Die DDR-Kinder von Namibia – eine Gruppe von rund 430 namibischen Kindern, die zwischen 1979 und 1990 in der DDR gelebt hat und dort die Schule besuchte – war und ist seit ihrer Rückkehr nach Namibia Gegenstand zahlreicher Interviews, Dokumentationen und wissenschaftlichen Arbeiten. Von Interesse sind diese Individuen nicht nur, weil sie die ersten Schwarzen waren, die im freien Namibia auf deutschen Eliteschulen zugelassen wurden, sich dort behaupten konnten und dadurch lebender Beweis für das Potenzial der schwarzen Bevölkerung waren (vgl. Owens/Nambelela, 2008: 136). Interessant sind sie vor allem, weil sie als Schwarze dem Weltbild der weißen Bevölkerung nicht entsprachen.
In dieser Arbeit gebe ich im ersten Teil (Kapitel 2) einen kurzen Überblick über die Gruppe der Ex-DDR-Kinder. Kapitel 3 befasst sich mit dem Identitätspotenzial von Generationseinheiten. Ich vertrete darin meine These, dass es sich bei den ehemaligen DDR-Kindern um eine Generationseinheit handelt, die durch drei wesentliche Erfahrungsabschnitte geprägt ist. Die abgespeicherten Erfahrungsfragmente dieser Abschnitte bilden dabei nicht nur die Grundlage der Wahrnehmung als Gruppe, sondern sind auch die Basis der individuellen Identitätskonstruktion. Weshalb sich diese individuellen Identitätskonstrukte trotz aller Ähnlichkeiten mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden, erläutere ich im letzten Teil (Kapitel 4). Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die DDR-Kinder von Namibia - ein kurzer Überblick
3 Generationen als Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften
3.1 Im Flüchtlingslager
3.2 In der DDR
3.3 Die Repatriierung
4 Identität als erinnerungsbasiertes Konstrukt
5 Zusammenfassung
6 Literatur
Eidesstattliche Erklärung
1 Einleitung
Die DDR-Kinder von Namibia - eine Gruppe von rund 430 namibischen Kin- dern, die zwischen 1979 und 1990 in der DDR gelebt hat und dort die Schule besuchte - war und ist seit ihrer Rückkehr nach Namibia Gegenstand zahlreicher Interviews, Dokumentationen und wissenschaftlichen Arbeiten. Von Interesse sind diese Individuen nicht nur, weil sie die ersten Schwarzen waren, die im freien Na- mibia auf deutschen Eliteschulen zugelassen wurden, sich dort behaupten konnten und dadurch lebender Beweis für das Potenzial der schwarzen Bevölkerung waren (vgl. Owens/Nambelela, 2008: 136). Interessant sind sie vor allem, weil sie als Schwarze dem Weltbild der weißen Bevölkerung nicht entsprachen. Es war ihre „Dissonanz als Schwarze“ (Owens/Nambelela, 2008: 137), die die Absurdität der Doktrinen der Apartheid offenbarte und die deutschstämmige Bevölkerung Nami- bias zwang, „Deutschsein“ neu zu definieren (vgl. Owens/Nambelela, 2008: 139). Gerade dort, wo „Deutschsein“ bisher vor allem dadurch bestimmt wurde, dass man in eine deutschstämmige Familie hinein geboren wurde (vgl. Owens, 2008: 239), gelang es einer Gruppe schwarzer Kinder die „genetische Konnotation“ (vgl. Owens/Nambelala, 2008: 139) aufzubrechen und einen Blick auf eine mögliche, multikulturelle Zukunft der jungen Nation zu gewähren.
Die Geschichte der DDR-Kinder von Namibia ist von traumatischen Erlebnis- sen geprägt. Nach ihrer Repatriierung hatten gerade die Kinder, die länger in der DDR gelebt hatten, große Anpassungsprobleme. Nicht nur den Kindern stell- te sich die Frage, wohin sie eigentlich gehörten. Sie wurden weder als „richtige Deutsche“ noch als „richtige Namibier“ (vgl. Möller/Hens/Radelhof, 2003)wahr- genommen und waren Außenseiter in ihrer „fremden Heimat“ (Engombe, 2014: 150). Mit ihrer Geschichte eröffnet sich Wissenschaftlern die Möglichkeit, unmit- telbar zu verfolgen, wie die Individuen ihre eigene Identität sowie die Identität ihrer Gruppe konstruieren.
