Ansagen bekannt wurden, entwickelte sich in Los Angeles gegen Ende der 80er Jahre mit Gruppen wie N.W.A. (Niggaz with Attitude) ein HipHop-Entwurf, der sowohl musikalisch anders war als auch die Probleme der Jugendlichen auf andere Art und Weise thematisierte, der „Gangsta-Rap" (ebd.:17). Vor allem Westcoast-Rapper wie Ice-T, Ice-Cube oder Snoop Dog inszenierten sich als besonders kriminelle und gewaltbereite Gangmitglieder. Durch Glorifizierung eines illegalen Lebensstils, geprägt von Drogenkonsum/-verkauf, Rassismus und Gewalt brachen sie auf radikale Art und Weise die Tabus der bürgerlichen, vorwiegend weißen Bevölkerung Amerikas und legten damit den Grundstein für ein bis heute kommerziell erfolgreiches Subgenre des HipHop (vgl. ebd.: 28).
Genährt wurde diese Entwicklung durch die stetig anwachsenden medialen Kanäle, sodass schon zu Beginn der 80er Jahre die ersten Radiostationen ganze Sendungen dem HipHop widmeten und bereits 1984 an der West-Coast mit „1580 AMK DAY“ (Emmet, 2006: 14) der erste Sender entstand, der sich 24 Stunden dem Spielen von HipHop-Songs verpflichtete. Das kommerzielle Geschäft mit HipHop wurde fortlaufend vergrößert, sodass erste erfolgreiche HipHop-Touren von der Rocksteady Crew, FAB 5 Freddy und anderen Künstlern folgten, die teilweise große Hallen und Stadien mit HipHop-Fans füllen konnten. Von diesem Zeitpunkt an drehte sich das Geschäft nicht mehr nur um verkaufte Tonträger, sondern umfasste auch Merchandise und andere Fanartikel (ebd.: 15). Bekannte Manager wie Russel Simmons sorgten dafür, dass HipHop-Künstler vermehrt im massenmedialen Kontext auftauchten, indem er sie in Talk- und andere TV-Shows einladen ließ. Außerdem wurden mit Wild Style oder Beatstreet (an späterer Stelle werden die Inhalte noch genauer erläutert) die ersten Filme über HipHop gedreht, die besonders bei der weltweiten Verbreitung der Kultur einen wichtigen Stellenwert einnahmen. Zusätzlich entstanden die ersten kulturspezifischen Magazine (Source und Vibe) und TV Shows (YO MTV Raps), denen ebenfalls eine große Bedeutung hinsichtlich der medialen Verbreitungsprozesse von HipHop zukommt.
Bis Anfang der 90er Jahre hatte HipHop seinen Weg in die amerikanische Popkultur gefunden und wurde innerhalb dieser zu einer der dominanten Kräfte. Zu dieser Zeit konnten viele Künstler nicht nur auf musikalischer Ebene Erfolge feiern, sondern auch auf wirtschaftlicher Seite. Leute wie Master P, P.Diddy oder Russel Simmons sahen sich selbst als Unternehmer und gründeten verschiedene erfolgreiche Labels wie Def Jam, Bad Boy Records oder No Limit Records.
An den Künstlerstämmen der neu entstanden Labels lässt sich gut erkennen, dass bereits zu diesem Zeitpunkt sowohl die thematischen Schwerpunkte als auch die verkörperten medialen Images der verschiedenen Künstler deutliche Unterschiede zueinander aufwiesen. Der damalige Vize-Präsident von Def Jam charakterisierte die verschiedenen Künstler des Labels folgendermaßen:
„ LL COOL J ist der Mann von der Straße. Run DMC sind die Hard Rock ´ n ´ Roll Rapper, Whoodini sind eine Art bürgerliches Sexsymbol des Rap, Public Enemy sind politische Rapper und Oran Juice Jones sind die Gangster" (z itiert nach Dufresne 1991: 70f).
