Wie hat Günter Grass wohl die Nachkriegszeit erlebt? In seiner „Blechtrommel“ verschmelzen Realität und Fiktion: Er beschreibt nicht nur Kriegs- und Nachkriegsgeschichte selbst, sondern vielmehr auch den Umgang mit dieser Geschichte in der Nachkriegszeit.
Dieses Buch analysiert die Darstellung von Geschichte in der Blechtrommel. Dabei gehen die Autoren sowohl auf die formale Darstellung als auch auf die Vermittlung des politischen Geschehens ein. Darüber hinaus zeigen sie die infantilen und autobiographischen Züge der Hauptfigur Oskar Matzerath und skizzieren ihn als Karikatur des Menschen.
Aus dem Inhalt:
Die Darstellung von Geschichte
Erzählerperspektive in der Blechtrommel
Das Leben des Oskar Matzerath
Die Blechtrommel als fiktive Autobiographie Die Kritik von Reich-Ranicki
Inhaltsverzeichnis
Darstellung von Geschichte in Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel
Einleitung
Literaturgeschichtliche Einordnung
Die formale Darstellung von Geschichte
Allegorie als inhaltliche Darstellung
Die Aussage der Blechtrommel
Schlussbemerkung
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Wer ist Oskar Matzerath?
Einleitung
Oskar Matzerath und seine Umwelt
Oskar Matzerath in der Literaturkritik
Parallelen zwischen Günter Grass und Oskar Matzerath
Formales
Fazit
Literaturverzeichnis:
Die Blechtrommel als fiktive Autobiographie
Die Blechtrommel als fiktive Autobiographie
Die Blechtrommel – ein Schelmenroman mit Kennzeichen der Satire
Faschismus
Literaturverzeichnis
Die Belchtrommel – Zur Kritik von Marcel Reich-Ranicki
Einleitung
Oskars Protest
Oskar, die Karikatur des Menschen?
Fazit
Literaturverzeichnis
Einzelbände
Darstellung von Geschichte in Günter Grass‘ Roman Die Blechtrommel
Anke Balduf
2002
Einleitung
Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel gilt nicht erst seit der Verleihung des Nobelpreises 1999 an den Autor als eines der bedeutendsten Werke deutscher Nachkriegsliteratur. In der Preisbegründung wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es gewesen sei, „als wäre der deutschen Literatur nach Jahrzehnten sprachlicher und moralischer Zerstörung ein neuer Anfang vergönnt worden“.[1] Auf fast 800 Seiten beschreibt Grass mehr als nur ein Stück Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Doch Grass hatte nicht die Absicht, mit der Blechtrommel einen Beitrag zur Bewältigung der deutschen Vergangenheit zu liefern, vielmehr:
„Mich hat nicht edle Absicht getrieben, die deutsche Nachkriegsliteratur um ein robustes Vorzeigestück zu bereichern. Und auch der damals billigen Forderung nach ‚Bewältigung der Vergangenheit’ wollte und konnte ich nicht genügen, denn mein Versuch, den eigenen (verlorenen) Ort zu vermessen und mit Vorzug die Ablagerungen der sogenannten Mittelschicht (proletarisch-kleinbürgerlicher Geschiebemergel) Schicht um Schicht abzutragen, blieb ohne Trost und Katharsis. Vielleicht gelang es dem Autor, einige neu anmutende Einsichten freizuschaufeln, schon wieder vermummtes Verhalten nackt zu legen, der Dämonisierung des Nationalsozialismus mit kaltem Gelächter den verlogenen Schauer regelrecht zu zersetzen und der bis dahin ängstlich zurückgepfiffenen Sprache Auslauf zu verschaffen; Vergangenheit bewältigen konnte (wollte) er nicht.“ (IX, S.625)
Das Hauptziel der Blechtrommel ist somit Darstellung von Geschichte, genauer gesagt, die Darstellung der nationalsozialistischen Zeit, und der Umgang mit dieser Vergangenheit in der Nachkriegszeit. Er wollte keine neuen An-, beziehungsweise Einsichten in der Blechtrommel präsentieren, sondern von bereits vorhanden Einsichten ausgehen, die er einfach nur wieder im Bewusstsein des Lesers präsent machen wollte. Dies erreicht Grass, indem er seinen Erzähler Oskar Matzerath die kleinsten Details und die hintersten Winkel des Kleinbürgertums beschreiben und ausleuchten lässt. Der Blick wird auf das Menschliche gelenkt, auf die Gewohnheiten, Traditionen, Bedürfnisse und Vorlieben. So wird es dem Leser ermöglicht, sich seine eigene Meinung zu bilden. Nach den Gründen für das Aufkommen des Phänomens Nationalsozialismus wird im Roman nicht gefragt, genauso wenig wie eine Antwort auf diese unausgesprochene Frage gegeben wird.[2] Hans Magnus Enzensberger beschreibt dies so:
„Ich kenne keine epische Darstellung des Hitlerregimes, die sich an Prägnanz und Triftigkeit mit der vergleichen ließe, welche Grass, gleichsam nebenbei und ohne das mindeste antifaschistische Aufheben zu machen, in der Blechtrommel liefert. Grass ist kein Moralist. Fast unparteiisch schlitzt er die „welthistorischen“ Jahre zwischen 1933 und 1945 auf und zeigt ihr Unterfutter in seiner ganzen Schäbigkeit. Seine Blindheit gegen alles Ideologische feit ihn vor einer Versuchung, der so viele Schriftsteller erliegen, der nämlich, die Nazis zu dämonisieren. Grass stellt sie in ihrer wahren Aura dar, die nichts Luziferisches hat: in der Aura des Miefs.“[3]
Auch die Nachkriegszeit wird in ihrer schonungslosesten Form präsentiert. Das Augenmerk des Lesers wird auf die vielen Versuche, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen, gerichtet und er erhält so Einblick in das große Thema der Vergangenheitsbewältigung. Auch hier versucht der Erzähler, den Leser an den kleinen Einzelheiten teilnehmen zu lassen, um ihm so den Blick auf das große Ganze zu geben und letztendlich Verständnis und Erkennen zu ermöglichen.
Diese Arbeit soll sich mit der Darstellung der Geschichte in der Blechtrommel befassen, was sowohl die Zeit des Nationalsozialismus wie auch die Nachkriegszeit einschließt. Dabei wird die Künstlerproblematik weitgehend außer Acht gelassen, da der Schwerpunkt auf der Allegoriefunktion des dargestellten Kleinbürgertums liegen wird.
Zuerst wird die literarische Zeitgeschichte diskutiert, mit einem besonderen Augenmerk auf Günter Grass und seine Stellung in der Nachkriegsliteratur. Danach wird die formale Darstellung von Geschichte in der Blechtrommel dargelegt, da die Form den Inhalt stützt. Hier geht es vor allen Dingen um Wortwahl und Syntax, ein Grund, warum auch Oskars sarkastische Darstellung in diesem Kapitel enthalten ist. Das anschließende Kapitel thematisiert die inhaltliche Darstellung von Geschichte, die sich am besten mit dem Begriff ‚Allegorie’ umschreiben lässt. Maßgeblich hierfür ist Oskars Blick auf das Kleine und scheinbar Unwesentliche. Dieses Kapitel ist in drei große Bereiche unterteilt. Der erste befasst sich mit den Kleinbürgern und ihren Haltungen für oder gegen den Nationalsozialismus sowie ihren Verhaltensweisen. Im zweiten wird die Vermittlung politischen Geschehens untersucht. Dies geschieht hauptsächlich anhand von einzelnen Kapiteln des Romans, die eine allegorische Funktion haben und mit ihren kleinen Ereignissen auf größere hinweisen. Aber auch einige Beschäftigungen der Kleinbürger, wie das Skatspiel, haben allegorische Funktionen in der Blechtrommel, darum werden auch sie besprochen. Der dritte Teil dieses Kapitels zeigt dann die Verhaltensweise der Gesellschaft in der Nachkriegszeit. Hier sind vor allem die Vergangenheitsbewältigung und das Verdrängen ein Thema, sowie die Gefahr des Umschlags und der Rückkehr. Aber auch die Art von Gesellschaft, die sich in der Nachkriegszeit bildet, ist in der Blechtrommel von Bedeutung und wird in dieser Arbeit behandelt. Im letzten Kapitel wird die Aussage der Blechtrommel hinsichtlich der Geschichtsdarstellung diskutiert. Von Bedeutung ist hier vor allem das Geschichtsbild, welches in der Blechtrommel vorherrschend ist.
Literaturgeschichtliche Einordnung
Die Nachkriegsliteratur
Am 8.Mai 1945 begann in Europa ein neues Zeitalter – die Nachkriegszeit. Für die Deutschen bedeutete dies, dass „eine Wirklichkeit, an der alle beteiligt waren, handelnd, leidend, nutznießend, an ihrem äußersten unerträglichen Punkt plötzlich außer Kraft gesetzt“[4] worden war. Meldungen über die Verbrechen der Nazi-Diktatur erreichten die Deutschen über die Zeitungen der Besatzungsmächte. Fotos über die Konzentrationslager wurden veröffentlicht, die Lager selbst geöffnet, und die Mitläufer der Nationalsozialisten versuchten unterzutauchen. Das Bürgertum, nach Lattmann „die breite Leserschaft all dessen, was man in Deutschland als Literatur verstand“, konnte nicht begreifen, „dass aus dem Land der Dichter und Denker zu eigenen Lebzeiten und damit offenbar nicht gänzlich außer Kontrolle das „Land der Richter und Henker“ (Karl Kraus) geworden war“[5]. Die Kollektivschuldthese kam auf, und wurde in den ersten Nachkriegsjahren vielfach erörtert und diskutiert, meist in Zusammenhang mit dem Schlagwort von der „unbewältigten Vergangenheit“. Letzteres wurde „zu einer der meistbenutzten Leerformeln der folgenden Jahre: ein Gemeinplatz der öffentlichen Sprache, der jede Erörterung des konkreten historischen Sachverhalts erübrigte“[6]. Eine Nation sah sich vor die unlösbare Aufgabe gestellt, sich mit ihrer Vergangenheit vor der Weltöffentlichkeit auseinander zu setzen, ohne dabei gänzlich das Gesicht zu verlieren und gleichzeitig eine Republik aufzubauen, die auf den Vorstellungen der Alliierten basierte. Denn „zum zweiten Mal hatten sich die Deutschen in einem Weltkrieg eine Demokratie anverloren, die sie aus eigener Kraft niemals zustande gebracht hatten“[7]. Die Öffentlichkeit litt unter der eigenen Unsicherheit angesichts dieser neuen Lebenssituation, und erwartete darum von den Schriftstellern, das Gewissen der Nation zu verkörpern: „Man wollte kündende, ergreifende, womöglich erlösende Worte hören, Dichterworte, welche die innere Situation der Zuhörer auszudrücken vermochten.“[8]
Vor der Betrachtung der Nachkriegsliteratur soll jedoch ein Blick auf die literarische Zeit vor 1945 zeigen, dass Schriftsteller sich bereits mit dem Phänomen Nationalsozialismus beschäftigten. Helmut Koopmann[9] teilt diese Zeit in zwei Phasen ein, beginnend mit den dreißiger Jahren: Die Phase der Historisierung und die Phase der Psychologisierung. Zwischen 1930 und 1939 gab es fast keinen Schriftsteller, der nicht versucht hätte, den Nationalsozialismus zu erklären und vor ihm zu warnen. Koopmann gibt als Beispiel für diese Phase Bertolt Brechts Roman Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar, in dem Brecht Parallelen zieht zwischen dem wirtschaftlichen Treiben in Cäsars Rom und dem Heraufkommen Hitlers. Brecht bemüht sich, „die Hintergründe bloßzulegen, die dazu führten, dass es zum Faschismus kam“[10]. Das Problem dieser Art von Darstellung sieht Koopmann darin, dass die Gattung des historischen Romans eben doch nur ein Geschichtsbuch blieb, die Bilder und historischen Beispiele ermöglichten es dem Leser nicht, den Bezug zur Gegenwart zu sehen. Darüber hinaus wirkt die Weltgeschichte dann nur als eine Wiederholung des ewig Gleichen, das Aktuelle wird dadurch geradezu entaktualisiert.[11] Ein weiteres Beispiel hierfür ist nach Koopmann Heinrich Manns Roman Henri Quatre, dessen Hauptfigur, der Prediger Boucher, als Goebbels-Porträt angesehen wird. Aber auch hier wird nur das wiedergegeben, was bekannt war – Nazi-Propaganda. Die Phase der Historisierung brachte „nur Verdeutlichung, keine Erklärung“[12].
