Partizipation gilt als das Schlüsselkriterium für eine nachhaltige und erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit. Trotz einer Vielzahl kritischer Stimmen hat sich daran bis heute so gut wie nichts geändert. Partizipation ist kaum hinterfragte Lehrmeinung und gilt weiterhin als Grundvoraussetzung für eine bessere, effektivere und gerechtere Entwicklung.
Die Wirksamkeit von Partizipation wird hauptsächlich mit Untersuchungen aus den 1980–1990er Jahren belegt, auf die sich auch die Entwicklungsethnologie bezieht. Weder bereits deutlich länger bekannte Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, noch neuere Forschungen aus der Ethnologie der Entwicklung haben bisher einen nennenswerten Einfluss auf die Entwicklungspraxis.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob Partizipation das Versprechen einer besseren, effektiveren und gerechteren Entwicklung tatsächlich halten kann und ob die hohen Erwartungen gerechtfertigt sind.
Für die Bearbeitung der Fragestellung wird die anwendungsorientierte entwicklungsethnologische Perspektive dem theoretisch-analytischen Blickwinkel der Ethnologie der Entwicklung und den Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie gegenübergestellt.
Dabei werden die inhärenten Widersprüche der partizipativen Entwicklungspraxis und insbesondere die der partizipativen Entwicklungsrhetorik aufgezeigt und hinterfragt. Außerdem wird die Frage aufgeworfen, warum die Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie in der westlichen Partizipationsforschung sehr wohl, in der partizipativen Entwicklungszusammenarbeit jedoch kaum Beachtung finden.
Inhalt
1. Einleitung
2. Begriffsklärung und historische Einordnung
2.1 Die Genese des Entwicklungsbegriffs
2.2 Entwicklungszusammenarbeit (EZ)
2.3 Entwicklungsethnologie &Ethnologie der Entwicklung
2.4 Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit
3. Methoden partizipativer Ansätze in der EZ
3.1 RRA / PRA: Ursprung und Begriffsklärung
3.2 Das Verhältnis partizipativer Ansätze zur Entwicklungsethnologie
4. Kritische Analyse partizipativer Entwicklungspraxis
4.1 Vorbemerkungen
4.2 Fachinterne Kritik
4.3 Exkurs: Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie
4.4 Inhärente Widersprüche
5. Fallbeispiele
5.1 Vorbemerkungen
5.2 Staudammprojekt: Die Vorteile partizipativer Erhebungen
5.3 Forstprojekt: Falsch angewendete Methoden
5.4 Modernisierung der Wasserversorgung: Die Widersprüchlichkeit der partizipativen Rhetorik
6. Fazit
Abkürzungen
Literatur
1. Einleitung
Partizipation ist seit spätestens Anfang der 1990er Jahre eines der wichtigsten Kriterien in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. In seiner Jahresansprache 1998 verkündete der ehemalige Präsident der Weltbank, James Wolfensohn:
„Participation matters – not only as a means of improving development effectiveness, as we know from our recent studies – but as the key to long-tearm sustainability and leverage“ (Zi-tiert nach Francis 2001:72).
Demnach gilt Partizipation als das Schlüsselkriterium für eine nachhaltige und erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit. Trotz einer Vielzahl kritischer Stimmen hat sich daran bis heute so gut wie nichts geändert. Partizipation ist kaum hinterfragte Lehrmeinung und gilt weiterhin als Grundvoraussetzung für eine bessere, effektivere und gerechtere Entwicklung.
In der Ethnologie beginnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Anfang der 1980er Jahre. Zu dieser Zeit setzt sich in den internationalen Entwicklungsinstitutionen die Erkenntnis durch, dass Entwicklungszusammenarbeit nur erfolgreich sein kann, wenn zum einen auch kulturelle Faktoren berücksichtigt werden und zum anderen die Empfänger der Hilfsmaßnahmen an der Durchführung und Planung der Entwicklungsprojekte partizipieren. Die in etwa zur selben Zeit neu entstandene ethnologische Subdisziplin Entwicklungsethnologie war maßgeblich an der Durchsetzung und Verbreitung von Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit mitbeteiligt. Demgegenüber setzt sich die Ethnologie der Entwicklung kritisch mit eben diesem Prozess partizipativer Entwicklung auseinander.
