Als Herta Müller 2009 mit dem Nobelpreis der Literatur für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, war die Freude in Deutschland verständlicherweise groß. Dass Günther Grass diese Ehrung erst zehn Jahre zuvor erhielt, tat dem keinen Abbruch.
Die Begründung der Auswahl der Preisträgerin, dass sie „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet “, konnte sie auch dem Buchmarkt in ihrer Heimat unter Beweis stellen: Erst zwei Monate zuvor erschien ihr neuster Roman, „Atemschaukel“, der es einen Monat zuvor in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte.
Dennoch wäre er wohl schwerlich ein Bestseller geworden, hätte ihm der Nobelpreis nicht zu unverhoffter Berühmtheit verholfen. Nicht etwa, dass es ihm an literarischen Wert mangelt – im Gegenteil, er zeugt von höchster Kunstfertigkeit. Es liegt am zentralen Thema: der Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieses traurige Kapitel der Geschichte wurde stets totgeschwiegen, Werke dazu ignoriert. Dies liegt wohl einerseits am Historikerstreit und der steten Präsenz des Holocaust, anderseits wohl an der traumatischen Aufladung dieses Themas. Dazu trägt auch die nachlässige Behandlung des Themas in Rumänien selbst bei, da „es an die faschistische Vergangenheit Rumäniens erinnerte, war das Thema Deportation tabu“.
Deshalb kann man die Vergabe des Nobelpreises an Herta Müller in diesem Jahr als Befreiungsschlag für dieses Thema sehen, wurde doch das Werk dadurch zu einem Bestseller und Aushängeschild deutscher Literatur. Ohne die Ehrung wäre es wohl nicht im geringsten so bekannt und gefeiert, wie es jetzt ist.
Dennoch lassen sich noch auffällige Defizite bei der Rezeption von „Atemschaukel“ feststellen, und zwar umso stärker, je mehr man sich an den kritischen Bereich, den historischen Begebenheiten, nähert. So konnte ich bei meiner Recherche zahlreiche Arbeiten zu anderen Werken von Herta Müller finden, sowie Texte, in denen „Atemschaukel“ als Werk eines weiblichen Autors betrachtet wurde, jedoch gab es kaum Sekundärliteratur, die sich mit der Beziehung zu den historischen Begebenheiten und damit mit der Bedeutung dieses Werkes zur Erinnerungskultur beschäftigt. Um diese zu betrachten, müssen wir zuerst definieren, was Erinnerungskultur ist.
Inhaltsverzeichnis
1. Der Nobelpreis der Literatur 2009 im Zeichen der Erinnerung
2. Herta Müllers „Atemschaukel“ und die Bedeutung der Literatur für die Erinnerungskultur
2.1 Analyse des Inhalts, des Vorgehens der Autorin und der Relevanz für die Erinnerungskultur
2.1.1 Historische Einführung in das Schicksal der Siebenbürger Sachsen am Ende des Zweiten Weltkriegs
2.1.2 Knappe Zusammenfassung des Inhalts
2.1.3 Besondere Merkmale des Werkes
2.1.4 Relevanz des Romans für die Erinnerungskultur
2.2 Kritik der Rolle der Literatur in der Erinnerungskultur
2.2.1 Zusammenfassung der Kritikpunkte und Gegenargumente
2.2.2 Prüfung anhand von Atemschaukel
3. Besondere Stellung der Literatur unter den Medien des Erinnerns
Anhang
1. Der Nobelpreis der Literatur 2009 im Zeichen der Erinnerung
Als Herta Müller 2009 mit dem Nobelpreis der Literatur für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet wurde, war die Freude in Deutschland verständlicherweise groß. Dass Günther Grass diese Ehrung erst zehn Jahre zuvor erhielt, tat dem keinen Abbruch.
Die Begründung der Auswahl der Preisträgerin, dass sie „mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit zeichnet1 “, konnte sie auch dem Buchmarkt in ihrer Heimat unter Beweis stellen: Erst zwei Monate zuvor erschien ihr neuster Roman, „Atemschaukel“, der es einen Monat zuvor in die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte.