Den bekanntesten Vertreter der Phase der Psychologisierung sieht Koopmann in Thomas Mann, der den Nationalsozialismus mit „der Seelengeschichte der Deutschen“ verband und ihn als „etwas von Anfang an Angelegtes, tief Eingewurzeltes, [als] die eigentliche Gefahr und Krankheit der Deutschen“ betrachtete.[13] Auch die Emigrationsliteratur dieser Zeit brachte bei der Darstellung des Nationalsozialismus nichts Neues. Wiederholung und Vergleich herrschten vor. Aber es konnte auch zu keiner grundlegenden Analyse des Phänomens kommen, da die den Nationalsozialismus begünstigenden Faktoren einfach noch nicht erkennbar und darum nicht bekannt waren. Drei Namen nennt Koopmann jedoch. Drei Autoren, die seiner Meinung nach die „Wirklichkeit der diabolischen Vorgänge“ unmittelbar darstellten: Bertolt Brecht, Anna Seghers und Klaus Mann.[14]
In den ersten Nachkriegsjahren bemühten sich die wenigsten Autoren um eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Merkmal gebend für das literarische Deutschland dieser Jahre war vielmehr „eine Innerlichkeit, zu deren Kennzeichen weiterhin die politische Neutralität, das Sich-Heraushalten aus den niederen alltäglichen Umtrieben, die Versetzung ins vermeintlich Wesentliche zählen“[15]. Die Dichter der inneren Emigration bestimmten die literarische Szene: Gerhard Hauptmann, Ernst Jünger, Hermann Claudius, Friedrich Georg Jünger, Werner Bergengruen[16], um nur einige zu nennen. Sie suchten der Realität zu entfliehen, indem sie „die vielberufene heile Welt“[17], das ‚bessere’ Deutschland lieferten. Innerhalb der literarischen Szene wurde eine „elementare Sprachlosigkeit“ angesichts der zurückliegenden Katastrophe konstatiert, die Forderung nach einem Neubeginn wurde lauter. Das Problem stellte sich nach Vormweg folgendermaßen dar: Die Sprache unterlag noch dem Zwang der Nachkriegszeit, die „verquollene, entstellte lügnerische Sprache des Naziregimes“[18] war allen noch lebhaft in Erinnerung. Die Sprache, welche die Autoren der inneren Emigration verwendeten, war nach Kim „keine Kostümierung von Sprachlosigkeit, sondern eine gut kalkulierte Flucht vor der realen Verantwortung und Schuld“[19]. Ebenso meldeten sich die Exilautoren zu Wort. Sie belebten erneut die Literatur des Expressionismus. Die deutsche Öffentlichkeit war jedoch zunächst tief enttäuscht über die Haltung Thomas Manns, der nicht nach Deutschland zurückkehren wollte. Manns Doktor Faustus wurde wegen seiner Zeitlosigkeit gelobt, gleichzeitig kann jedoch gesagt werden, dass Thomas Mann gerade wegen seiner dämonisierenden Darstellung des Nationalsozialismus dem Irrationalismus der Zeit entsprach[20]. Hoch erfreut war man allerdings über die Verleihung des Nobelpreises an Herman Hesse 1946, denn „man sah in ihm nicht vorrangig den schon seit 1923 eingebürgerten Schweizer, sondern den deutsch schreibenden Autor einer Republik des Geistes“[21]. Auch Hesses Glasperlenspiel präsentierte sich zeitlos, und die breite Anerkennung, die er in der deutschen Gesellschaft fand, kann zurückgeführt werden auf seine idealistische, rein geistige Haltung, die Kunst, Kultur und Bildung verabsolutierte.[22]
Es besteht ein breiter Konsens in der Forschung, dass es keinen Neuanfang, keine „Stunde Null“ in der deutschen Nachkriegsliteratur gegeben hat. Die Suche nach dem besseren Deutschland, nach alten Traditionen, erzeugte einen mächtigen „Sog, der die Stunde Null von Anfang an widerlegte“[23]. Die Stunde Null gab es nicht, es gab nur „die Stunde äußersten physischen und ideologischen Elends, die Stunde der Unfähigkeit zu kritischem Denken, die Stunde der Anfälligkeit für die geringsten Tröstungen“[24]. Einzig für die Schriftsteller der jungen Generation stellt Kim ein „Stunde-Null-Bewusstsein“[25] fest, doch diese Generation schwieg zunächst. 1949 forderten Wolfgang Weyrauch und Wolfdietrich Schnurre dann den „Kahlschlag“ und den „Auszug aus dem Elfenbeinturm“[26], eine radikale Entschlackung der Sprache, ein Freimachen der Sprache vom Dasein des Instruments der Herrschenden, vor allem der Nazi-Diktatur.[27] Diese Forderung sollte erfüllt werden, aber mit Sicherheit anders, als es sich so mancher vorgestellt hatte.
Günter Grass
Im Oktober des Jahres 1958 stellte ein junger Autor das Anfangskapitel seines ersten Romans auf einer Tagung der Gruppe 47 im Gasthof „Adler“ im Allgäu vor. Sein Text wurde als „neuartig, vital, mitreißend, bildhaft“ empfunden, „er kam, las und siegte“.[28] Dieser junge Autor war Günter Grass, und er gewann das Preisgeld der Gruppe 47. Als er dann im darauffolgenden Jahr seinen Erstlingsroman Die Blechtrommel auf der Frankfurter Buchmesse vorstellte, brach sowohl ein Kritikersturm der Entrüstung als auch der Begeisterung los. Ein ähnliches Aufsehen erregte in diesem Jahr nur Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob. Die Blechtrommel aber ging als „der deutschsprachige Klassiker der Nachkriegszeit“[29] in die Literaturgeschichte ein, sie markierte „1959 einen Wendepunkt in der deutschen Nachkriegsliteratur“[30]. Sie war „das Wecksignal der deutschen Nachkriegsliteratur, deren eigentlicher Beginn und auch schon Höhepunkt“[31].
Was machte diesen Roman so besonders, was unterschied ihn von allen anderen? Zum einen die Tatsache,
„dass ich [Günter Grass] bei dem Roman Blechtrommel auch bewusst gegen eine Tendenz der unmittelbaren Nachkriegsliteratur angeschrieben habe, die sich wortlos verstand, zeitlos verstand“[32].
Grass setzt gerade diese Ort- und Zeitlosigkeit außer Kraft, indem er den Ort genau benennt, die Zeit genau benennt, und obendrein auch noch eine Bürgerschicht genau beschreibt, die vorher mit dem Nationalsozialismus nicht in Verbindung gebracht worden war. Bei Grass „enthüllt sich der Nationalsozialismus als ausgebrochenes Kleinbürgertum, als Mitläufertum“[33]. Am deutlichsten wird die Besonderheit der Blechtrommel aber mit der Tatsache gekennzeichnet, „dass so wenig nach den Gründen für das Aufkommen der braunen Bewegung gefragt wird“[34]. Statt nach Gründen zu fragen, beschränkt sich Grass auf das, was er kennt: die Beschreibung der kleinbürgerlichen Welt Danzigs. Grass beschreibt, stellt dar, und dies tut er mit seiner ganz eigenen Sprache. Gleichzeitig weist er Sprache wieder als „reiches und flexibles Medium“ und als vertrauenswürdig aus.[35] Hans Magnus Enzensberger, dessen frühe Besprechung der Blechtrommel bis heute Gültigkeit hat, beschreibt Grass’ Sprache so:
„Seine Sprache richtet sich dieser Autor selber zu. Und da herrscht kein Asthma und keine Unterernährung, da wird aus dem Vollen geschöpft und nicht gespart. Diese Sprache greift heftig zu, hat Leerstellen, Selbstschüsse, Stolperdrähte, ist zuweilen salopp, ungeschliffen, ist weit entfernt von ziselierter Kalligraphie, von feinsinniger Schönschrift, aber noch weiter vom unbekümmerten Drauflos des Reporters. Sie ist im Gegenteil von einer Formkraft, einer Plastik, einer überwältigenden Fülle, einer innern Spannung, einem rhythmischen Furor.“[36]
Grass’ Sprache „enthüllt die durch das gesellschaftliche Bewusstsein verdeckte unentstellte Wahrheit der Gesellschaft“, sie deckt auf, ohne Rücksicht auf Tabus[37]. Sein Ziel ist es, die historischen Folgen, nicht die Ursachen aufzudecken und die Frage nach dem Weiterwirken des Faschismus bis in die Gegenwart zu beantworten.[38]
Grass benennt diese Gefahr des Weiterwirkens so:
„Das Verbrechen von Auschwitz verlängert sich bis in unsere Tage, es wurden ihm Amt und Würden zuteil.“ (IX, S.141)
Auschwitz wird hier als Symbol für die Verbrechen der Nationalsozialisten genannt. Diesen Symbolcharakter von Auschwitz hat Grass an anderer Stelle erläutert:
„Die Reduzierung der Realität Auschwitz zum zeitlichen Wendepunkt hat dem ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Symbolgehalt gegeben: Auschwitz steht stellvertretend für Treblinka und Mauthausen, für eine Vielzahl ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager. Diese Symbolisierung erschwert die Aufgabe, den alltäglichen Mechanismus in Auschwitz zu erklären, weil gleichzeitig mit der Ortsbezeichnung das Schlüsselwort für jeglichen Völkermord mitgesprochen wird.“ (IX, S.459)
Grass nimmt hier nicht nur Bezug auf den Symbolcharakter von Auschwitz als Metapher für die Nazi-Verbrechen, sondern er diskutiert auch Adornos
Datum „nach Auschwitz“[39]. Seine Interpretation von Adornos Diktum lautet:
„Gedichte, die nach Auschwitz geschrieben worden sind, werden sich den Maßstab Auschwitz gefallen lassen müssen.“ (IX, S.458)
Dies gilt jedoch nicht nur für Lyrik, sondern für die gesamte Literatur, und darum kann nach Grass die Antwort auf Auschwitz nicht Schweigen, Scham und Verstummen sein, sondern der Realität von Auschwitz muss Rechnung getragen werden, indem das „zu untersuchende Menschenwerk“ (IX, S.458) auch untersucht, beschrieben und dargestellt wird. Genau dies leistet er in der Blechtrommel.
