Die Mathematik bereitet vielen Schülerinnen und Schülern große Probleme. Rechnen, der Umgang mit Zahlen und das Verständnis von Operationen gehören neben Lesen und Schreiben zu den Kulturtechniken in unserer Gesellschaft. Kinder, die sie nicht beherrschen, haben nicht nur schlechte Noten in Mathematik, sondern oftmals Probleme in der gesamten Schullaufbahn und im Alltag.
Der Fernseher ist ein großer Bestandteil in den Haushalten und die am häufigsten gewählte Freizeitbeschäftigung. Was früher Luxus war, ist nun eine Alltagsbeschäftigung. Unzählige Filme, Serien und vieles mehr, laufen rund um die Uhr. Da uns das Massenmedium dauerhaft begleitet, wirkt sich dies ebenfalls auf unsere Entwicklung und Meinungsbildung aus. Der Fernsehkonsum beginnt für die meisten Kinder oftmals nach der Schule. Sie werden durch unterschiedliche Sendungen unterhalten. Hausaufgaben und das Lernen für Arbeiten stehen daher oft im Hintergrund. Daher ist ein möglicher Zusammenhang, zwischen dem Fernsehkonsum und den Schulleistungen, speziell den Mathematikleistungen, nicht
undenkbar.
Die Meinungen zu den Einflüssen des Fernsehens sind zum
größten Teil kritisch. Viele Autoren, Pädagogen, Psychologen und Politiker sind der Ansicht, dass der Einfluss des Fernsehkonsums sich auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder negativ auswirkt.
Als angehende Mathematiklehrerin ist dieses Thema für mich von großer Bedeutung. In was für einem Zusammenhang steht eine vorhandene Rechenschwäche mit außerschulischen Einflüssen wie etwa hohem Fernsehkonsum? Wie können Lehrkräfte eine Rechenschwäche frühzeitig erkennen und wie kann man ihr vorbeugen?
Die vorliegende Arbeit soll den Zusammenhang zwischen
Fernsehkonsum und Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern untersuchen. Im zweiten Kapitel werde ich einen kurzen Einblick in das Themengebiet der Rechenschwäche bieten. Ich werde die Diskrepanz-Definition der Weltgesundheitsorganisation und die dazugehörige kritische Auseinandersetzung vorstellen. Anhand von drei Fallbeispielen werde ich den Zusammenhang der möglichen Rechenschwäche und dem Fernsehkonsum darstellen. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Rechenschwierigkeit und Rechenstörung
2.1 formal orientierender Natur
2.1.1 Definition Weltgesundheitsorganisation
2.1.1.1 Kritische Auseinandersetzung mit der Weltgesundheitsorganisation
2.2 Inhaltlich orientierender Natur
2.2.1 Ursachen und Einflussfelder
2.2.2 Ursachenfelder
2.2.2.1 Persönlichkeitsstruktur des Kindes
2.2.2.2 Familie und sozialer Hintergrund
2.2.2.3 Schulische Einflüsse
2.3 Fallbeispiele
2.3.1 Fallbeispiel Eva
2.3.2 Fallbeispiel Paula
2.3.3 Fallbeispiel Marc
2.4 Spezifische Rechensituation
2.4.1 Eva
2.4.2 Paula
2.4.3 Marc
2.5 Langfristige Auswirkungen der Rechenschwierigkeiten
2.5.1 Eva
2.5.2 Paula
2.5.3 Marc
2.6 Mögliche Ursachen für die Rechenschwäche
3. Medien und Bildung: Fernsehkonsum und Schulleistungen
3.1 Populäre Meinungen zum Fernsehkonsum
3.1.1 Neue Intelligenz: "Warum wir durch Computerspiele und TV klüger werden?"
3.1.2 Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft
3.1.3 Weitere populäre Meinungen und Bemerkungen
3.2 Bangladeschs Sesamstraße: Sisimpur
3.3 Empirische Untersuchungen zum Zusammenhang von TV-Konsum und Schulleistung
3.3.1 JIM-Studie
3.3.2 KIM-Studie
3.3.3 Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
3.3.4 Zwischenbemerkung
4. Empirische Studie
4.1 Vorstellung und Untersuchung
4.1.1 Datenerhebung
4.2 Datenaufbereitung
4.2.1 Fernsehdauer
4.2.2 Inhalt des Fernsehkonsums
4.2.3 Freizeitgestaltung
4.3 Explorative Analyse der Daten
4.3.1 Hierarchische Analyse
4.3.2 Tabellarische Analyse
4.4 Datenauswertung
4.5 Dateninterpretation
5. Fazit
1. Einleitung
Die Mathematik bereitet vielen Schülerinnen und Schülern große Probleme. Rechnen, der Umgang mit Zahlen und das Verständnis von Operationen gehören neben Lesen und Schreiben zu den Kulturtechniken in unserer Gesellschaft. Kinder, die sie nicht beherrschen, haben nicht nur schlechte Noten in Mathematik, sondern oftmals Probleme in der gesamten Schullaufbahn und im Alltag.
