„60 Augenpaare starren mich an, wenn ich an der Tafel etwas erklären muss. Das halte ich nicht aus, am liebsten würde ich abhauen.“ (Report Psychologie 15.04.2014) Bei meiner Arbeit als Schulsozialarbeiterin an einem Berufskolleg begegneten mir immer wieder Schülerinnen und Schüler, die über ähnliche Erfahrungen und Erlebnisse berichteten. Viele erlebten Unsicherheit in sozialen Situationen, hatten Angst, vor größeren Gruppen zu sprechen; Angst, nach einem Praktikumsplatz zu fragen; Angst, vor Prüfungen und teilweise auch Angst, telefonischen Kontakt mit Institutionen aufzunehmen. Diese Ängste können sich sehr belastend auf das Leben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswirken und führten mitunter zu starkem Vermeidungsverhalten. Teilweise trauten sich die Betroffenen bei Krankheiten nicht, in der Schule anzurufen oder vermeiden den Schulbesuch vollständig, was sich negativ auf ihre Zukunftschancen auswirkte. Meine Beobachtungen werden durch Studien zur sozialen Phobie bestätigt. Nach Angaben von der wissenschaftliche Geschäftsführerin der Verhaltenstherapieambulanz Frankfurt Dr. Regina Steil ist die soziale Phobie „eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, wobei soziale Ängste mit einem hohen Risiko für einen vorzeitigen Schulabbruch einhergehen“ (iDW, 19.09.2012). Circa 5 bis 10% aller Jugendlichen erkranken im Laufe ihres Lebens nach Angaben des Informationsdienst Wissenschaft (iDW) an einer sozialen Phobie (ebd.).Die folgende Arbeit wird sich zunächst umfassend mit der Theorie sozialer Angst in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen beschäftigen, auf die Verbreitung im Jugendalter näher eingehen und dann die Zusammenhänge von sozialer Angst und Schule aufzeigen. Sie schließt mit einem umfangreichen Leitfaden für die Beratung im Rahmen der Schulsozialarbeit ab, der zunächst auf die Beratung älterer Jugendlicher und junger Erwachsener (16 bis 25 Jahre) ausgelegt ist, jedoch auch an jüngere Jugendliche durch eine „kindlichere“ Ausgestaltung angepasst werden kann. Viele der Hinweise im Beratungsleitfaden können auch in anderen Beratungsformen (Z.B. in der psychologische Beratungsstelle etc.) Anwendung finden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Besonderheiten des Jugendalters und des jungen Erwachsenenalters
3. Soziale Angst
3.1 Symptomatik und Klassifikation
3.1.1 Klinische Formen sozialer Angst
3.1.1.1 Soziale Phobie bzw. soziale Angststörung
3.1.1.2 Ängstliche bzw. vermeidend –selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
3.1.2 Subklinische Formen sozialer Angst
3.1.2.1 Subklinische soziale Ängste
3.1.2.2 Schüchternheit
3.1.3 Zusammenfassung
3.2 Epidemiologie und Komorbidität im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter
3.2.1 Prävalenz
3.2.2 Erstmanifestation, Verlauf und Prognose
3.2.3 Komorbidität
3.2.4 Inzidenz und Persistenz
3.2.5 Folgen
3.2.6 Hilfesuchverhalten und Behandlungserfolge
3.2.7 Zusammenfassung und Folgerungen
3.3 Ätiologie
3.3.1 Biologische Vulnerabilitätsfaktoren
3.3.1.1 Heritabilität
3.3.1.2 Persönlichkeitseigenschaften
3.3.1.3 Neurobiologische Aspekte
3.3.2 Psychologische und familiäre Vulnerabilitätsfaktoren
3.3.2.1 Bindungs- und Erziehungsstil
3.3.2.2 Psychische Vorerkrankungen
3.3.3 Störungsspezifische Faktoren
3.3.3.1 Soziale Kompetenz.
3.3.3.2 Sensibilität für Gesichtsausdruck und Blickkontakt
3.3.3.3 Kognitive Prozesse
3.3.3.3.1 Theoretische Grundlagen und allgemeine Befunde
3.3.3.3.2 Befunde aus Studien
3.3.4 Faktoren der individuellen Lebensbiografie, Lebensereignisse
3.3.5 Soziodemografische Faktoren
3.3.6 Zusammenfassung und Folgerungen
4. Soziale Angst im Zusammenhang mit dem Lebens- und Lernort Schule
4.1 Auswirkungen schulischer Bedingungen auf soziale Angst
4.2 Soziale Angst und Schulangst
4.3 Auswirkungen von sozialer Angst auf den Schulerfolg
4.4 Zusammenfassung und Folgerungen
5. Beratung der sozialen Angst in der Schule
5.1 Ausgangsbedingungen und Setting im Kontext Schule
5.1.1 Einbeziehung des Lehrerkollegiums
5.1.2 Niederschwelligkeit und Freiwilligkeit des Angebotes
5.2 Ein Beratungsleitfaden
5.2.1 Phase 1 – Schaffung günstiger Ausgangsbedingungen
5.2.1.1 Entwicklung einer „therapeutischen Allianz“
5.2.1.2 Problembezogene Informationssammlung
5.2.1.3 Organisatorische Aspekte
5.2.2 Phase 2: Aufbau von Änderungsmotivation und vorläufige Auswahl von Änderungsbereichen
5.2.2.1 Aufbau von Beratungsmotivation (speziell Änderungsmotivation)
5.2.2.2 Vorläufige Auswahl von Änderungsbereichen
5.2.3 Phase 3 - Verhaltensanalyse und funktionales Bedingungsmodell
5.2.4 Phase 4 - Vereinbaren von Beratungszielen
5.2.5 Phase 5 – Planung, Auswahl und Durchführung spezieller Methoden
5.2.5.1 Kognitive Umstrukturierung
5.2.5.2 Verhaltensexperimente und Verhaltensmodifikation
5.2.6 – Phase 6 – Evaluation
5.2.7 Phase 7 - Endphase – Erfolgsoptimierung und Abschluss der Therapie
5.2.7.1 Stabilisierung und Transfer
5.2.7.2 Beendigen / Ausblenden der Kontakte
5.3 Zusammenfassung
6. Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
1. „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ München
2. „Bremer Adolescent Study“
3 „Dresden Predictor Study“ (DPS)
4. Frankfurter Studie zur Anwendbarkeit des Kognitiven Modells auf Jugendliche
Darstellungsverzeichnis
Darstellung 1: Das Kontinuitätsmodell der sozialen Phobie bzw. Angststörung (Stangier & Fydrich 2002, S. 23)
Darstellung 2: ICD10-Kriterien Soziale Phobie (F.40.1) in Anlehnung an Tuschen-Caffier und Kollegen (2009)
Darstellung 3: DSM-IV-TR-Kriterien: Soziale Angststörung (300.23) in Anlehnung an Tuschen-Caffier und Kollegen (2009)
Darstellung 4: Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben 2003, S. 255)
Darstellung 5: ICD-10-Kriterien der ängstlich(-vermeidenden) Persönlichkeitsstörung in Anlehnung an Dilling, Mombour & Schmidt (2014)
Darstellung 6: Kumilierte Lebenszeitinzidenzen sozialer Ängste und der sozialen Angststörung sowie isolierter Leistungsängste; gewichtete Daten (nach Müller 2002, S. 109)
Darstellung 7: Dauer der sozialen Angststörung, sozialer Ängste ohne Diagnose sowie von Leistungsängsten mit und ohne Diagnose; gewichtete Daten (Müller 2002, S. 112)
Darstellung 8: Modell der Prozesse, welche bei Sozialphobikern in sozialen Situationen ausgelöst werden nach Clark & Wells (1995, in Clark und Ehlers 2002).
Darstellung 9: Zusammenwirken verschiedener Faktoren bei sozialer Phobie (Schreiber u.a. 2012)
Darstellung 10: Rolle soziodemografischer Faktoren auf das erste Auftreten sozialer Angst
Darstellung 11: Multifaktorielles Erklärungsmodell der sozialen Angststörung sowie teilweise der VSPS
Darstellung 12: Zusammenhang zwischen sozialer Angst und Schulangst
Darstellung 13: Determinanten einer horizontalen Verhaltensanalyse (Kanfer u.a. 2006, S. 206)
Darstellung 14: Erklärungsmodell für einen Jugendlichen mit der Angst vor einem Blackout (Steil und Kollegen 2011, S. 96)
Darstellung 15: Beispiel des Zusammenhangs zwischen Makro- und Mikroebene bei sozialer Angst
Beispielverzeichnis
Beispiel 1: Beratung als gemeinsamer Prozess, angelehnt an Kanfer und Kollegen (2006)
Beispiel 2: Motivierende persönliche Erfahrungen
Beispiel 3: Lösungsorientiertes Verbalisieren / Spiegeln
Beispiel 4: Vergleiche / Metaphern
Beispiel 5: Auf Ängste ansprechen
Beispiel 6: Fragen zur Kooperationsmotivation
Beispiel 7: Imaginationsübung zu Zielen
Beispiel 8: Rückmeldung einholen
Beispiel 9: Vorlage zur Selbstbeobachtung
Beispiel 10: Verhaltensanalyse bei sozialer Angst
Beispiel 11: Lebensthematik / übergeordnete Ziele und Pläne
Beispiel 12: Zusammenfassung der Probleme und angemessene wissenschaftlich-psychologische Erklärung
Beispiel 13: Zielfindung
Beispiel 14: Ressourcen und hemmende Faktoren im Umfeld
Beispiel 15: Kontrakt
Beispiel 16: Dysfunktionale Gedanken erkennen
Beispiel 17: Sokratischer Dialog
Beispiel 18: Methoden bei dichotomen Denken
Beispiel 19: Protokollvorlage für Rollenspiel
Beispiel 20: Instruktion für Rollenspiel 1
Beispiel 21: Instruktion für Rollenspiel 2
Beispiel 22: Instruktion für Rollentausch
Beispiel 23: Aufmerksamkeitsfokussierung
Beispiel 24: Reflexion des Rollenspiels im Rahmen des sokratischen Dialogs
Beispiel 25: Anleitung zur Betrachtung des Gesamtkontextes
Beispiel 26: Überprüfung der Bewertungskriterien anderer Menschen
Beispiel 27: Evaluation der Beratung aus Klienten-Sicht
Beispiel 28: Übertragung der Beratungserfolge
Beispiel 29: Zusammenfassung des Beratungsprozesses, angelehnt an Tuschen-Caffier und Kollegen (2009, S. 108)
Beispiel 30: Vorbereitung auf Rückfälle
Beispiel 31: Einleitung des Abschlussfeedback
1. Einleitung
„60 Augenpaare starren mich an, wenn ich an der Tafel etwas erklären muss. Das halte ich nicht aus, am liebsten würde ich abhauen.“ (Report Psychologie 15.04.2014) Bei meiner Arbeit als Schulsozialarbeiterin an einem Berufskolleg begegneten mir immer wieder Schülerinnen und Schüler[1], die über ähnliche Erfahrungen und Erlebnisse berichteten. Viele erlebten Unsicherheit in sozialen Situationen, hatten Angst, vor größeren Gruppen zu sprechen; Angst, nach einem Praktikumsplatz zu fragen; Angst, vor Prüfungen und teilweise auch Angst, telefonischen Kontakt mit Institutionen aufzunehmen. Diese Ängste können sich sehr belastend auf das Leben der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auswirken und führten mitunter zu starkem Vermeidungsverhalten. Teilweise trauten sich die Betroffenen bei Krankheiten nicht, in der Schule anzurufen oder vermeiden den Schulbesuch vollständig, was sich negativ auf ihre Zukunftschancen auswirkte. Meine Beobachtungen werden durch Studien zur sozialen Phobie bestätigt. Nach Angaben von der wissenschaftliche Geschäftsführerin der Verhaltenstherapieambulanz Frankfurt Dr. Regina Steil ist die soziale Phobie „eine der häufigsten psychischen Erkrankungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter, wobei soziale Ängste mit einem hohen Risiko für einen vorzeitigen Schulabbruch einhergehen“ (iDW, 19.09.2012). Circa 5 bis 10% aller Jugendlichen erkranken im Laufe ihres Lebens nach Angaben des Informationsdienst Wissenschaft (iDW) an einer sozialen Phobie (ebd.). Aus diesem Grund habe ich beschlossen, mich mit dem Thema Soziale Angst bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen näher zu beschäftigen und aufzuzeigen, wie eine wirkungsvolle Beratung im Rahmen der Schulsozialarbeit aussehen kann. Unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind in diesem Fall - in Anlehnung an die Shell-Jugendstudie (Albert, Hurellmann & Quenzel 2010) - junge Menschen zwischen 12 und 25 Jahren gemeint, wobei die Spannbreite des Alters in einzelnen Untersuchungen davon abweichen kann, was dementsprechend kenntlich gemacht wird. Die Vorschläge im Beratungsleitfaden sind für etwas ältere Jugendliche und junge Erwachsene (16 bis 25 Jahre) gedacht, können jedoch an jüngere Jugendliche durch eine „kindlichere“ Ausgestaltung angepasst werden. Die folgende Arbeit wird sich zunächst umfassend mit der Theorie sozialer Angst in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen beschäftigen, um dann auf den Zusammenhang von sozialer Angst und Schule näher einzugehen und schließlich Hinweise für die Beratung im Rahmen der Schulsozialarbeit aufzuzeigen. Dabei werden folgende Fragen beantwortet:
- Was sind Entwicklungsanforderungen im Jugend- und jungen Erwachsenenalter (siehe Kapitel 2)?