Die formale Darstellung von Geschichte
„Ich laufe nicht mit nacktem Zeigefinger durch die Gegend, sondern versuche, mit erweiterter Realität, mit einer oft unmerklichen Aufklärung und ausschließlich mit künstlerischen Mitteln den Horizont zu erweitern, Tatsachen ans Licht zu fördern, Mystifizierung zu zerstören.“ (X, S.182)
Die „erweiterte Realität“ ist im Falle der Blechtrommel die Welt der Danziger Kleinbürger während der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Grass mit größter Genauigkeit nachzeichnet und erzählt. An diesen Kleinbürgern zeigt er mit „künstlerischen“, also literarischen Mitteln, wie der Nationalsozialismus Einzug hielt in das Leben jedes Einzelnen. Er versucht, hinter die Beweggründe der Kleinbürger zu schauen, und stellt die Zeitumstände bewusst nicht historisch dar, sondern „so, wie man sie seinerzeit erfahren hat, vermischt und verbunden mit den eigenen privaten Problemen“[40]. Dabei entsteht häufig der Eindruck, dass das Private wichtiger zu sein scheint als das geschichtlich bedeutende Ereignis, doch dies ist nur eines der künstlerisch-literarischen Mittel, die Grass anwendet, um die Vergangenheit lebendig zu halten, damit auch der Leser die erzählte Zeit so erlebt, „wie man sie damals konkret aus dem Radio oder der Zeitung erfahren hat“[41]. Ob Grass Geschichte als erfahren-erlittene oder als erfahren-mitgewirkte darstellt, ist in der Forschung umstritten. Neuhaus ist der Ansicht, dass die Summe der individuellen Taten in der Blechtrommel Politik, und damit Geschichte ausmacht, während Eykmann die These vertritt, dass Grass sich „des Kleinbürgers als eines Mediums [bedient], um Zeitgeschichte als erlittene, nicht gewirkte Geschichte sichtbar werden zu lassen“[42]. Einig ist man sich jedoch darin, dass die Danziger Kleinbürger Politik, und damit Geschichte, als „unbegreiflichen Prozess“[43] erleben.
Parallelschaltungen
Gleichzeitigkeit
„So setzt Döblin die Akzente: Sieg, Niederlage, Staatsaktionen, was immer sich datenfixiert als Dreißigjähriger Krieg niedergeschlagen hat, ist ihm einen Nebensatz, oft nur die bewusste Aussparung wert.“ (IX, S.242)
Alfred Döblin ist Grass’ Vorbild, sein Lehrer, und gemäß Grass’ eigener Aussage, sein literarischer Vorfahre:
„Ich komme von jenem Döblin her, der, bevor er von Kierkegaard herkam, von Charles de Coster hergekommen war... Denn ich verdanke Alfred Döblin viel, mehr noch, ich könnte mir meine Prosa ohne die futuristische Komponente seiner Arbeit [...] nicht vorstellen.“ (IV, S.237)
In seinen Nebensatzkonstruktionen ist Grass ganz Döblins Nachfahre. Geschichte findet sich nur im Hintergrund, wenn auch als gleichzeitige Parallele zu privaten Ereignissen. Geschichte ist somit nur „Parenthese, die der Familiengeschichte beigehaftet wird“[44]. In den vermeintlichen Vordergrund rücken „détails négligeables“, die „die Auswirkungen der Geschichte auf den Alltag des kleinen Mannes, dessen Froschperspektive gleichsam das Bild bestimmt“[45], zeigen. Demnach ist Geschichte zwar auf derselben Zeitebene vorhanden, aber nicht dominant. Ganz anders argumentiert dagegen John Reddick. Er sieht in dieser Zurücksetzung des Geschichtlichen den Kontrast, der Geschichte erst als das eigentliche Ziel der Erzählung hervorhebt[46]. Gerade der Kontrast ist es, der bei der Gleichzeitigkeit von privatem und geschichtlichem Ereignis wichtig ist. Eykmann nennt dies die „Technik der Konfrontation“[47], die nicht nur Zweifel an der Wichtigkeit des geschichtlichen Ereignisses wecken will, sondern auch zu zeigen versucht, dass ein scheinbar weltbewegendes Ereignis für den Einzelnen nicht gleich Folgen hat, zumindest keine, die zum Zeitpunkt des Erlebens absehbar sind:
An jenem Oktobernachmittag des Jahres neunundneunzig, während in Südafrika Ohm Krüger seine buschig englandfeindlichen Augenbrauen bürstete, wurde zwischen Dirschau und Karthaus, nahe der Ziegelei Bissau, unter vier fleischfarbenen Röcken, […] meine Mutter Agnes gezeugt. (BT, 23)
Die Zeugung von Agnes steht hier gleichberechtigt neben dem Beginn des Burenkrieges 1899. Von dieser Stelle an zieht sich die Gleichzeitigkeit von Geschichte und privatem Leben durch den gesamten Roman.[48]
Weitere Beispiele dafür sind:
- Die Schließung der Grenze zwischen Polen und dem Freistaat Danzig im August 1939 wird nur erwähnt, da sie die Schließung des Marktstandes von Anna Bronski nach sich zieht (BT, 235).
- Die Landung auf Kreta während des Zweiten Weltkrieges am 25. Mai 1941 wird mit Marias Leitersturz gleichgesetzt (BT, 389).
- Die Eroberung Stalingrads im September 1942 erscheint unwichtiger als der Bau einer Trommelmaschine von Greff (BT, 405).
- Die Wirkung dieser Gleichschaltungen ist jedoch nicht immer dieselbe.
Unverbundenheit
Die Parallelisierung von geschichtlichen und privaten Ereignissen scheint zumeist gänzlich unmotiviert zu sein. Es besteht kein sinnstiftender Zusammenhang zwischen dem geschichtlich bedeutenden Vorfall und dem privat erlebten.[49] Just weist noch darauf hin, dass das politische Geschehen keinen Einfluss auf das Leben der Kleinbürger hat, zumindest insofern, dass es keinen Diskussionspunkt für sie darstellt.[50] Kontrast ist hier Programm: Geschichte und Alltagsleben bleiben unverbunden und werden dadurch in ihrer Gegensätzlichkeit betont. Diese Gegensätzlichkeit wirkt zunächst komisch, da sie in ihrer Unverbundenheit die Lesererwartung enttäuscht. Die Gegensätzlichkeit wird nicht aufgehoben, sie bleibt im Raum stehen als „komische Verwirrung“[51] und trägt nichts dazu bei, die beiden unterschiedlichen Ereignisse in Einklang zu bringen.
Agnes und Alfred Matzerath verloben sich in dem Jahr, als Polen die Rote Armee schlägt (BT, 48). Der New Yorker Börsenkrach steht in einem Nebensatz, dessen Hauptsatz sich mit Agnes’ Sorge über Oskars ausbleibendes Wachstum beschäftigt (BT, 84). Die Regierung der Nationalen Front in Warschau, Polen, wird zusammen mit den von Oskar möglich gemachten Diebstählen genannt, eine Nennung, die „außer komischen Vorurteilen kein reales Substrat haben kann“[52]. Hitlers Machtübernahme wird als vermeintlichen Grund für den vermehrten Kauf von Staubsaugern angegeben (BT, 224), Reichsparteitage werden in einem Zug mit Geflügelaustellungen, Autorennen und Frühjahrsüberschwemmungen genannt (BT, 244). Die Germanisierung polnischer Stadtnamen ist nur indirekt erwähnenswert, weil Oskar in einem Wäschekorb voller Briefe schläft (BT, 285). Die Erfolge des Heers in Russland werden mit Oskars sexuellen Erfolgen bei Lina Greff gleichgesetzt (BT, 399/499). Die Re-educationspolitik und der florierende Schwarzmarkt stehen unverbunden nebeneinander (BT, 570).
Der Text verknüpft die einzelnen Ereignisse nur zeitlich, nicht aber inhaltlich. Just erklärt diese merkwürdig unverbundene Verknüpfung damit, dass die unterschiedlichen Ereignisse sich auf dasselbe Prädikat beziehen, das aber metaphorisch wird und seine Bedeutung dem jeweiligen Kontext anpasst.[53] Diese Prädikat-Verbindung lässt sich für die Blechtrommel nicht eindeutig nachweisen, und augenscheinlich wird sie nur ein einziges Mal:
Man sprach damals viel von Wunderwaffen und vom Endsieg. Wir, die Stäuber, sprachen weder vom einen noch vom anderen, hatten aber die Wunderwaffe. (BT, 487)
Wichtig und richtig erscheint mir dagegen Justs These[54], dass die gegensätzliche Position von Geschichte und Privatem nicht nur als solche angesehen werden muss, sondern auch als „fingierter Nexus“, der als Konstrukt des Autors erkannt werden kann. Die Verfremdung, die dabei eintritt, wirkt folgendermaßen: die als geschichtlich anerkannte Realität wird zwar dargestellt, beziehungsweise erwähnt, aber sie wird nicht so erwähnt, wie es der Lesererwartung entspricht, sondern wie Oskar, der Erzähler, sie erlebt und sieht. Just verweist hierbei auf den ‚bösen Blick’ Oskars, der das politische Geschehen nur gleichgültig darzustellen vermag und so den Eindruck erweckt, dass alles, was außerhalb der privaten Sphäre liegt, unwichtig sei.[55] Diese Behauptung geht allerdings etwas zu weit. Durch die Verfremdung entsteht vielmehr der Eindruck einer kindlichen Betrachtungs- und Interpretationsweise. Fischer nennt dies eine „Verfremdung ins Naive“[56]. Beispiele für diese naive Unverbundenheit gibt es häufig in der Blechtrommel, darum kann hier nur eine kleine Auswahl präsentiert werden:
Kriegsschauplätze des Ersten Weltkrieges werden nur indirekt bei einem Abzählspiel mit Knöpfen erwähnt:
Ich könnte mir vorstellen, dass die Knöpfe aller Uniformen so bemessen sind, dass der zuletzt gezählte Knopf immer Verdun, einen der vielen Hartmannsweilerköpfe oder ein Flüsschen meint: Somme oder Marne. BT, 46)
Eine Kindergartenschlägerei erscheint wichtiger als der Konflikt Deutschland-Polen:
Wie immer, wenn Politik im Spiele ist, kam es zu Gewalttätigkeiten. (BT, 90)
Undifferenziert und unreflektiert wird die Seeschlacht bei der Doggerbank im Ersten Weltkrieg in einem Nebensatz erwähnt:
Was ich da fand, stellte Kraut und Rüben dar, stammte wohl zum guten Teil aus der Bücherkiste ihres Bruders Theo, der auf der Doggebank den Seemannstod gefunden hatte. (BT, 111)
Die mit der Nazipolitik einhergehende Normierung gerade von Frauen wird eigentlich gar nicht erwähnt sondern, ebenfalls unvermittelt, mit Alfred Matzeraths Ärger über Agnes’ Rauchen in der Öffentlichkeit dargestellt:
…lächelte sie Matzerath an, weil sie wusste, dass er sie nicht gerne in der Öffentlichkeit rauchen sah. (BT 196)
Was diesen Normierungszwang für den oder die Einzelne bedeutet, bleibt ausgespart.