Der Fernseher ist ein großer Bestandteil in den Haushalten und die am häufigsten gewählte Freizeitbeschäftigung. Was früher Luxus war, ist nun eine Alltagsbeschäftigung. Unzählige Filme, Serien und vieles mehr, laufen rund um die Uhr. Da uns das Massenmedium dauerhaft begleitet, wirkt sich dies ebenfalls auf unsere Entwicklung und Meinungsbildung aus. Der Fernsehkonsum beginnt für die meisten Kinder oftmals nach der Schule. Sie werden durch unterschiedliche Sendungen unterhalten. Hausaufgaben und das Lernen für Arbeiten stehen daher oft im Hintergrund. Daher ist ein möglicher Zusammenhang, zwischen dem Fernsehkonsum und den Schulleistungen, speziell den Mathematikleistungen, nicht undenkbar.
Die Meinungen zu den Einflüssen des Fernsehens sind zum größten Teil kritisch. Viele Autoren, Pädagogen, Psychologen und Politiker sind der Ansicht, dass der Einfluss des Fernsehkonsums sich auf die kognitiven Fähigkeiten der Kinder negativ auswirkt.
Als angehende Mathematiklehrerin ist dieses Thema für mich von großer Bedeutung. In was für einem Zusammenhang steht eine vorhandene Rechenschwäche mit außerschulischen Einflüssen wie etwa hohem Fernsehkonsum? Wie können Lehrkräfte eine Rechenschwäche frühzeitig erkennen und wie kann man ihr vorbeugen?
Die vorliegende Arbeit soll den Zusammenhang zwischen
Fernsehkonsum und Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern untersuchen. Im zweiten Kapitel werde ich einen kurzen Einblick in das Themengebiet der Rechenschwäche bieten. Ich werde die Diskrepanz-Definition der Weltgesundheitsorganisation und die dazugehörige kritische Auseinandersetzung vorstellen. Anhand von drei Fallbeispielen werde ich den Zusammenhang der möglichen Rechenschwäche und dem Fernsehkonsum darstellen.
Sei es das Smartphone, der PC, das Internet oder der Fernseher, sie beeinflussen stark unser Verhalten. Kinder lernen sehr früh unterschiedliche Medien kennen. Digitale Medien begleiten uns tagtäglich. Selbst in den Schulen wird gelehrt, wie man Digitalmedien im Unterricht einsetzen kann. Auf den Themenbereich Medien und Bildung werde ich daher im dritten Teil eingehen. Hierzu werden Studien, populäre Meinungen und ein Experiment vorgestellt.
Welchen Einfluss auch immer Medien auf das Verhalten von Schülerinnen und Schülern und ihre Schulleistungen haben, ist erst durch eine nähere Untersuchung erkennbar.
Oftmals wird, wie zuvor erwähnt, davon ausgegangen, dass sich das Fernsehen negativ auf schulische Leistungen auswirkt. Ich werde daher die möglichen Zusammenhänge zwischen Fernsehkonsum und Mathematikleistungen und Rechenschwäche anhand einer selbst durchgeführten empirischen Studie an Sechstklässlern einer Gesamtschule erörtern.
2. Rechenschwierigkeit und Rechenstörung
2.1 Formal orientierender Natur
2.1.1 Definition der Weltgesundheitsorganisation
Rechenschwäche, auch Rechenstörung genannt, wird oft mit dem Begriff Dyskalkulie gleichgesetzt. Mediziner und Neuropsychologen orientieren sich an der Diskrepanz-Definition der Weltgesundheitsorganisation. Die Rechenschwäche wird in der „Internationalen Klassifikation psychischer Störung - ICD-10“ als Rechenstörung unter dem Punkt F 81.2 - Rechenstörung wie folgt definiert:
„Diese Störung besteht in einer umschriebenen Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft vor allem die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten, wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie oder Differential- und Integralrechnung benötigt werden.“1
Die Beurteilung und Festlegung der Rechenstörung wird durch einen standardisierten Einzeltest festgelegt. Dabei ist wichtig zu beachten, dass Rechenschwierigkeiten nicht auf Defizite des Sehvermögens, Hörvermögens und neurologische Störungen zurückzuführen sind.2 Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation haben gezeigt, dass betroffene Kinder keine Auffälligkeiten bei akustischen und verbalen Wahrnehmungen an den Tag legen. Die visuellräumliche Wahrnehmung und die Fähigkeiten der optischen Wahrnehmung sind hingegen beeinträchtigt.3 Laut der Klassifizierung können Rechenschwierigkeiten in sechs verschiedenen Arten auftreten:
„ein Unvermögen, die bestimmten Rechenoperationen zugrunde liegenden Konzepte zu verstehen; ein Mangel um Verständnis mathematischer Ausdrücke oder Zeichen; ein Nichtwiedererkennen numerischer Symbole; unsere Standardrechenschritte auszuführen; eine Schwierigkeit im Verständnis, welche Zahlen für das in Betracht kommende arithmetische Problem relevant sind; Schwierigkeiten, Zahlen in die richtige Reihenfolge zu bringen oder Dezimalstellen oder Symbole während des Rechenvorgangs einzusetzen; mangelnder räumlicher Aufbau von Berechnungen; und eine Unfähigkeit, das Einmaleins befriedigend zu lernen“4.