- Was ist soziale Angst? Wie verbreitet ist soziale Angst unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Welchen Verlauf nimmt sie? Mit welchen Störungen steht sie im Zusammenhang? Was sind die Folgen sozialer Angst? Was sind Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren (siehe Kapitel 3)?
- Welche Zusammenhänge gibt es zwischen sozialer Angst und dem Lebens- und Lernort Schule (siehe Kapitel 4)?
- Was sind Ausgangsbedingungen für eine gelingende Beratung an Schule? Wie kann eine solche Beratung in Anlehnung an das Modell von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (2006) aussehen (siehe Kapitel 5)?
2. Besonderheiten des Jugendalters und des jungen Erwachsenenalters
Wie verschiedene Autoren (z.B. Brisch 2014; Petermann & Petermann 2010; Oerter & Dreher 2008; Erikson 2013) aufzeigen und es auch im Alltag sichtbar wird, ist das Jugendalter mit vielfältigen Anforderungen verbunden. Dazu gehören in den „modernen Industriegesellschaften“ (Albert, Hurrelman & Quenze 2010, S. 40) vor allem folgende:
- Entfaltung „intellektueller und sozialer Kompetenz“, um eigenverantwortlich schulischen und später beruflichen Anforderungen nachzukommen sowie das Treffen von Entscheidungen für Schule, Ausbildung und Beruf mit dem Ziel eine berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und somit die „eigene ökonomische Basis für die selbstständige Existenz als Erwachsener zu sichern“ („Entwicklungsaufgabe: `Qualifikation`“) (ebd.).
- die soziale und emotionale Loslösung von der eigenen Familie, das Übernehmen der Geschlechterrolle, der Aufbau von sozialen und emotionalen Beziehungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts, die Akzeptanz des eigenen Äußeren / des eigenen Körpers, der Aufbau stabiler Partnerschaften („Entwicklungsaufgabe: `Ablösung und Bindung`“) (ebd.).
- Erlernen des Umgang mit Geld und Konsumwaren einschließlich Medien mit dem Ziel, „einen eigenen Lebensstil und einen kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgangs mit dem `Freizeit´-Angeboten zu entwickeln“ („Entwicklungsaufgabe: ´Regeneration´“) (ebd.).
- der Aufbau von autonomen Werten und Normen und eines ethischen und politischen Bewusstsein, welche sich von denen der Eltern und Geschwister unterscheiden, als Grundlage für das eigene Verhalten sowie das Streben nach und das Einüben von sozialverantwortlichem Handeln, („Entwicklungsaufgabe: `Partizipation`“) (ebd.).
Aufgrund von „zunehmend schwerer vorhersehbarer Risiken in Beruf und alltäglicher Lebensführung“ in Verbindung mit Konkurrenz und Individualisierung ist diese Phase gerade heute mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, welche schnell zu „Ausweichen, Abtauchen oder auch zu Aggression und Verweigerung führen und Jugendliche aus der Balance bringen“ können, wenn Schutz und Stabilität über stabile soziale Netzwerke im persönlichen Nahbereich fehlen (Albert u.a. 2010, S. 15). Je nach der Bindung im Elternhaus kann es zu unterschiedlichen Konflikten bei diesem Ablöseprozess kommen, welche beim Jugendlichen zu Verhaltensstörungen führen mögen (vgl. Brisch 2014; Petermann & Petermann 2010). Aufgrund des ökonomischen Wandels müssen Jugendliche heute mehr Informationen verarbeiten und mehr Entscheidungen treffen als die Generationen vor ihnen. Dazu benötigen sie vielfältige Kompetenzen. Dazu gehören die Voraussicht Konsequenzen ihrer Handlungen zu beurteilen ebenso wie Selbstkenntnis und das Selbstbewusstsein, zu erkennen, was ihnen wichtig ist und auch danach zu handeln (vgl. Albert u.a. 2010). Um ihre Entwicklungsaufgaben zu erfüllen, suchen sich Jugendliche Vorbilder außerhalb der Familie. Die Jugendlichen streben nach Unabhängigkeit durch einen – im besten Fall – Schritt für Schritt stattfindenden Prozess des Loslösens vom Elternhaus und damit verbunden dem Aufbau von Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit (vgl. Petermann & Petermann 2010 ). Aufgabe und Ziel ist es, im Jugendalter eine gelungene „Bindungs- und Autonomie-Balance“ herzustellen (Radke 2014, S. 23). Dabei rücken Freundschaften und Paarbeziehungen in den Mittelpunkt. Auch Schulen, religiöse oder politische Verbände, Institutionen oder andere Formen von Gruppen können zu einer zentralen Bindungsfigur werden. Emotionale Sicherheit, auch am Lebens- und Lernort Schule, spielt deshalb eine große Rolle für optimales Lernen. Durch eine Störung des Lernprozesses können auch Störungen in der Autonomieentwicklung entstehen (vgl. Radke 2014). Große Probleme können auch entstehen, wenn die Ablösung vom Elternhaus zwar gelingt, aber keine Anbindung an Gleichaltrige erfolgt (Petermann & Petermann, 2010).
3. Soziale Angst
Soziale Angst tritt in Interaktionskontexten auf und zeigt sich in verschiedenartigen indirekten und direkten Erscheinungsformen und Ausprägungsgraden. So gehören neben der pathologischen Form beispielsweise auch Lampenfieber und Schüchternheit zu den Formen sozialer Angst (vgl. Müller 2002). Wie Tuschen-Caffier, Kühl und Bender (2009) anmerken, ist in der Literatur eine große Anzahl von Begriffen zu finden, welche häufig synonym zur Definition des Konzeptes soziale Angst bzw. soziale Phobie verwandt werden. Münchau, Demal und Hand (1998) sprechen beispielsweise bei dem Versuch, Gehemmtheit in sozialen Situationen zu definieren von Selbstunsicherheit, sozialer Angst, mangelndem Selbstvertrauen und sozialer Phobie. Dieses Kapitel wird sich zunächst näher mit den verschiedenen Formen sozialer Angst beschäftigen, um dann – anhand ausgewählter empirischer Studien – auf die Verbreitung sozialer Angst bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland einzugehen. Ziel ist es, die Wichtigkeit einer qualifizierten Beratung am Lebensort Schule aufzuzeigen. Weitere Punkte werden die Komorbidität und die Folgen sozialer Angst sein, wobei insbesondere auch die Folgen für die schulische und berufliche Entwicklung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Blick genommen werden. Auch die Faktoren, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung beitragen, werden mit Hinblick auf die Möglichkeiten der Beratung Bestandteil des folgenden Kapitels sein.
3.1 Symptomatik und Klassifikation
Wie Müller (2002) und verschiedene andere Autoren (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009; Stangier & Fydrich 2002) aufzeigen, ist es nicht einfach, die pathologischen oder klinischen sozialen Ängste von den weit verbreiteten nichtpathologischen sozialen Ängsten abzugrenzen. So führen Turner, Beidel & Townsley (1990) beispielsweise einige Definitionen zu Schüchternheit und sozialer Phobie an, wobei sie zu dem Schluss kommen, dass es aufgrund der gebräuchlichen Beschreibungsmerkmale kaum möglich ist, Schüchternheit und soziale Phobie genau voneinander abzugrenzen. Auch die Abgrenzung der sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung - in Form des generalisierten Subtyps - zur vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung wird aufgrund der großen Überschneidungsmerkmale häufig kritisch bewertet (vgl. Müller 2002, Stanger & Fydrich 2002). Stangier & Fydrich (2002, S. 23) gehen von einem „Kontinuum von unterschiedlichen Ausprägungsgeraden von sozialer Angst“ aus, wie szes in der folgenden Darstellung (Darstellung1) dargestellt wird:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 1: Das Kontinuitätsmodell der sozialen Phobie bzw. Angststörung (Stangier & Fydrich 2002, S. 23)
Diese Auffassung wird auch von anderen Wissenschaftlern geteilt, wobei es auch Befunde gibt, die dagegen sprechen (vgl. Müller 2002). So zeigen Turner, Beidel und Townsley (1990), dass Schüchternheit keine Bedingung für die soziale Angststörung ist und sich auch nicht alle sozial ängstlichen Personen als schüchtern bezeichnen lassen.