Der Krieg in Afrika, der am 13. Mai 1943 endete, wird nur erwähnt, nicht jedoch in seinem Ausmaß historisch eingeordnet:
…, fand mit dem Afrikakorps auch Kurtchens Keuchhusten ein Ende. (BT 416)
Im zweiten Buch häufen sich die Sätze, in denen private und historische Ereignisse unverbunden nebeneinander stehen. Die Verteidigung der Polnischen Post erhält ihren Sinn in der Beschützung einer Kindertrommel, begründet mit dem Franco-britischen Garantievertrag (BT, 291). Hitlers blaue Augen werden erwähnt, da sie mit Jan Bronskis blaue Augen den Erfolg bei Frauen gemein haben (BT, 325), und obwohl Hitler in diesem Satz noch mehr Erwähnung findet, beschränkt sich die Darstellung auf das Naive, indem nur auf Hitlers momentane Tätigkeit hingewiesen wird: unermüdlich im schwarzen Mercedeswagen stehend, fast pausenlos rechtwinklig grüßend. Die Folgen für die Bürger Danzigs werden ausgespart, von Hitler erfolgt keine weitere Charakterisierung, und auch Bedeutung und Verwendung des rechtwinkligen Grußes werden nicht erklärt. Dies ist nur eines von vielen Beispielen aus dem zweiten Buch, andere wurden bereits weiter oben erwähnt.
Geschichte als Rahmenhandlung
Geschichtliche Daten und Fakten dienen in der Blechtrommel nicht nur zur Verfremdung. In ihrer Parallelsetzung zum fiktiven Kontext werden sie auch dazu benutzt, der Handlung einen zeitlichen Rahmen zu geben. Hierbei ist es interessant zu beobachten, welche geschichtlichen Ereignisse wann den Rahmen darstellen.[57] Geschichte wird so funktional auf das Erzählte bezogen[58].
Der Vertrag von Rapallo gibt den zeitlichen Rahmen für Hochzeitskleider und –fotos, die im Vergleich zu denen nach dem Zweiten Weltkrieg viel schöner und bräutlicher waren (BT, 63 ). Die Sondermeldungen bezüglich des Frankreichfeldzuges markieren den Beginn der Badesaison 1940 (BT, 345), während die Sondermeldungen zum U-Bootkrieg den Hintergrund zu Marias Schwangerschaft abgeben (BT, 376f). Von Stalins Tod im März 1953 erfährt man beim Rasieren (BT, 367), die Kesselschlacht bei Kijew konstituiert den zeitlichen Rahmen für ein Taufessen (BT, 396 ). Die Schlammperiode legt Zeitpunkt und Dauer von geschichtlichem und privatem Ereignis fest, allerdings findet der Russlandfeldzug als solcher, das „Unternehmen Barbarossa“, keine Erwähnung:
Vjazma und Brjansk; dann setzte die Schlammperiode ein. Auch Oskar begann, Mitte Oktober einundvierzig kräftig im Schlamm zu wühlen. Man mag mir nachsehen, dass ich den Schlammerfolgen der Heeresgruppe Mitte meine Erfolge im unwegsamen und gleichfalls recht schlammigen Gelände der Frau Lina Greff gegenüberstelle. Ähnlich wie sich dort, kurz vor Moskau, Panzer und LKWs festfuhren, fuhr ich mich fest; zwar drehten sich dort noch die Räder, wühlten den Schlamm auf, zwar gab auch ich nicht nach – es gelang mir wortwörtlich im Greffschen Schlamm Schaum zu schlagen -, aber von Geländegewinn konnte weder kurz vor Moskau noch im Schlafzimmer der Greffschen Wohnung gesprochen werden. (BT, 399)
Wichtig erscheint diese Rahmen- und gleichzeitige Parallelsetzung dadurch, dass Oskar damit sowohl auf die Erfolge an der Ostfront als auch auf die Erfolge an der Heimatfront, sprich seine eigenen sexuellen, hinweisen möchte.
Es zeigt sich jedoch, dass die geschichtlichen Ereignisse nur erwähnt werden, sie werden nicht gedeutet, gewertet oder interpretiert. Sie erfahren eine „textinterne Bedeutungseingrenzung“[59], die tatsächlich eigentlich nur ein Ziel haben kann: Provokation. Der Leser soll die im Roman dargestellte Einschätzung und Anordnung von Geschichte hinterfragen.
Geschichte als Rahmenhandlung lässt sich jedoch nicht nur an einzelnen Textstellen belegen, sondern ebenfalls an der Aufteilung des Romans in drei Bücher. Verkürzt man den Inhalt auf ein wesentliches Merkmal, haben sie die Wachstumsgeschichte Oskar Matzeraths zum Thema. Buch 1 beschäftigt sich mit seiner Kindheit, Buch 2 mit seiner Jugendzeit, Buch 3 mit seinem Erwachsenendasein. Analog hierzu ist die reale zeitliche Geschichte zu sehen. Die fiktiven Ereignisse von Buch 1 fallen in die Vorkriegszeit, Buch 2 hat als zeitlichen Rahmen den Zweiten Weltkrieg und das letzte Buch erzählt die fiktiven Begebenheiten der Nachkriegszeit.
Parodistische Darstellung
Streng genommen gibt es nur eine Textstelle in der Blechtrommel, in der Geschichte parodistisch dargestellt wird: Der Polenfeldzug im September 1939 wird als irrsinnige Kavallerie (BT, 324), als komische Don Quijoterie präsentiert. Der Tod bekommt an dieser Stelle durch die einzuhaltende höfische Etikette einen ironischen Beigeschmack. Just sieht den Grund für diese Parodie darin, dass „das erlebende Ich“, Oskar, an dieser Stelle nicht anwesend ist und darum das Handlungsgeschehen nicht adäquat beobachten und schildern kann.[60] Anstelle der Präsentation von historischen Fakten tritt ein lyrisch anmutender Einschub. Der Erzähler entschuldigt sich anschließend für diesen ‚Ausfall’, erläutert damit aber nicht seine Beweggründe, diese Feldschlacht so und nicht anders beschrieben zu haben. Der Grund mag darin liegen, dass ein bloßes Aufzählen von Fakten die Perspektive des Erzählers überflüssig machen würde, wie Just vermutet.[61] Die Wirkung ist enorm: durch die Reduzierung der Gewichtigkeit des politischen Ereignisses wird der Kontextbezug vergrößert. Just erkennt in dieser Parodie auch die Fortführung des Motivs „Polen“: das Leitmotiv hier ist die polnische Kavallerie, der Satz Noch ist Polen nicht verloren (BT, 324), der den Anfang der polnischen Nationalhymne imitiert, wird mehrfach variiert. Hinzu kommt die Farbsymbolik weiß-rot, die sich durch den gesamten Roman hindurch zieht (Trommel, Flagge Polens) und die mit Jan als Pole verbunden ist. Just nennt diese Verbindung „epische Integrität“ und „ästhetische Vermittlung“, da durch sie Sinn gestiftet wird.[62]
Aber es gibt, im weiteren Sinn, noch andere Stellen, die durch Parodie, genauer gesagt durch das Komische, wirken. Hier wird „geschichtlicher Ernst durch banales Lebensweltliches ins Komische gekippt“[63].
Der Erzähler beschreibt ausführlich einen Wochenmarkt und seine zum Kauf feilgebotenen Mengen an Lebensmitteln (BT, 332) und weist damit parodistisch auf die kommende Zwangsbewirtschaftung hin. Der Tod von gemeinsamen Bekannten von Oskar und Maria wird in Umgangssprache beschrieben:
Nuchi Eyke, der auf Kreta blieb, Axel Mischke, der noch kurz vor Schluss in Holland hopsging… (BT, 369)
Völkische Probleme werden mit einem Hinweis auf Gänsefleisch, das immer gleich schmeckt, egal aus welchem Land die Gans kommt, weggewischt (BT, 394). Die Invasion der Alliierten in Frankreich wird metaphorisch umschrieben. Gesagt wird nur, dass amerikanische Uniformen unter dem Eiffelturm spazieren geführt werden (BT, 484). Marias spannungslose Dauerwellen geben das Bild für die erste Hälfte des Jahres 1945, also für die letzten Kriegsmonate und die schwere erste Nachkriegszeit:
Die letzten Kriegs- und Nachkriegsmonate hatten ihr jene Dauerwellen genommen, die Matzerath noch bezahlt hatte.(BT, 549)
Auch für die Parodie gilt: der gewohnte Unterschied zwischen wichtigem und unwichtigem, zwischen geschichtlich relevantem und privatem Ereignis ist aufgehoben. Was dem Leser wichtig erscheint, wird in einem Nebensatz ‚versteckt’ oder parodistisch-komisch umgeformt. Daraus ergibt sich eine Aufgabe für den Leser, die im nächsten Kapitel diskutiert wird.
Die Aufgabe des Lesers
„Das Buch fordert den Leser heraus. Er muss etwas dazugeben. Ohne ihn existiert das Buch nicht. Er muss imaginieren, was dort geschrieben ist.“ (X, S.366)
Die Aufgabe des Lesers setzt sich aus mehreren Teilbereichen zusammen:
Er muss die verschiedenen Ebenen auseinander halten, er muss erkennen, dass das Wichtige unwichtig erscheint und das Unwichtige wichtig, und er muss die Lücken im Text mit seinem eigenen Wissen auffüllen. Natürlich erhält der Leser Hilfestellungen, Hinweise, die der Erzähler einstreut und die den Leser in die richtige Richtung lenken sollen.