Wenn die Rechenleistungen unterhalb des Niveaus des Alters, der Intelligenz und der Schulklasse liegen, ist eine Rechenstörung nach der Diskrepanz-Definition vorhanden. Hierbei befinden sich die Lese- und Rechtschreibleistungen im Normbereich. Das heißt, es dürfen keine Schwierigkeiten oder Störungen in den anderen Disziplinen vorhanden sein.
2.1.1.1 Kritische Auseinandersetzung mit der Weltgesundheitsorganisation
Die Diskrepanz-Definition der Weltgesundheitsorganisation wird aus medizinischer und neurologischer Sicht als Symptom betrachtet, welches eine „medikamentöse Intervention“5 erforderlich macht.
Die Diskrepanz-Definition der Weltgesundheitsorganisation wird jedoch vielfach kritisiert. Es wird darauf hingewiesen, dass Kinder mit einer Rechenschwäche pädagogische Behandlung und individuelle Förderung benötigen. Rechenstörung taucht „[…] zunächst im Mathematikunterricht [auf] und [muss] auch dort durch einen guten präventiven und fördernden Unterricht angegangen werden […]“6. Kritisiert werden unter anderem das Diagnoseverfahren und die fehlenden Fördermaßnahmen. Gaidoschik mahnt an, dass der Zusammenhang „zwischen ‚Rechenschwächeʻ und kindlicher Psyche nicht gerecht“6 wird. Wenn eine Aufgabe nicht beherrscht wird, wirkt sich das auf das Selbstbewusstsein und das Selbstbild des Kindes aus. Daraus resultiert, so Gaidoschik, ein Teufelskreis einer Rechenstörung, welche sich zur Lernstörung entwickelt und sich auf andere Fächer überträgt.7 Rechenschwache Kinder ohne F 81.2 Diagnose werden von der Förderung ausgeschlossen.8 Eine Förderung steht nur Kindern zu, welche nach der Definition als intelligent eingestuft werden, deren Mathematikleistungen aber als unerwartet schwach gelten. Diese Kinder erhalten eine gesonderte, teilweise individuelle Förderung beziehungsweise eine Therapie. Die Definition gibt aber keine Informationen darüber, wie sich inhaltliche Schwierigkeiten und Schwächen zeigen, um sie dann gezielt fördern zu können. Eine weitere Problematik besteht darin, dass Intelligenztests nicht immer realistische und exakte Ergebnisse liefern. Sie sind oft von der Tagesform des Kindes abhängig.9 Die Prüfungssituation kann bei einem Kind Angst und Druck auslösen, was dazu führt, dass sie schlechter im Intelligenztest abschneiden und sich ihr negatives Selbstbild bestärkt. Das Kind „verliert dann immer mehr die Lust an der Schule insgesamt: Es ist mittendrin in dem, was man treffend den ‚Teufelskreis [von] Lernstörungenʻ“10 nennt.
Lorenz und Radatz lehnen ähnlich wie Gaidoschik die Diskrepanz- Definition der Weltgesundheitsorganisation ab. Sie beschäftigen sich in ihrem praxisorientierten kognitionspsychologisch- fehleranalytischen Ansatz mit den unterschiedlichen Ursachen und den Möglichkeiten zur Erkennung und Behebung von Rechenschwäche. Sie sind sich darin einig, dass die Förderung alle Schüler(innen) einbeziehen muss, die eine Förderung außerhalb des Standardunterrichts benötigen.11 Betroffene Kinder bedürfen einer pädagogischen Behandlung und individuellen Förderung.
