Auch als Atheist kann ich einen Glauben haben, wenn ich die Organisation der Welt als sinnvoll ansehe. Gerade dem Naturwissenschaftler erschließen sich Einsichten in einen geistigen Hintergrund der Welt. Die Mathematik und die (physikalischen) Naturgesetze werden von einer stupenden Ordnung und prägnanten Schlichtheit beherrscht. Die Anerkennung einer geistigen Weltordnung gewährt mir ethischen Rückhalt.
Wer eine naturwissenschaftliche Ausbildung hat, tut sich schwer mit dem Glauben an Gott. Der Offenbarungscharakter der Religion erscheint mysteriös und nicht vorstellbar. Der biblische Schöpfungsbericht ist heute lesbar nur als poetische Umschreibung dessen, was die Wissenschaft über die Entstehung der Welt herausgefunden hat. Diese bietet eine berechenbare Weltgeschichte vom Urknall bis zur Gegenwart, worin kein Gott vorkommt. Warum göttliche Wirkungskräfte postulieren, wenn man ohne sie zum Ziel kommt? Trotzdem möchte ich hier von einem Glaubensbekenntnis sprechen.
Der Begriff des Glaubensbekenntnisses wird im Allgemeinen religiös verstanden, in unserem Kulturkreis als Bekenntnis zum christlichen Glauben. Kernstücke des christlichen Glaubens sind die „Erlösung“ durch den Kreuzestod Christi und die Vergebung von Sünden durch die Gnade Gottes. Beides kann nur für Menschen Bedeutung haben, die an die Auferstehung der Seele nach dem Tode glauben und sich vor dem „jüngsten Gericht“ fürchten. Da ich an eine solche Auferstehung nicht glauben kann, bleiben mir alle christlichen Heilsversprechen bedeutungslos. Nicht einmal im diesseitigen Leben kann ich das Walten eines gnädigen oder strafenden Gottes erkennen. An Gott glauben weniger Menschen denn je. Trotzdem geht es den Menschen - mit oder ohne Gott - in den hochentwickelten Ländern besser denn je zuvor. Das gilt auch umgekehrt: Zu allen Zeiten gab es demütige und liebreiche Menschen, die sich an alle frommen Regeln hielten, und trotzdem von den schrecklichsten Schicksalen heimgesucht wurden. Ebenso gab es die schlimmsten Bösewichte, die ein glanzvolles Leben führten. Alles das hindert mich daran, mich zu einem christlich-religiösen Glauben zu bekennen. Darum muss ich mich zu den Atheisten zählen.
Tatsächlich lebe ich dennoch nicht ohne Gewissheiten, die eigentlich nur auf einem Glauben beruhen. Was heißt denn glauben? Etwas als wahr anerkennen, das nicht auf eigener Anschauung und Beweisen beruht. Kern dieser Gewissheiten ist die Gültigkeit der Naturgesetze oder – allgemeiner ausgedrückt – des Kausalitätsprinzips. Wie jeder andere meiner Zeitgenossen bin ich von Kindheit an – und weiterhin durch die Lebenserfahrung – an den Glauben an die Naturgesetze gewöhnt. Sie beruhen auf unwiderleglichen Beweisen. Allerdings kann ich selbst diese Beweise nicht führen, sondern verlasse mich auf die von anerkannten Autoritäten bewiesenen Erkenntnisse. Im strengen Sinne ist das nicht mehr als ein Glaube. Die Erfolge von Wissenschaft und Technik, die ich tagtäglich beobachten und mit technischen Geräten selbst nutzen kann, liefern die unerschütterliche Überzeugung von der Wahrheit der objektivistischen Welterkenntnis.