Gerade die Technik der Parallelsetzung, die einen ironischen Unterton transportiert, gibt entscheidende ‚Lese’-Hinweise. Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist der Leser gewohnt, historische Daten und Fakten in den Text, besonders aber in den Kontext integriert vorzufinden. Nicht so in der Blechtrommel. Hier findet eine Umkehrung der als normal angesehenen und erwarteten Verhältnisse statt; wichtig erscheint nicht das geschichtliche Datum, sondern das private Ereignis. Die Folge: die Lesererwartung wird enttäuscht. Dadurch wirkt die Unverbundenheit von geschichtlichem und privatem Ereignis jedoch erst. Just nennt dies „Verfremdung automatisierter Vorstellungen“, wobei die Parallelführung „verhindert, dass die Verfremdungsperspektive zur bloßen Masche verkommt, sich aus ihrer Vermittlungsfunktion verselbstständigt – oder, formalistisch ausgedrückt: dass sie sich ‚automatisiert’; als eine bestimmte, und zwar fundamentale Ausprägung des Verfremdungsverfahrens, ist sie zugleich belebende Modifikation des Verfahrens“.[64] Die Ironie, die in den meisten Parallelisierungen steckt, soll dem Leser als Denkanstoß dienen, über seine eigenen und die ihm vorgegebenen Vorstellungen nachzudenken. In der Blechtrommel soll nichts als ‚gegeben’ akzeptiert werden, alles und jeder soll und muss hinterfragt werden. Auch hierzu liefert der Erzähler Hinweise, indem er sich als unzuverlässigen Erzähler zu erkennen gibt. Bereits in der Einleitung untergräbt er seine eigene Glaubwürdigkeit, wenn er sich mit den Worten vorstellt: Zugegeben; ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt (BT, 9). Damit etabliert er zwar zunächst eine feste Erzählsituation, aber untergräbt sie immer von neuem im Verlauf des Romans. Er macht seine Unzuverlässigkeit damit regelrecht zu seinem Programm. Der Leser gerät dadurch in Versuchung, eine Erklärung für Oskars Vorgehensweise zu suchen, seinem seltsamen Verhalten und seinen Lügengeschichten auf die Spur zu kommen. Sobald man jedoch glaubt, zu wissen, was Oskar zu seinem Spiel treibt, setzt eine neue Wendung im Geschehen den Protagonisten wieder in ein ganz anderes Licht, das dann auch wieder auf den Erzähler zurück strahlt. An keiner Stelle des Romans macht sich Oskar, weder als Protagonist noch als Erzähler, dem Leser richtig fassbar und begreiflich. Die Aura des Unbegreiflichen bleibt ihm bis zur letzten Seite. Schon zu Beginn gibt Oskar unmissverständlich zu, dass seine Erzählungen Lügengeschichten sind:
Der Gute scheint meine Erzählungen zu schätzen, denn sobald ich ihm etwas vorgelogen habe... (BT, 9).
Doch schon zwei Seiten weiter buhlt er um das Vertrauen des Lesers, wenn er sein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen (BT, 11) erwähnt. Dieses von Oskar selbst genährte Misstrauen ihm gegenüber soll auch dazu führen, dass der Leser die Wertungen, die er im Roman vorfindet, hinterfragt.
Oskars sarkastische Darstellung
Besonders gerne und ausgiebig wendet sich Oskar als Erzähler gegen alles, was ihm irgendwie verdächtig erscheint. Dies gilt für als historisch Angesehenes, für das ‚bürgerliche’ Leben und im Speziellen für Institutionen.[65] Gerade letzteren lässt er seinen spitzen Sarkasmus zugutekommen. Dabei verlässt er sich auch auf seine Leser, die gerade durch seinen Sarkasmus und seine Ironie die Kritik an dem Dargestellten erkennen sollen. Oskar treibt die Verfremdung, die bereits in den Parallelschaltungen angelegt ist, durch seinen Sarkasmus und den durchdringenden Blick, mit dem er alles genau beobachtet, zum Äußersten. Ein gutes Beispiel für diesen Sarkasmus ist die Darstellung der Schule, die Oskar besuchen soll.
Obwohl Oskar das Schulgebäude stilistisch und architektonisch zusagt, bemängelt er sofort den Geruch, der sich in demselben befindet:
Die Pestalozzischule war ein neuer, ziegelroter, mit Sgraffitos und Fresken modern geschmückter, dreistöckiger, länglicher, oben flacher Kasten […] Mir gefiel der Kasten, bis auf seinen Geruch und die sporttreibenden Jugendstilknaben auf den Sgraffitos und Fresken, nicht schlecht. (BT, 93)
Weitere Hinweise auf den Schulgeruch folgen. Das nächste, wogegen sich Oskar richtet, ist die sportliche Betätigung an der Schule: die Turnhallenwüstenei, in der das lederne Langpferd, die Kletterstangen und Kletterseile, das entsetzliche, immer eine Riesenwelle abverlangende Reck (BT, 94) steht. Damit hat Oskar jetzt schon zwei Dinge identifiziert, die er an der Institution Schule verachtet: Geruch und Leibesübungen. Einen dritten Punkt findet er in Gestalt der Lehrerin Fräulein Spollenhauer:
Fräulein Spollenhauer trug ein eckig zugeschnittenes Kostüm, das ihr ein trocken männliches Aussehen gab. Dieser Eindruck wurde noch durch den knappsteifen, Halsfalten ziehenden, am Kehlkopf schließenden und, wie ich zu bemerken glaubte, abwaschbaren Hemdkragen verstärkt. (BT, 96)
Besonders zu bemerken sind hier die beiden Adjektive trocken und männlich, die Oskar miteinander gleichsetzt und zuvor schon für Alfred Matzerath verwendet hat. Die Lehrmethode von Fräulein Spollenhauer gleicht ihrer Personenbeschreibung. Herrisch und unbeugsam fordert sie Gehorsam von ihren Schülern, verwandelt sie in eine Horde brüllender Kinder, die auf Kommando loslegen. Schnell erkennt Oskar, dass sowohl der Sport als auch Spollenhauers Lehrmethode nur ein Ziel haben – Zucht und Ordnung. Die Darstellung wird darum ganz auf die Entlarvung der Schule als Einübungsort für das Barbarische, mit dem Ziel die Schüler zu Männlichkeit und Härte zu erziehen, zugeschnitten.[66] Oskar beschreibt dieses Ziel noch einmal mit der Sütterlinschrift, die für ihn Sinnbild der Nazi-Ideologie ist:
Sütterlinschrift kroch bösartig spitzig und in den Rundungen falsch, weil ausgestopft, über die Schultafel, kreidete jene den Anfang eines neuen Lebensabschnittes markierende Inschrift. In der Tat lässt sich gerade die Sütterlinschrift für Markantes, Kurzformuliertes, für Tageslosungen etwa, gebrauchen. Auch gibt es gewisse Dokumente, die ich zwar nie gesehen habe, die ich mir dennoch mit Sütterlinschrift beschrieben vorstelle. Ich denke da an Impfscheine, Sporturkunden und handgeschriebene Todesurteile. Schon damals, da ich Sütterlinschrift zwar durchschauen, aber nicht lesen konnte, wollte die Doppelschlinge des Sütterlin M, mit dem die Inschrift begann, tückisch und nach Hanf riechend, mich ans Schafott gemahnen. (BT, 103)
Weitere ironisch-sarkastische Bemerkungen dieser Art finden sich gehäuft im Kapitel Kein Wunder, das sich gegen die Institution Kirche richtet, und bei der Verteidigung der Polnischen Post, die Oskar als gänzlich unsinnig betrachtet. Ganz klar tritt Oskars Sarkasmus beim Brand der Stadt Danzig hervor:
Die Stadt verbrennenswert gefunden […] …die die Ziegel gotischer Backsteinkunst zum hundertstenmal brannten, ohne dadurch Zwieback zu gewinnen […] Das Krankenhaus war aus Holz und brannte besonders schön […] …ließ sich das Feuer für mehrere auffallend grelle Hosen Maß nehmen […] Die Marienkirche brannte von innen nach außen und zeigte Festbeleuchtung durch Spitzbogenfenster[…] Die Glocken…tropften sang- und klanglos […] In der Großen Mühle wurde roter Weizen gemahlen[…] Im Stadttheater wurden Brandstifters Träume, ein doppelsinniger Einakter, uraufgeführt. (BT, 512/513)
Diese Darstellung des Feuers bleibt jedoch nicht kalt, durch den in ihr enthaltenen Sarkasmus wirkt sie komisch und mag dem einen oder anderen Leser sogar ein Schmunzeln aufs Gesicht zaubern. Dennoch verfehlt sie ihre Wirkung nicht: Wie die Parallelschaltungen verfremdet sie das Dargestellte und regt so den Leser zur Mitarbeit und zum Nachdenken an.
Allegorie als inhaltliche Darstellung
Die inhaltliche Darstellung von Geschichte in der Blechtrommel wird vor allem durch Allegorie bestimmt. Im etymologischen Sinn bedeutet Allegorie „das Anderssagen“ und meint die „Darstellung eines abstrakten Begriffes durch ein konkretes Bild“[67]. Daraus folgt für den Roman, dass das, was direkt gesagt wird, nur selten das ausdrückt, was gemeint ist. Just[68] hat dafür den Begriff „objektives Korrelat“ gewählt, der von T.S. Eliot[69] geprägt wurde als ein literarisches Mittel, mit dem Psychisch-Emotionales auf einer anderen Ebene, der gegenständlichen, ausgedrückt werden kann. Demzufolge steht eine Situation, ein Objekt oder ‚Ding’ oder eine Reihe von Ereignissen für etwas ganz anderes. Zeichen und Bezeichnetes bilden dann nur auf den zweiten Blick eine Einheit. Die Merkmale des Begriffs Allegorie lauten nach Kim[70] wie folgt:
- Willkürlichkeit der Beziehung Zeichen – Bezeichnetes
- Intellektuelle und rationale Auslegungsmöglichkeit des Textes bis ins kleinste Detail
- Wichtige Funktion des sichtbaren, visuellen Elementes und der Situation
- Angewiesenheit auf die Erzählstruktur
- Intendierte Anregung des Lesers zur Reflexion
All diese Merkmale treffen auf Form und Inhalt der Blechtrommel zu, da in diesem Roman Gegenstände und Personen mehrere, beziehungsweise andere Funktionen und Bedeutungen haben als die im Text angegebenen. Bereits Enzensberger erkannte, dass in der Blechtrommel „kaum ein Faden fallengelassen, kaum ein Leitmotiv ungenutzt bleibt“[71].