In dieser Arbeit gebe ich im ersten Teil (Kapitel 2) einen kurzen Überblick über die Gruppe der Ex-DDR-Kinder. Kapitel 3 befasst sich mit dem Identi- tätspotenzial von Generationseinheiten. Ich vertrete darin meine These, dass es sich bei den ehemaligen DDR-Kindern um eine Generationseinheit handelt, die durch drei wesentliche Erfahrungsabschnitte geprägt ist. Die abgespeicherten Er- fahrungsfragmente dieser Abschnitte bilden dabei nicht nur die Grundlage der Wahrnehmung als Gruppe, sondern sind auch die Basis der individuellen Identi- tätskonstruktion. Weshalb sich diese individuellen Identitätskonstrukte trotz aller Ähnlichkeiten mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden, erläutere ich im letzten Teil (Kapitel 4). Abschließend werden die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst.
2 Die DDR-Kinder von Namibia - ein kurzer Überblick
Als DDR-Kinder von Namibia1 wird eine Gruppe von rund 430 namibischen Kindern und Jugendlichen2 bezeichnet, die zwischen 1979 und 1990 in der DDR gelebt und/oder dort die Schule besucht hat. Die Bezeichnung evoziert eine dis- kussionsbedürftige (hybride) Identitätszuschreibung, in der zwei nationale Iden- titätskonstrukte miteinander in Bezug gesetzt werden: eine „deutsche“ und eine „namibische“ Identität. Mit dem Begriff DDR-Kinder von Namibia wird darüber hinaus eine Homogenität suggeriert, die mit den tatsächlichen Gegebenheiten wenig zu tun hatte. Dass es sich im Gegenteil um eine sehr heterogene Gruppe handelte, möchte ich an vier für diese Arbeit relevanten Aspekten3 aufzeigen:
Staatsangehörigkeit Die meisten der von der SWAPO in die DDR geschickten Kinder waren nur auf dem Papier namibische Staatsangehörige: Sie wurden nicht in Namibia, sondern im Exil4 geboren (siehe Abbildung 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Geografische Herkunft der Kinder, die das Kinderheim Bellin besuchten (vgl. Timm, 2007: 131 - eigene Darstellung)
Aufenthaltsdauer Die Kinder reisten darüber hinaus zu unterschiedlichen Zeit- punkten in Gruppen oder einzeln5 in die DDR ein (siehe Abbildung 3). Hinsichtlich ihrer Aufenthaltsdauer sind die Ex-DDR-Kinder daher sehr heterogen: Während ein Fünftel der Kinder beinahe elf Jahre in der DDR lebte, reiste rund die Hälfte bereits ein Jahr nach ihrer Einreise wieder aus der DDR aus.
Alter Auch hinsichtlich ihres Alters ist die Gruppe äußerst gemischt: Einige der Kinder waren gerade einmal zwei Jahre alt, als sie in die DDR geschickt wurden. Andere befanden sich dagegen bereits im Grundschulalter (sie- he Abbildung 4). Berücksichtigt man darüber hinaus die unterschiedlichen Einreisejahre, so zählten zur Gruppe der DDR-Kinder von Namibia zum
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Verteilung der nachgewiesenen Einreise (vgl. Timm, 2007: 126 - eigene Darstel- lung)
Zeitpunkt der Ausreise 1990 sowohl 3-jährige Kindergarten-Kinder als auch fast volljährige Teenager.
Sprache Obwohl die Erst- bzw. Familiensprache der meisten Ex-DDR-Kinder Oshiwambo6 war (vgl. Timm, 2007: 171), gehörten einige Kinder auch ande- ren ethnischen Bevölkerungsgruppen an (vgl. Owens, 1999: 24). Oshiwambo, das in der DDR unterrichtet und anfangs der ausschließlichen Verständigung diente7, war für diese letztgenannte Gruppe bereits die erste Fremdsprache (vgl. Timm, 2007: 172). Viele Kinder waren darüber hinaus bis zu ihrer An- kunft in der DDR mit den Landessprachen ihrer Exilländer konfrontiert8. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Aufenthaltsdauer in der DDR ist davon auszugehen, dass die Ex-DDR-Kinder sich hinsichtlich ihrer individuellen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Altersstruktur der nachweislich eingereisten und im Kinderheim Bellin unter- gebrachten Kinder (vgl. Timm (2007: 128) - eigene Darstellung)
Sprachkompetenzen stark unterscheiden - nicht nur bezüglich der Deutschund Oshiwambo-Kenntnisse.