Grissemann plädiert ebenso für eine allgemein zugängliche Förderung. „Alle Schüler mit mathematischen Lernproblemen, auch ohne eine solche Diskrepanz, auch Schüler, die intellektuell weniger entwickelt sind, haben Förderchancen und sollen von den förderpädagogischen Fortschritten profitieren können.“12 Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass Rechenstörung oft im Zusammenhang mit einer Lese- Rechtschreibschwäche auftritt. Das führt dazu, dass rechenschwache Kinder Schwierigkeiten haben, den notwendigen Diskrepanzwert zu erreichen, da die Tests zur Ermittlung des IQ-Werts Probleme bereiten. Somit kann man nicht davon ausgehen, dass die Lese- und Rechtschreibfertigkeiten eines Kindes mit Rechenschwäche sich im Normbereich halten. Es wird im Weiteren nicht berücksichtigt, wie das Kind zu den mathematischen Ergebnissen gelangt. Sie sind von
rechenschwachen Kindern
„Unterschiedliche Ursachen
Erscheinungsformen“13 führen zu den individuellen Ergebnissen. Lorenz und Radatz lehnen ähnlich wie Gaidoschik die Diskrepanz- Definition der Weltgesundheitsorganisation ab. Sie beschäftigen sich in ihrem praxisorientierten kognitionspsychologisch- fehleranalytischen Ansatz mit den unterschiedlich geprägten Ursachen und den Möglichkeiten, zur Erkennung und Behebung von Rechenschwäche. Sie sind sich einig, dass die Förderung alle Schüler-/innen einbeziehen muss, die eine Förderung außerhalb des Standardunterrichts benötigen.14 Betroffene Kinder benötigen eine pädagogische Behandlung und individuelle Förderung.
Grissemann ist ebenso für eine allgemein zugängliche Förderung. „Alle Schüler mit mathematischen Lernproblemen, auch ohne eine solche Diskrepanz, auch Schüler, die intellektuell weniger entwickelt sind, haben Förderchancen und sollen von den förderpädagogischen Fortschritten profitieren können.“15 Ein weiterer wichtiger Faktor ist, dass Rechenstörung oft im Zusammenhang mit einer Lese- Rechtschreibschwäche auftritt. Das führt dazu, dass rechenschwache Kinder Schwierigkeiten haben den Diskrepanzwert zu erreichen, da die Tests zur Ermittlung des IQ-Wertes Probleme bereiten. Somit kann man nicht davon ausgehen, dass die Lese- und Rechtschreibfertigkeiten eines Kindes mit Rechenschwäche sich im Normbereich halten. Es wird nicht berücksichtigt, wie das Kind zu den mathematischen Ergebnissen gelangt. Schließlich sind sie dazu nicht willkürlich gelangt. „Unterschiedliche Ursachen und verschiedene Erscheinungsformen“16 sind die Gründe. Die Weltgesundheitsorganisation definiert zwar Rechenstörung oder Rechenschwierigkeit, gibt jedoch keine Ansatzpunkte zu Fördermöglichkeiten. Genau dieser Aspekt wird vielfach kritisiert.
Kindern sollte gezielt geholfen werden. Die Festlegung der Störung allein ist nicht hilfreich, das Kind wird lediglich kategorisiert. Durch die Individualität des Kindes und seiner Rechenschwäche muss entschieden werden, welche Fördermaßnahme am geeignetsten ist. Ebenso ist die strikte Unterscheidung zwischen Rechenstörung und einer eventuellen Lese- und Rechtschreibschwäche zu kritisieren. Die Realität zeigt, dass sich Störungen und Schwächen in einer Disziplin häufig auf andere Bereiche auswirken.
2.2 Inhaltlich orientierender Natur
2.2.1 Ursachen- und Einflussfelder
Wie wir gesehen haben, gibt es keine einheitliche Definition der Rechenschwäche, da Pädagogen oder Mediziner sie in unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Somit sind auch die Ursachen umstritten.
Wir leben in einer sich ständig verändernden Gesellschaft. Kinder müssen sich früh den ständig wechselnden Lebens- und Lernsituationen anpassen. Daher ist davon auszugehen, dass die Ursachen und die Einflussfelder der Kinder mit einer Rechenstörung verschieden sind.
Als „primäre Ursachen [gelten] verschiedene organische, soziale und didaktisch- schulorganisatorische Basisfaktoren […]“17. Sie bedingen die „sekundären Ursachen, [die] von zentraler Bedeutung zur Planung therapeutischer Maßnahmen“18 sind und durch die „kognitiven Funktionsdefizite und die emotionalen Lernbeeinträchtigungen“19 gekennzeichnet sind.