Dennoch wäre er wohl schwerlich ein Bestseller geworden, hätte ihm der Nobelpreis nicht zu unverhoffter Berühmtheit verholfen. Nicht etwa, dass es ihm an literarischen Wert mangelt – im Gegenteil, er zeugt von höchster Kunstfertigkeit. Es liegt am zentralen Thema: der Deportation der Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion am Ende des Zweiten Weltkrieges. Dieses traurige Kapitel der Geschichte wurde stets totgeschwiegen, Werke dazu ignoriert. Dies liegt wohl einerseits am Historikerstreit und der steten Präsenz des Holocaust, anderseits wohl an der traumatischen Aufladung dieses Themas. Dazu trägt auch die nachlässige Behandlung des Themas in Rumänien selbst bei, da „es an die faschistische Vergangenheit Rumäniens erinnerte, war das Thema Deportation tabu“.2
Deshalb kann man die Vergabe des Nobelpreises an Herta Müller in diesem Jahr als Befreiungsschlag für dieses Thema sehen, wurde doch das Werk dadurch zu einem Bestseller und Aushängeschild deutscher Literatur. Ohne die Ehrung wäre es wohl nicht im geringsten so bekannt und gefeiert, wie es jetzt ist.
Dennoch lassen sich noch auffällige Defizite bei der Rezeption von „Atemschaukel“ feststellen, und zwar umso stärker, je mehr man sich an den kritischen Bereich, den historischen Begebenheiten, nähert. So konnte ich bei meiner Recherche zahlreiche Arbeiten zu anderen Werken von Herta Müller finden, sowie Texte, in denen „Atemschaukel“ als Werk eines weiblichen Autors betrachtet wurde, jedoch gab es kaum Sekundärliteratur, die sich mit der Beziehung zu den historischen Begebenheiten und damit mit der Bedeutung dieses Werkes zur Erinnerungskultur beschäftigt. Um diese zu betrachten, müssen wir zuerst definieren, was Erinnerungskultur ist.
Erinnerungskultur ist die von allen Mitgliedern einer gesellschaftlichen Gruppe akzeptierte Vergangenheit, auf die sich ihr Selbstbewusstsein und Weltbild stützt.3
Dabei steht nicht die objektiv-historische Realität im Vordergrund, sondern die subjektiv-emotionale Wahrnehmung. In diesem Zusammenhang ist Literatur „ein Medium, über das in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden“4
Diese Lücke soll die Seminararbeit schließen. Ziel ist es aufzuzeigen, inwiefern Herta Müller mit ihrem Werk zu der Erinnerungskultur beiträgt und auch auf welche Weise sie dies tut. Dabei wird auch gelegentlich auf historische Fakten und die Biografie der Autorin zurückgegriffen. Zuletzt wird die Stellung der Literatur in der Erinnerungskultur noch einmal allgemein betrachtet und die Frage gestellt, inwiefern sie berechtigt ist, hier einen so großen Einfluss auszuüben.
Das methodische Vorgehen wird angesichts des Mangels an Sekundärliteratur zu „Atemschaukel“ stark auf eine eigene Auseinadersetzung mit dem Text fokussiert sein, ergänzt durch einen Abgleich mit bereits bekannten Prinzipien der Erinnerungskultur. Die Kritik der Literatur in der Erinnerungskultur wird an einem Fallbeispiel betrachtet.
2. Herta Müllers „Atemschaukel“ und die Bedeutung der Literatur für die Erinnerungskultur
2.1 Analyse des Inhalts, des Vorgehens der Autorin und der Relevanz für die Erinnerungskultur
Zuerst soll der Blick auf „Atemschaukel“ selbst gerichtet werden. Dabei wird in vier Schritte vorgegangen werden: Die historische Realität wird als Erstes kurz dargestellt, darauf folgt eine knappe Inhaltszusammenfassung. In den beiden weiteren Schritten wird das Werk auf seine markanten Elemente analysiert, um darauf hin abschließend zu klären, welchen Wert es für die Erinnerungskultur haben könnte.
2.1.1 Historische Einführung in das Schicksal der Siebenbürger Sachsen am Ende des Zweiten Weltkriegs
Um den Beitrag eines Werkes zur Erinnerungskultur beurteilen zu können, muss zu aller erst festgestellt werden, an was erinnert werden soll. Deshalb folgt hier eine Einführung an die historischen Begebenheiten, die in „Atemschaukel“ dargestellt werden.
Nachdem die vorherige Achsenmacht Rumänien am 23. August 1944 die Fronten wechselte und sich der Sowjetunion anschloss, veränderte sich die Lage der noch nicht nach Deutschland umgesiedelten Angehörigen der dortigen deutschen Minderheiten (unter ihnen die Siebenbürger Sachsen) massiv. Die Rote Armee marschierte in Rumänien ein, welches bald darauf fest zum sowjetischen Einflussbereich gehörte.