Obwohl es sich bei den DDR-Kindern von Namibia wie oben dargestellt in vielfacher Hinsicht nicht um eine homogene Gruppe handelt, wiesen die Mitglieder der Gruppe auch Gemeinsamkeiten auf, die sie von ihren namibischen, schwarzen Altersgenossen unterschieden. Owens (2008) nennt drei wesentliche, die ich um eine vierte ergänzen möchte:
Augenkontakt Die meisten schwarzen Kinder in Namibia wurden dazu erzogen, den Blick zu senken, wenn eine Autoritätsperson9 mit ihnen spricht. Ein solches Verhalten galt jedoch nach deutscher Etikette als respektlos. Die Ex-DDR-Kinder fielen im Gespräch mit anderen daher vor allem durch dieses, oft als Arroganz oder Stolz gedeutetes, Verhalten auf. Der für Nami- bier ungewohnte Augenkontakt führte jedoch auch dazu, dass die Ex-DDR- Kinder die ersten Schwarzen waren, die auf Augenhöhe mit den Südwestern kommunizierten (vgl. Owens, 2008: 238).
Sprechweise Auch durch ihre als nicht respektvoll gedeutete Sprechweise unter- schieden sich die Ex-DDR-Kinder von anderen Schwarzen. Owens (2008: 238) führt an, dass viele schwarze Namibier die Weißen selbst nach der Apartheid wie zuvor üblich mit „Meneer“ oder „Mevrou“10 ansprachen und dadurch die existierende Ungleichheit in der Bevölkerung linguistisch fort- führten. Die Ex-DDR-Kinder waren dagegen nicht nur im Bewusstsein er- zogen worden, dass alle Menschen gleich sind. Man hatte sie auch dazu ausgebildet, Namibias zukünftige Führer zu werden. Ihre Sprechweise war laut und sie verhielten sich stolz (vgl. Owens, ebd.), wofür sie abwechselnd bewundert und verachtet wurden.
Auftreten und Erscheinungsbild Owens (2008: 238) beschreibt, dass sich die Kinder anders bewegten und daher bereits aus der Entfernung als Ex-DDR- Kinder erkannt wurden. Auch kleideten sie sich abweichend. In ihrem Mo- debewusstsein spiegelten sich die Modestile aus Deutschland sowie der süd- afrikanischen Elite wider. Ähnliches stellten Grote/Kunert (1995: 114) fest: „Nach wie vor sind alle sehr modern und auffallend schön“.
Deutsch Eine der auffälligsten Gemeinsamkeiten der Kinder ist die Beherrschung der deutschen Sprache, die vor allem bei den Kindern, die sich länger in der DDR aufgehalten hatten, als muttersprachlich bezeichnet werden darf. Aufgrund der oben genannten mangelnden Kompetenzen in der Familien- bzw. Herkunftssprache lernten die Kinder die deutsche Sprache nicht nur sehr schnell. Deutsch wurde auch zur Umgangssprache (Timm, 2007: 175). Während ihrer Zeit in der DDR eigneten sich viele der Kinder einen regio- nalen Akzent an, mit dem sie die Namibiadeutschen überraschten11 und sich unmittelbar von deren Wahrnehmung der Schwarzen abhoben (vgl. Owens, 2008: 236). Darüber hinaus entwickelten sie ihren eigenen Sprachmix,das Oshideutsch, das sie zur Ingroup-Kommunikation verwenden und das Außenstehende nur schwer bis gar nicht verstehen (vgl. Kenna,42010: 54).
[...]
1 Auch die im Weiteren verwendeten Begriffe Ex-DDR-Kinder, ehemalige DDR-Kinder oder einfach nur DDR-Kinder referieren auf diese spezifische Gruppe. Ich setze sie aus stilisti- schen Gründen synonym ein, da im Kontext dieser Arbeit variierende Bezeichnungen keine Verwechslungen mit deutschen DDR-Kindern nach sich ziehen können.