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob Partizipation das Versprechen einer besseren, effektiveren und gerechteren Entwicklung tatsächlich halten kann und ob die hohen Erwartungen gerechtfertigt sind.
Die Wirksamkeit von Partizipation wird hauptsächlich mit Untersuchungen aus den 1980–1990er Jahren belegt, auf die sich auch die Entwicklungsethnologie bezieht. Weder bereits deutlich länger bekannte Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie, noch neuere Forschungen aus der Ethnologie der Entwicklung haben bisher einen nennenswerten Einfluss auf die Entwicklungspraxis. Für die Bearbeitung der Fragestellung wird daher die anwendungsorientierte entwicklungsethnologische Perspektive dem theo¬¬retisch-analytischen Blickwinkel der Ethnologie der Entwicklung und den Erkenntnissen aus der Sozialpsychologie gegenübergestellt.
Im Anschluss an diese Einleitung folgt eine kurze historische Einordnung des Themas in die geschichtlichen Zusammenhänge, sowie eine Erläuterung und Definition der relevanten Begrifflichkeiten. Im darauffolgenden, dritten Abschnitt wird ein Überblick über die Methoden gegeben, mit denen partizipative Entwicklung in der Praxis umgesetzt wird. Die anschließende kritische Auseinandersetzung mit diesen Methoden und dem Prozess partizipativer Entwicklung im Allgemeinen umfasst dabei – neben einem kurzen sozialpsychologischen Exkurs – sowohl die entwicklungsethnologische Herangehensweise, als auch die Sichtweise der Ethnologie der Entwicklung.
Bevor am Ende der Arbeit auf die Beantwortung der Fragestellung zurückgekommen werden kann, veranschaulichen im fünften Teil drei Fallbeispiele, wie Partizipation in der Praxis umgesetzt wird, welche Vorteile eine partizipative Verfahrensweise mit sich bringt und welche Probleme dabei auftreten können.
2. Begriffsklärung und historische Einordnung
2.1 Die Genese des Entwicklungsbegriffs
Politisch geprägt wurde der Entwicklungsbegriff Mitte des letzten Jahrhunderts insbesondere durch das Point Four Program der US-Administration unter Harry S. Truman, mit dessen Amtsantrittsrede am 20. Januar 1949 the age of development begann (Esteva 1992:6, Rist 2002:70ff). Der zuvor vor allem in der Biologie verwendete Begriff zur Beschreibung des Werdegangs eines Lebewesens hin zu seiner vollendeten, ausgewachsenen Form, erhielt nun eine soziökonomische Komponente. Gleichzeitig wurde mit der Einteilung der Welt in „developed“ und „underdeveloped areas“ (Rist 2002:71) ein Konzept eingeführt, das zwar immer wieder aufs schärfste kritisiert wird (vgl. z. B. Esteva 1992, Ziai 2004), aber dennoch bis heute unsere (westliche) Sicht auf die Welt nahezu uneingeschränkt dominiert.
Zusammen mit den ebenfalls auf US-Initiative gegründeten Vereinten Nationen (UN) und der 1948 verabschiedeten Charta der Menschenrechte wird aber nun, zumindest auf völkerrechtlicher Ebene, erstmals ein Menschenbild vertreten, das die prinzipielle Gleichheit aller Menschen anerkennt und somit niemandem mehr die Fähigkeit sich zu „entwickeln“ aberkennt. Entsprechend wird im Entwicklungskontext nicht mehr von primitiven, rückständigen oder unzivilisierten Menschen, Völkern und Kulturen, sondern von Entwicklungsländern bzw. sich entwickelnden Regionen gesprochen (vgl. Ziai 2004). Damit ist der bis dahin vorherrschende koloniale und insbesondere nationalsozialistische Rassismus durch „das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die allgemeinen Menschenrechte“ abgelöst (ebd.:16).
Es bleibt jedoch die Frage, was mit Entwicklung in diesem Zusammenhang überhaupt gemeint ist. Bisher „konnte sich die Entwicklungstheorie im Laufe ihrer Geschichte nicht auf eine präzise Definition ihres Gegenstands einigen“ (Ziai 2010:399f). Vielmehr sieht sich der Entwicklungsdiskurs gewissermaßen seit dem Tag, an dem er die Arena der internationalen Politik betreten hat, mit immer neuer Kritik konfrontiert. Mal wird ihm Ethnozentrismus (Rahnema 2010:133), mal die Reduzierung auf ökonomische Kriterien (Esteva 1992:12, Menzel 1993:133, vgl. Sachs 2010:X) oder gar die Fortführung kolonialer Unterdrückung vorgeworfen (Ziai 2004:18).