Am 16. Dezember befahl Stalin die Deportation aller arbeitsfähigen deutschen Männer und Frauen, welche bereits kurz zuvor erfasst wurden. Kurz darauf begangen die Vorbereitung, welche im Januar 1945 zur Durchführung der Verschleppung der Siebenbürger Sachsen führte, organisiert von der sowjetischen Besatzung und lokalen Beamten. Den Rumäniendeutschen wurde die Schuld an dem Krieg gegeben.5
Die Deportation und das Lagerleben werden eindrucksvoll in Augenzeugenberichten, zu finden in den Tagebüchern der Opfer, dargestellt. Eine bedrückende Zusammenfassung der dort geschilderten Zustände liefert Oliver Sill, der treffend formuliert:
„Die Transporte Anfang 1945 werden zu einer mehrwöchigen Odyssee durch ein von Krieg zerstörtes Land; eine Odyssee in überfüllten Güterwaggons, die für den Transport von Menschen nicht hergerichtet worden sind“6
Die harte Arbeit, schlechte Witterungsbedingung und der Mangel an Nahrung infolge von schlechten Ernten führten dazu, dass 15 % der 75000 Inhaftierten starben. Die meisten der Deportierten arbeiteten im Kohlebergbau, eine besonders harte Arbeit.
Die geringe Freizeit war genauso grausam, schützt doch während ihr „nichts vor der quälenden Ungewißheit über das eigene Schicksal, vor der Ungewißheit über das Wohlergehen der zuhause Gebliebenen und – vor allem – vor dem quälenden Heimweh“7.
Die Kommunikation mit der Heimat war begrenzt; so durften die Gefangenen nur 25 Worte in ihren Briefen schreiben. Bis 1948 war die Situation so schwierig, dass regelmäßig Kranke aus dem Lager entlassen werden mussten, falls sie nicht schon vorher verstarben.
Ab Oktober 1949 wurden die letzten Inhaftierten, ungefähr ein Drittel der vormals Verschleppten, entlassen.
Die Rückkehr der Überlebenden sorgt anfangs für Euphorie bei ihnen, welche jedoch kurz darauf abflaute. Viele von ihnen waren so stark von den traumatischen Ereignissen geprägt, dass sie sich von ihren daheimgebliebenen Familien und Bekannten nicht mehr verstanden fühlten. Auch aus diesem Grund nutzten sie die Möglichkeit, aus dem Eisernen Vorhang zu entkommen. Das Trauma sollte sie den Rest ihres Lebens begleiten.
Auch die Nachkommen der Deportierten, zu denen auch Herta Müller selbst gehört, litten unter dem Trauma ihrer Ahnen:
„Weil es an die faschistische Vergangenheit Rumäniens erinnerte, war das Thema Deportation tabu. Nur in der Familie und mit engen Vertrauten, die selbst deportiert waren, wurde über die Lagerjahre gesprochen. Und auch dann nur in Andeutungen. Diese verstohlenen Gespräche haben meine Kindheit begleitet. Ihre Inhalte habe ich nicht verstanden, die Angst aber gespürt“8
2.1.2 Knappe Zusammenfassung des Inhalts
Nach dieser historischen Darstellung der Deportation soll nun auf den Inhalt des behandelten Werkes eingegangen werden, welches sich ja diese Geschehnisse ins Zentrum stellt. Erst mit diesem inhaltlichen Vorwissen kann eine genauere Untersuchung des Werkes auf seinen Beitrag zur Erinnerungskultur eingegangen werden.
Auf den gut 300 Seiten im Werk "Atemschaukel" von Herta Müller geht es im Wesentlichen um den 17-jährigen homosexuellen Leopold Auberg aus Siebenbürgen. Er lebt in ständiger Angst, wegen seiner Sexualität verhaftet zu werden. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wird er von einer Patrouille aufgegriffen und nach Russland in ein Arbeiterlager deportiert. Beim Abschied von der Familie bleibt ihm die Aussage seiner Großmutter, „ICH WEISS DU KOMMST WIEDER“ in Erinnerung, die ihm fortan Kraft gibt. Nach einer langen und beschwerlichen Zugfahrt in einem Viehwaggon erreichen die Deportierten ihr Ziel.