Der Glaube an diese Welterkenntnis geht inzwischen so weit, dass die Entstehung der Welt vom Urknall bis zum denkenden Menschen als geschlossene Kausalkette verstanden werden kann. In dieser Kausalkette gibt es keine Ziele oder Pläne, sondern nur die unablässige Abfolge von Ursache und Wirkung. Jede teleologische Sichtweise ist in der Wissenschaft verpönt. Zwar bleiben einzelne Stufen dieser Kausalkette für mich unverständlich, so zum Beispiel die Voraussetzungen und der Ablauf des Urknalls selbst. Um sie verstehen und nachvollziehen zu können, wäre die eingehende Kenntnis der Quantenphysik erforderlich. Andere Stufen, wie die Entstehung des Lebens, sind bis heute nicht aufgeklärt und könnten Raum geben für den Glauben an das Eingreifen übersinnlicher Mächte. Doch ehe ich dazu Zuflucht nähme, glaube ich eher daran, daß auch hier chemisch-physikalische Vorgänge stattgefunden haben, die wir nicht kennen, die aber auch nur auf ziellosen Zufällen beruhten. Manfred Eigen hat Vorstellungen entwickelt, wie mittels sog. Hyperzyklen sich selbst reproduzierende Moleküle entstanden und sich in vielen kleinen Stufen zu lebenden Organismen weiterentwickelt haben könnten. Ob diese Modelle der wirklichen naturhistorischen Entwicklung entsprechen, ist weniger wichtig als die Überzeugung, dass sie möglich erscheinen. Denn damit schließt sich die Kausalkette der Weltentwicklung. Sobald es lebende Organismen gab, sorgten die Prinzipien der Evolution für deren immer komplexere Weiterentwicklung.
Dieser gesicherte Glaube an das naturwissenschaftliche Weltbild führt dazu, dass ein darüber hinausgehender Glaube an einen Schöpfergott entbehrlich erscheint. So tritt der Marburger Philosoph Joachim Kahl konsequent für ein streng atheistisches Weltbild ein. Die geistige Welt, mit der sich der Mensch beschäftigt, erscheint ihm als bloße hochentwickelte, „inselhafte“ Materiefunktion, die erlöschen muss, sobald die ihn tragende Materie (wie das menschliche Hirn) versagt. Für irgendeine Gottheit ist in einem solchen Weltbild kein Raum.
Dies ist der Punkt, an dem ich ein Ungenügen empfinde. Ich will nicht ausschließen, dass die religiöse Erziehung in der Kindheit sowie abendländische Denkgewohnheiten zu diesem Gefühl des Ungenügens beitragen. Ohne dass ich es logisch begründen könnte, wäre mir ein Weltbild lieber, dem ein geistiger Schöpfungsplan zugrunde liegt, als die Vorstellung, dass die Welt mit allen ihren Erscheinungen nur einer Reihe von planlosen blinden Zufällen zu verdanken ist. Wenn ich versuchen will, mich aus diesem Gefühl dieses Ungenügens zu lösen und in den Erscheinungen der Welt nach einem geistigen Hintergrund zu suchen, kann ich nur Vorstellungen zu Hilfe nehmen, die mit dem beschriebenen objektivistischen Weltbild in Einklang oder wenigstens nicht im Widerspruch stehen. Bei der Suche nach Gründen für einen sinnhaften Hintergrund der Welt darf ich nicht einfach dem Gefühl dieses Ungenügens folgen, sondern ich muss mich auf objektiv erfahrbare Erkenntnisse verlassen. Auf diesem Wege bin dabei nicht auf Beweise oder Gewissheiten gestoßen, sondern nur auf Indizien. So wie ein Gericht auf Grund von Indizien zu einer Überzeugung kommt, aus der es ein Urteil fällt, so bin ich durch Indizien zu einer Überzeugung gelangt, die mir zu einem Glauben verhilft
Es gibt zwei Arten solcher Indizien, nämlich einerseits solche, die sich aus der Wahrnehmung der Welt ergeben, also aus der Physik, und andererseits solche von rein geistiger Form, insbesondere die Regeln der Logik und der Mathematik. Sie sind auf erstaunliche Weise miteinander verknüpft.