Zum besseren Verständnis der verschiedenen Formen sozialer Angst werden diese im Folgenden dargestellt. Unterschieden wird dabei zwischen den klinischen (pathologischen) und den subklinischen (nichtpathologischen) Formen sozialer Angst.
3.1.1 Klinische Formen sozialer Angst
Zu den klinisch relevanten Formen sozialer Angst gehören sowohl die soziale Phobie oder soziale Angststörung als auch die ängstlich-vermeidende / vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung. Der Begriff der sozialen Angststörung wurde in den letzten Jahren zunehmend als Alternativformulierung zur Sozialen Phobie eingesetzt, wenn es um die klinisch relevante Form sozialer Angst geht (vgl. Steil, Matulis, Schreiber & Stangier 2011). Er wurde im DSM-IV-TR (APA 2000, deutsche Fassung 2003) eingeführt, „um den empirisch inzwischen abgesicherten umfassenden Charakter der Störung besser auszudrücken, als dies im Begriff einer eng umschriebenen Phobie geschieht“ (Tuschen-Caffier u.a. 2009, S. 15). Der Begriff „(ängstlich-) vermeidende Persönlichkeitsstörung“ stammt aus der „Internationale[n] statistische[n] Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD), der Begriff „vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung“ aus dem „Diagnostische[n] und Statistische[n] Manuel psychischer Störungen“ (DSM), wobei die Beschreibung des Störungsbildes weitestgehend übereinstimmt (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009).[2] Im Folgenden soll näher auf die Symptomatik und Klassifikation der Störungsbilder nach den aktuellen Klassifikationssystemen eingegangen werden. Dabei werden - soweit vorhanden - sowohl die Diagnosekriterien für Erwachsene als auch die Hinweise für Kinder und Jugendliche, wie sie im DSM-IV-TR konzipiert wurden, Beachtung finden.
3.1.1.1 Soziale Phobie bzw. soziale Angststörung
Die soziale Phobie oder soziale Angststörung hat als eigenständige psychische Störung mit der Bezeichnung Soziale Phobie seit dem Jahr 1980 Eingang in das „Diagnostische und Statistische Manuel psychischer Störungen“ (DSM) der American Psychiatric Association (APA) und seit dem Jahr 1993 in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gefunden (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009). Die Kriterien beider Klassifikationssysteme überlappen sich weitgehend, wobei die Beschreibung situativer Aspekte im DSM weniger konkret ist, die Angst vor körperlichen Symptomen nicht angegeben wird und eine Differenzierung in Subtypen fehlt. Dagegen schreibt das ICD-10 für eine Diagnose das Vorliegen von körperlichen Angst-Symptomen vor, was empirisch nicht zu rechtfertigen ist, wie Studien (vgl. Amies, Gelder und Shaw 1983) zeigen. Die Kriterien für die Erfüllung einer sozialen Phobie nach dem ICD-10 sind im Folgenden (Darstellung 2) aufgeführt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 2: ICD10-Kriterien Soziale Phobie (F.40.1) in Anlehnung an Tuschen-Caffier und Kollegen (2009)
Im ICD-10 existiert für Kinder und Jugendliche die Option, eine soziale Phobie mit den gleichen Kriterien wie bei Erwachsenen zu codieren. Alternativ ist auch die Diagnose einer Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F. 93.2) aus der Kategorie emotionale Störungen des Kindesalters möglich, wenn die Störung vor dem sechsten Lebensjahr des Kindes angefangen hat (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009). Die aktuelle Auflage des DSM in deutscher Sprache (DSM-IV-TR, APA 2000, deutsche Fassung 2003) enthält neben den grundsätzlichen Diagnosekriterien zusätzliche Hinweise für Kinder, um der Tatsache zu entsprechen, dass die Störung in der Kindheit angefangen hat und die gesamte Lebensspanne umfassen kann.[3] Die Kriterien für eine soziale Angststörung gemäß dem DSM-IV-TR sind hier (Darstellung 3) aufgelistet:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 3: DSM-IV-TR-Kriterien: Soziale Angststörung (300.23) in Anlehnung an Tuschen-Caffier und Kollegen (2009)
In der aktuellen Version des DSM (DSM-5, APA 2013), welche bisher nur in englischer Fassung vorliegt, wurde das Kriterium C, die Einsicht, „dass die Angst übertrieben und unvernünftig ist“, gestrichen (Elze 17.04.2014). Nach den Kriterien des DSM-IV-TR zeichnet sich eine soziale Angststörung durch eine anhaltende und ausgeprägte Angst vor Leistungssituationen oder sozialen Situationen aus, in denen die Betroffenen die Befürchtung haben, von anderen negativ eingeschätzt zu werden oder sich - z. B. durch das Zeigen von Angstsymptomen wie Erröten, Zittern oder Schwitzen - blamabel zu benehmen (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009). Zu Leistungssituationen zählen Begebenheiten, in denen man Tätigkeiten durchführt, welche einer Beobachtung und Bewertung durch Andere unterliegen können, wie zum Beispiel Essen, Trinken oder Schreiben vor anderen Menschen, Betreten eines Raumes, in dem bereits andere Personen sitzen, (mündliche) Prüfungen und - als häufigste angstauslösende Reaktion - Reden in der Öffentlichkeit. Zu sozialen Situationen oder Interaktionssituationen gehören alle Situationen, in denen eine wechselseitige Beziehung zustande kommt. Dazu gehören typischerweise Kontakte mit dem anderen Geschlecht, mit Autoritätspersonen und Fremden, Besuche von Konferenzen oder Feiern, Situationen, in denen etwas reklamiert wird, und Telefongespräche (vgl. Stangier & Frydrich 2002). Folge dieser Angst ist ein umfassendes Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Dieses spielt eine bedeutende Rolle bei der Aufrechterhaltung der sozialen Angststörung. Sozial ängstliche Menschen vermeiden es, sozial bedrohliche Situation aufzusuchen bzw. flüchten wenn möglich aus ihnen. Auch passiv-unterwürfiges Verhalten bis hin zur vollständigen Verhaltensblockade, welche „freezing“ genannt wird, gehört zu der Vermeidungsstrategie der Betroffenen. So lassen sich sozial phobische Jugendliche beispielsweise gar nicht erst auf romantische Beziehungen ein, lösen soziale Beziehungen nach und nach und / oder gehen hohen schulischen oder beruflichen Anforderungen aus dem Weg. Schulverweigerung zählt als die häufigste Form der Vermeidung bei Kindern und Jugendlichen. Auch andere Formen altersgemäßer sozialer Aktivitäten werden vermieden (vgl. Stangier & Fydrich 2002; Steil u.a. 2011). Der Begriff „Sicherheitsverhalten“ bezeichnet alle Strategien, welche in sozialen Situationen eingesetzt werden, um die befürchtete Blamage abzuwenden oder die Folgen der Blamage abzuwehren. Dazu gehören zum Beispiel das rigide Ablesen eines Vortrags vom Manuskript oder das Auswendiglernen von Sätzen, um „Stocken“ bei öffentlichen Vorträgen zu vermeiden, ebenso wie das starke Schminken, um das Erröten des Treten des Gesichts weniger sichtbar werden zu lassen. Bei Kindern und Jugendlichen zeigt sich Sicherheitsverhalten zum Beispiel auch durch das Tragen von Schirmmützen und weiter Kleidung, auch darin sich die Haare ins Gesicht fallen zu lassen oder immer wieder die Kleidung zu überprüfen. Sozial phobische Kinder und Jugendliche spielen vermehrt mit dem Handy, hören MP3, beginnen seltener Gespräche, melden sich im Unterricht erst, wenn schon jemand aufgerufen wurde und / oder trauen sich nicht Fragen zu stellen (vgl. Steil u.a. 2011). Da die eingesetzten Verhaltensweisen auf höchst individuellen Erwartungen hinsichtlich ihrer Effekte basieren und zudem in hohem Maße automatisiert und damit unbewusst ablaufen, ist es oft nicht leicht, diese als Sicherheitsverhalten zu identifizieren. Zudem werden teilweise auch mentale Prozesse, wie das Ablenken der eigenen Aufmerksamkeit von negativen Kognitionen durch gezielt positives Denken, als Sicherheitsverhalten eingesetzt, welche nicht direkt erkennbar sind. Das Einsetzen von Sicherheitsverhalten hat mehrere negative Folgen. So kann es unter anderem Körperreaktionen auslösen, die eigentlich vermieden werden sollten. Eine verkrampfte Haltung, und damit Erscheinungen des Zitterns, können zum Beispiel hervorgerufen werden, wenn jemand sein Glas sehr fest hält, um das Zittern zu verhindern. Neben dem gezeigten Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten kann auch „sozial inadäquates“, das heißt unsicheres, ungeschicktes, nicht auf die Erwartungen anderer angepasstes Verhalten“ zu sozialer Entwertung und der Insuffizienz führen, soziale Anforderungen in der Schule, am Arbeitsplatz oder im zwischenmenschlichen Beziehungen zu erfüllen. Die soziale Phobie geht zudem oft mit körperlichen Folgesymptomen einher. Starkes Herzklopfen (70,8%), Zittern (66,7%), Kälteschauer (62,5%) und Schwitzen (54,2%) zählen zu den „charakteristischen physiologischen Reaktionen bei sozial phobischen Kindern und Jugendlichen“ (Steil u.a. 2011, S. 15). Zudem klagten Kinder mit sozialer Angst über Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Muskelanspannung, Erstarren, Atemlosigkeit – Symptome, die allerdings viele phobische Störungsbilder auszeichnen (ebd.). Auch bei sozial ängstlichen Erwachsenen sind diese Phänomene zu beobachten (vgl. Stangier & Fydrich 2002). Zu beachten ist, dass eine Diagnose der sozialen Angststörung nur erfolgen darf, „wenn die Angst oder Vermeidung deutlichen Leidensdruck oder eine gravierende Funktionsbeeinträchtigung im schulischen, beruflichen oder sozialen Leben mit sich bringt“ (Tuschen-Caffier u.a. 2009, S. 15). Das bedeutet, dass eine Person mit Angst vor dem Sprechen in der Öffentlichkeit die Diagnose nur dann erfüllen würde, „wenn diese Situation eine regelmäßige Anforderung in der Ausbildung oder im Beruf darstellt“ (a.a.O., S. 16,; vgl. Stangier & Fydrich 2002).