Auf verschiedenen Baustellen müssen sie im Schichtbetrieb arbeiten, wobei die Schwere und Länge ihrer Arbeit auch nach persönlichen Präferenzen der Lagerführung eingeteilt wird. Erschwerend kam hinzu, dass sie kaum zu Essen bekommen und auch sonst unter unmenschlichen Bedingungen zu leben haben. Sie werden von der Lagerleitung schikaniert, müssen sich von einem Stück Brot pro Tag ernähren, erhalten auch im kalten Winter keine brauchbare Kleidung und hausen gemeinsam mit 68 anderen im selben Zimmer. In der Folge beschreibt Herta Müller den Hunger und alle weiteren Probleme, mit denen die Internierten im Lager zu kämpfen hatten auf eindrückliche Art und Weise in verschiedenen nicht immer zusammenhängenden Episoden. So entstehen eigentümliche Rituale genauso wie Konflikte zwischen den Internierten. Eine zentrale Stellung nimmt immer wieder der Hunger ein, der personalisiert weite Teile des Werkes begleitet. Außerdem baut Leopold eine besondere Beziehung zu seinem wenigen Hab und Gut sowie zu seiner täglichen Ration Brot auf.
Auch als der Frieden einkehrt, dürfen die Gefangenen noch nicht zurück in ihre Heimat - sie müssen weiter schuften. Im fünften Lagerjahr erhalten sie dann zumindest Geld für ihre Arbeit und konnten sich so immerhin wieder anständig ernähren und gute Kleidung kaufen. Im Jahre 1950 werden die Insassen dann nach Hause geschickt. Für Leopold war dies eine verwirrende Situation, denn er hat während der gesamten fünf Jahre nur ein einziges Mal Kontakt gehabt mit seiner Familie. In jenem Brief hatte ihm seine Mutter kurz und knapp mitgeteilt, dass nun einen Bruder habe. Als er nach Hause kommt, freut sich niemand über die Heimkehr, denn alle hatten sich damit abgefunden, dass er gestorben war. Leopold beginnt in einer Fabrik zu arbeiten, da er aber keine Ausbildung hat, arbeitet er wie im Lager wieder als Handlanger. Auch sonst lassen ihn die Erlebnisse aus dem Arbeiterlager nicht los und nach einer 11-jährigen Schein-Ehe mit Emma zieht er, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen, nach Österreich.
2.1.3 Besondere Merkmale des Werkes
Ein Roman, der zur Erinnerungskultur beitragen will – und dies ist bei dem oben zusammengefassten Inhalt zu unterstellen, da Wert auf die Empfindungen der Hauptfigur angesichts dieser historischen Ereignisse gelegt wird –, tut dies stets mit bestimmten sprachlichen und inhaltlichen Mittel, um dem Leser Erfahrungen näher zu bringen, die außerhalb seiner Erfahrung liegen.
Es gibt verschiedene Formen von Romanen, die Vergangenes dem Leser näherbringen: Erinnerungsromane, Gedächtnisromane und Autobiografien.9
Jedoch lässt sich „Atemschaukel“ in keine dieser Formen einfügen, sondern vereinigt Elemente aller dieser drei Varianten.
Am Nächsten kommt der Gedächtnisroman, dessen meiste Merkmale auch in „Atemschaukel“ auftreten: der Ich-Erzähler, das Vorherrschen von Analepsen und damit die Marginalisierung der Basiserzählung (also die Gegenwart) sowie das Abwechseln von reflektierter und unreflektierter Erinnerung.
Diese Merkmale werden bereits am Anfang des Romans deutlich:
„Es war noch im Krieg im Januar 1945. Im Schrecken, dass ich mitten im Winter wer weiß wohin zu den Russen muss, wollte mir jeder etwas geben, das vielleicht was nützt, wenn es schon nichts hilft.“10
Der elementare Unterschied zu Gansels Definition von Gedächtnisromanen ist aber, dass er voraussetzt, dass „[d] as Nichterleben … in gewisser Weise frei für das literarische Erinnern“11 macht. Dies bezieht er nicht nur auf den Autor – Herta Müller selbst hat nie das Lagerleben ertragen müssen –, sondern auch auf die Hauptfigur, welche bei diesem Typus auch den Erzähler stellt.