Es hat sich erwiesen, dass sich die Materie nicht chaotisch verhält, sondern streng gültigen Gesetzen folgt. Das erscheint uns selbstverständlich, weil wir daran gewöhnt sind. Wir können darauf vertrauen, dass sich die Materie unter gleichen Voraussetzungen immer in der gleichen Weise verhält. Zweifel daran entstehen allenfalls beim Umgang mit der lebenden Materie, zu der auch der Mensch selbst gehört. Wenn sie scheinbar willkürlich und unberechenbar reagiert, so liegt das an ihrer undurchschaubaren Komplexität. Die Voraussetzungen ihres Verhaltens sind eben weniger gleich als es uns scheint. Sobald man mit wissenschaftlicher Genauigkeit für wirklich gleiche Bedingungen sorgt, verhält sich auch lebende Materie nach feststehenden Gesetzen.
Gesetze sind etwas Immaterielles, etwas Geistiges. Darum sehe ich im gesetzmäßigen Verhalten der Materie ein erstes Indiz für einen geistigen Hintergrund der Welt.
Noch stärker ist das zweite Indiz. Es hat sich erwiesen, dass die Gesetze der Materie mathematisch sind. Die Eigenschaften der Materie sind messbar und mit den Messwerten kann man nach mathematischen Formeln rechnen. Darauf beruhen die gesamte Naturwissenschaft und Technik. Die Mathematik lässt sich nicht aus der Materie selbst erfassen, sondern sie ergibt sich aus den Regeln der Logik. Der Mensch kann sich die Regeln der Mathematik nicht eigenwillig ausdenken, wie ein Gedicht, sondern er muss sie erforschen. Auch die Logik ist für den Mathematiker nicht verfügbar, sondern sie ist ihm vorgegeben. Schon in ihrer einfachsten Form, dem Zählen, ist die Mathematik ein geistiger Vorgang. Denn man kann nur Objekte zählen, die man zuvor zu einer zählbaren Kategorie vereinigt hat. Zählt man an einer Hand fünf Finger, so muss zuvor die Kategorie „Finger“ gebildet werden. Die Bildung von Kategorien ist ein Geistesvorgang.
Wenn es auf einem entfernten Stern im Weltall denkende Wesen geben sollten, die ihre Welt vermessen und erfassen, so müssen sie unausweichlich auf dieselben mathematischen Gesetze stoßen wie wir. Die Mathematik ist also geistig und universell. Das heißt: es gibt einen universellen Geist. Dass die Materie diesem universellen Geist unterworfen ist, erfüllt mich mit Staunen und Ehrfurcht.
Es gibt ein drittes Indiz für die Spiritualität der Welt, nämlich die Gestalt der mathematischen und der physikalischen Gesetze. Die grundlegenden dieser Gesetze sind von einer erstaunlichen Klarheit und Schlichtheit. Sie haben also über die Qualität der Wahrheit hinaus eine ästhetische Qualität. Als Beispiel einer ebenso einfachen wie ästhetisch ansprechenden Regel nenne ich die Folge der Quadratzahlen, die sich aus der fortlaufenden Addition der ungeraden Zahlen ergibt.
Graphisch lässt sich das für die Quadratzahlen 1, 4, 9 so darstellen:
[Abb. in dieser Leseprobe nicht enthalten]
Reich an solchen ästhetischen Strukturen ist die Geometrie. Leuchtende Beispiele dieser mathematischen Ästhetik sind die Platonischen Körper mit ihrer vollkommenen Regelmäßigkeit. Auch die Figur des Satzes des Pythagoras (die Flächensumme der Kathetenquadrate am rechtwinkligen Dreieck ist gleich dem Hypothenusenquadrat; a2 + b2 = c2) ist so schön, dass sie gern als Symbol der geometrischen Wissenschaft verwendet wird. Überdies ist der Satz von bestechender Schlichtheit. Er lässt sich durch Verschieben von Dreiecken innerhalb der Figur leicht beweisen. Dem unvoreingenommenen Gemüt eines nachdenklichen Menschen kommt es dennoch zauberhaft vor, wie sich die Flächengleichheit von selbst ergibt, auch ohne dass man erst Dreiecke verschieben müsste. Das gleiche Erstaunen erfasst mich bei anderen, ebenso schlichten wie schönen Lehrsätzen, wie etwa dem Satz des Thales (Das eingeschriebene Dreieck im Halbkreis ist rechtwinklig). Dass viele Lehrsätze so einfach und zugleich schön sind, hat mit ihrer mathematischen Bedeutung nichts zu tun. Die geometrischen Verhältnisse könnten ja auch die kompliziertesten Formeln haben, aber sie haben erstaunlich einfache. Das gilt für viele, aber nicht für alle mathematischen Verhältnisse; so lässt sich die Zahl Pi nicht mit strenger Genauigkeit erfassen, sondern zwar beliebig genau, doch nur als Näherungswert konstruieren und berechnen.