Durch die fortschreitende Technik ist zu beobachten, dass natürliche Spiel- und Bewegungsräume abnehmen. Die Gestaltung des Alltags besteht meist darin, Videospiele zu spielen oder didaktisch nicht geeignete Filme und Sendungen zu sehen. Diese sind solche die Beispielsweise Gewalt, Brutalität, Diskriminierungen zeigen. Viele Kinder kommen sehr früh mit der virtuellen Welt in Kontakt. Die Digitalmedien führen zu einer Reizüberflutung. Vor allem jüngere Kinder werden schnell überfordert und können die reale Welt von der virtuellen nicht unterscheiden. Auch der soziale Hintergrund, die wirtschaftliche Lage der Eltern, Erkrankungen des Kindes, Wahrnehmungsstörungen und viele weitere Aspekte können Ursachen für eine Rechenschwäche sein. All diese unterschiedlichen Faktoren, mit denen Kinder konfrontiert werden, können sich negativ auf die körperliche, seelische und geistige Gesundheit auswirken.
Ende der zweiten oder der vierten Klasse lässt sich der Verdacht auf Rechenstörung zeigen.20 Rechenstörungen können somit individuell sehr unterschiedlich sein und sich aus verschiedenen Ursachen zusammensetzen. Ein einheitliches Krankheitsbild lässt sich nicht definieren. Im Weiteren werde ich drei Ursachenfelder nach Gaidoschik und anschließend drei Fallbeispiele vorstellen.
2.2.2 Ursachenfelder
Gaidoschik führt drei Ursachenfelder für die Entstehung der Rechenschwäche ein. Diese Ursachenfelder können eine Rechenschwäche begünstigen oder verstärken. Hierbei ist zu beachten, dass „[…] nicht von Ursachen im Sinne einer eindeutigen Ursache-Wirkung-Beziehung [zu] sprechen“21 ist, sondern es sich um ein „System von Wechselwirkung zwischen Kind und Umwelt handelt […]“22. Die drei Punkte sind keine Forschungsergebnisse und anerkannte Erkenntnisse, sondern vielmehr eigene praktische und theoretische Auseinandersetzungen.
2.2.2.1 Persönlichkeitsstruktur des Kindes
Die Persönlichkeitsstruktur eines Kindes kann eine Rechenschwäche hervorheben. Mögliche Faktoren, die sich auf die Persönlichkeitsstruktur auswirken können, sind beispielsweise Entwicklungsrückstände im basalen Bereich, kindliche Missverständnisse, Konzentrationsstörungen, Misserfolgsängstlichkeit, geringes intellektuelles Selbstvertrauen, Impulsivität, mangelnde Motivation und ähnliche.23 Im Weiteren können familiäre Ereignisse wie Scheidung, Todesfälle und weitere Probleme innerhalb der Familie die Persönlichkeitsstruktur verändern und sich auf Rechenfertigkeiten und vorhandene Rechenschwächen auswirken. Haltungen wie, „Warum kann ich das nicht? Bin ich zu dumm? Warum muss ich das können? Ich hasse Mathematik!“24 stehen schnell auf der Tagesordnung.
2.2.2.2. Familie und sozialer Hintergrund
Ein weiterer Faktor bilden Familie und sozialer Hintergrund. Erziehungsmängel oder ungünstige Wohnverhältnisse können mögliche Ursachen für die Entstehung einer Rechenschwäche sein. Eine mangelnde (Früh-)Förderung einerseits oder Übungsdrill seitens der Eltern andererseits, Tricks und Eselsbrücken oder psychische Engpässe infolge familiärer Zerwürfnisse sind ebenso Faktoren zur Begünstigung einer Rechenschwäche.25 Das soziale Milieu26 ist ein wichtiger Faktor für die familiäre Struktur und den sozialen Hintergrund des Kindes. Wird das Kind vernachlässigt? Ist das Kind einem Druck ausgesetzt? Wird es innerhalb der Familie beachtet? All das sind Fragen, die mögliche Ursachen für die Entstehung oder Förderung der Rechenschwäche beleuchten.
2.2.2.3 Schulische Einflüsse
Schulische Einflüsse sind zum einen organisatorische und zum anderen unterrichtliche Aspekte. Ein Wechsel der Lehrkraft und die daraus resultierende Veränderung der Unterrichtsmethodik können die vorhandene Teilleistungsstörung verstärken. Im Unterricht selbst sind folgende Aspekte zu beachten: „das Nichtbemerken von Rückständen in den Voraussetzungen des mathematischen Lernens; inhaltliche Mängel in der Vermittlung der mathematischen Grundlagen; pädagogisch ‚unglücklichesʻ Antworten auf bemerkte Leistungsausfälle“27. Diese Aspekte können, so Gaidoschik, Ursachen für die Entstehung einer Rechenstörung sein. Ein weiterer Faktor ist der Notendruck, der beispielsweise mit der angezweifelten Versetzung steigt. Ungünstige Klassenstrukturen, didaktische Mängel wie auch Tempo und Dichte des Unterrichts oder Mobbing können ebenfalls Ursachen sein.