Da auf die Kritik an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, sei auf die genannten Kritiker verwiesen. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der Entwicklungsbegriff nicht unproblematisch, sondern durchaus umstritten und „wie sein Gegenstand dauernder Veränderung unterworfen“ ist (Nohlen/Nuscheler 1993:56). Oder wie es der Brandt-Bericht treffend formuliert: Entwicklung „bezeichnet, weit gefasst, den erwünschten sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt – und es wird immer unterschiedliche Auffassungen darüber geben, was erwünscht ist“ (Brandt 1980:64).
Trotz der genannten begrifflichen Schwierigkeiten ist es für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema nötig, grob zu beschreiben, was mit Entwicklung gemeint ist. Eine viel zitierte Explikation liefert der Human Development Report der Vereinten Nationen:
„The basic objective of human development is to enlarge the range of people’s choices to make development more democratic and participatory. These choices should include access to income and employment opportunities, education and health, and a clean and safe physical environment. Each individual should also have the opportunity to participate fully in community decisions and to enjoy human, economic and political freedoms.“(UNDP 1991:1)
Hier wird bereits deutlich, dass sich im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten, in denen „autoritäre Regime nicht nur toleriert, sondern sogar als notwendig angesehen“ wurden (Menzel 1995:22), nicht mehr nur auf Wirtschaftswachstum, sondern neben der Verbesserung des Lebensstandards, auch auf persönliche Freiheit, Demokratie und Partizipa¬tion bezogen wird. Es geht also um einen Prozess des Übergangs zu einem erwünschten besseren Zustand. Was bei dieser nicht mehr ganz aktuellen Explikation fehlt und erst in späteren UNDP-Reports ab 2001 thematisiert wird, ist die emische Perspektive (vgl. dazu Kapitel 2.3).
2.2 Entwicklungszusammenarbeit (EZ)
Wenn Entwicklung nun also in dem oben skizzierten Sinne verstanden wird, dann ist Entwicklungszusammenarbeit (EZ) die „Gesamtheit aller staatlichen und privaten Maßnahmen, die von Industrieländern und internationalen Organisationen (z. B. Weltbank) zur wirtschaftlichen und sozialen Förderung von Entwicklungsländern getroffen werden“ (Duden 2004:208). Oder, um es mit den Worten des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), der wohl bedeutendsten Institution der deutschen EZ, auszudrücken:
„Entwicklungszusammenarbeit (EZ) will Menschen die Freiheit geben, ohne materielle Not selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihr Leben zu gestalten und ihren Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. Sie leistet Beiträge zur nachhaltigen Verbesserung der weltweiten wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse. Sie bekämpft die Armut und fördert Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Entwicklungszusammenarbeit trägt zur Prävention von Krisen und gewalttätigen Konflikten bei. Sie fördert eine sozial gerechte, ökologisch tragfähige und damit nachhaltige Gestaltung der Globalisierung.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit basiert auf dem Grundsatz, aus ethischer Verantwortung und internationaler Solidarität zu handeln. Sie ist damit von humanistischen Werten geleitet, dient aber gleichzeitig auch dem Bestreben, die Zukunft Deutschlands zu sichern.“ (BMZ 2011a)
Damit erhebt das BMZ für sich den Anspruch, in erster Linie „von humanistischen Werten geleitet“ zu sein, obwohl es an anderer Stelle damit wirbt, dass „1 Mrd. Euro im Einzelplan 23 [BMZ Etat] bis zu 3 Mrd. Euro Exporte, etwa 10 Mrd. Euro im Bruttoinlandsprodukt und 2 Mrd. Euro öffentliche Einnahmen nach sich ziehen“ und die EZ „damit zur Sicherung von rund 240.000 Arbeitsplätzen in Deutschland beiträgt“ (BMZ 2006:41).