In den Grundlagen der physikalischen Mechanik herrschen erstaunlich einfache Gesetze, wie Kraft = Masse mal Beschleunigung oder Geschwindigkeit = Beschleunigung mal Zeit. Ein Apfel, der vom Baum fällt, folgt diesen einfachen Gesetzen. Berühmt und auch Laien bekannt ist die Einstein-Formel E = m c2 (Energie gleich Masse mal Quadrat der Lichtgeschwindigkeit), mit der die allermeisten Menschen nichts anfangen können, weil sie über unsere Erfahrungswelt weit hinausgeht. Aber sie zeugt von jener fundamentalen Schlichtheit der Weltgesetze. Natürlich sind nicht alle physikalischen Vorgänge von so beeindruckender Schlichtheit. In Grenzbereichen sind sie sogar dermaßen komplex, dass die bekannte Mathematik an ihre Grenzen stößt und auf geistiger Ebene fortentwickelt werden muss, um die Physik zu erfassen.
Neben den drei erörterten Prinzipien der Gesetzlichkeit, der mathematischen Gesetze und der Schlichtheit der Gesetze gibt es einen vierten Punkt, an dem ich ins Staunen gerate. Es kommt mir so vor, als sei der Lebensraum der Menschheit vor der Gesamtheit des Kosmos besonders ausgezeichnet. Diese Gesamtheit erstreckt sich vom gequantelten Raum der Elementarteichen bis in die galaktischen Tiefen des Weltalls. Im Gebiet der Elementarteichen herrscht die Quantenmechanik, ein Reich, in dem nur eine begrenzte Zahl von Physikern zu Hause ist. Das gilt gleichermaßen für die galaktischen Räume, wo die Relativitätstheorie herrscht. Von diesen Grenzgebieten weiß die Menschheit erst seit wenig mehr als 100 Jahren. Davor war unser Denken an unseren Lebensraum angepasst und beschränkt. Der menschliche Verstand hat sich evolutionär entwickelt, indem er sich den sinnlich erfassbaren Lebensraum erschloss. Die Logik, mit der wir unser Leben führen und aus der die Geometrie und die Mathematik entwickelt wurden, ist unserem Lebensraum angepasst. Unsere sinnliche Erfahrung geht über den Bereich vom Staubkorn bis zum Horizont nicht hinaus. Das Ende der Welt können wir nicht mehr denken. Wir leben mit dem Paradoxon, dass wir uns den Weltraum weder als unendlich noch als begrenzt vorstellen können, denn was wäre dann hinter der Grenze? Natürlich haben wir Geräte wie Lupen und Fernrohre erfunden, um die Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung hinauszuschieben. Aber schon wenn wir über die Kugelgestalt der Erde nachdenken, beschäftigen wir uns im Kopf eher mit handlichen Modellen als mit der sinnlichen Wahrnehmung
Aus der Sicht der Evolutionslehre ist es selbstverständlich, dass unser Vorstellungsvermögen an die Grenzen unserer Sinnesorgane angepasst ist. Aber ist das wirklich nur eine Anpassung? Auch hier sehe ich erstaunliche Hinweise auf einen geistigen Hintergrund. Denn die Fähigkeiten des menschlichen Gehirns gehen weit über die Grenzen unserer Wahrnehmung hinaus. Wir gehen mit hochkomplizierten Gedankengängen um, die mit Sicherheit nicht durch den Zwang der evolutionären Anpassung möglich geworden sind. Um in der Welt zu überleben, braucht der Mensch keine Philosophie, keine Poesie, keine Kunst. Dennoch verfügt er darüber seit Tausenden von Jahren. Hoymar von Dithfurt erklärte, das menschliche Gehirn sei in entsprechender Weise an den „Geist“ evolutionär angepasst wie die Gestalt des Fisches an die hydraulischen Eigenschaften des Wassers.