Mit dem Erinnerungsroman hat „Atemschaukel“ Gemeinsamkeiten, weil „der Vorgang der Erinnerung ausdrücklich problematisiert“12 wird. Jedoch haben wir hier eine Diskrepanz in der Darstellung der Problematisierung. Während bei „Atemschaukel“ die Unwillkürlichkeit traumatischer Erinnerung im Vordergrund steht,13 so sieht Gansel die zentrale Aufgabe des Erinnerungsromans, den Versuch der willkürlichen Erinnerung anhand von Gegenständen darzustellen. Gemeinsam ist hier die Bedeutung des Gegenstands als Kondensationsmittel der Erinnerung, jedoch trennt die Diskrepanz zwischen willkürlicher und unwillkürlicher Erinnerung sowie einige anderer sekundäre Mittel „Atemschaukel“ von der Form des Erinnerungsromans.
Zuletzt bleibt die Autobiografie. Auf den ersten Blick scheidet diese Form aus, da die Einheit von Autor, Erzähler und Hauptfigur fehlt. Jedoch ist hier die außergewöhnliche Entstehungsgeschichte des Werkes zu beachten:
„2001 begann ich, Gespräche mit ehemals Deportierten aus meinem Dorf aufzuzeichnen. Ich wusste, dass auch Oskar Pastior deportiert war, und erzählte ihm, dass ich darüber schreiben möchte. Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen. Wir trafen uns regelmäßig, er erzählte, und ich schrieb es auf. Doch bald ergab sich der Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben.“14
Dieser Wunsch ging auch in Erfüllung, bis Pastior 2006 verstarb und Müller das Buch alleine vollendete. Jedoch ist damit unbestreitbar, dass „Atemschaukel“ damit auch autobiografische Elemente enthält.
Erst durch die Vereinigung dieser Elemente kann das Werk seiner Zielsetzung gerecht werde, was jedoch erst im nächsten Kapitel dargestellt werden soll.
Daneben ist auch die räumliche Darstellung ist in Herta Müllers Werk außergewöhnlich.
René Kegelmann hat die materiellen und die mentalen Räume im Roman einer genaueren Untersuchung unterzogen.15 Das Ergebnis: In dem Roman gibt es eine Transitzone, die Fahrt im Viehwagen durch die Weiten Ebenen der Ukraine. Obwohl dieser Raum nicht ausgestaltet ist, da Leopold in einem verplombten Viehwagen gefangen ist, wird „klar, welchen Raum dieser Zug durchmisst. Auf dieser Fahrt tritt im Bewusstsein Leopolds die stufenweise Ernüchterung ein.“16
Diese Transitzone, ebenso wie die topografischen Marker, also genannte, aber nicht dargestellte Orte wie Österreich, sind jedoch von nur geringer Bedeutung. Viel wichtiger sind die beiden Handlungszonen, seine Heimat Hermannstadt und das Lager. Vor allem Letzteres ist durch konkrete topografische und chronologische Angaben klar abgesteckt. Die über 30 Figuren werden entsprechenden Orten zugeteilt, welche ein dichtes Geflecht von Abhängigkeiten bilden. Die Handlungszonen teilen sich in konkrete oder zonal lokalisierbare Schauplätze auf.
„Da die Analyse auch stark auf die Bedeutung der Erinnerung fokussierte, wurde aber gleichzeitig sichtbar, in welch hohem Maße eine mentale Konstruktion durch das Erzähler-Ich vorgenommen wurde.“17
Der Grund für die mentale Konstruktion der Räume in der traumatischen Erfahrung des Lagerlebens und die lange Zeitspanne zwischen Geschehen und Erzählen, begleitet von einer Reflexion der Ereignisse: „In diesem komplexen multiperspektivischen Wahrnehmungsvorgang von Raum spielen (zum Teil unzuverlässige) Erinnerungen an bis zu 60 Jahre zurückreichende Ereignisse, aber auch Wertungen und Metakommentare hinein.“
Doch nicht nur das nachträgliche Überdenken der Vergangenheit führen zu einer subjektiven Neugestaltung realer Orte: Auch die emotionale Verfassung Leopolds im Lager schaffen eine zweite Raumebene. So werden „beide Handlungszonen eng miteinander verbunden“,18 da Leopold, gequält durch Hunger und Heimweh, sich stets an seine Heimat erinnert fühlt:
„Über der Jama zittert die Sommerluft wie zu Hause, und der Himmel ist seidig wie zu Hause. Aber zu Hause weiß niemand, dass ich noch lebe. Zu Hause isst jetzt der Großvater kalten Gurkensalat auf der Veranda und glaubt, ich bin tot.“19
Die Überzeugung, dass er für tot gehalten wird, erzeugt später Hass, welcher sich aus Hunger und der einstigen Angst vor Entdeckung seiner sexuellen Neigung in der Heimat speist, gegen seine Familie, als er über eine Postkarte von seinem neuen Bruder erfährt und sich ersetzt fühlt.