Von Selbstlosigkeit kann also keine Rede sein. Vielmehr ist Entwicklungspolitik erheblich vom nationalstaatlichen Interesse der Geberländer geleitet. Schon in der an-fangs erwähnten Amtsantrittsrede von Harry S. Truman heißt es: „Experience shows that our commerce with other countries expands as they progress industrially and eco-nomically“ (Truman 1949). Wie beim Marshallplan, dem älteren Bruder der Entwicklungsidee (vgl. Rist 2002:70), spielen handfeste wirtschaftliche Interessen auch hier eine große Rolle. Dennoch wird man der EZ mit einer Reduzierung auf wirtschaftliche Kriterien nicht gerecht.
Als sich die Etablierung einer zukünftigen Disziplin ‚Entwicklungstheorie’ (Menzel 1992:98ff) in Trumans Rede 1949 abzeichnete, begann in der westlichen Welt bereits die Sorge vor dem Machtanspruch der Sowjetunion und einem sich ausbreitenden So¬zia-lismus. Die Entwicklungshilfe , die allen „peace-loving peoples“ (Truman 1949) zugute kommen sollte, war deshalb jahrzehntelang im Wesentlichen mit einer sehr entscheidenden Bedingung verknüpft: keine Annäherung an die UdSSR. So waren die folgenden 40 Jahre Entwicklungsstrategie im Wesentlichen 40 Jahre kapitalistisch geprägte Wachstumsstrategie (Menzel 1993), mit dem Ziel, das westliche Gesellschaftsmodell möglichst global zu etablieren.
Zu den genannten wirtschaftlichen und ideologischen Beweggründen gesellt sich eine Vielzahl weiterer Motive. Dazu zählen religiöse, ökologische, politische, kulturromantische, humanistische sowie friedenssichernde bis hin zu Verantwortungs- bzw. Schuldgefühl für die eigene Vergangenheit als Kolonialmacht, um nur einige zu nennen. Sie alle eint das Ziel, die Lebensumstände der Betroffen in den „Entwicklungsländern“ verbessern zu wollen. Da die modernisierungstheoretischen Hoffnungen jedoch trotz diverser Strategie- und Paradigmenwechsel unerfüllt blieben und auch die unüberschaubar große Zahl an Entwicklungsprojekten der sich weltweit ausbreitenden Armut wenig entgegenzusetzen hatte, befand sich die Disziplin spätestens Mitte der 80er Jahren zunehmend in der Krise (vgl. Menzel 1992, Tetzlaff 1996:60).
Der Anspruch der Modernisierungstheorie, ein universal gültiges, weltweit anwendbares Rezept zur gesellschaftlichen Entwicklung zu liefern, war endgültig gescheitert und damit auch die bisherigen „top-down, technology and capital-intensive interventions“ (Escobar 1997:499). Deren ernüchternde Ergebnisse hatten bereits 1973 bei der Weltbank unter ihrem damaligen Präsidenten Robert McNamara zu einem radikalen Kurswechsel hin zu armutsorientierter Grundbedürfnisstrategie geführt. Das nun vorherrschende Bottom-up-Prinzip wurde in den folgenden Jahren – „nicht zuletzt aufgrund des Fehlschlagens vieler Entwicklungsmaßnahmen“ – durch die Diskussion um „die sog. sozio-kulturellen Faktoren“ (Seithel 2000:159) sowie die Erkenntnis ergänzt, dass EZ nur erfolgreich sein kann, wenn auch die Zielgruppe und damit alle sogenannten Stakeholder der Entwicklungsprojekte an Planung, Durchführung und Evaluierung beteiligt werden. Diese, auch als participatory turn (vgl. Spies 2009:64) bezeichnete Neuausrichtung der EZ spiegelt sich insbesondere in dem 1985 sowie 1991 in zweiter, überarbeiteter und erweiterter Ausgabe von Michael Cernea im Namen der Weltbank publizierten und als wegweisend geltenden Sammelband ‚Putting Peoples First’ wider (Cernea 1991).
Cerneas Einfluss bei der Weltbank und seine Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung der soziokulturellen Faktoren führte schnell zu einem steigenden Bedarf an entsprechend geschultem Fachpersonal und damit zur Entstehung einer development anthropology bzw. Entwicklungsethnologie als eigenständige ethnologische Subdisziplin (Escobar 1997:500).
