Der Psychoanalytiker Otto Rank widmete sich in seinem 1919 erschienenen Aufsatz "Der Doppelgänger" einem Thema, das von erheblicher psychologischer Brisanz ist, aber dennoch kaum Beachtung gefunden hat. Es geht um den uralten und weit verbreiteten Volksglauben, demzufolge Menschen die unheimliche Erfahrung machen können, dass sich ein Teil ihres Selbst abspaltet und ein Eigenleben führt. Das abgespaltene Selbst tritt in der Gestalt eines Spiegelbildes auf, das sich plötzlich selbständig macht oder als Schatten, der sich von seinem Besitzer löst.
Es gibt eine unüberschaubare Fülle an literarischen Darstellungen des Doppelgängermotivs, von denen hier nur einige der Bekanntesten erwähnt werden können. Aus der Romantik stammen der Roman "Siebenkäs" von Jean Paul (1796) sowie "Die Elixiere des Teufels" von E.T.A. Hoffmann (1816) Anette von Droste-Hülshoff griff das Doppelgängermotiv gleich dreimal auf. Die Novelle "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde" des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson sowie der Roman "Das Bildnis des Dorian Gray" des irischen Schriftstellers Oscar Wilde zählen zu den berühmtesten Darstellungen des Doppelgängermotivs in der Weltliteratur.
Mit dem Aufkommen der Filmkunst Anfang des 20. Jahrhunderts haben auch die darstellenden Künste das Doppelgängermotiv aufgegriffen. In seiner deutlichsten Form wird das Doppelgängermotiv in dem Science-Fiction-Film "Die Insel" aus dem Jahr 2005 verarbeitet. Dieser Film nimmt eine Sonderstellung unter den medialen Werken ein, da er das, was die psychoanalytische Untersuchung erst noch freilegen wird, bereits offen ausspricht.
Das Vorbild aller medialen Verarbeitungen der Doppelgängergestalt ist jedoch ein Schwarz-Weis-Film aus dem Jahr 1913 mit dem Titel "Der Student aus Prag". Otto Rank hatte diesen Film zum Anlass genommen, sich dem Doppelgängerthema zu widmen und eine auf psychoanalytischer Lehre basierende Deutung zu erarbeiten. Er war offenkundig sehr beeindruckt von den szenischen Darstellungsmöglichkeiten des Films, die ihn an die Darstellungsweisen von Träumen erinnerten. Überdies war er auch der Auffassung, dass dieser Film den auf alter Volksüberlieferung zugrundeliegenden Stoff adäquat repräsentiert. Aus diesen Gründen werde ich mich auch bei der vorliegenden Arbeit in erster Linie auf diesen Film beziehen. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung findet sich bei Rank (1919).
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Die Entstehung des Doppelgängers
- Hauptteil
- Unlustvermeidung als oberstes Prinzip
- Verdrängung und die Mechanismen der Verfremdung
- Der Doppelgänger als Resultat eines Verdrängungsvorganges
- Schlussbetrachtung und Ausblick
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit setzt sich zum Ziel, das Doppelgängermotiv in den Volksüberlieferungen auf Grundlage der psychoanalytischen Lehre zu analysieren. Sie verfolgt dabei die Absicht, die Bedeutung des Doppelgängers als Ausdruck eines tiefgreifenden seelischen Erlebens zu beleuchten und seine vielschichtigen Bedeutungen im Kontext der menschlichen Psyche zu entschlüsseln.
- Psychoanalytische Interpretation des Doppelgängermotivs
- Die Rolle des Unbewussten und der Verdrängung in der Entstehung des Doppelgängers
- Die Funktion des Doppelgängers als Abwehrmechanismus gegen Todesangst
- Das Doppelgängermotiv in Literatur und Film
- Die Bedeutung des Doppelgängers für das menschliche Selbstverständnis
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema des Doppelgängermotivs ein und beleuchtet dessen Bedeutung in der Volksüberlieferung, Literatur und Film. Sie stellt Otto Ranks psychoanalytische Deutung des Doppelgängers vor und erläutert die Relevanz des Films „Der Student aus Prag“ für die Analyse.
Der Hauptteil widmet sich der Entstehung des Doppelgängers in der Individualentwicklung. Er beleuchtet die Rolle des „primären Narzissmus“ und die Bedeutung der Selbst-Objekt-Differenzierung im Prozess der Ich-Entwicklung. Es werden die psychoanalytischen Konzepte der Unlustvermeidung, Verdrängung und der Mechanismen der Verfremdung im Zusammenhang mit dem Doppelgängermotiv diskutiert.
Schlüsselwörter
Doppelgängermotiv, Psychoanalyse, Otto Rank, Verdrängung, Unbewusstes, Todesangst, Selbst-Objekt-Differenzierung, primärer Narzissmus, Spiegelbild, Schatten, Volksüberlieferung, Literatur, Film, „Der Student aus Prag“
- Arbeit zitieren
- Werner Müller (Autor:in), 2015, Der Doppelgänger in der Literatur. Eine psychoanalytische Deutung nach Otto Rank, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308847