Die Kleinbürger
„So mag ich sie gerne, und so gehöre ich ihnen an. Ihre Schwerfälligkeit macht mich beredt, ihr Biedersinn öffnet mir Wortkaskaden; mit Vorliebe zeichne ich den Mief der kleinbürgerlichen Träume nach. […] Ich komme aus solch kleinbürgerlichen Verhältnissen und habe Anteil an diesem Mief.“ (IX, S.201)
Die Romanfiguren der Blechtrommel leben alle in der kleinbürgerlichen Welt, aus der Grass selbst kommt. Jede von ihnen steht für einen bestimmten Typ von Kleinbürger, hat bestimmte Verhaltensweisen und bedient eine Klischeevorstellung. Auch Just sieht die Danziger Kleinbürger als Typen und Originale, welche keinerlei Innenleben besitzen und an denen sich „in extremer, einseitiger und damit deutlicher Weise [manifestiert], was an ideologischen Tendenzen in der bestimmten geschichtlichen Situation gerade virulent war“[72]. Dabei sind die Rollen genau aufgeteilt: Alfred Matzerath ist der rheinländische Deutsche, Jan Bronski der Pole, Sigismund Markus und Fajngold die Juden, jedoch unterschiedlich akzentuiert als Opfer und Überlebender, Greff und Meyn diejenigen, die der Partei beitreten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichem Erfolg. Nach Just haben die Frauen in der Blechtrommel nicht die gleiche repräsentative Bedeutung wie die Männer, sie wären nur „gekennzeichnet durch ihre ‚natürliche’ Funktion, durch ihre sexuelle Dienstbarkeit“.[73] Das ist zumindest insofern richtig, da die Frauen nicht auf eine Bedeutung festzulegen sind. Aber nichtsdestoweniger haben sie repräsentative Funktionen. Agnes ist die kaschubische Tochter, die an ihrer Affinität zu Polen und an ihrem Sicherheitsbedürfnis – sie bleibt bei Matzerath, der, als Deutscher, auf der Gewinnerseite zu stehen scheint – zu Grunde geht. Großmutter Anna ist Kaschubin, gehört somit einer ethnischen Randgruppe der damaligen Zeit an. Maria erhält ihre repräsentative Bedeutung hauptsächlich in der Nachkriegszeit; dann steht sie für alle, die ihre Vergangenheit verdrängen und sich weigern, sich mit ihr auseinander zu setzen, und für alle, die so schnell wie nur möglich zur Normalität, zum Biedersinn zurückkehren wollen. Die repräsentative Bedeutung der Figuren verstärkt sich noch, richtet man den Blick auf ihren Tod und auf den Zeitpunkt, an dem er eintritt.[74] Agnes’ Tod leitet den Untergang der Freien Stadt Danzig ein, die für das friedliche Zusammenleben von Kaschuben, Deutschen und Polen stand, Sigismund Markus' Freitod weist auf den Zeitpunkt der beginnenden verschärften Judenverfolgung hin, die Erschießung Jan Bronskis geschieht zeitgleich mit der Kapitulation Polens und Alfred Matzeraths Tod steht für den Untergang des Dritten Reiches.
Aber es ist nicht nur die repräsentative Funktion der einzelnen Romanpersonen, welche die Darstellung in der Blechtrommel bestimmt. Es ist auch die genaue und detaillierte Beschreibung des Umfeldes der Kleinbürger. Arker[75] hat darauf hingewiesen, dass Grass hier keinen Unterschied zwischen ‚Kleinbürgertum’ und ‚kleinen Leuten’ macht. Die Welt der Danziger Kleinbürger ist weniger bestimmt durch ihre soziale Position als durch ihre Mentalität, nämlich die der Kleinbürger als Spießer. Geschildert wird eine „Lebenswirklichkeit, die von geistiger Enge, politischem Opportunismus und einem Mangel an Geschmack gekennzeichnet ist“[76].
Zusammenhang Kleinbürgertum – Nationalsozialismus
„…es mir darauf ankommt, gerade die Nahtstellen und Überlappungen zwischen proletarischem Herkommen und kleinbürgerlicher Anpassung oder Kleinbürgertum mit proletarischem Rückfall zu zeigen, gerade das war doch die tragende Schicht, in der der Nationalsozialismus entstehen konnte.“ (X, S.162)
Die Frage, die sich bei einer Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Kleinbürgertum und Nationalsozialismus aufdrängt, ist die nach den Gründen: Warum entwickelten die Kleinbürger eine solche Affinität zu und Sympathie für den Nationalsozialismus, warum machten sie mit, wurden zu Mitläufern, etc. Grass stellt diese Frage in der Blechtrommel aber nicht. Er zeigt nur die „Nahtstellen und Überlappungen“, präsentiert das Milieu, in dem das alles möglich war, und lässt den Leser sein eigenes Urteil fällen. Und dies tut er mit einer Detailgenauigkeit, die ihresgleichen sucht. Er zeigt die Verhältnisse kleiner Leute, schaut in die Wohnzimmer und unter die Tische und ermöglicht so dem Leser, an der Wirklichkeit dieser ‚kleinen’ Lebenssituation teilzuhaben. Ein besonderes Kennzeichen der kleinbürgerlichen Welt: sie ist muffig (BT, 401). Muffig klingt nach alt, da nur alte Sachen miefen können. Und hierin liegt auch die Essenz: der Biedersinn des Kleinbürgertums. Das, was man hat, erhalten um jeden Preis, keine Veränderungen zulassen, und wenn doch Veränderungen, dann bitte so angenehm und unauffällig wie möglich, und natürlich nur zum eigenen Vorteil. Einen Vorteil für sich sahen vielleicht viele in der damaligen Zeit. Geschürt wurde dieses Vorteilsdenken dann noch von „einer Demagogie, die vorlügt, dass man aus biologischen (rassischen) Gründen mehr sei, als man sozial in Wirklichkeit ist“[77]. Gezeigt wird in der Blechtrommel, wie der einzelne sich in den Bann der Nationalsozialisten ziehen lässt. Das Warum wird dabei nebensächlicher, wenngleich es als Frage mit im Raum stehen bleibt. Wichtig erscheinen in dieser Hinsicht drei Bemerkungen des Erzählers, die „die überaus wichtige, wenn auch häufig unbewusste Rolle […] dekuvrieren, die das Matzerathsche Milieu insgesamt im tödlichen Phänomen des Nationalsozialismus spielte“[78]:
Matzeraths korrektes, mitteleuropäisches, wie man sehen wird, zukunftsträchtiges Kleinbürgertum… (BT, 70)
Du stehst hier vor einer Schultafel, stehst unter einer wahrscheinlich bedeutenden, womöglich verhängnisvollen Inschrift. Du kannst zwar dem Schriftbild nach die Inschrift beurteilen und dir Assoziationen wie Einzelhaft, Schutzhaft, Oberaufsicht und Alle-an-einem-Strick aufzählen, aber entziffern kannst du die Inschrift nicht. (BT, 104)
Der Heveliusplatz, in den die Gasse mündete, wurde von gruppenweise herumstehenden Leuten der SS-Heimwehr gesperrt: junge Burschen, auch Familienväter mit Armbinden. (BT, 282)
Hier wird zwar die Beteiligung des Kleinbürgertums am Nationalsozialismus deutlich gemacht, aber auch der vermeintlich allwissende Oskar kann das Warum nicht erklären.
Alfred Matzerath
„In Wirtsstuben hocken sie gern beieinander: gastlich, harmlos, zum kleinen Streit aufgelegt und immer bereit, dem Gesang zu verfallen, wobei es vorkommen kann, dass dem stummen Ortsfremden nahegelegt wird, in den Gesang einzustimmen. Mitsingen! Mitmachen! Meine Landsleute legen großen Wert darauf, fleißig genannt zu werden.“ (IX, S.200)
Alfred Matzerath ist einer dieser Mitmacher, er gehört in
„die unvergängliche und immer wieder nachwachsende Familie der Mitläufer, Mittäter, Mitwisser und Mitschuldigen“ (IX, S.141).
Auf sein Mitläufertum wird sehr deutlich hingewiesen:
Aber das war so seine Angewohnheit, immer zu winken, wenn andere winkten, immer zu schreien, zu lachen und zu klatschen, wenn andere schrien, lachten oder klatschten. Deshalb ist er auch verhältnismäßig früh in die Partei eingetreten, als das noch gar nicht nötig war, nichts einbrachte und nur seine Sonntagvormittage beanspruchte. (BT, 195)
Damit wird eines gleich ganz deutlich gesagt: Matzerath macht ‚nur’ mit, er ist aber nicht Initiator oder gar ‚Vor-Macher’. Er folgt, ohne zu hinterfragen, wem er eigentlich folgt. Diese unreflektierte Verhaltensform ist typisch für Matzerath, und damit gleichzeitig typisch für die Mentalität, die er innerhalb des Romans repräsentiert. Von Matzerath kann man Sätze hören, beziehungsweise lesen, wie Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps (BT, 146) und Er wird später einmal das Geschäft übernehmen. Jetzt wissen wir endlich, wofür wir uns so abarbeiten. (BT, 52), die ihn als Vertreter der oben erwähnten Spießermentalität auszeichnen. Ein weiteres Merkmal von Matzerath ist sein ausgesprochenes Gemütlichkeitsbedürfnis. Nichts ist ihm wichtiger, als versorgt zu sein, umsorgt zu werden und es gemütlich zu haben. Behagen wird bei ihm groß geschrieben und bestimmt folgerichtig sein Handeln. Als gebürtiger Rheinländer (BT, 47) besitzt er das, was man gemeinhin als rheinische Fröhlichkeit bezeichnet. Als passionierter Koch versteht er es, Gefühle in Suppen zu wandeln (BT, 47), und nur während des Kochens erscheint er differenzierter, ja sensibel und deshalb beachtenswert (BT, 341). Seine Kochleidenschaft schließt sich an sein Gemütlichkeitsbedürfnis an, immerhin ist Essen ein wichtiger Bestandteil von Sich-Behaglich-Fühlen. Auch seine beiden Ehen stehen unter diesem Zeichen. Mit Agnes heiratet Matzerath eine Krankenschwester, die es versteht, einen Kolonialwarenladen zu führen, Maria erweist sich als gute Kraft in Haushalt und Laden. Spießigkeit, von Spießern auch Behaglichkeit genannt, bestimmt Matzeraths Leben und Ehen:
Da tröpfelt Wochenendpotenz, da brutzeln die Wiener Schnitzel, da nörgelt es ein bisschen vor dem Essen und gähnt nach der Mahlzeit, da muss man sich vor dem Schlafengehen Witze erzählen oder die Steuerabrechnung an die Wand malen, damit die Ehe einen geistigen Hintergrund bekommt. (BT, 65)
Aber besonders in der Ehe mit Agnes wird seine Behaglichkeit gestört durch Agnes’ Affäre mit Jan. Diese duldet er, um seine Ruhe zu haben. Da man aber eine solche Situation nicht einfach ‚aussitzen’ kann, flüchtet er sich in die Partei, wie er all die Jahre zuvor Zuflucht im Kochen und im Skatspiel (Das Skatspiel […] es war ihre Zuflucht (BT, 67)) gesucht hat. Sein „behagliches Phlegma“[79] nimmt er mit in die Partei, in der er, der Spießer und Ordnungsliebhaber, die Kräfte der Ordnung (BT, 145) erkennt. Dass er es nur bis zum Zellenleiter schafft, ist seinem Hang zur Behäbigkeit zu verdanken. Er ist kein Draufgänger, keine Führungspersönlichkeit, er ist ein Mitmacher, Eigeninitiative ist ihm fremd. Die Uniform kauft er sich nach und nach zusammen (BT, 146). Hier zeigt sich, wie der Nationalsozialismus sich langsam und schleichend in der Gesellschaft breit macht: zuerst ist es nur die Uniform, die gekauft wird, dann der Sonntag, eigentlich ein heiliger Tag für die Familie, und schließlich wird man ganz davon in Beschlag genommen. Die Uniform als Beginn der Gleichschaltung zeigt, „wie der Mensch als nicht denkendes, nicht fühlendes, nur ausführendes Organ sich in die Maschinerie der Unmenschlichkeit einordnen lässt“[80]. Die einzige Veränderung, die Matzerath außer seiner Sonntagskleidung vornimmt und zulässt ist, dass er ein Bild von Beethoven ab- und ein Porträt von Hitler über dem Piano aufhängt. Zur finstersten aller Konfrontationen (BT, 146) kommt es, weil Agnes das Beethoven-Bild gegenüber dem Hitler-Porträt wieder an die Wand hängt. Matzerath, ganz Vertreter der kleinbürgerlich-engstirnigen Mentalität, begreift weder die politischen noch die privaten Vorgänge. Agnes Tod trifft ihn völlig unvorbereitet; die Geschehnisse der Pogromnacht versteht er nicht, sondern er benutzte die Gelegenheit und wärmte seine Finger und seine Gefühle über dem öffentlichen Feuer“ (BT, 259).