2.3 Entwicklungsethnologie & Ethnologie der Entwicklung
Bereits Bronislaw Malinowski sah die Zukunft seiner Disziplin „in the very combination of practical and theoretical interest“ (1929:22). Dennoch wird „gerade in der deutschen Ethnologie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Praxisabstinenz groß geschrieben“ (Schröder 2002:350). Zum einen möchte sich niemand mehr den Vorwurf des kolonialen Erfüllungsgehilfen gefallen lassen, zum anderen sind die ideologischen Verirrungen deutscher Fachkollegen während der NS-Zeit vorerst noch sehr präsent und blieben lange Zeit unaufgearbeitet. Hinzu kommt die berechtigte Sorge „vor dem Missbrauch ethnologischer Feldforschungsergebnisse“ (Bliss 1985:629).
Auch für Großbritannien und die U.S.A. attestiert John W. Bennett (1996:24) der applied anthropology einen Mangel an Prestige bei den Vertretern einer reinen, zweckfreien und wissenschaftlichen Ausrichtung des Fachs. Dennoch wird hier deutlich unbefangener mit der Thematik umgegangen und entsprechend geringer sind die Berührungsängste in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Neben der vereinzelten „Beteiligung von Ethnologen/innen […] bei der Planung und Implementierung von Entwicklungsprojekten“ (Bliss 2009:104f) seit den späten 1950er Jahren, wird 1976 das Institute for Development Anthropology in New York und ein Jahr später das Development Anthropology Committee in Großbritannien ins Leben gerufen (Escobar 1997:501).
In der Bundesrepublik findet zum ersten Mal 1981 auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV) offiziell eine Auseinandersetzung mit der Entwicklungsproblematik statt. Weitere vier Jahre später beginnt mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft Entwicklungsethnologie (AGEE) eine erste Praxisorientierung in der deutschen Ethnologie (vgl. Bliss 2009, Prochnov 1996). Der Zeitpunkt ist günstig gewählt, da sich mit den bereits erwähnten Umbrüchen in den internationalen Entwicklungsorganisationen gerade ein weites Betätigungsfeld für Entwicklungsethnolog/innen öffnet. Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten sind sie „increasingly welcome partners in project design and implementation“ (Escobar 1997:500f) und Cernea verspricht sich durch ihre Beteiligung bei der Weltbank eine „development with larger gains and fewer pains“ (1996:10).
Durch den stetig steigenden Bedarf an ethnologisch geschultem Fachpersonal etabliert sich Entwicklungsethnologie im Laufe der 1980er Jahre als „ein Teilbereich der Ethnologie […], der sich mit der Anwendung ethnologischer Forschungsrichtungen, Theorien, Methoden und Inhalte auf entwicklungspolitische Phänomene und Fragestellungen beschäftigt“ (Kievelitz 1988:381).
Entwicklungsethnolog/innen setzen sich mit ihrem wachsenden Einfluss in den nationalen und internationalen Entwicklungsinstitutionen für die „Formulierung von Alternativen für gängige Entwicklungsstrategien“ ein (AGEE 1992) und definieren Entwicklung „als die Verbesserung der Situation von Menschen gemäß ihrer eigenen Kriterien und Ziele, solange diese andere nicht schädigen und vor dem Hintergrund einer gemeinsamen globalen Verantwortung. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit (im Sinne auch von Verantwortung für öffentliche Güter) stellt dabei eine logische Konsequenz aus diesem Entwicklungsbegriff dar“ [meine Hervorhebung] (AGEE 2013:8).
Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal gegenüber der UNDP Definition aus Kapitel 2.1 ist die emische Perspektive, die hier einen zentralen Stellenwert einnimmt und in nahezu identischer Formulierung bereits seit 1989 von der AGEE vertreten wird (vgl. Bliss 1996:240). Zwölf Jahre später ist sie auch aufgrund des nicht zu unterschätzenden entwicklungsethnologischen Einflusses (Schönhut 2005:XIX) essenzieller Bestandteil in allen aktuelleren UNDP-Reports ab 2001 (Alkire 2010:13). Damit hat die Entwicklungsethnologie einen nennenswerten Anteil an der Neuausrichtung der internationalen EZ und insbesondere an dem Aufstieg von Partizipation zu einem ihrer wichtigsten Schlüsselkriterien (vgl. Bliss 2009:110).