2.3 Fallbeispiele
Im Folgenden werde ich drei unterschiedliche Fallbeispiele vorstellen. Die drei betroffenen Kinder haben verschiedene familiäre und soziale Hintergründe. Die Fälle werden auf die unterschiedlichen Ursachenfelder nach Gaidoschik bezogen. Die Namen der Kinder wurden aus Gründen der Anonymität geändert. Eva, Paula und Marc sind eigenen Unterrichtserfahrungen entnommen.
2.3.1 Fallbeispiel Eva
Eva, dreizehn Jahre alt, besucht zurzeit die sechste Klasse einer Realschule im Essener Norden. Sie musste die vierte Klasse wiederholen. Evas Eltern stammen aus dem Libanon, sie hingegen ist in Deutschland geboren. Eva und ihre drei Geschwister (im Alter von 4, 8 und 17) wachsen bilingual auf, wobei keine der Sprachen korrekt vom Elternhaus gelehrt wird. Beide Elternteile sind berufstätig. Der Vater ist im Schichtdienst beschäftigt. Die Mutter arbeitet an drei Wochentagen bis zum Nachmittag. Das Gehalt der Eltern deckt die monatlichen Grundbedürfnisse der Familie. In den Urlaub fährt die Familie sehr selten. Die 17-jährige Schwester bewirbt sich seit einem Jahr um eine Ausbildungsstelle. Da sie noch keine Lehre gefunden hat, passt sie oft auf ihre jüngeren Geschwister auf. Eva muss vielfältig im Haushalt helfen. Wenn die Eltern nicht zu Hause sind, hat sie die Aufgabe, ihrer Schwester unter die Arme zu greifen. Eva lebt mit ihrer Familie in einem Mehrfamilienhaus und teilt sich ihr Zimmer mit ihrer älteren Schwester. Im selben Haus wohnt ihr Onkel mit seiner Frau und seinen Kindern. Sie ist für ihr Alter ein normal gebautes und gesundes Kind. Einen bestimmten Tagesablauf oder Regelungen hat die Familie nicht. Alle passen gegenseitig aufeinander auf. Eva wächst in eher konservativ-religiösen Verhältnissen auf. Sie trägt viel Verantwortung und muss sich an gewisse traditionelle Richtlinien halten. Auf die Nachfrage, welcher Kultur sie angehört, bekam ich die Antwort: „Ich bin Araberin und Muslima. Wir dürfen nicht so wie die Deutschen leben.“
Eva hat keine bestimmten Hobbys, denen sie nachgeht. Sie ist in keinem Sportverein oder ähnlichem. Privat ist sie hauptsächlich mit ihrer (Groß-)Familie zusammen. Am Abend sitzt die gesamte Familie oft bei ihrem Onkel zu Hause. Dieser empfängt arabische TV-Sender, die sie gemeinsam schauen. Tagsüber, wenn sie mit ihrer Schwester die Arbeiten im Haushalt erledigt hat, gucken beide gern deutsche Sender. Ihre Lieblingssendung „Berlin Tag und Nacht“ kann sie in Anwesenheit ihrer Eltern nicht gucken. Sie würden sie ihr verbieten. Ihre tägliche Unterhaltung ist sowohl der Fernseher als auch die gesamte Familie.
Ihre Mathematikleistungen sind in den seltensten Fällen besser als „mangelhaft“. In der vierten Klasse wurde bei Eva eine Lese- und Rechtschreibstörung diagnostiziert. Daher wird Eva im Unterrichtsfach Deutsch nicht benotet. Sie ist sich dessen bewusst. Aus diesem Grund legt sie oft eine von Lustlosigkeit und Selbstaufgabe geprägte Haltung an den Tag.