Matzerath wird nicht als Schlägertyp dargestellt, im Vordergrund steht immer der gemütliche Familienvater. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, erkennt der Leser an ihm „eine Duldsamkeit ohne Grundsätze, ein Beharren um des Behagens willen, einen Prozess der Gewöhnung an das Unrecht, das diesem erst eigentlich erlaubt zu wachsen und ins Kraut zu schießen“[81]. Mit Alfred Matzerath zeigt sich die ‚normale’ Verhaltensweise des Kleinbürgertums.
Unpolitische Parteibeitritte
„Die Menschen sind großartige und oft genug – wer wollte das leugnen, geniale Täter; doch vor den Folgen stehen sie fassungslos, wie ohne Begriff, und verhalten sich infantil, das heißt: unverantwortlich.“ (IX, S.675)
Vom ‚normalen’, mitmachenden Kleinbürger zum Kleinbürger als Täter sind es im Labesweg und Kleinhammerweg nur ein paar Schritte. Gleich vier Personen können zunächst unter ‚Täter’ eingeordnet werden, wenn man dafür den Parteibeitritt als Merkmal annimmt. Dass sich dieses Merkmal nicht aufrechterhalten lässt, stellt sich jedoch schnell heraus.
Der Gemüsehändler Greff tritt in die Partei ein, nicht weil er die rassistische Meinung der Nationalsozialisten teilt oder um an deren Macht teilzuhaben, sondern um seine eigenen Schwächen und Neigungen zu verbergen. Seine Schwäche ist die Homosexualität, die für ihn zu einer ernsthaften Bedrohung werden kann, da die Nationalsozialisten Homosexuelle verfolgten und internierten. Greff lebt seine homophile Neigung in seiner Pfadfindergruppe aus: die Liebe zu Knaben und die Abhärtung des eigenen Körpers:
Greff liebte die Jugend. Er liebte die Knaben mehr als die Mädchen. Eigentlich liebte er die Mädchen überhaupt nicht, liebte nur die Knaben. Oftmals liebte er die Knaben mehr, als es sich durch das Absingen von Liedern ausdrücken ließ. [...]
Greff liebte das Straffe, das Muskulöse, das Abgehärtete. Wenn er Natur sagte, meinte er gleichzeitig Askese. Wenn er Askese sagte, meinte er eine besondere Art von Körperpflege. (BT, 382)
Greff treibt einen Kult um ein gesundes, natürliches und volkstümliches Leben, verbunden mit einer homosexuell-pädophilen Neigung; dies zwingt ihn, den Nazis vorzugreifen, er tritt in das NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahrer-Korps) ein und rettet damit, vorerst, sein Leben:
Da Greff noch rechtzeitig Mitglied des NSKK geworden war und sich ab einundvierzig nicht nur Gemüsehändler, sondern auch Luftschutzwart nannte, sich außerdem auf zwei ehemalige Pfandfinder berufen durfte, die es inzwischen im Jungvolk zu etwas gebracht hatten, Fähnleinführer und Stammführer waren, konnte man von der HJ-Gebietsleitung aus die Liederabende in Greffs Kartoffelkeller als erlaubt bezeichnen. (BT, 381)
Der Pfadfinder und Homosexuelle Greff „vertritt allegorisch jene Leute, die zur Nazi-Komplizenschaft kommen, um ihre privaten Flecke zu kaschieren“[82]. Sein kurz darauf folgender Selbstmord wird eingeleitet mit der Meldung, dass Greffs Lieblingsknabe gefallen ist, und ist der Anerkennung der Ausweglosigkeit seiner Situation trotz Komplizenschaft zuzuschreiben: Nachdem er eine Vorladung der Sittenpolizei erhalten hat, bringt er sich um. Dieser Suizid wird als musikalisches, von Greff inszeniertes Schauspiel dargestellt: Albrecht Greffs großes Finale (BT, 415). Damit wird jedoch auch deutlich, dass Greff trotz seiner Parteizugehörigkeit nicht den Tätern zuzuordnen ist, sondern den Opfern. Er wird zu Tode gebracht durch die Politik und die die öffentliche Meinung beherrschende Ansichten der Nationalsozialisten.
Auch Gretchen und Alexander Scheffler beteiligen sich aktiv an der nationalsozialistischen Bewegung aus persönlichen Gründen. Politische Motivation ist auch ihnen fremd. Sie treten in die Nazi-Organisation KDF (Kraft durch Freude) ein und unterstützen das Nazi-Projekt „Winterhilfswerk“.[83] Die Gründe sind aus Oskars Beschreibung der beiden klar ersichtlich; beide sind sie sexuell unbefriedigt und emotional unerfüllt, da sie keine Kinder haben:
Hätte der Scheffler nur in jenen Jahren dann und wann die Finger aus dem Mehl gezogen und die Semmeln der Backstube gegen ein anderes Semmelchen vertauscht. Das Gretchen hätte sich gerne von ihm kneten, walken, einpinseln und backen lassen. Wer weiß, was aus dem Ofen gekommen wäre? Am Ende etwa doch noch ein Kindchen. Es wäre dem Gretchen diese Backfreude zu gönnen gewesen. (BT, 116)
Die Schefflers reihen sich so ein in die Menge der mit ihrem Leben unzufriedenen Menschen, die in einer Organisation, Gruppe oder Partei Abwechslung und neue Impulse für sich suchten, ohne zu hinterfragen, für wen, für was, oder warum sie mitmachten. Insofern kann man auch die Schefflers nicht als Täter bezeichnen, sie sind Mitläufer, die Opfer ihrer eigenen Unzufriedenheit werden. Eine gewisse antisemitische Gesinnung kann man Alexander Scheffler jedoch nicht absprechen. Auf der Beerdigung von Oskars Mutter Agnes ist er es, der zusammen mit dem Musiker Meyn den Juden Sigismund Markus vom Friedhof vertreibt:
Der Trompeter Meyn tippte dem Markus mit dem Zeigefinger gegen den schwarzen Anzug, schob ihn so vor sich her, nahm den Sigismund links am Arm, während Scheffler sich rechts einhängte. Und beide gaben acht, dass der Markus, der rückwärtsging, nicht über Gräbereinfassungen stolperte, schoben ihn auf die Hauptallee und zeigten dem Sigismund, wo das Friedhofstor war. (BT, 213)
Musiker Meyn unterscheidet sich von allen anderen. Er ist keine Gestalt für sich, „sondern lediglich eine Symbolfigur, ein zweckdienliches Mittel, um die unheimliche Anziehungskraft und gänzliche innere Disjunktion des Nationalsozialismus besser objektivieren zu können“[84]. An ihm zeigt sich die Verwandlung vom gutmütigen Kleinbürger zum zerstörenden SA-Mann. Bevor er der SA beitritt, besteht sein Leben aus drei Dingen: [] Machandelflasche,[]Trompete und []Schlaf (BT, 106). Hinzu kommen noch seine vier Katzen, die ihm später noch viel Ärger einbringen und die Unordnung, die sowohl in seiner Wohnung als auch in seinem Leben herrscht. Meyn tritt in die SA ein, um sein Leben ‚aufzupeppen’, ihm wieder Sinn und Ziel, aber vor allen Dingen Ordnung zu geben. Seine aufgestaute Aggressivität lässt er an seinen Katzen aus und tötet diese, was für ihn den Ausschluss aus der Reiter-SA wegen unmenschlicher Tierquälerei (BT, 259) bedeutet. Ein Ausschluss wäre für Meyn jedoch eine Katastrophe, darum versucht er in der Kristallnacht, sich als würdiger Vertreter der SA zu geben:
Selbst als sich der SA-Mann während der Nacht vom neunten zum zehnten November achtunddreißig, die man später die Kristallnacht nannte, besonders mutig hervortat, die Langfuhrer Synagoge im Michaelisweg mit anderen in Brand steckte, auch kräftig mittat, als am folgenden Morgen mehrere zuvor genau bezeichnete Geschäfte geräumt werden mussten, konnte all sein Eifer seine Entfernung aus der Reiter-SA nicht verhindern. (BT, 258/59)
Aus dieser Bemerkung des Erzählers lässt sich schließen, dass auch Meyn keinerlei politische Motivation hat, sondern nur aus rein privaten Gründen zum Täter wird. Den Ausschluss aus der SA kann er trotzdem nicht verhindern. Es wird aber noch berichtet, dass er ein Jahr später in die Heimwehr eintritt, die im Verlauf des Krieges in die Waffen-SS integriert wurde. Daraus folgt, dass sich die Nazis „niemanden entgehen lassen, der sich einmal als willfähriges Werkzeug hat gebrauchen lassen“[85]. Von den in Buch 1 beschriebenen Kleinbürgern ist er der einzige, der ein ‚wirklicher’ Täter ist. Er ist nicht nur Mitläufer, der aus Unzufriedenheit und Langeweile mitmacht, sondern er nimmt aktiv teil an der Zerstörung während der Kristallnacht und an der Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten.