Entwicklungsethnolog/innen bemühen sich vor allem darum, die armen und benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit Hilfe von Partizipation frühzeitig an der Gestaltung ihrer eigenen Entwicklung zu beteiligen, um ihnen so eine Stimme und ein Mitspracherecht bei der Ausarbeitung und Umsetzung der Entwicklungsprojekte zu geben. Ihr Ziel ist eine bessere, effektivere, gerechtere und an den Bedürfnissen der ärmsten Bevölkerungsschichten ausgerichtete Entwicklung.
Demgegenüber befassen sich Forschungen aus dem Bereich der Ethnologie der Entwicklung mit der Frage, was überhaupt passiert, wenn westliche Entwicklungsexperten ins Feld ziehen, um die Empfänger von Entwicklungshilfe zu unterstützen. Ihr Untersuchungsgegenstand ist eben jener Prozess der geplanten gesellschaftlichen Entwicklung, der im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit stattfindet. Diesbezügliche Arbeiten von Arturo Escobar (1997), Richard Rottenburg (2002) oder Eva Spies (2009) decken inhärente Widersprüche sowohl innerhalb der Entwicklungsidee an sich, als auch in der partizipativen Herangehensweise auf.
Bevor diese Widersprüche partizipativer Entwicklung im vierten und fünften Teil dieser Arbeit näher erläutert werden, stellt sich zunächst einmal die Frage, was mit Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit überhaupt gemeint ist.
2.4 Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit
Partizipation ist in den vergangenen 30 Jahren zu dem Schlüsselkriterium in der EZ avanciert. Der Begriff ist aufgrund seines inflationären Gebrauchs jedoch sehr schwammig und steht heute für eine Vielzahl, teils konträrer Konzepte. Vom lateinischen Wort particeps: Anteil habend, beteiligt bei, teilnehmend an (Georges et al. 2013:3512) abgeleitet, ist er in Form der hierzulande häufig synonym gebrauchten „Bürgerbeteiligung elementarer, ja geradezu konstituierender Bestandteil einer Demokratie“ (Bliss/Neumann 2007:21).
Wegbereitend für den Aufstieg zum zentralen Paradigma in der Entwicklungszusammenarbeit war vor allem die in Kapitel 2.1 skizzierte Neuausrichtung der internationalen Geberorganisationen (vgl. Kievelitz 1988:69), sowie die Akzeptanz der emischen Perspektive als gültige Weltanschauung. Namhafte Kritiker der alten Top-down-Entwicklungsstrategien, die diesen Erneuerungsprozess maßgeblich mitgestaltet haben, sind Robert Chambers (1991) und Michael Cernea (1991), der erste Vertreter einer applied anthropology in der Weltbank. Sie sehen in Partizipation eine der wichtigsten Voraussetzungen für nachhaltig erfolgreiche Entwicklungsprojekte.
In erster Linie geht es darum, die Effektivität dieser häufig scheiternden und daher viel kritisierten Projekte zu steigern. So werden sie nicht mehr einfach nur nach westlichen Vorstellungen am Reißbrett entworfen, sondern insbesondere auch die bisher eher marginalisierten (armen) Empfänger von Anfang an bei Projektplanung und -design mitbeteiligt. Sie erhalten die Möglichkeit, zu partizipieren. Wenn auch nicht direkt, so doch zumindest in Form spezieller partizipativer Erhebungsmethoden wie Rapid Rural Appraisal (RRA) und später Participatory Rural Appraisal (PRA) (vgl. Kapitel 3.1). Im Idealfall soll so, noch bevor große Geldsummen auf dem Spiel stehen, durch die Erhebung lokalen ‚Expertenwissens“ sichergestellt werden, dass die Entwicklungsprojekte an die Bedürfnisse und kulturellen Besonderheiten der lokalen Bevölkerung angepasst sind.
In den 1980er Jahren geschieht dies noch bevorzugt anhand eines rein extraktiven RRAs, bei dem ausländische Spezialisten die relevanten Informationen vor Ort erheben. In den 90ern setzt sich der PRA-Ansatz zunehmend als dominante Erhebungsmethode durch, wobei die Daten nicht mehr von Außenstehenden, sondern von der lokalen Bevölkerung, den beneficiaries des zukünftigen Projekts, selbst erhoben werden (vgl. Chambers 1994). Die „Entwicklungshelfer“ begleiten diesen Prozess nur noch als gleich-wertige Partner.