Subtypen
Da die soziale Phobie bezogen auf Symptomatik, Verlauf und Ätiologie eine sehr heterogene Störungsform darstellt, stellt sich die Frage, „ob man von einer Hauptform mit verschiedenen Variationen (Subtypen) oder verschiedenen Störungen (z.B. Soziale Phobie vs. Soziale Angststörung) ausgeht“ (Stangier & Fydrich 2002, S. 20). Das DSM beschreibt zwei Subtypen der sozialen Phobie bzw. der sozialen Angststörung. Die Beschreibung beinhaltet sowohl „generalisierte und beeinträchtigend chronische soziale Ängste“ und die damit einhergehenden gravierenden Beeinträchtigungen sowie „umschriebene soziale Ängste“, die sich eher als „spezifische“ oder „diskrete“ soziale Phobie äußern (Steil u.a. 2011, S. 14; vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009). Vom generalisierten Typ spricht man, wenn sich die Angst auf viele verschiedene Situationen bezieht bzw. „in den meisten sozialen Situationen“ auftritt. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass die generalisierte soziale Phobie mit einem größeren Schweregrad in Selbstbeurteilungsinstrumenten und auffällig stärkeren Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen einhergeht und dass Unterschiede bezüglich klinischer und diagnostischer Charakteristika vorhanden sind (vgl. Heimberg, Salzmann, Holt & Blendall 1993). Bei der Unterscheidung in die Subtypen stellt sich die Schwierigkeit, dass das Kriterium „in den meisten Situationen“ nicht genau spezifiziert ist. Es stellt sich die Frage, wie verschieden Situationen überhaupt voneinander abzugrenzen sind. Als Alternative schlagen verschiedene Autoren die Einteilung nach der Art der Angst auslösenden Situation vor, zum Beispiel in Form der Unterscheidung zwischen der Angst in Leistungs- und Interaktionssituationen (vgl. Mattick & Clark 1998). Diese Unterscheidung brachte jedoch im Vergleich keine Verbesserung der Validität und Reliabilität gegenüber den DSM-IV-Kriterien, weshalb die Unterteilung nach dem DSM-IV weitestgehend beibehalten wird (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009). Neuere Fragebogenuntersuchungen und Analysen epidemiologischer Daten sprechen dafür Patienten mit isolierter Redeangst von anderen Sozialphobikern mit stärkeren Beeinträchtigungen zu unterschieden (ebd.; vgl. Kessler, Stein & Berglund.1998).
3.1.1.2 Ängstliche bzw. vermeidend –selbstunsichere Persönlichkeitsstörung
Die ängstliche (-vermeidende) bzw. vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung zeichnet sich nach Fiedler (2009, S. 518) durch „grundlegende Ängste vor negativer Beurteilung, durch Schüchternheit und ein durchgängig soziales Unbehagen aus” und zeigt sich in „Verlegenheit, leichtem Erröten, Vermeiden von sozialer und beruflicher Herausforderung“. Sie geht mit Minderwertigkeitsgefühlen und extremer Empfindlichkeit gegenüber Kritik und negativer Bewertung einher (vgl. Wälte 2003). Sie stellt ebenso wie die Soziale Phobie bzw. Soziale Angststörung eine Kategorie der aktuellen Diagnosemanuale DSM-IV bzw. DSM-5 (vermeidend-selbstunsicher) und ICD-10 (ängstlich (-vermeidend)) dar. Dabei ist zu beachten, dass laut den DSM-IV-TR-Kriterien für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung folgende Bedingungen (Darstellung 4) erfüllt sein müssen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 4: Allgemeine diagnostische Kriterien einer Persönlichkeitsstörung (Saß, Wittchen, Zaudig & Houben 2003, S. 255)
Die ängstlich(-vermeidende) Persönlichkeitsstörung wird im ICD-10 wie folgt beschrieben (Darstellung 5):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 5: ICD-10-Kriterien der ängstlich(-vermeidenden) Persönlichkeitsstörung in Anlehnung an Dilling, Mombour & Schmidt (2014)
Nach dem DSM-IV-TR sind weitere Kriterien der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung (VSPS), welche im Großen und Ganzen mit der ängstlich(-vermeidenden) Persönlichkeitsstörung übereinstimmt: „Zurückhaltung in intimen Beziehungen aus Angst beschämt oder lächerlich gemacht zu werden" und das Vermeiden von persönlichen Risiken oder neuen Unternehmungen, „weil sich dies als beschämend erweisen könnte" (Saß u.a. 2003, S. 258).
Da es große Übereinstimmungen zwischen der sozialen Phobie bzw. der sozialen Angststörung - insbesondere des generalisierten Subtyps - und der beschriebenen Persönlichkeitsstörung (PS) gibt, stellt sich die Frage, ob es Sinn macht die Unterscheidung überhaupt aufrechterhalten, da sich bereits in der Formulierung der Kriterien deutliche Überlappungen finden (vgl. Clark & Ehlers 2002; Hofmann, Newman, Ehlers & Roth 1995; Stangier & Fydrich 2002). Aufgrund der starken inhaltlichen Überschneidungen werden beide Störungen auch häufig gemeinsam diagnostiziert. So lag die Komorbidität der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung und der generalisierten Form der sozialen Phobie in Studien bei bis zu 90%. Personen mit dem generalisierten Subtyp der sozialen Angststörung und der gleichzeitigen Diagnose einer vermeidend-selbstunsicheren PS zeigen „eine gravierende sozialphobische Symptomatik, geringere soziale Fertigkeiten und geringere Selbstsicherheit“ im Vergleich zu Patientinnen und Patienten mit sozialer Phobie, die keine vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung aufweisen (Heidenreich & Stangier 2002, S. 294). Befunde zeigen, dass bei der spezifischen Form der sozialen Phobie die Häufigkeit von gleichzeitiger Diagnose einer vermeidend-selbstunsicheren PS wesentlich geringer ist als beim generalisierten Subtyp (Heidenreich & Stangier 2002). Auch in der Ätiologie lassen sich einige Gemeinsamkeiten für die vermeidend-selbstunsichere PS und die soziale Phobie finden. So zeigten die Studien, dass die Wahrscheinlichkeit eine soziale Phobie und eine VSPS zu entwickeln steigt, wenn ein Familienmitglied unter sozialen Ängsten leidet (ebd.). aufgrund der großen Gemeinsamkeiten und der in Folge wenigen Anhaltspunkte für eine kategoriale Unterscheidung wird von mehreren Autoren vorgeschlagen, „die klinischen Bilder auf einem Kontinuum verschiedener Schweregrade sozialer Angst“ zu beschreiben, welche von subklinischen „alltäglichen“ sozialen Ängsten am einen Ende des Spektrums bis zur vermeidend-selbstunsicheren PS am anderen Ende verläuft (vgl. Darstellung 1; Stangier & Fydrich 2002). Für eine Aufrechterhaltung der Unterscheidung spricht dagegen, dass Menschen mit einer VSPS ihre Symptome als ich-synton wahrnehmen, während Menschen mit einer sozialen Phobie dazu neigen, eine ich-dystone Haltung gegenüber ihren Ängsten zu zeigen, diese also als fremd und unerwünscht zu erleben.. Personen mit einer vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen möchten anderen gerne nahe sein oder näher kommen, haben aber gleichzeitig außerordentliche Angst und Misstrauen, dieses Bedürfnis in die Praxis umsetzen (vgl. Heidenreich & Stangier 2002; Fiedler 2001). Zudem kann der Grad der generalisierten Vermeidung bei Personen mit einer VSPS über den Bereich der sozialen Situationen hinaus gehen und sich auch auf neue Anforderungen und Aktivitäten und starke Emotionen beziehen, wie klinische Erfahrungen zeigen. Zur besseren Abgrenzung müsste eine „genauere Operationalisierung von Verlauf und Generalisierungsgrad der Störung erfolgen“ (a.a.O.).
Diagnose bei Kindern und Jugendlichen
In Bezug auf Jugendliche ist anzumerken, dass die Diagnose von Persönlichkeitsstörungen aufgrund der Manifestation der Störung im Erwachsenenalter vor dem 16 bzw. 17 Lebensjahr als unangemessen angesehen wird. Die deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie schreibt dazu in ihren „Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter“ (2007, S. 141):
Persönlichkeitsstörungen erfassen für das Individuum typische stabile und beherrschende (pervasive) Verhaltensweisen, die sich als rigide Reaktionsmuster in unterschiedlichsten Lebenssituationen manifestieren und mit persönlichen Funktionseinbußen und/oder sozialem Leid einhergehen. Dieses Definition beinhaltet, dass die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der Adoleszenz aufgrund der noch vorhandenen Entwicklungspotentiale zurückhaltend gestellt werden sollte. Allerdings lässt sich bei einigen Persönlichkeitsstörungen ein eindeutiges Kontinuum zwischen den Verhaltensmustern in Kindheit und Jugend und denen des Erwachsenenalters nachweisen, sodass auch aus klinisch praktischen Erwägungen die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung in der späten Adoleszenz sinnvoll sein kann.
Adam und Peters (2003, S. 50) weisen darauf hin, dass „komplexe Problemkonstellationen“ bei Kindern und Jugendlichen vorhanden sind und sich auf Pädagogik und Therapie auswirken, weshalb es wichtig ist, sich hinsichtlich ihrer Bedeutung und der Konsequenzen bewusst zu werden. Sie schlagen vor, alternativ zum Begriff der Persönlichkeitsstörung bei Erwachsenen, bei Kindern und Jugendlichen von „Persönlichkeitsentwicklungsstörungen“ im Rahmen einer Arbeitshypothese, die jederzeit widerlegt werden könne, zu sprechen, um unnötige Etikettierung zu vermeiden. Vieles spricht dafür, dass Vorformen von Persönlichkeitsstörungen bereits im Kinder und Jugendalter zu finden sind (vgl. Fiedler 2001).
3.1.2 Subklinische Formen sozialer Angst
In ihrer subklinische Ausprägung zeigt sich die soziale Angst beispielsweise in Form von Schüchternheit und / oder sozialen Ängsten, die nicht das Vollbild einer sozialen Phobie oder sozialen Angststörung erfüllen. Die Definition subklinischer sozialer Ängste erfolgt dabei in Abgrenzung zu den Kriterien der sozialen Angststörung des DSM-IV-TR, der Versuch der Definition der Schüchternheit anhand verschiedener Veröffentlichungen.