Jan Bronski
In Jan Bronski findet sich der Gegensatz zu Alfred Matzerath. Bronski optiert für Polen kurz nachdem Agnes sich für Matzerath entschieden hat, womit gleich zu Beginn der Romanhandlung der Gegensatz Deutsch-Polnisch eingeführt wird. Wenn man über Jan Bronski spricht, ist es wichtig, das Dreiecksverhältnis Jan-Agnes-Alfred zu erwähnen. Jan und Agnes kennen sich seit ihrer Kindheit, seit ihrer Jugendzeit verbindet sie eine tiefe Zuneigung zueinander. Ob man dabei wirklich von Liebe sprechen kann, sei dahingestellt. Sicher ist aber, dass die beiden auch nach Agnes’ Heirat mit Matzerath nicht voneinander lassen können, auch wenn Jan Bronski vermutlich nicht der großartige Liebhaber ist, für den man ihn halten könnte:
Jan und Mama auf einer Platte: Da riecht es nach Tragik, Goldgräberei und Verstiegenheit, die zum Überdruss wird, Überdruss, der Verstiegenheit mit sich führt. (BT, 65)
Jan Bronski ist gefühlsbezogen und sensibel, ganz im Gegensatz zu Matzerath. Während sich Matzerath ganz dem Zufriedensein verschrieben hat, sind für Jan Emotionen von größter Bedeutung. Seine Entscheidung für Polen trifft er nur, weil Agnes ihn mit ihrer Heirat zurückgewiesen hat, es ist also eine private, emotionale Entscheidung und keine, die seine politischen Ansichten widerspiegelt. Jan ist keine starke Persönlichkeit, ja, man könnte ihn sogar als feige bezeichnen, denn er tritt weder für seine Liebe zu Agnes ein, noch für ‚sein’ Land, als es hart auf hart kommt. Im Falle von Agnes „begnügt er sich mit heimlichen Spielchen unter der Tischplatte, hinter dem Rücken seines Rivalen, den er doch zum Skatspielen (3!) braucht“[86]. Sein Verhältnis zu Polen ist ein oberflächliches; solange es keine Probleme gibt, setzt er sich für Polen ein, aber als er die Polnische Post mit verteidigen soll, versucht er, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Politischer Durchblick ist seine Sache nicht, die Zeichen, die für einen ernsten Konflikt zwischen Polen und Deutschland sprechen, übersieht er oder will er nicht sehen. Jan Bronski lebt in seiner eigenen Welt, die aus Phantasien und unerfüllten Träumen besteht. Das Skatspiel ist für ihn wie für Agnes und Matzerath eine Zuflucht, in die man sich begibt, um sich Ablenkung von Problemen zu verschaffen. Während die Polnische Post unter Beschuss steht, baut Jan ein Kartenhaus, das, nach Rothenberg, ein „Kartenhaus der Illusionen“ ist, mit dem Jan seine „Vogel-Strauß-Politk“, die er sein ganzes Leben betrieben hat, fortführt.[87] Im Kapitel Das Kartenhaus ereignet sich jedoch etwas, das Jan ganz klar von Matzerath unterscheidet: Oskar nennt ihn Papa (BT, 313). Diese ‚Ehre’ hat Oskar seinem gesetzlichen Vater, Alfred Matzerath, nie zukommen lassen. Auch lässt Oskar Jan gegenüber zu diesem Zeitpunkt die Maske seiner Dreijährigkeit fallen, ebenfalls ein einmaliges Ereignis, und gibt sich seinem mutmaßlichen Vater Jan Bronski als fünfzehnjähriger Junge zu erkennen. Fast könnte man den Eindruck bekommen, dass Oskar bereits weiß, dass Jan nur noch wenige Stunden zu leben hat und er, Oskar, Jan vor dessen Tod sein wahres Gesicht zeigen kann. Verwunderlich ist jedoch, dass sich bei dem Skatspiel, bei dem Oskar zum ersten Mal in Gegenwart von Erwachsenen richtig spricht, keiner über Oskars plötzliche Redegewandtheit, geschweige denn sein Verhalten wundert. Jan schaut ihn zwar kurz und unbegreiflich blau an (BT, 307), aber er äußert sich nicht zu diesem veränderten Oskar.
[...]
[1] DER SPIEGEL 40/ 1999, S.295.
[2] Rothenberg sieht dies anders. Seiner Meinung nach sieht Oskar in der Ordnungsvernarrtheit und Leichtgläubigkeit der Kleinbürger den Grund für das Aufkommen des Nationalsozialismus. Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung: Zeitgeschichte als Thema und Aufgabe des Prosawerks. Heidelberg, 1976. S.15.
[3] Enzensberger, Hans Magnus: Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt. In: Gert Loschütz: Von Buch zu Buch – Günter Grass in der Kritik. Neuwied, Berlin, 1965, S.10.
[4] Lattman, Dieter: Die Literatur der Bundesrepublik. Zürich und München, 1973, S.10.
[5] Lattman, Dieter: Die Literatur der Bundesrepublik. S.12.
[6] Ebd, S.11.
[7] Ebd, S.12.
[8] Ebd, S.12.
[9] Koopmann, Helmut: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. In: Franz Josef Görtz (Hg): Günter Grass. Auskunft für Leser. Darmstadt, Neuwied, 1984, S.95-123.
[10] Koopmann, Helmut: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. S.96.
[11] Ebd, S.97.
[12] Ebd, S.97.
[13] Ebd, S.99.
[14] Ebd, S.100-101.
[15] Vormweg, Heinrich: Deutsche Literatur 1945-1960: Keine Stunde Null. In: Manfred Durzak (Hg): Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Stuttgart, 1971, S.14.
[16] Ebd, S.16.
[17] Koopmann, Helmut: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. S.103.
[18] Vormweg, Heinrich: Deutsche Literatur 1945-1960: Keine Stunde Null. S.28.
[19] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. Zwei ästhetische Modelle der Aufarbeitung der Vergangenheit: Günter Grass’ Die Blechtrommel und Christa Wolfs Kindheitsmuster. Frankfurt am Main, 1995. S.28.
[20] Ebd, S.31, 37.
[21] Lattmann, Dieter: Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland. S.12.
[22] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. S.31.
[23] Lattman, Dieter: Die Literatur der Bundesrepublik. S.18.
[24] Vormweg, Heinrich: Deutsche Literatur 1945-1960: Keine Stunde Null. S.16.
[25] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. S.29.
[26] Vormweg, Heinrich: Deutsche Literatur 1945-1960: Keine Stunde Null. S.15.
[27] Lattman, Dieter: Die Literatur der Bundesrepublik. S.88.
[28] Ebd, S.82.
[29] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. Untersuchungen zu Günter Grass’ „Blechtrommel“. Heidelberg, 1989, S.V.
[30] Krumme, Detlef: Günter Grass. Die Blechtrommel. München, Wien, 1986, S.33.
[31] DER SPIEGEL 40/1999, S.300.
[32] Arnold, Heinz Ludwig: Gespräche mit Günter Grass. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg): Günter Grass. Text und Kritik 1/1a. München, 1978, S.5.
[33] Koopmann, Helmut: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. S.105.
[34] Ebd, S.107.
[35] Gerstenberg, Renate: Zur Erzähltechnik von Günter Grass. Heidelberg, 1980, S.28.
[36] Enzensberger, Hans Magnus: Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt. S.12.
[37] Gerstenberg, Renate: Zur Erzähltechnik von Günter Grass. S.28.
[38] Koopmann, Helmut: Der Faschismus als Kleinbürgertum und was daraus wurde. S.109.
[39] „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“ Adorno, Theodor W.: Prismen. Berlin, Frankfurt a.M., 1955, S.31. Burkhardt Lindner weist darauf hin, dass Adorons Datum nicht die Funktion hat, eine Grenze zwischen Vorher und Nachher zu ziehen. „Auschwitz ist nicht bloß Ort, Name für ein Ereignis, sondern ein selbst namenloses Deckwort für ein Unnennbares.“ Aus: Lindner, Burkhardt: Was heißt: Nach Auschwitz? Adornos Datum. In: Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel, Hanno Loewy (Hg): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, Frankfurt am Main, New York, 1998, S.283.
[40] Neuhaus, Volker. Günter Grass. Stuttgart, 1979, S.44.
[41] Ebd, S.45.
[42] Eykmann, Christoph: Geschichtspessimismus in der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Bern, München, 1970, S.123.
[43] Neuhaus, Volker: Günter Grass. S.46.
[44] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S.340.
[45] Eykmann, Christoph: Geschichtspessimismus. S.112.
[46] Reddick, John: Vergangenheit und Gegenwart in Günter Grass’ Blechtrommel. In: Bernd Hüppauf (Hg): Die Mühen der Erben. Kontinuität und Wandel in der deutschen Literatur und Gesellschaft. 1945-1949. Heidelberg, 1981, S.375.
[47] Eykmann, Christoph: Geschichtspessimismus. S.113.
[48] Krumme, Detlef: Günter Grass. S.110.
[49] Dieser Ansatz findet sich auch bei Just, Georg: Darstellung und Appell in der Blechtrommel von Günter Grass. Frankfurt, 1972, S.166f und bei Fischer André: Inszenierte Naivität: zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski. München, 1992, S.139f.
[50] Just, Georg: Darstellung und Appell. S.167. Ausnahme: Man sprach von der Kesselschlacht bei Kijew. (BT, 396).
[51] Ebd. S.168.
[52] Fischer, André: Inszenierte Naivität, S.164.
[53] Just, Georg: Darstellung und Appell, S.169.
[54] Ebd, S.169.
[55] Ebd, S.54f.
[56] Fischer, André: Inszenierte Naivität. S.140.
[57] Dieser Ansatz findet sich auch bei Fischer, André: Inszenierte Naivität. S.138f.
[58] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S.340.
[59] Fischer, André: Inszenierte Naivität. S.139.
[60] Just, Georg: Darstellung und Appell. S.175.
[61] Ebd, S.176.
[62] Ebd, S.176-177.
[63] Fischer, André: Inszenierte Naivität. S.143.
[64] Just, Georg: Darstellung und Appell. S.167, 170.
[65] Dieter Arker behandelt in seinem Buch Nichts ist vorbei, alles kommt wieder ebenfalls Oskars sarkastische Darstellung und kommt zu denselben Schlussfolgerungen. Er nennt diese Darstellung jedoch „kalt“: S.147f.
[66] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S.149.
[67] Duden. Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3.Aufl., Bd.7, S.29.
[68] Just, Georg: Darstellung und Appell. S.127f.
[69] Eliot, T.S. Selected Essays. London, 1972, S.145.
[70] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. S.65.
[71] Enzensberger, Hans Magnus: Wilhelm Meister, auf Blech getrommelt. S.11.
[72] Just, Georg: Darstellung und Appell. S.179.
[73] Ebd, S.179.
[74] Dies wird auch von Kim, Nury: Allegorie und Authentizität. S. 79 und Just, Georg: Darstellung und Appell. S.179f so gesehen.
[75] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S. 302.
[76] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S.311.
[77] Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. S.306.
[78] Reddick, John: Vergangenheit und Gegenwart in Günter Grass’ Blechtrommel. S.384.
[79] Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung. S.14.
[80] Gerstenberg, Renate: Zur Erzähltechnik von Günter Grass. Heidelberg, 1980, S.162.
[81] Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung. S.14.
[82] Kim, Nury: Allegorie oder Authentizität. S.74.
[83] Ebd, S.74.
[84] Reddick, John: Vergangenheit und Gegenwart in Günter Grass’ Blechtrommel. S.384.
[85] Schwan, Werner: Ich bin doch kein Unmensch. Kriegs- und Nachkriegszeit im deutschen Roman. Freiburg im Breisgau, 1990, S.31.
[86] Schwan, Werner: Ich bin doch kein Unmensch. S.37.
[87] Rothenberg, Jürgen: Günter Grass. Das Chaos in verbesserter Ausführung. S.15.
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- Anke Balduf (Author), Nina Di Nunzio (Author), Melina Pütz (Author), Linda Neuhaus (Author), 2015, Realität vs. Fiktion. Günter Grass' "Blechtrommel" als autobiografischer und historischer Roman, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302464
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