Dieses Zitat veranschaulicht gut, dass bereits knappe zehn Jahre nach der Entstehung von HipHop eine Ausdifferenzierung hin zu unterschiedlichen Subgenres (insbesondere was das Element des Rap angeht) stattgefunden hatte.
Diese Vervielfältigung der Genres verlief Hand in Hand mit der Kommerzialisierung von HipHop und ließ neue vermarktbare Wahrnehmungskategorien wie z.B. „crossover-tracks, ein Stilmix von Rap und Rock“, „Slow-Rap", „Gangsta-Rap", „Polit-Rap“, „Partyrap“ oder „Pimp-Rap“ entstehen (Klein/Friedrich 2003: 26ff).
Allmählich wurde HipHop auch von Jugendlichen mit anderem ethnischen Hintergrund und aus anderen gesellschaftlichen Milieus entdeckt. Bands wie die Beastie Boys stammten aus der weißen „Mittelklasse“ (Dufresne 1991: 78) und hatten langfristig großen Einfluss auf die HipHop-Kultur.
In den ersten Jahren der 90er büßten die in den 80ern dominanten, politisch orientierten Künstler an Aufmerksamkeit ein und schafften damit Platz für die mediale Konzentration auf das Subgenre des Gangsta-Rap. Der mediale Umschwung war unter anderem dadurch zu erklären, dass die weißen Jugendlichen aus den sicheren Vororten ein großes Interesse an Geschichten über Gangs, Schusswaffen und Gewalt hatten und die großen Plattenlabels versuchten, durch besondere Unterstützung der Gangsta-Rapper dieses Bedürfnis zu befriedigen. Diese Entwicklung hin zum Gangsta-Rap erreichte mit der Ermordung der Rapper Tupac Shakur und The Notorious B.I.G. Mitte der 90er Jahre ihren kommerziellen und medialen Zenit (vgl. Emmet 2006:36f).
Einen weiteren kommerziellen Höhepunkt erreichte HipHop gegen Ende der 90er Jahre mit dem weißen, aus Detroit stammenden Rapper Eminem. Obwohl er nicht der erste bekannte weiße Rapper war, nahm er im Gegensatz zu den Beastie Boys oder Vanilla Ice eine Sonderstellung ein, da er sich „als weißer wie ein schwarzer Gangsta-Rapper" (Klein/ Friedrich 2003: 29) benahm und auch so inszenierte. Ungeachtet seiner ethnischen Herkunft nahm Eminem auch Bezug auf die Semantiken des Ghettos und präsentierte sich als gesellschaftlich Ausgestoßener, der ähnlich der schwarzen Bevölkerung aus dem Ghetto (genauer aus einer Trailerparksiedlung) kam und sich durch seine Rap-Musik selbst aus dieser marginalen Situation befreien konnte. Er verwendete also trotz seiner weißen Hautfarbe auch die Identitätsmuster der mythischen Figur des kämpfenden schwarzen Rappers (vgl. ebd.: 25).
In den 2000er Jahren vervielfältigte sich die amerikanische HipHop-Szene zunehmend, sodass sowohl Gangsta-Rapper wie 50 Cent oder The Game, als auch Rapper mit akademischem Hintergrund, wie z.B. Kanye West oder Common, parallel Erfolge auf nationaler und internationaler Ebene feiern konnten. Das Besondere an dieser Entwicklung lag in der gleichzeitigen, erfolgreichen Existenz verschiedener Subgenres des HipHop, was beispielsweise in Deutschland erst ab ca. 2009 zu beobachten ist.
2.6 Die Entwicklung der deutschen HipHop-Szene
Auch in Deutschland unterscheidet man zwischen der Oldschool- und der Newschoolphase. Zunächst sollte erwähnt werden, dass es kaum möglich ist eine chronologische Geschichte, insbesondere der Oldschool des HipHop in Deutschland zu rekonstruieren. „Die ersten zehn Jahre von HipHop in Deutschland liegen im Verborgenen" (Verlan/Loh 2006: 161), da weder Platten, Magazine noch Videos existieren, die das „Selbstverständnis der Old School HipHops" (ebd.: 161) veranschaulichen. Um die frühe Phase der Entwicklung nachvollziehen zu können, muss man sich zwangsweise auf mythische und subjektive Erzählungen beziehen, die wiederum stark vom jeweiligen Interessengebiet und der sozialen Verortung des Berichtenden geprägt sind.