3.1.2.1 Subklinische soziale Ängste
Erreichen soziale Ängste nicht das Vollbild der sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung, werden sie regulär als subklinische soziale Ängste bezeichnet. Dazu gehören zum Beispiel Ängste mit geringer Ausprägung, welche Vermeidungsverhalten und Leidensdruck mit sich bringen, sowie Ängste, die das Zeitkriterium „dauerhaft“ bzw. bei Personen unter 18 Jahren „mindestens 6 Monate“ noch nicht erfüllen (Kriterium F). Das Kriterium E operationalisiert das Ausmaß, welches die Störung erfüllen muss, um die Abgrenzung zwischen subklinischer sozialer Angst und sozialer Phobie bzw. sozialer Angststörung zu erfüllen. Dies ermöglicht jedoch keine eindeutige Differenzierung, da der Übergang zur klinisch auffälligen Störung eher fließend ist (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009; Müller 2002). Hinzu kommt, dass sozial ängstliche Menschen den Leidensdruck durch ihre Ängste “realitätsunangemessen gering“ einschätzen (Tuschen-Caffier 2009, S. 19). Auch Betroffene mit anderen psychischen Auffälligkeiten, wie Stottern, leiden häufig unter sozialen Ängsten, die nach dem Kriterium H nicht als soziale Angststörung klassifizierbar sind. Dieses Kriterium wurde teilweise kritisiert (vgl. Tuschen-Caffier u.a. 2009)
3.1.2.2 Schüchternheit
Schüchternheit wird ebenfalls als eine subklinische Form der sozialen Angst angesehen. Sie zeigt sich durch Angst, Unwohlsein und Gehemmtheit in sozialen Situationen, beispielsweise wenn eine Bewertung durch Autoritäten stattfindet (vgl. Asendorpf 1998). Schüchternheit wird als „unklares Konzept“ angesehen, das keine einfache Definition zulässt. So unterscheidet man zwischen einem vorübergehenden Zustand der Schüchternheit („state shyness“) und einer Disposition zur Schüchternheit („trait shyness“) (vgl. Asendorpf 1987, 1989). Der Zustand der Schüchternheit entsteht bei vielen in sozial schwierigen Situationen, ohne dass sie sich prinzipiell als schüchtern bezeichnen würden. Dazu gehören zum Beispiel neue Situationen, die Konfrontation mit dem Unbekannten, die Anwesenheit von anderen und bestimmte Handlungen von anderen wie übermäßige oder unzureichende Aufmerksamkeit von anderen. Schüchternheit als Disposition tritt dagegen öfter und mit größerer Intensität auf. Sie tritt in einer Vielzahl von Situationen auf und ist über die Zeit hinweg stabiler (vgl. Buss 1980; Melfsen & Warnke 2004). Grund dafür kann nach Beobachtungen von Asendorpf (1998) ein vermindertes Selbstwertgefühl sein, welches durch vorhergehende Ablehnungserfahrungen entstanden ist. Zudem hängt die Stabilität der Schüchternheit von der Stabilität des Umfeldes ab (ebd.). Bezogen auf die kognitiven und physiologischen Parameter der Angst in sozialen Situationen lassen sich zwischen Schüchternheit und der sozialen Phobie mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede finden. So finden sich bei schüchternen Personen, ähnlich wie bei Personen mit sozialen Ängsten, Symptome wie emotionale Erregung, Erröten, Herzklopfen, Zucken der Muskeln, Schwitzen und Zittern (vgl. Turner, Beidel & Townsley 1990). Auch in Puls und Blutdruck unterscheiden sich beide Gruppen von „Normalpersonen“. (vgl. Kagan, Reznik & Snidman 1987). Bezogen auf die Kognitionen bestehen ebenfalls große Ähnlichkeiten. Ebenso wie sozial phobische Personen berichteten auch Personen – welche sich selbst als schüchtern bezeichneten von Angst vor negativer Beurteilung in sozialen Interaktionen (Turner, Beidel & Townsley 1990). Auch eine überhöhte Selbstaufmerksamkeit sowie die Schwierigkeit, sich in der Gegenwart anderer zu äußern, ist schüchternen Menschen eigen. Unterschiede ergeben sich vor allem dadurch, dass soziale Phobien durch einen höheren Leidensdruck, mehr Vermeidungsverhalten, geringer ausgeprägte soziale Kompetenzen und einen späteren Beginn als Schüchternheit gekennzeichnet sind (vgl. Turner, Beidel & Townsley 1990). Es gibt sowohl Befunde für die Ähnlichkeit zwischen der sozialen Phobie und Schüchternheit als auch Widersprüche, die dafür sprechen, dass es sich bei der sozialen Angststörung nicht um eine extreme Form der Schüchternheit handelt (vgl. Tuschen-Caffier 2009). Da es sich bei der Schüchternheit, wie oben angedeutet, um ein sehr breites Konzept – ohne klare diagnostische Kriterien - handelt, gibt es nur teilweise Überschneidungen zwischen beiden Konstrukten. Bisher ist unklar, wo Schüchternheit endet und die soziale Phobie beginnt (ebd.).
3.1.3 Zusammenfassung
Wie die oben beschriebenen Ausführungen deutlich machen, zeigt sich soziale Angst in verschiedenen Formen oder Ausprägungen, die teilweise von Schüchternheit über subklinische soziale Ängste bis hin zur sozialen Phobie oder Angststörung reichen. Insbesondere die generalisierte Form der sozialen Angststörung überschneidet sich in vielen Bereichen mit der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung. Oft ist eine Differenzierung zwischen den einzelnen Formen nicht einfach, weshalb sich einige Autoren für ein Kontinuitätsmodell der sozialen Phobie entschieden haben. Dies ist jedoch nicht unumstritten. Gemeinsam ist allen Formen sozialer Angst das Empfinden von Furcht in sozialen Situationen, welches mit der Angst vor negativer Bewertung in Zusammenhang steht. Dabei kann sich sowohl die Art der sozialen Situation als auch die Anzahl der Situationen, in denen soziale Angst empfunden wird, unterscheiden. Die Angst geht im Allgemeinen einher mit physiologischen Reaktionen, wie beispielsweise Zittern oder Erröten, und hat zum Teil Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten zur Folge. Je nach Ausprägungsgrad wird die normale Lebensführung, die Leistungsfähigkeit der Person im schulischen oder beruflichen Bereich oder soziale Aktivitäten deutlich beeinträchtigt und es kann zu deutlichem Leiden führen.
3.2 Epidemiologie und Komorbidität im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter
Schüchternheit ist als ein vorübergehendes Phänomen nicht ungewöhnlich. So bezeichneten sich in einer Studie von Zimbardo, Pilkonis und Norwood (1974) 60% aller Jugendlichen und 20-40% der Collegestudenten als schüchtern (ebd.; vgl. Buss (1980). Des Weiteren gaben 90% von 5000 befragten Amerikanern an, sich mindestens einmal im Leben schüchtern gefühlt zu haben (vgl. Turner, Beidel & Townsley 1990). Aufgrund des undefinierten Bildes von Schüchternheit gibt es jedoch keine aussagekräftigen Studien zur Verbreitung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Zur sozialen Phobie oder sozialen Angststörung gibt es dagegen mittlerweile einige Untersuchungen. Die soziale Angststörung gilt als eine der häufigsten psychischen Störungen. Wie eine Vielzahl von Studien zeigen, beginnt die soziale Phobie oft im Jugendalter. Hazen und Stein (1995) berichteten in einer Zusammenfassung von Studien aus dem Jahr 1976 bis 1992 von einem durchschnittlichen Erstauftretensalter der Störung von 13 bis 26 Jahren. In epidemiologischen Studien, in denen regulär der Beginn der Symptomatik erhoben wird (welcher nicht unbedingt mit dem Beginn der voll ausgeprägten Störung identisch ist), wird ein Durchschnittsalter von 10 bis 16,6 Jahren berichtet (vgl. Degonda & Angst 1993; De Wit, Ogborne, Offord & Mac Donald 1999). Der Verlauf der Störung ist meist chronisch, selten treten Spontanremissionen auf. Zur Stabilität und Dauer der Angststörung gibt es bisher wenige Studien, die zu relativ unterschiedlichen Ergebnissen kommen (vgl. Degonda & Angst 1993 Beidel, Fink & Turner 1996; Poulton Trainor, Stanton, McGee, Davies & Silva 1997; Müller 2002). Die durchschnittliche Störungsdauer liegt in mehreren Untersuchungen bei 19,4 bis 29 Jahren (vgl. De Wit u.a. 1999; Chartier, Hazen & Stein 1998; Wittchen u.a. 1992). Oftmals entwickeln sich soziale Phobien aus vorangehenden sozialen Ängsten. Während die Punktprävalenzrate im Kindesalter bei etwa 1 bis 3% liegt (vgl. Essau u.a. 2000), wird die Prävalenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf 5 bis 10% geschätzt (vgl. Wittchen, Stein & Kessler 1999). Im Folgenden soll auf einige empirische Studien, die insbesondere das Jugendalter und das junge Erwachsenenalter betreffen und in verschiedenen Teilen Deutschlands durchgeführt wurden, Bezug genommen werden. Dazu gehören die Münchener „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ (EDSPS), eine auf fünf Jahre konzipierte Längsschnittstudie mit drei Untersuchungswellen an 4236 Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren (vgl. Müller 2002); die Bremer „Adolescent Study“ (BAS), eine prospektive Längsschnittstudie mit einer Basiserhebung und einer Follow-Up-Untersuchung nach 15 Monaten an 1035 Jugendlichen zwischen 12 und 17 Jahren (vgl. Essau, Conradt & Petermann 2000); die Dresdener „Predictor Study“ (DPS), eine prospektive epidemiologische Studie an 1238 Frauen zwischen 18 und 24 Jahren (vgl. Vriends, Becker, Meyer & Margraf 2012) und die Frankfurter Studie zur Anwendbarkeit des Kognitiven Modells auf Jugendliche („Frankfurter Studie“) an 567 Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren (vgl. Schreiber, Höfling, Stangier, Bohn & Steil, 2012).[4] Anhand der angegebenen Studien wird auf Epidemiologie und Komorbidität subklinischer sozialer Ängste und der sozialen Phobie bzw. sozialen Angststörung im Jugend- und im jungen Erwachsenenalter eingegangen.
Exkurs:
Unter dem Begriff „Prävalenz“ wird in einer definierten Population der Anteil von Personen angegeben, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einer bestimmten Zeitperiode die Störung aufweisen. Inzidenz bezeichnet die Häufigkeit von neu auftretenden Fällen in einem bestimmten Zeitraum, wobei die Störung am Ende des Zeitraums nicht weiterbestehen muss. Grundlage zur Ermittlung der Häufigkeit von Störungen bildet dabei die Identifikation von Fällen mit Hilfe der Klassifikationssysteme ICD und DSM und standardisierten Interviewverfahren (z.B. das Diagnostic Interview Schedule des National Institut of Mental Health, das Composite International Diagnostic Interview der Welt-Gesundheitsorganisation) (vgl. Lieb & Müller 2002). Persistenz kann definiert werden, als die zur Basiserhebung lebenszeitbezogene angegebene soziale Angststörung, in Zusammenhang mit im Follow-Up-Zeitraum berichteten starken Ängsten (vgl. Müller 2002).