Eva ist während des Unterrichts sehr unzufrieden. Sie ist sehr demotiviert und hat ständig an den Mitschülern und Lehrkräften etwas auszusetzen. Sie kann sich nicht lange konzentrieren und lässt sich schnell ablenken. Oft versteht sie schriftliche oder mündliche Aufgabenstellungen nicht. Daher muss die Lehrkraft ihr vieles erneut vereinfacht erklären. Aufgrund ihrer Lese- Rechtschreibschwäche versucht sie sich Vorteile zu verschaffen. Sobald sie in Mathematik eine Aufgabe nicht versteht, argumentiert sie immer auf der Grundlage ihrer Diagnose. Sie versucht, ihre Schwäche auf andere Fächer zu übertragen. Sie ist sehr vorlaut und verweigert oft die Mitarbeit. Eva vermutet, dass ihre Mitschüler sie ärgern, wobei ich dies nicht beobachten konnte. Sie reagiert stur und bockig. Mit Misserfolgen findet sie sich schnell ab. Schlechte Noten machen ihr scheinbar nichts aus. Bei Gruppenarbeiten hält sie sich eher zurück und vergnügt sich anderweitig. Sie lenkt sich selbst und ihre Mitschüler ab. Eva hat Probleme bei den Grundrechenarten. Sie kann das Stellenwertsystem nicht vollständig nachvollziehen. Sachtextaufgaben nähert sie sich kaum. Aufgrund ihrer Lese-Rechtschreibschwäche und der neu eingeführten Fachbegriffe wie Division, Addition, Subtraktion und Multiplikation weiß Eva in vielen Situationen nicht, wie sie zu rechnen hat. Daher verwendet sie oft das „Plus-Rechnen“, weil ihr das am einfachsten fällt. Außerhalb des Unterrichts, in den Pausen, hat Eva Freunde und versteht sich mit den meisten. Eva nimmt zweimal die Woche an der Lernförderung in der Schule außerhalb des regulären Unterrichts teil. Auch hierzu hat sie wenig Lust. Sie möchte sich von ihren Eltern abmelden lassen. Gefördert wird sie in den Fächern Deutsch und Mathematik.
2.3.2 Fallbeispiel Paula
Paula ist neun Jahre alt. Sie besucht die dritte Klasse einer Grundschule in Bochum-Stiepel. Paula ist ein fröhliches, aufgewecktes und gesundes Kind. Sie lebt mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus. Nebenan wohnen ihre Großeltern. Paulas Vater ist Lehrer an einer Gesamtschule. Ihre Mutter arbeitet für die Stadt. Beide Elternteile sind verbeamtet. Das Einkommen der Eltern ist überdurchschnittlich. Da Paula nicht die Betreuung der Schule besucht, kommt sie früher als ihre Eltern nach Hause. Aus diesem Grund verbringt sie oft den Nachmittag bei ihren Großeltern. Dort fühlt sie sich sehr wohl. Hier isst sie zu Mittag und darf den Fernseher einschalten und gucken, was sie möchte. Zu Hause gibt es feste Regelungen, wann und was Paula ansehen darf. Paula geht an zwei Tagen zum Handballtraining und bekommt einmal die Woche Privatnachhilfe in Mathematik. Außerdem ist sie oft bei Freundinnen oder bekommt selbst Besuch. Ihre Eltern sind unter der Woche spätestens um 16 Uhr zu Hause. Ihre Hausaufgaben macht Paula jeden Abend zu Hause. Die Eltern kontrollieren die Aufgaben regelmäßig. Am Wochenende unternimmt die Familie oft Ausflüge. Paula hat eine gute Beziehung zu ihren Eltern.
Ihre Schulnoten liegen im guten Bereich. In Deutsch und Englisch ist sie sehr begabt. Auch Musik und Kunst gehören zu ihren Lieblingsfächern. Paula möchte später gern ein Gymnasium besuchen. In Mathematik hat sie jedoch Probleme. Ihre Tests fallen häufig schlecht aus. Sie ist sich oft in den Bearbeitungen der Aufgaben sehr unsicher. Dies macht sie traurig und wütend. Sie ist sehr strebsam, was dazu führt, dass sie viel für Mathematik lernt. Sie bearbeitet zusätzliche Übungen, um sich sicherer zu fühlen. Paula hat Probleme beim Zahlenverständnis. Sie kann größere Zahlen nicht mit Inhalt füllen. Ihr fällt es zudem schwer, Gegenstände und Objekte voneinander zu unterscheiden und diese beispielsweise abzuzählen. Außerdem bereiten ihr Sachtextaufgaben größere Probleme. Hier ist sie überfordert und unsicher und weiß nicht, welche Rechenoperation sie anwenden soll. Oft zieht sie die Lehrerin hinzu, um zu fragen, ob ihre Ergebnisse richtig sind. Ihre Eltern berichten, dass sie bei schlecht ausgefallenen Mathematiktests zu Hause sehr aufgewühlt ist. Sie kann es sich nicht erklären, warum sie ständig Fehler macht, obwohl sie so viel lernt. Paulas Eltern versuchen, sie zu unterstützen. Es fanden häufig Eltern-Lehrer-Gespräche statt, um nach Lösungen zu suchen. Entschieden wurde, dass Paula erst einmal Nachhilfe bekommt. Auch zusätzliche Nachhilfe konnte nicht dazu beitragen, ihre Mathematikleistungen zu verbessern. Obwohl keine diagnostizierte Dyskalkulie vorliegt, wird Paulas Schwäche in der Mathematik bei der Benotung beachtet. Ihre Lehrer, ihre Eltern wie auch der Kinderarzt haben den Verdacht auf Dyskalkulie. Paula wurde von ihrem Kinderarzt untersucht, um eventuelle Behinderungen auszuschließen. Die Eltern möchten nun ihr Kind auf Dyskalkulie testen lassen. Paulas Eltern haben ihr erklärt, dass sie eventuell eine Rechenschwäche hat und ihre Mathematikleistungen nichts mit damit zu tun haben, dass sie womöglich zu wenig lerne. Seitdem fühlt sich Paula sicherer und wird durch Misserfolgserlebnisse nicht direkt demotiviert.