Bemerkenswert ist aus meiner Sicht die besondere Stellung der Logik, mittels derer wir zum Beispiel die euklidische Geometrie betreiben, wie sie in der Schule gelehrt wird. Sie ist nur in dem begrenzten Raum unserer Lebenswelt uneingeschränkt gültig, was sich aus der Evolution zwanglos erklärt. Innerhalb dieses Raumes bildet sie ein universell gültiges System, das der willkürlichen Verfügung entzogen ist. Geht man über unseren sinnlichen Erkenntnisraum hinaus in den Mikrokosmos der Elementarteilchen oder in den Makrokosmos der galaktischen Systeme, so verliert die euklidische Geometrie dort ihre Gültigkeit. Im Mikrokosmos ist der Raum gequantelt, im Makrokosmos durch die Gesetze der Relativitätstheorie verzerrt. Es ist ja nicht so, daß unsere Sinne bloß zu ungenau wären, um mit der darauf aufgebauten Logik auch in den Mikro- und den Makrokosmos einzudringen, sondern in unserem irdischen Erkenntnisraum gelten die mathematischen Regeln in unerbittlicher Schärfe und nicht etwa bloß als unscharfe Annäherung. Es ist ein geistiger Raum eigenen Rechts und keinesfalls bloß eine menschliche Vorstellung. Es wäre darum angebracht, unseren Erkenntnisraum als den Metakosmos zu bezeichnen.
Die hier erörterten Indizien stellen keinen Beweis für einen umfassenden geistigen Hintergrund der Welt dar. Aber sie nähren den Glauben daran, und zwar gerade für einen Menschen mit naturwissenschaftlichen Kenntnissen.
Ist es wirklich nur ein blinder Zufall, dass mit dem Urknall nicht einfach eine ungestaltete Gaswolke oder ein formloser Klumpen entstanden ist, sondern das differenzierte System aus Galaxien, Sonnen und Planeten?
Ist es Zufall, dass sich Neutronen und Protonen trotz der Sprengkraft der einander abstoßenden Ladungen zu stabilen Atomkernen zusammenschließen und dass es etwa 100 Arten stabiler Atomkerne gibt, die das Periodische System bilden?
Ist es Zufall, dass die Elektronen, die die Atomkerne an sich ziehen, nur in einem streng geordneten System existieren können und dass sich deshalb verschiedene Atome zu Molekülen zusammenschließen, um gemeinsam diese geordneten Elektronenwolken zu bilden?
Ist es Zufall, dass die Gebilde aus verschieden schweren Atomkernen und deren Elektronenwolken, also die chemischen Elemente, eine enorme Vielfalt von Stoffen hervorbringen und so die Vielfalt der Welt ermöglichen?
Ist es Zufall, dass sich fast alle Molekülarten zu streng geordneten, chemisch reinen Kristallen von geometrisch genau definierter Gestalt zusammenfügen und dabei fremde Molekülarten aussperren?
Ist es Zufall, dass eine ausgewählte Gruppe von Elementen, vor allem Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff und wenige andere, die Fähigkeit zur Bildung einer unendlichen Vielfalt verschiedener Moleküle besitzen, vor allem denen der lebenden Materie?
Ist es Zufall, dass gerade diese Elemente in unserer Welt nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehen und in der Frühzeit der Erde damit begonnen haben, sich zu immer komplexeren Molekülen zusammenzurotten, bis sie schließlich (gemäß der Hyperzyklen-Theorie von Manfred Eigen) selbst-reproduzierende Moleküle bildeten, die zum organischen Leben erwachten?