3.2.1 Prävalenz
Subklinische Soziale Ängste: In der Basisuntersuchung der Münchener „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ bejahten 27,3% (=826) der Probanden die Frage, ob sie jemals eine starke Angst davor hatten, irgendetwas in Gegenwart anderer Menschen zu tun oder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer zu stehen (wobei die einzelnen Situationen nachfolgend aufgelistet waren). In der Bremer „Adolescent Study“ gaben 47,2 % (489 Personen) an, mindestens eine Angst in bestimmten (aufgelisteten) sozialen Situationen gehabt zu haben, wobei hier „nur“ von Angst und nicht von starker Angst gesprochen wurde. In der Münchner Studie wurde auch zwischen der Anzahl der sozialen Ängste unterschieden. Circa die Hälfte der 826 Personen die über starke Angst berichteten (14,5% aller Befragten) nannte nur eine einzige Situation, 7,2% nannten zwei und 5,6% drei oder mehr Situationen. Insgesamt dominierte sowohl in der Münchener „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ (EDSPS) als auch in der Bremer „Adolescent Study“ (BAS) eindeutig die Angst vor Leistungssituationen, gefolgt von Situationen mit Interaktionscharakter: Mit 18,2% (EDSPS) und 31,1% (BAS) wurden Prüfungen und mit 13,2% (EDSPS) und 19,7% (BAS) vor Anderen sprechen am häufigsten genannt. 6,4% (EDSPS) bzw. 9,2% (BAS) gaben an, schon mal starke Angst davor gehabt zu haben, mit anderen zu sprechen bzw. sie anzusprechen, 4,6% (EDSPS) bzw. 7,0% (BAS) zu einem Treffen oder einer Party zu gehen. Nur wenige gaben an, sich davor zu ängstigen, vor „anderen zu essen / trinken“ (4,4% EDSPS / 8,3% BAS) oder „vor anderen zu schreiben“ (2,2% EDSPS / 2,9% BAS). In der Befragung gab insgesamt eine signifikant größere Anzahl von Frauen an, Angst in bzw. vor sozialen Situationen zu haben (EDSPS: 32,2% der Frauen im Vergleich zu 22,3% der Männer – BAS: 50,8% der Frauen im Vergleich zu 42,0% der Männer). Zudem fürchteten sozial ängstliche Frauen nach den Ergebnissen der Münchener EDSPS im Durchschnitt auch mehr Situationen als sozial ängstliche Männer (Männer: Mittelwert (MW) = 1.63; Frauen MW = 1.91), wobei die Rangfolge gefürchteter Situationen bei beiden Geschlechtern nahezu übereinstimmt. In der Bremer „Adolescent Study“ ließen sich signifikante Unterschiede bei der Angst vor Leistungs- und Testsituationen zwischen Männern und Frauen feststellen. 36, 2% der Frauen im Vergleich zu 23,8% der Männer gaben hier an Ängste zu verspüren, während es in den anderen Bereichen keine signifikanten Unterschiede gab. Etwa 60% der Studienteilnehmer mit sozialen Ängsten der Münchener „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ gaben an, im Jahr vor der Untersuchung soziale Ängste gehabt zu haben, wobei der Anteil der Frauen fast doppelt so hoch ist wie der Männeranteil (vgl. Müller 2002; Essau u.a. 2000).
Soziale Angststörung: Im Vergleich zu anderen psychischen Störungen konnten Angststörungen in der Münchener „Early Developmental Stages of Psychopathology Study“ bei Jugendlichen außerordentlich häufig festgestellt werden. Sie stellen nach den Substanzstörungen, bezogen auf legale Substanzen (28%) die zweithäufigste Störungsgruppe dar, gefolgt von der Gruppe der affektiven Störungen (16,6%). Jeder Vierte (27,3%) der befragten Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren hatte irgendwann im Leben einmal eine Angststörung, knapp ein Fünftel (18,4%) berichteten über eine Angststörung innerhalb der letzten 12 Monate. Dabei ist die soziale Angststörung die zweithäufigste Angststörung unter den Befragten (7,3% Lebenszeit-Prävalenz) nach der spezifischen Phobie (16,2%). Bei den weiblichen Probanden bilden Angststörungen die häufigste psychische Störung. 34,6% der Teilnehmerinnen waren irgendwann einmal davon betroffen. Auch hier stellt die soziale Phobie ( 9,5%) die zweithäufigste Angsterkrankung nach der spezifischen Phobie dar. 7,2 % der befragten Frauen waren in den letzten 12 Monaten vor der Studie von der sozialen Phobie betroffen, 3,2% der Männer (insgesamt 5,2%). In der Bremer „Adolescent Study“ waren es dagegen nur 1,7 % (17 Jugendliche), welche die DSM-IV-Kriterien einer sozialen Phobie irgendwann einmal in ihrem Leben erfüllten, wobei die Störung bei Mädchen häufiger auftrat als bei Jungen (2,1% zu 1,0%) und mit dem Alter zunahm. Hier waren die höchsten Werte im Alter von 14 / 15 Jahren (2,0%) zu verzeichnen mit einem geringen Unterschied zur Altersstufe der 16- bis 17-Jährigen (1 Person) (vgl. Essau u.a., 2000).[5] Bei der Münchener Studie waren die höchsten Werte im Alter von 18 bis 24 Jahren (8,7%) zu verzeichnen, wobei die Werte jedoch auch schon im Alter von 14 bis 17 Jahren mit 4,0% der Angaben höher lagen (vgl. Müller 2002). In der Studie von Schreiber und Kollegen (2012) zur Anwendbarkeit des Kognitiven Modells auf Jugendliche lagen nach den Werten des SPAI sogar 12,7% (=72) der befragten 14 bis 20-Jährigen über dem klinischen Cut-Off-Wert für das Vorhandensein einer soziale Phobie und können somit die Kriterien für eine soziale Angststörung erfüllen.
In der Münchener EDSPS wurde zudem untersucht, inwieweit Probanden die Kriterien für eine generalisierte beziehungsweise eine nichtgeneralisierte spezifische soziale Angststörung aufzeigten: Ein Drittel der Personen mit einer lebenszeitbezogenen Diagnose (2,2% der Gesamtstichprobe) gaben an Angst vor drei oder mehr sozialen Situationen zu haben, und erfüllten damit nach Müller (2002) die Kriterien der generalisierten sozialen Angststörung; bei Personen mit sozialen Ängsten war es lediglich 1/5 (zur Kritik der Einteilungen nach der Anzahl der sozialen Situationen siehe 2.2.3). Circa 2/3 (5,1% der Gesamtstichprobe) gaben an, Angst vor nur einer oder zwei sozialen Situationen zu haben, und fielen somit nach Müller (2002) in die Gruppe der nichtgeneralisierten sozialen Angststörung. Bei den 18 bis 24-Jährigen sind die Lebenszeit-Prävalenzen mit 8,7% etwa doppelt so hoch wie bei den 14 bis 17-Jährigen (4,8%). Aktuelle Störungen sind deutlich öfter bei Personen mit generalisierter sozialer Angststörung zu finden (Männer 76,8%, Frauen 90%) als bei Personen mit nichtgeneralisierter Angststörung (Männer 59,9%, Frauen 69,2%). Mit steigender Anzahl sozialer Ängste nimmt die Prävalenz ab und die Diagnosewahrscheinlichkeit zu. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich Männer und Frauen mit sozialer Angststörung in der Anzahl gefürchteter Situationen unterscheiden und / oder dass die Diagnosewahrscheinlichkeiten voneinander abweichen (Müller 2002).
Bezüglich der gefürchteten Situationen sieht es ähnlich aus wie bei sozialen Ängsten: Leistungsängste (Prüfungsängste: 4,8%, vor Anderen sprechen: 4,2%), stehen an erster Stelle, gefolgt von Situationen, die verbale Interaktion erfordern (mit Anderen sprechen, andere ansprechen: 2,3%; zu einem Treffen / einer Party gehen: 1,7%). Ängste vor bestimmten Aktivitäten in der Öffentlichkeit (vor Anderen essen oder trinken: 1,5%; vor anderen schreiben: 0,6%) kommen eher selten vor. Unterscheidet man bei der Betrachtung zwischen generalisiertem und nichtgeneralisierten Subtyp, so fällt auf, dass bei ersterem Situationen mit Interaktionscharakter sowie die Angst, vor anderen zu schreiben, im Verhältnis wesentlich häufiger angegeben werden. So ist die Angst, zu einem Treffen oder einer Party zu gehen, bei generalisierter sozialer Angststörung 12- mal häufiger als beim nichtgeneralisierten Subtyp, die Angst, vor Anderen zu schreiben 9-mal häufiger. Beim nichtgeneralisierten Subtyp werden hingegen überwiegend Leistungssituationen gefürchtet. 60,5% gaben Prüfungsangst als einzige oder eine von zwei gefürchteten Situationen an, 48,5% die Angst vor Anderen zu sprechen. Nur 12 Jugendliche bzw. junge Erwachsene (0,44% der Gesamtstichprobe, 7% der Personen mit sozialer Angststörung) mit nichtgeneralisierter sozialer Angststörung gaben weder Prüfungsangst nach Angst vor öffentlichem Sprechen an (vgl. Müller, 2002).
3.2.2 Erstmanifestation, Verlauf und Prognose
Beginn: Beginn und Verlauf subklinischer sozialer Ängste und der sozialen Angststörung sind entsprechend der Erkenntnisse der EDSPS in folgender Grafik (Darstellung 6) dargestellt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Darstellung 6: Kumilierte Lebenszeitinzidenzen sozialer Ängste und der sozialen Angststörung sowie isolierter Leistungsängste; gewichtete Daten (nach Müller 2002, S. 109)
Wie sich daraus ersehen lässt, wird sowohl für subklinische soziale Ängste als auch für die soziale Angststörung ein gehäuftes Auftreten ab dem 9. Lebensalter berichtet. Das bedeutsamste Risiko eines erstmaligen Auftretens der sozialen Phobie bzw. Angststörung liegt zwischen dem 9. und 18. Lebensjahr. Hier ist ein Anstieg von 1,1% auf 8,9% zu verzeichnen. Bis zum 18. Lebensjahr haben sich nach den Studienergebnissen 76,6% der sozialen Angststörungen entwickelt. Zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr ist das Risiko einer Ersterkrankung geringer, bis zum 24. Lebensjahr steigt es wieder leicht auf 10,4% an. Das Risiko, subklinische soziale Ängste erlebt zu haben, steigt von 3,3%, im Alter von 9 Jahren auf 26,8% im Alter von 22 Jahren an, danach bleibt die Zahl bis zum 23. Lebensjahr konstant, worauf sie auf 28,5% mit 24 Jahren ansteigt. Insgesamt gesehen bestehen zwischen Personen mit sozialen Ängsten (ohne Diagnose), Personen mit sozialer Angststörung und Personen mit isolierten Leistungsängsten (Angst, vor anderen zu sprechen und / oder Prüfungsangst) keine spezifischen Abweichungen im Bereich der Risikoaltersspanne (vgl. Müller 2002). Essau und Kollegen (2000) kamen zu folgenden Ergebnissen: Die Frequenz diagnostizierter sozialer Phobien nahm mit dem Alter zu, wobei der höchste Anstieg vom 12./13. zum 14./15. Lebensjahr (von 0,5 auf 2,0%) zu verzeichnen war. Die höchste Anzahl sozialer Ängste wurde im Alter von 14/15 festgestellt; hier gaben 39 Jugendliche an, in drei oder mehr sozialen Situationen soziale Ängste zu haben, während es im Alter von 12/13 Jahren 13 Jugendliche und im Alter 16/17 16 Jugendliche waren.