2.6.1 Oldschool
HipHop übte von Beginn an eine besondere Anziehungskraft auf die Jugendlichen „der zweiten Migrantengeneration" aus, sodass mehr als die Hälfte der HipHop-Aktivisten „junge Türken, Kurden, Jugoslawen, Griechen oder Italiener" (ebd.: 162) waren. In Filmen wie „Beat street und Wild Style begegneten ihnen Charaktere, die ein Leben führten, das dem ihren nicht unähnlich war" (ebd.: 163); auch sie hatten eine marginale Stellung innerhalb der Gesellschaft und waren mit sozialen Problemen wie Drogen, Rassismus und Armut konfrontiert. Da HipHop eine der ersten global verbreiteten Kulturen war, die ebenfalls aus solchen Umständen entsprungen war und diese gleichzeitig repräsentieren und reflektieren konnte, ist es verständlich, dass HipHop von Beginn an vorwiegend von Jugendlichen mit Migrationshintergrund rezipiert wurde (vgl. ebd.: 163). Anfänglich erhielt die HipHop-Kultur über die „Breakdance-Welle" (Klein/Friedrich 2003: 173) zu Beginn der 80er Jahre Einzug in die Zimmer der deutschen Jugendlichen, sodass sich bereits 1982 die ersten deutschen Breakdanc-Gruppen formierten (ebd.: 166). Insbesondere die HipHop-spezifischen Modestile, die zur damaligen Zeit ein absolutes Novum in der deutschen Gesellschaft darstellten, wurden schnell übernommen und dienten als Erkennungsmerkmal der HipHop-Aktivisten. Torch, einer der Pioniere des deutschen HipHop erinnert sich folgendermaßen: „ Rapper waren die Verrückten mit den Turnschuhen. Du hast einen Rapper ohne Scheißauf dreihundert Meter erkannt" (zitiert nach Verlan/Loh 2006: 168).
Die Orte, an denen die verschiedenen Elemente erlernt und praktiziert wurden, waren, abgesehen vom Graffiti, das auf der Straße oder den yards stattfand, die Jugendhäuser. Hier wurden die ersten Parties und Battles veranstaltet und den Jugendlichen die Möglichkeit des kulturellen Austausches gegeben.
Hoyler und Mager stellten diesbezüglich heraus, dass gerade den Jugendhäusern eine besondere Rolle hinsichtlich der Verbreitung von HipHop in Deutschland zugeschrieben werden kann. Die Jugendhäuser boten autonome und alternative Orte, an denen die Jugendlichen die Möglichkeit hatten HipHop kennen zu lernen, Beziehungen zu knüpfen und ihre neuen kulturellen Errungenschaften zu präsentieren (Hoyler/ Mager 2005: 41ff).
Erlernt wurden die einzelnen HipHop-Elemente, indem die Bilder und Sequenzen aus den Filmen wie Wild Style wiederholt studiert wurden, bis man die Praktiken nahezu kopieren konnte. Dies erweckt zunächst den Anschein, als spielten bei diesen Prozessen Werte wie Individualität oder Kreativität nur eine geringe Rolle. Da die Praktiken in den Filmen jedoch nicht vollständig nachzuvollziehen waren, mussten die deutschen Aktivisten diese Leerstellen durch kreative Eigenarbeit ersetzen, sodass „der eigene Style von Beginn an eine wichtige Rolle spielte" (Verlan/Loh 2006: 170). Seien es nun fehlende Informationen bezüglich bestimmter Tanzschritte, Graffiti-Techniken oder DJ-Techniken, so waren es zu Beginn lediglich praktische Probleme, die das reine Kopieren von bestimmten Techniken verhinderten und die Aktiven dazu zwangen ihren eigenen sozialen Kontext in ihre Version des HipHop einzubringen.