Ist es bloßer Zufall, dass die Summe der aufgezählten Zufalle gemeinsam den Lebensraum der biologischen Evolution hervorbrachten?
Ist es Zufall, dass diese Evolution zum menschlichen Hirn geführt hat, das über den Geist in allen diesen Zufällen nachdenkt?
Unerbittliche Atheisten und Objektivisten antworten: ja, wir kennen keine andere Wirkungsmacht als diese Kette von glücklichen Zufällen (die sich noch erheblich verlängern ließe). Ein Weltbild, das alle Schritte der Weltentstehung aus naturgesetzlichen Prozessen schlüssig nachvollziehen lässt, genügt ihrem logischen Verständnis. Warum soll man noch einen Weltgeist als Wirkungsmacht dazu erfinden?
Aus einem Urbedürfnis nach demütiger Bescheidenheit geben manche Leute zu bedenken, dass sich diese wundervolle Stufenfolge der Höherentwicklung nur aus der Nabelschau des irdischen Menschen ergibt. Das Weltall als Ganzes, soweit es sich bis heute beobachten lässt, erscheint als ein riesiges Chaos von Sternen und Gasen, die zwar in einer scheinbaren Ordnung den Himmel bevölkern, aber in planloser Beliebigkeit aufeinander einwirken. Die Frage, ob unsere Erde im gesamten Weltall der einzige Platz ist, wo sich die oben beschriebene Stufenfolge bis zum denkenden Geist verwirklicht hat, oder ob es auf Tausenden oder Millionen anderer Planeten ebenso hoch entwickelte Lebensformen gibt, beschäftigt die Neugier der Wissenschaft. Eine Antwort lässt sich bis heute nicht finden und dürfte auch auf alle Zeiten über plausible Mutmaßungen nicht hinausgehen.
Brauchte es wirklich einen sinngebenden Weltgeist, wenn er allein hier auf unserem Planeten zu einer eindrucksvollen Hochentwicklung geführt hätte, während der ganze übrige Kosmos nur ein mehr oder weniger geordnetes Chaos wäre? Auch in diesem Gedanken offenbart sich die Nabelschau des Menschen. Denn könnte es nicht ebenso hochentwickelte Strukturen geben, die nicht aus organischen Wesen in den uns gewohnten Dimensionen von Raum und Zeit bestehen, sondern deren Existenz sich vielleicht in winzigen Nanoräumen oder riesigen galaktischen Räumen, in Mikrosekunden oder Jahrmillionen abspielt?
Hier verliert sich die Phantasie im Ungewissen. Ob und welchen Sinn die Welt im Ganzen hat, kann ich nicht ermessen. Es erscheint mir zulässig, meine Vorstellung eines Weltgeistes aus der Sicht innerhalb meines Metakosmos zu entwickeln. Denn: Kann es nicht sein, dass unsere Logik einer ähnlichen Beschränkung auf den Metakosmos unterliegt wie der euklidischen Raum? Gibt es eine übergreifende, im gesamten Kosmos gültige Logik, die uns unzugänglich bleibt, aber aus der sich die erwähnten scheinbaren Zufälle zwanglos ergeben? Die Wissenschaft sucht – bisher ohne Erfolg, jedoch mit dem Glauben daran – nach der „Weltformel“, die die Quantenmechanik mit der Relativitätstheorie in Einklang bringt. Der Verstand der höchstspezialisierten Fachleute reicht bisher nicht aus, um die Gesamtheit des Kosmos zusammenzudenken. Aber der Kosmos besteht und folgt offenbar diesem unerkannten Gesetz. Mein Glaube geht dahin, dass dieses unerkannte Gesetz mit einem spirituellen Weltgeist einhergeht, den wir als Kinder des Metakosmos nicht erfassen können. Jedoch der Glaube an einen solchen Weltgeist vermag mich mit Ehrfurcht zu erfüllen.