Bezüglich des generalisierten und nicht.generalisierten Subtyps lassen sich nach den Angaben der Münchener Studie bis zum Alter von 10 Jahren keine Unterschiede feststellen. Das Risiko liegt bei beiden bei 0,9% , wobei aufgrund der langen Zeit zwischen dem erinnerten Ereignis und dem aktuellen Alter der Befragten die Aussagekraft dieser Angaben vorsichtig betrachtet werden muss. Bis zum Höchstalter der Untersuchung, dem 24. Lebensjahr, steigt das Risiko einer nichtgeneralisierten Angststörung auf 7,9% an, während das Risiko, eine generalisierte Angststörung zu entwickeln bis zum 19 Lebensjahr auf 2,5% ansteigt, bis zum 22 Lebensjahr auf 2,7. Danach wurden keine neue auftretenden Fälle mehr berichtet. Männer entwickeln den nichtgeneralisierten (spezifischen) Subtyp später und die generalisierte Form früher als Frauen. Bis zum 18. Lebensjahr sind bei ihnen nur 58,8% der nichtgeneralisierten sozialen Angststörung zu erwarten, während es bei Frauen 89,1% sind. Ab dem Alter von 17 Jahren treten bei ihnen keine neuen Fälle des generalisierten Subtyps auf, bei Frauen nicht mehr ab dem 22. Lebensjahr (vgl. Müller 2002).
Dauer: Als Dauer wurde der Zeitraum zwischen dem ersten und letzten Auftreten sozialer Ängste bis zum Untersuchungszeitpunkt operationalisiert. Mögliche Fluktuationen im Diagnosestatus sowie beschwerdefreie Phasen konnten nicht berücksichtigt werden. Mithilfe des Kaplan-Verfahrens wurden „Überlebenswahrscheinlichkeiten“ berechnet, um Aussagen darüber treffen zu können, mit welcher Wahrscheinlichkeit soziale Ängste nach einer bestimmten Anzahl von Jahren immer noch vorhanden sind bzw. andauern. Aussagen über eine längere Höchstdauer als 15 Jahre für jede Bedingung wären aufgrund der geringen Fallzahlen in der Stichprobe der 14- bis 24-Jährigen nicht mehr zulässig.
Für alle vier Gruppen (soziale Angststörung, subklinische soziale Ängste, Leistungsangst mit bzw. ohne Diagnose) wird retrospektiv ein chronischer Verlauf berichtet, wie die folgende Darstellung (Darstellung 7) zeigt (vgl. Müller 2002):
Soziale Angststörungen dauern länger als subklinische soziale Ängste. Bei 1,3% der von einer sozialen Angststörung Betroffenen dauert die Störung weniger als 1 Jahr, danach sinkt die Zahl zwar kontinuierlich, jedoch liegt die Wahrscheinlichkeit des Andauerns nach 15 Jahren immer noch bei 55,2%. Subklinische soziale Ängste dauern in 10% der Fälle bis zu einem Jahr lang, danach ist ein kontinuierliches Absinken auf 44,9% nach 14-Jähriger Dauer zu beobachten, gefolgt von einem stärkeren Abfall auf 34% zwischen 14- und 15-Jähriger Dauer. Leistungsängste mit der Diagnose „Soziale Angststörung“ haben bis zu 3 Jahren die gleiche Andauernswahrscheinlichkeit wie die soziale Angststörung insgesamt, danach verläuft die Kurve unterhalb derjenigen der sozialen Angststörung und ab einer Dauer von 13 Jahren auch unter derjenigen der subklinischen sozialen Ängste. Auch hier ist ein deutlicher Abfall der Andauernswahrscheinlichkeit zwischen dem 14. und 15. Jahr zu finden: von 41% auf 24,6%. Ähnlich verhält es sich mit Leistungsängsten ohne Diagnose. Auch hier ist eine Remission nach 14 bis 15 Jahren häufig. Die Wahrscheinlichkeit des Andauerns sinkt um 24,6% auf 15,1%. Insgesamt verläuft die Kurve für Leistungsangst ohne Diagnose unterhalb aller anderen Störungskurven. In 13,8% der Fälle dauern die Leistungsängste höchstens ein Jahr, nach 14 Jahren sind noch 31,5% aktuell betroffen. Die höchste Persistenz ist beim generalisierten Subtyp zu finden. Nach einem Jahr gibt es keinerlei Remission, danach sinkt die Wahrscheinlichkeit auf 88,2% im 5. Jahr und bleibt bis zum 8. Jahr konstant. Danach sind vermehrt Remissionen zu verzeichnen, bis sich die Wahrscheinlichkeit des Andauerns der generalisierten Angststörung ab dem 11. Jahr bis zum Ende bei 69,1% einpendelt. Bei der nichtgeneralisierten Form gibt es ebenfalls nur sehr wenige Fälle, die nur ein Jahr oder kürzer dauern (1,8%). Danach ist eine relativ stetige Abnahme auf 42,4% aller jemals Betroffenen mit einer Dauer von minimal 15 Jahren zu verzeichnen (ebd.).
Auch die Ergebnisse von Essau und Kollegen (2000) geben Hinweise auf eine langwierige Dauer von sozialen Phobien und sozialen Ängsten. Bei einer Vielzahl der Jugendlichen mit sozialer Angst (47 Jungen und 97 Mädchen) blieb die Angst oder das Vermeidungsverhalten monate- oder sogar jahrelang bestehen. Zudem gab mehr als die Hälfte aller Jugendlichen, die irgendwann im Leben eine soziale Phobie hatten (unabhängig von ihrem jetzigen Status), an, dass sie in den letzten vier Wochen vor der Befragung in der Schule / bei der Arbeit oder während sozialer Aktivitäten beeinträchtigt gewesen seien. Auch die Hälfte der Jugendlichen mit sozialen Ängsten gaben an, sowohl während der schlimmsten Episode als auch während der letzten vier Wochen vor dem Interview beeinträchtigt gewesen zu sein (ebd.).
3.2.3 Komorbidität
Wie die Daten der Untersuchung der Münchener EDSPS zeigen, ist die Komorbidität sowohl bei sozialen Ängsten als auch bei sozialer Angststörung insgesamt sehr hoch, wobei sich keine signifikanten Unterschiede in der Gesamthäufigkeit ergeben. 71,8% der Probanden mit subklinischen sozialen Ängsten und 80,3% der Probanden mit sozialer Angststörung haben irgendwann einmal die Diagnosekriterien mindestens einer weiteren psychischen Störung erfüllt, während es bei den Befragten ohne soziale Angst lediglich 45,4% waren. Die Befragten wiesen eine erhöhte Komorbidität mit jeder Störungsgruppe sowie mit den meisten einzelnen Störungen gegenüber Personen ohne soziale Ängste auf (vgl. Müller 2002). Die größten Zusammenhänge bestehen sowohl bei der sozialen Angststörung (51,8%) als auch bei den subklinischen sozialen Ängsten (40,1%) mit anderen Angststörungen, insbesondere mit der spezifischen Phobie (29,2% bei subklinischen sozialen Ängsten, 43,6% bei der sozialen Angststörung). Gegenüber der sozialen Angststörung zeigen sich bei der sozialen Phobie leicht höhere Komorbiditätsraten bezogen auf affektive Störungen, andere Angststörungen, somatoforme Störungen sowie auf der Ebene einzelner Störungen bei der Dysthymie, der spezifischen Phobie und nicht näher bezeichneten (nnb.) phobischen Störungen. Bei der Befragung von Essau und Kollegen (2000) fanden sich ebenfalls hohe Komorbiditäten, insbesondere im Bereich der Angststörungen. 100% der Jugendlichen mit sozialer Phobie und 25,4% der Jugendlichen mit subklinischen sozialen Ängsten wiesen zusätzlich mindestens eine weitere Angststörung aus, wobei hier die Agoraphobie bei beiden Störungen (23,5% bei sozialer Phobie, 6,7% bei subklinischen sozialen Ängsten) und die nicht näher spezifizierten Angststörungen bei sozialer Phobie (23,5%) bzw. die spezifische Phobie bei sozialen Ängsten (5,1%) dominierten. 41,2% der Jugendlichen mit sozialer Phobie wiesen eine diagnostizierte s omatoforme Störung auf, 29,4% eine Form einer depressiven Störung und 23,5% eine Form der Substanzabhängigkeit. Des Weiteren ist eine hohe Komorbidität zwischen sozialen Ängsten im Allgemeinen und einer Major Depression (18,6%) sowie unbestimmten somatoformen Störungen (17,8%) zu beobachten. Auch Vriends und Kollegen (2012) fanden anderen Studien entsprechend hohe Komorbiditäten zu anderen psychischen Erkrankungen, insbesondere im Bereich der Angststörungen, der affektiven und somatoformen Störungen.
Vergleicht man den generalisierten Subtyp mit dem nichtgeneralisierten, so lässt sich feststellen, dass ersterer noch häufiger mit anderen psychischen Erkrankungen zusammen auftaucht. So gaben 89,6% der Probanden mit der lebenszeitbezogenen generalisierten Angststörung an, unter (einer) weiteren psychischen Störung(en) zu leiden, während es beim nichtgeneralisierten Typus 76,5% waren. Signifikante Unterschiede waren insbesondere in Bezug auf lebenszeitbezogene affektive Störungen (28,2% der Befragten beim nichtgeneralisierten Subtyp gegenüber 61,9% beim generalisierten Subtyp), bei irgendeiner Essstörung (2,4% gegenüber 15%) sowie bei irgendeiner anderen Angststörung (45,7% gegenüber 66,5%) festzustellen. Bezogen auf einzelne Störungen werden beim generalisierten Subtyp wesentlich häufiger die bipolare Störung, Dysthymie, Agoraphobie, die generalisierte Angststörung, die posttraumatische Belastungsstörung, Bulimie und das somatoforme Syndrom SSI 4/6 angegeben. Gegenüber Personen ohne Angststörung ist die Komorbidität zu jeder einzelnen Störung mit Ausnahme von Substanzmissbrauch, Schmerzstörung und dem Syndrom USDS erhöht (vgl. Müller 2002).