2 Die genaue Anzahl der Kinder konnte aufgrund widersprüchlicher Angaben in den Ein- und Ausreiseunterlagen bis heute nicht ermittelt werden. Belegt ist, dass 1990 430 Kinder zurück nach Windhoek reisten. Darunter „10 in der DDR geborene Säuglinge“ (Timm, 2007: 127) so- wie rund 200 Kinder, die sich nur knapp ein Jahr in der DDR aufhielten, bevor sie repatriiert wurden, und aufgrund der Kürze ihres Aufenthalts in der DDR eine Sonderrolle einnehmen (vgl. Kenna,42010: 38). Abzüglich der S-100 - rund hundert 1989 eingeflogene Kinder im Schulalter, die direkt in Staßfurt eingeschult wurden - hätten laut den Timm (2007: 127) vor- liegenden Dokumenten somit während der elfjährigen Bildungszusammenarbeit zwischen der SWAPO und der SED 320 Kinder das Kinderheim in Bellin durchlaufen müssen. Allerdings sind von diesen 320 Kindern offiziell nur 298 Kinder eingereist. Zu weiteren Diskrepanzen in den amtlichen Aufzeichnungen führt die Tatsache, dass zwei dieser Kinder zwar einge- reist, 1990 jedoch nicht ausgereist sind: „Eines war 1981 zu seinen Eltern nach Schweden übergesiedelt, ein weiteres 1985 [. . . ] gestorben“.
3 Den ausführlichen Datensätzen von Timm (2007) lassen sich weitere Kennzahlen (u.a. die Anzahl von Jungen und Mädchen innerhalb der Gruppe oder Angaben dazu, ob die Kinder bei der Einreise verwaist waren oder nicht) entnehmen, die zu berücksichtigen jedoch den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätten.
4 Da sich Timms Recherchen (2007) ausschließlich mit jenen Kindern befassen, die das Kin- derheim Bellin besucht haben, sind keine offiziellen statistischen Angaben zu den S-100 vor- handen. Laut Kenna (42010: 38) wurden jedoch auch diese Kinder aus Angola in die DDR geflogen und es ist anzunehmen, dass einige von ihnen ebenfalls im Exil geboren wurden.
5 Timm (2007: 123) macht auf eine „kaum ausfindig zu machende Zahl einzeln reisender Kinder“ aufmerksam.
6 Die Stammessprache der Owambo ist zugleich auch die am häufigsten gesprochene Sprache in Namibia (vgl. Owens, 1999: 24).
7 Timm (2007: 175) weist darauf hin, das der Oshiwambo-Unterricht nicht systematisch erfolgte und man sich nicht darüber verständigt habe, in welchem Ausmaß die Kinder Oshiwambo beherrschen müssten. Es überrascht daher nicht, dass der mangelhafte Oshiwambo-Unterricht dazu führte, dass sich die Kinder in den ersten Monaten nach ihrer Rückkehr nur rudimentär mit ihren Familien verständigen konnten.
8 Timm (2007: 171) nennt als wichtigste Sprachen Portugiesisch (Angola), Englisch (Sambia) und Tschechisch (ČSSR).
9 Zu solchen Autoritätspersonen zählten im von den Apartheidsstrukturen geprägten Namibia auch direkt nach der Unabhängigkeit nicht nur Ältere, sondern auch Weiße.
10 Teilweise wurde diese ehrerbietige Anrede sogar anstelle eines Personalpronomens verwendet. Owens (2008: 238) gibt dafür ein ins Englische übersetztes Beispiel: „Excuse me, Sir. I think Sir left Sir’s keys on the table“.
11 Kenna (42010: 23) vermutet dass einige der DDR-Kinder „ ‚reineres‘ Deutsch gesprochen haben als [..] manche Südwester“, deren Deutsch „mit Ausdrücken aus dem Afrikaans und aus dem Englischen“ durchsetzt ist.
- Arbeit zitieren
- Andrea Hahnfeld (Autor:in), 2015, Schwarze Haut, weiße Identität? Erinnerungsbasierte Identitätskonstruktion am Beispiel der DDR-Kinder von Namibia, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302446
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