Damit stehen nun, zumindest rhetorisch, alle Beteiligten auf einer Stufe. Entsprechend spricht man heute von Stakeholdern und nicht mehr von Gebern und Empfängern, von Entwicklungszusammenarbeit statt von Entwicklungshilfe und von Partnerländern anstelle von Entwicklungsländern. Allerdings birgt diese Rhetorik die Gefahr, weiterhin bestehende Machtasymmetrien schlicht zu verschleiern statt sie zu überwinden oder aufzubrechen (Taylor 2001). Diese Diskrepanz zwischen partizipativer Rhetorik und fortbestehender Machtasymmetrie kann in der Praxis jedoch zu kaum lösbaren Widersprüchen und erheblichen Problemen bei der Umsetzung der Projekte führen (siehe dazu Kapitel 4.4 und 5.4; vgl. Rottenburg 2002, Spies 2009).
Ebenfalls eng mit dem Partizipationskonzept verbunden, sind die Begriffe Empowerment und Ownership (BMZ:2011b). Empowerment beschreibt die oben skizzierte Heraufstufung der nun als Partner bezeichneten Empfänger auf die Ebene der westlichen Entwicklungsexperten und die mit Partizipation einhergehende Steigerung von Selbstbestimmtheit und Eigenverantwortung. Ownership verleiht der Prämisse Ausdruck, dass sie (die Empfänger) sich das Projekt durch aktive Beteiligung auf möglichst allen Ebenen (Planung, Design, Implementierung, Evaluierung) aneignen und es zu ihrem Eigenen machen, um so den Fortbestand auch nach Ende der Fremdfinanzierung im eigenen Interesse sicherzustellen. Je „hochwertiger“ die Partizipation, desto wahrscheinlicher der nachhaltige Erfolg des Entwicklungsprojekts.
Petra Palm (2000:14f.) unterscheidet dabei die folgenden vier Qualitätsstufen:
Stufe 1 – Information: Alle Beteiligten werden über geplante oder laufende Aktivitäten informiert
Stufe 2 – Konsultation: Die Beteiligten können ihre Meinung äußern, und ihre Ratgebung ist gefragt
Stufe 3 – Entscheidung: Die Beteiligten haben ein Mitentscheidungsrecht über den geplanten Prozessverlauf
Stufe 4 – Eigeninitiative: Die lokale Bevölkerung wird selbst aktiv und entwickelt und bestimmt den Projektverlauf nach eigenen Vorstellungen.
Partizipation wurde als Entwicklungsziel im Sinne von Empowerment bzw. unter dem Stichwort Good Governance im oben erwähnten demokratischen Verständnis schon in den 1980er Jahren diskutiert (Spies 2009:66). Dennoch zeigt dieses ursprünglich von BMZ (1999:7) und GTZ (1999:81) entwickelte Stufenmodell beispielhaft, dass Partizipation in der Praxis auch noch in jüngster Vergangenheit weniger als Ziel von Entwicklung, sondern vielmehr als Mittel zum Zweck und als Methode zur Datenerhebung verstanden wird (vgl. GTZ 2007:47).
Demgegenüber betont die AGEE:
„Partizipation sollte nicht nur als eine Methode verstanden werden, sondern als Voraussetzung zur Selbstermächtigung (empowerment) Unterprivilegierter, ein wichtiges Ziel entwicklungspolitischer Tätigkeit. Partizipation beinhaltet, dass Menschen ihre Entwicklungsziele selbst formulieren und an ihrer Realisierung maßgeblich beteiligt sind. Damit bedeutet Partizipation auch […] ein Infragestellen von Machtverhältnissen.“ (AGEE 2013:8)
Somit unterscheidet sich der Partizipationsbegriff der AGEE von dem des BMZ, das Partizipation sehr schwammig als ein „wichtiges Gestaltungsprinzip der EZ“ definiert, welches aus der Natur der Sache heraus, quasi automatisch zu Empowerment bei der Zielgruppe führen würde (vgl. BMZ 2011b).