Resultierend aus diesen Bedingungen wird es verständlich, warum schon in den frühen Phasen des HipHop in Deutschland große stilistische Unterschiede zwischen den verschiedenen Städten zu beobachten waren (vgl. ebd.: 171). Inspiriert von den Blockparties aus Amerika, waren auf den „Jams“ (Elflein 1998: 257) Aktivisten aus allen vier HipHop- Elementen „gleichberechtigt" (Verlan/Loh 2006: 180) vertreten und präsentierten ihre Fähigkeiten, knüpften Kontakte und feierten sich selbst und ihr gemeinsames Interesse an der Kultur. Aufgrund der beschränkten Möglichkeiten an Informationen hinsichtlich der verschiedenen Praktiken zu gelangen, stellte der Besuch von Jams auch eine günstige Gelegenheit dar, das Wissen über die jeweiligen Disziplinen zu erlernen und zu vertiefen. Diese klassische Jam-Kultur neigte sich ab Anfang der 90er Jahre dem Ende entgegen, als sich die öffentliche Aufmerksamkeit, ähnlich wie in Amerika nur noch auf den Rapper fokussierte und zunehmend reine Konsumenten auf den Parties anzutreffen waren.
Nebenbei entstanden auch in Deutschland die ersten medialen Dokumentationen über HipHop, wie z.B. Graffiti, Bildbände oder kleine Videos, sodass die neuen deutschen HipHop-Aktivisten sich in ihren Lernprozessen nicht mehr ausschließlich auf amerikanische Vorbilder beziehen mussten (ebd.: 183).
Gerappt wurde in den ersten Jahren nach amerikanischem Vorbild ausschließlich auf Englisch. Erst 1987 präsentierte Torch seine ersten Freestyles (improvisiertes Rappen) in deutscher Sprache und revolutionierte damit die gesamte Szene.
Zur selben Zeit wurde neben Breakdance und Graffiti durch Gruppen wie Public Enemy und NWA, die mit radikal politischen Aussagen Aufmerksamkeit auf sich zogen, die Praktik des Rappens populär (ebd.: 197). Dieser politische und sozialkritische Impetus lässt sich auch auf den ersten veröffentlichten deutschsprachigen Rap-Platten von Advanced Chemistry oder Fresh Familee wieder entdecken. In dem 1991 veröffentlichen Song „Ahmed Gündüz" der Gruppe Fresh Familiee werden explizit die Probleme der Gastarbeiter in Deutschland thematisiert:
„ mein name is ahmed gündüz, lass mich erzählen euch du musst schon zuhören, ich kann nix sehr viel deutsch komm von der türkei, swei jahre her und ich viel gefreut, doch lebene hier ist schwer auf arbeit chef sagen mir kanake, hey wie gehts? ich sag dann hadi sktir lan doch arschloch nix versteht “
Hervorzuheben ist, dass die Entwicklung der HipHop-Szene gerade zu Beginn der 90er Jahre auch durch europäische Einflüsse bestimmt wurde. Aufgrund der recht überschaubaren Größe der einzelnen HipHop-Gemeinschaften wurden Kontakte zu HipHop-Aktivisten aus „Frankreich, Holland, England, Italien" (ebd.: 198) und der Schweiz geknüpft, sodass die Jams zunehmend auch internationalen Charakter bekamen. Die sprachlichen und kulturellen Unterschiede hatten im Angesicht der geringen Szenegröße deutlich weniger Relevanz als heute und jeder war willkommen, der die HipHop-Kultur und das damit verbundene Lebensgefühl geteilt hat.
Dies lässt sich ebenfalls auf an dem 1991 veröffentlichten Sampler „ Krauts with Attitude - German Hip Hop Vol. 1 “ erkennen. Von den fünfzehn vertretenen Künstlern rappten lediglich drei in deutscher, elf in englischer und einer in französischer Sprache (vgl. Elflein 1998: 258).