Nach Müller (2002) geht die komorbide Störung gemäß den Forschungsbefunden in der Hälfte der Fälle den sozialen Ängsten voraus, wobei vor allem Angststörungen und somatoforme Störungen im Vorhinein auftreten und Substanzstörungen, affektive Störungen und Essstörungen nach dem Beginn sozialer Ängste in Erscheinung treten. Am häufigsten treten zunächst die spezifische Phobie (74,6%) und mit insgesamt relativ geringer Fallzahl die Schmerzstörung (80,7%) vor dem Beginn subklinischer sozialer Ängste auf. Dem Beginn der sozialen Angststörung nachfolgend treten vor allem die Major Depression (75,3%) und Alkoholabhängigkeit (69,5%) auf. Vriends und Kollegen (2012) fanden dagegen heraus, dass das Vorhandensein einer Punktprävalenz einer Major Depression zum Zeitpunkt der Basisuntersuchung das Auftreten einer sozialen Phobie in hohem Maße signifikant beeinflusst, also vor dem Auftreten dieser Phobie liegt. Andere Prävalenzen psychischer Störungen sowohl zum Zeitpunkt der Basisuntersuchung als auch lebenszeitbezogen hatten weniger Einfluss auf das erstmalige Auftreten sozialer Phobien.
Müller (2002) stellte signifikante Zusammenhänge zwischen bestimmten komorbiden Störungen und einer Verschlimmerung subklinischer sozialer Ängste bis hin zur vollen Diagnose der sozialen Angststörung fest. Dazu gehören Alkoholabhängigkeit, Missbrauch illegaler Substanzen sowie Dysthymie. Lag zum Zeitpunkt der Basisuntersuchung eine spezifische Phobie vor, so war die Wahrscheinlichkeit der Stabilität sozialer Ängste leicht erhöht. Lag eine Einzelepisode einer Major Depression zu diesem Zeitpunkt vor, so zeigte sich die Wahrscheinlichkeit einer Remission der sozialen Ängste geringer. Eine deutliche Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer Verschlimmerung der subklinischen sozialen Ängste zur sozialen Angststörung ist gegeben, wenn sich im gleichen Jahr wie die sozialen Ängste ohne Diagnose eine weitere psychische Störung entwickelt. Zudem ist nach Müller (2002) ein Zusammenhang zwischen einer erhöhten Anzahl komorbider Störungen und der Entwicklung sozialer Ängste zum Vollbild der sozialen Angststörung beobachtbar. Lag eine andere psychische Erkrankung zu Beginn der sozialen Ängste vor, so ist ihre Stabilität „auf gleichem diagnostischen Niveau leicht erhöht“, wohingegen keine Parallelen für den Verlauf der sozialen Angststörung zu beobachten sind (vgl. Müller 2002).
3.2.4 Inzidenz und Persistenz
In der Münchener Studie fand nach durchschnittlich 42 Monaten eine Follow-Up-Untersuchung statt. Innerhalb des Zeitraums zwischen den beiden Untersuchungen traten 72 neue Fälle der sozialen Angststörung auf, womit die Neuerkrankungsrate bei 2,8% liegt. Dies legt eine Inzidenzrate von 0,7 Neuerkrankungen pro Jahr nahe. Bei 2,4% der neuen Fälle handelte es sich um Männer, bei 3,2% um Frauen. 40 der Probanden bei denen eine Neuerkrankung festgestellt wurde, hatten bei der Basisuntersuchung noch keine starken sozialen Ängste, bei 32 konnte eine Verschlimmerung sozialer Ängste ohne Diagnose festgestellt werden. 1,9% lassen sich dem nichtgeneralisierten, 0,9% dem generalisierten Subtyp zuordnen, wodurch das Verhältnis bei den neuen Fällen wie auch in der Basisuntersuchung bei ca. 2:1 liegt. Die Inzidenzrate bei den 21- bis 28-Jährigen lag mit 2,6% im Vergleich zu anderen Studien erstaunlich hoch, genauere Untersuchungen mithilfe des Kaplan Meier-Verfahrens[6] wiesen jedoch auf einen Beginn der sozialen Ängste vor dem 24. Lebensjahr hin, wobei die Risikozeit bereits meist vor dem 22. Lebensjahr liegt. Die Befunde aus der Basisuntersuchung, in der sich die Altersspanne von 9 bis 18 Jahren als Hochrisikozeit erwies, können durch die auf dem Gesamterhebungszeitraum basierende Risikokurve bestätigt werden. In etwa der Hälfte der Fälle wird deutlich, dass die soziale Angststörung kein temporäres Phänomen der Jugend ist, sondern dass zumindest starke Ängste noch im Alter von 18 bis 28 Jahren erlebt werden. Die soziale Angststörung weist demnach eine vergleichsweise hohe Persistenz auf, wobei sich soziale Ängste auch durch hohe Fluktuation im diagnostischen Status auszeichnen. Subklinische soziale Ängste sind dabei vor allem bei den Jüngeren etwas stabiler als bei den Älteren; ein höheres Alter ist mit einer größeren Remissionswahrscheinlichkeit verbunden. Der generalisierte Subtyp der sozialen Angststörung ist beständiger als der nichtgeneralisierte und verschlechtert sich häufig zur sozialen Angststörung. Reine Leistungsängste sind am wenigstens persistent. Umfassende soziale Ängste sind somit stabiler als eng gefasste. Signifikante Unterschiede im Verlauf der sozialen Angststörung, je nach Typ der gefürchteten Situation, konnten nicht nachgewiesen werden (vgl. Müller 2002).
In den Untersuchung von Vriends und Kollegen (2012) zur Entwicklung von sozialen Ängsten bei Frauen zwischen 18 und 24 Jahren entwickelten sogar 5,5% (=66) von 1238 Frauen innerhalb eines Zeitraums von 15 Monaten eine soziale Phobie. Das entspricht einer Neuerkrankungsrate von 4,2% pro Jahr bei jungen heranwachsenden Frauen. Innerhalb der Inzidenzgruppe zeigten 25 Personen (38,5%) Anzeichen einer sozialen Phobie, die jedoch unter dem Schwellenwert lagen.
3.2.5 Folgen
Wie Müller (2002) anführt, sind soziale Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen mit erheblichen Leiden und negativen Auswirkungen auf ihre unmittelbare und möglicherweise auch langfristige schulische und soziale Entwicklung verbunden. Verschiedene Studien, die sich mit Kindern zwischen 9 und 14 bzw. 12 und 14 Jahren beschäftigten, zeigen deutlich, dass ausgeprägte soziale Ängste bzw. das Vorliegen einer sozialen Angststörung einhergehen mit Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen, mit einem geringeren Ausmaß an Nähe in Freundschaften besonders zu Beginn dieser, mit dem Erleben von mehr negativen sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, mit dem Unwohlsein beim bzw. der Verweigerung des Schulbesuchs und zum Teil mit schlechteren praktischen sozialen Fertigkeiten (vgl. Beidel, Turner & Moris 1999; Beery, Vernberg, Ewell & Abwender 1992). Essau und Kollegen (2000) wiesen auf die Einschränkungen durch die sozialen Ängste hin. Wie sie zeigen wurden so gut wie alle Jugendlichen mit der Diagnose soziale Phobie (94%) in den schlimmsten Episoden durch die Störung stark in ihrem Alltagsleben eingeschränkt. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen, die einmal die Diagnose Soziale Phobie erhalten hatten, fühlten sich in den vier Wochen vor dem Test beim Schulbesuch / im Beruf und bei sozialen Aktivitäten durch die Störung eingeschränkt. Über die Hälfte aller Jugendlichen mit sozialen Ängsten im Allgemeinen (54,4%) gaben an, sowohl in ihren schlimmsten Episoden als auch in den vorangegangenen vier Wochen durch die Ängste eingeschränkt gewesen zu sein (a.a.O.). Auch in der Münchener EDSPS gaben über 70% der von sozialen Ängsten Betroffenen an, „sich zumindest in der Peak-Phase durch die soziale Angststörung beeinträchtigt gefühlt zu haben“ (Müller 2002, S. 131). Neben den Beeinträchtigungen in den akuten Phasen der sozialen Phobie hat diese auch längerfristige Auswirkungen in Form von problematischen länger andauernden chronischen Lebensbedingungen zur Folge. Die Probanden der EDSP mit sozialer Angststörung zum Zeitpunkt der Basisuntersuchung berichteten auch im Follow-Up nach durchschnittlich 42 Monaten von signifikant mehr belastenden und weniger positiven Lebensbedingungen als Personen, welche nie soziale Ängste erlebt hatten. Besondere Schwierigkeiten traten dabei in den Bereichen Ausbildung bzw. berufliche Tätigkeit, finanzielle Situation, Wohnsituation, Verhältnis zur Ursprungsfamilie und in der Ehe oder Liebesbeziehung auf. So fühlten sich fast doppelt so viele Personen mit sozialer Angststörung gegenüber Personen ohne soziale Ängste in der Schule oder Ausbildung längere Zeit überfordert, mehr als doppelt so viele berichteten über länger andauernde Spannungen in der Familie (nicht mit den Eltern) und ebenfalls etwa doppelt so viele litten in der Ehe oder Liebesbeziehung unter fehlendem sexuellen Kontakt
[...]
[1] Da wir es in der Praxis mit Schülern, Beratenen sowie Beratern und Schulsozialarbeitern in männlicher und weiblicher Form sowie in „Mehrzahl“ und „Einzahl“zu tun haben, spiegelt dieser Text diese Vielfalt, indem er teilweise beide Formen (männlich und weiblich bzw. Mehrzahl und Einzahl) nutzt, teilweise aber auch nur auf eine Form eingeht, wie es auch im Alltag der Fall ist.
[2] In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe „Soziale Phobie“ und „Soziale Angststörung“ ebenso wie die Begriffe „vermeidend-selbstunsichere“ und „(ängstlich-)vermeidende Persönlichkeitsstörung“ gleichwertig und parallel zueinander angeführt.
[3] Da sich die vorliegende Arbeit vor allem auf Jugendliche und junge Erwachsene bezieht und die Kategorie F. 93 im ICD-10 sowie die Hinweise im DSM-IV-TR explizit auf das Kindesalter, wird hier nicht näher auf die Diagnosekriterien bzw. zusätzlichen Hinweise eingegangen.
[4] Weitere Informationen zur Stichprobe und zu den Untersuchungsbedingungen sind im Anhang zu finden.
[5] Hierbei ist zu beachten, dass die Studie lediglich auf Jugendliche bis zum 17. Lebensjahr Bezug nimmt (vgl. 3.3.2).
[6] Das Kaplan Meier-Verfahren „ermöglicht Aussagen über die Wahrscheinlichkeit, mit der nach einer bestimmten Anzahl von Jahren die sozialen Ängste immer noch andauern bzw. vorhanden sind“ (Müller 2002, S. 111).
- Quote paper
- Janina Grothe-Baierle (Author), 2015, Soziale Angst bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/304614
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