Über einen solchen Weltgeist kann man nur mit der menschlichen, allein am Metakosmos erprobten Logik nachdenken. Wenn ich das tue, stoße ich auf einen teleologisch zu nennenden Gedanken, nämlich dass die Gesetzlichkeiten der Materie zusammenwirken, damit sich die Welt so hochkomplex entwickelt, wie wir sie vorfinden. In der Sprache der Religion wäre das ein Schöpfungsplan. Es ist nicht notwendig, dem Bedürfnis nach Personifizierung nachzugeben und hinter dem Schöpfungsplan auch noch einen Schöpfer als Urheber zu vermuten. Stelle ich die beschränkte Gültigkeit meiner Logik in Rechnung, muss ich den Begriff des „Plans“ als allzu menschlich abtun. Mir bleibt nichts als der Glaube, dass nach einer für uns unfassbaren spirituellen Logik das Ineinandergreifen der zahlreichen Gesetzlichkeiten mit dem Erfolg der wirklichen Welt einen universellen Sinn und Grund hat. Das legitimiert die Geschöpfe der Evolution als Teilhaber des Weltgeistes.
Nach diesem Weltbild muss das Evolutionsgeschehen, also die Entstehung des Lebens auf der Erde bis hin zum denkenden Menschen, als Vollzug jenes spirituellen Weltgeistes verstanden werden. Die Evolution hat nicht nur die körperliche Gestalt des Menschen hervorgebracht sondern auch seine mentalen Qualitäten, die wir als Tugenden bezeichnen, wie Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Treue und Humor. (vgl. Geoffrey F. Miller, „Die sexuelle Evolution“, 2001) Zu den Erscheinungen, die sich seit Urzeiten bei allen Völkern der Welt finden, gehören auch die Religionen. Sie sind wohl nicht, wie die erwähnten Tugenden, genetisch programmiert, sondern ergeben sich offenbar als Denknotwendigkeit aus der allmählich heranreifenden Fähigkeit, in Begriffen von Ursache und Wirkung zu denken. Wo man Wirkungen, aber nicht deren Ursachen erkannte, glaubte man es mit Geistern, Dämonen oder Göttern zu tun zu haben. Insoweit sind die Religionen ebenfalls – wenigstens mittelbar - als Vollzug des Weltgeistes zu verstehen. Das gilt nicht für die Glaubensinhalte selbst. Sie sind mit dem intellektuellen Fortschritt der Menschheit mitgewachsen und spiegeln die geistige Verfassung der Völker zur Zeit ihrer Gründung. Die jüdische und die christliche Religion stammen aus einem Zeitalter, in dem die Natur und die Welt weitgehend unverstanden waren. „Wunder“ erschienen als überzeugende Quellen der Offenbarung. Das änderte sich mit dem Beginn der Aufklärung, als man Wunder als Widersprüche zur erkannten Wahrheit ablehnte.
Damit schließt sich ein Gedankenkreis: Von der Ablehnung der christlichen Glaubensinhalte über die Ahnung eines spirituellen Weltgeistes bin ich zur Anerkennung von Religionen als früher Ausdruck dieses Weltgeistes gekommen. Den Wahrheitsanspruch, den die Religionen seit jeher erheben, haben sie an die Wissenschaft abtreten müssen. Sie können nicht mehr sein als Versuche der symbolischen Umschreibung eines unfassbaren geistigen Hintergrundes der Welt. Sie sind damit nicht bedeutungslos. Die abendländische Geisteskultur ist so innig mit christlichem Gedankengut durchtränkt und sogar erst aus diesem hervorgewachsen, dass ich darin allen dargelegten Zweifeln zum Trotz meine geistige Heimat erkennen kann.
Die Frage, ob sich dieser „Weltgeist“ mit dem Begriff „Gott“ identifizieren lässt oder ob mein Weltbild als atheistisch zu bezeichnen ist, erscheint mir bedeutungslos.
Peter Huch, Juli 2018
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- Peter Huch (Autor:in), 2015, Glaubensbekenntnis eines Atheisten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/308571
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