Die politischen Tendenzen der Rap-Texte wurden damals durch Faktoren wie dem Mauerfall und dem damit wieder aufflammenden neuen „Nationalismus" (Verlan/Loh 2006: 210) noch verstärkt.
Zeitgleich entwickelten sowohl die Medien als auch die Musikindustrie ein Interesse an HipHop. Dieses Interesse ist unter anderem auf den aktualisierten Nationalismus nach dem Mauerfall zurückzuführen, der einen Platz für die Kommerzialisierung einer neuen, im nationalen Rahmen codierten HipHop-Kultur schaffte (vgl. Elflein, 1998: 25 und Hoyler/ Mager 2005: 61). Erst im Kontext dieses aktualisierten Nationalismus entwickelte und etablierte sich der Begriff „Deutscher Hip-Hop“ (Elflein 1998: 258).
Genau in diese Phase fällt der für die langjährigen Szenemitglieder völlig unerwartete mediale Durchbruch der Fantastischen Vier, die das darauf folgende mediale Bild von HipHop für die nächsten Jahre prägten. Die Fantastischen Vier repräsentierten mit poppigem Soundgewand und ausschließlich deutschen Mittelstandsjugendlichen ein anderes Bild von HipHop, als die Szene von sich selbst hatte. Aufgrund ihrer Affinität zum Pop und großer „Medien- und Marketingmacht" (Verlan/Loh 2006: 220) sowie des neu aufgekommenen aktualisierten Nationalismus konnte sich dieser HipHop-Entwurf jedoch unter dem Begriff „Deutscher Hip-Hop“ (Elflein 1998: 258) gesamtgesellschaftlich verbreiten. Es entstand also ein mehr oder weniger neues Genre, welches durch den Gebrauch der deutschen Sprache und der Nähe zur Pop-Musik bestimmt war (Hoyler/Mager 2005: 62).
Der zur damaligen Zeit aktive politische Rapper Adegoke Odukoya stellte in einem Interview fest, dass zu der damaligen Phase in der Szene und in den Medien viel darüber diskutiert wurde, „was authentischer HipHop ist" (Verlan/Loh 2006: 217).
Er kommentierte die folgende Entwicklung der HipHop-Szene in Deutschland mit diesen Worten:
"man merkte das durch die enorme Akzeptanz einer Gruppe wie den Fantastischen Vier. Plötzlich kam eine Definition von 'deutschem HipHop' zustande, wo viele Gruppen nicht mehr drin vorkamen. All jene, die auf Englisch gerappt haben, fühlten sich da nicht mehr zu Hause und waren auch nicht mehr willkommen. Plötzlich sind da nur noch deutsche Mittelstandkids, die was von `authentisch` und `keep it real` erzählen und sich von Papas Kohle teure Markenklamotten kaufen “ (ebd.: 221).
HipHop wurde in gewisser Weise in die nationale deutsche Identität überführt, was schließlich dazu führte, dass seine besondere Anziehungskraft für jugendliche Migranten abgenommen hatte. Zuvor lieferte HipHop aufgrund seiner Herkunft aus den USA eher eine „nicht-deutsche“ kulturelle Identität, die von den Migranten aufgrund ihrer Erfahrungen in Deutschland leicht übernommen werden und zur Abgrenzung genutzt werden konnte (Elflein 1998: 258).
Als Reaktion auf diesen neuen Nationalismus im HipHop versuchten Bands wie Cartel, die sich aus verschiedenen türkischstämmigen Musikern aus Deutschland geformt hatten, die exkludierten Teile der HipHop-Community unter dem Banner einer künstlich konstruierten ethnischen Minderheit als Türken bzw. Immigranten zu vereinen (ebd.: 260).
[...]
- Quote paper
- Henri Braams (Author), 2015, Der deutsche HipHop. Rekonstruktion glokaler Modifikationsprozesse subkultureller Wertesysteme, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/310020
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.