Es wird also deutlich, dass, ähnlich wie beim Entwicklungsbegriff, keinesfalls Einigkeit darüber besteht, was genau unter Partizipation zu verstehen ist und erst recht nicht, wie eine adäquate Umsetzung in der Praxis auszusehen hat.
So unterschiedlich die Auffassungen einerseits auch sein mögen, so uneingeschränkt sind andererseits die Bekenntnisse zu Partizipation als zentralem Schlüsselkriterium. Kaum einer der nationalen und internationalen Akteure setzt sich ernsthaft mit den weiter oben aufgezeigten Widersprüchen partizipativer Rhetorik auseinander. So betont die AGEE in der obigen Definition zwar die Bedeutung von Partizipation als Macht infrage stellendes Mittel, übersieht dabei aber offensichtlich, dass Entwicklungszusammenarbeit das Machtverhältnis zwischen Gebern und Nehmern niemals in Frage stellen kann, ohne sich selbst in Frage zu stellen. Es entsteht der Eindruck, EZ spiele sich in einem machtfreien Vakuum ab, in dem tatsächlich nur gleichberechtigte Partner an ihrem gemeinsamen Projekt gesellschaftlicher Entwicklung partizipieren.
3. Methoden partizipativer Ansätze in der EZ
3.1 RRA / PRA: Ursprung und Begriffsklärung
Als sich Mitte der 70er Jahre zusammen mit dem in Kapitel 2.2 skizzierten Strategiewechsel bei der Weltbank die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass Entwicklungszusammenarbeit nur erfolgreich sein kann, wenn die sogenannten soziokulturellen Faktoren genauere Beachtung finden, stieg damit auch der Bedarf an weniger technokratischen Erhebungsmethoden, die diese Faktoren besser erfassen können. Die bisherigen konventionellen Methoden lieferten zwar relativ genaue Daten und Durchschnittswerte, konnten die soziale Komplexität und Vielfalt kultureller Lebenswelten aber nur ungenügend ermessen. Ein weiterer entscheidender Nachteil be-stand in dem ernormen personellen, finanziellen und zeitlichen Aufwand, den diese breit angelegten baseline surveys erforderten. Bis die Daten dann nach Monaten zur Verfügung standen, waren Entscheidungen in den unter Zeitdruck stehenden Projekten oft schon getroffen worden, ohne dass die neuen Erkenntnisse hätten berücksichtigt werden können (vgl. Schönhuth 2005:36). Weniger aufwändige Kurzzeitstudien konnten zwar schneller und günstiger Daten liefern, gerieten aber aufgrund der wenig verlässlichen Ergebnisse mehr und mehr als „ländlicher Entwicklungstourismus“ in Verruf (vgl. Chambers 1996:79).
Die Suche nach zeit- und kostengünstigen Alternativen, die gleichzeitig eine ausreichende Genauigkeit und soziokulturelle Sensibilität gewährleisten konnten, führte Ende der 70er zur Entwicklung des Rapid Rural Appraisal (RRA). Dieser sozialwissenschaftliche Analyse- und Planungsansatz umfasst eine Sammlung verschiedenster Instrumente und Methoden mit deren Hilfe
„ein multidisziplinäres Team vor Ort und unter Einbeziehung des Wissens der lokalen Bevölkerung in kurzer Zeit handlungsrelevante Informationen und Hypothesen über ländliches Leben und ländliche Ressourcen sammelt. […] Entscheidend ist, dass die Sicht der Betroffenen im Mittelpunkt steht und nur so weit geforscht und analysiert wird, wie es zum Erkennen der Bedürfnisse oder gemeinsam mit der Bevölkerung geplanter Strategien und Aktivitäten notwendig ist. […] Nicht Objektivität der Daten, sondern das Zusammenfügen der einzelnen Sichtweisen zu einem stimmigen Gesamtbild ist das Ziel der meist ein- bis zweiwöchigen Feldaufenthalte.“ [meine Hervorhebung] (Schönhuth 2005:37)
Im Gegensatz zu konventionellen Ansätzen wird das „Expertenwissen“ der Betroffenen hier bereits anerkannt, bzw. steht sogar explizit im Mittelpunkt der Untersuchung.
[...]
- Quote paper
- Jonathan Junge (Author), 2015, Partizipation in der Entwicklungszusammenarbeit aus ethnologischer Perspektive, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/302402
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