So wie Leopold den Raum der Heimat mental neu erschafft, tut er dies später mit dem Lager, als er wieder entlassen wurde. Es finden sich wieder zahlreiche Beispiele, in denen ein Gegenstand unwillkürlich Erinnerungen hervorruft. So sieht Leopold in der Brust eines Mannes die „Herzschaufel“.20
Die „Herzschaufel“, ebenso wie die „Atemschaukel“, „Hungerengel“, „Angst“, „Schweigen“, „Zement“, „Heimweh“ und „Hunger“ schließlich bilden über extreme sprachliche Verdichtung ebenso „ein Raumgeflecht, in dem die Lagererfahrung ästhetisch gebündelt ist.“21
Dies zeigt bereits, dass die mentalen Räume auch von der Sprache gestützt werden, welche jedoch das zentrale Merkmal des Werkes ist und im Folgenden näher betrachtet wird.
Herta Müller erhielt den Nobelpreis, wie ja bereits in der Einleitung angedeutet wurde, für ihre außergewöhnlich gestaltete Sprache. Erst durch eine genauere Betrachtung derselben kann eine Aussage über die Zielsetzung des Werks und damit über seine Relevanz für die Erinnerungskultur getroffen werden.
Es treten typischerweise vier verschiedene Stilmittel im Werk auf: Metaphern (welche sich zu einer Allegorie ausweiten, wie ich später zeigen werde), Personifikationen, Wiederholungen und Neologismen.
[...]
1 Pressemitteilung der „Svenska Akademien“ vom 8. Oktober 2009. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2009/press_ty.pdf (Stand: 15.09.2013
2 Nachwort zu Müller, Herta. „Atemschaukel“. München: Hanser, 2009: S. 299.
3 Vgl. Braun, Michael. “Erinnerungskultur”. (http://www.kas.de/wf/de/71.7680) (Stand: 25.10.13)
4 Gansel, Carsten/ Zimniak, Pawel. „Zum „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 – Vorbemerkungen.“ Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. Gansel, Carsten/ Zimniak, Pawel. Göttingen: V &R Unipress, 2010: S. 11 – 18.
5 Vgl. Gabanyi, Anneli Ute. „Geschichte der Deutschen in Rumänien.“ (http://www.siebenbuerger.de/portal/land-und-leute/siebenbuerger-sachsen/) (Stand: 15.9.2013)
6 Sill, Oliver. „Autobiographische Texte über die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949. Erzähltheoretische Prämissen der Interpretation“. Minderheit und Nationalstaat. Siebenbürgen seit dem Ersten Weltkrieg. Hg. Roth, Harald. Köln: Böhlau, 1995, S. 175.
7 Sill, S. 176.
8 Nachwort zu Müller, Herta. „Atemschaukel“. München: Hanser, 2009: S. 299.
9 Vgl. Gansel, Carsten. „Formen der Erinnerung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989“. Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. Gansel, Carsten/ Zimniak, Pawel. Göttingen: V &R Unipress, 2010: S. 19 – 36.
10 Müller, Herta. „Atemschaukel“. München: Hanser, 2009: S. 7.
11 Gansel, Carsten. S. 24
12 Ebd., S.29,
13 Vgl. Müller, Herta. S. 284.
14 Nachwort zu Müller, Herta. „Atemschaukel“. München: Hanser, 2009: S. 299.
15 Kegelmann, René. „Materielle und mentale Räume in Herta Müllers Roman Atemschaukel“. in: Études germaniques. Nr. 267: S. 475 – 487.
16 Ebd. S. 482
17 Ebd. S. 486.
18 Ebd.
19 Müller, Herta. S. 125.
20 Ebd. S. 286.
21 Kegelmann, René. S.487.
- Quote paper
- Niklas Götz (Author), 2014, Herta Müllers "Atemschaukel" und die Bedeutung der Literatur für die Erinnerungskultur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/300576
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