2.3.3 Fallbeispiel Marc
Der dreizehnjährige Marc besucht die siebte Klasse einer Gesamtschule in Essen. Er hat erhebliche Schwierigkeiten im Fach Mathematik. In den anderen Fächern sind seine Leistungen noch im „ausreichenden“ Bereich.
Marc lebt mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester bei seinen Großeltern. Marcs Vater ist vor sechs Jahren an einer Blutkrankheit gestorben. Nach dem Tod ihres Mannes fielen der Mutter die Arbeit und die Erziehung der Kinder nicht leicht. Daher entschied sie sich, zurück in ihr Elternhaus zu ziehen. Marcs Mutter arbeitet für eine kleine Firma als Buchhalterin. Seine Schwester macht zurzeit das Abitur an derselben Gesamtschule. Großeltern und Mutter kümmern sich gemeinsam um die Erziehung der beiden Teenager. Marc hat eine sehr innige Beziehung zu seiner Schwester und zu seinem Opa. Beide spielen eine starke Rolle in seinem Leben. Marc ist seiner Schwester ebenso sehr wichtig. Sie hilft ihm oft bei den Hausaufgaben. Er führt gern Gespräche mit ihr, was für Marc ansonsten nicht typisch ist. Die Erkrankung und der schnelle Tod des Vaters kamen für die gesamte Familie sehr plötzlich. Das Leben hat sich für alle sehr stark verändert. Die Mutter arbeitet nun viel mehr und die Großeltern sind ständig präsent. Die Geschwister haben durch den Schicksalsschlag eine stärkere Beziehung aufgebaut. Sie tauschen sich oft aus, unternehmen vieles gemeinsam. Man könnte vermuten, dass Marc in seiner Schwester den Vaterersatz sieht.
Marc ist seit langem übergewichtig. Schon als Baby, so die Mutter, war Marc nicht sehr dünn. Nach dem Tod seines Vaters und dem Umzug nahm er immer mehr zu. Marc hat nicht viele Freunde und ist daher oft zu Hause. Seine Freizeit verbringt er gern mit seinem Opa. Er lässt sich von ihm mitunter in Fastfoodrestaurants fahren. Ein Hobby von beiden ist das „Basteln“ an Autos in der Garage. Der ehemalige KFZ-Mechaniker versucht, seinen Enkel für Autos zu faszinieren, was ihm gelingt. Da die Mutter am frühen Abend erst zu Hause ist, erfüllen ihm die Großeltern und seine Schwester fast jeden Wunsch.
Marc ist ein sehr ruhiges Kind. Er spricht sehr selten und ist zurückhaltend. Es gelingt ihm nicht Kontakte aufzubauen. Er ist lieber allein oder mit seiner Familie. Zu Hause sei er ähnlich ruhig, so die ältere Schwester. Oft ist er nach der Schule, wenn er nicht mit seinem Großvater in der Garage ist, mit seiner Playstation beschäftigt. Nach Angaben der Mutter spielt er mehrere Stunden am Tag, wenn sie nicht zu Hause ist. Er hat mittlerweile die neueste Playstation 4 von seinem Onkel geschenkt bekommen. Marc spielt gern „Krieg- und Rennfahrspiele“. In der Schule gehört Marc zu den ruhigen Kindern. Mit Gleichaltrigen schließt er in der Klasse nur vorübergehende Freundschaften. Es gelingt ihm nicht langfristige Kontakte zu knüpfen. Marc wird in der Klasse nicht gemobbt oder geärgert. Er gehört zwar nicht zu den beliebteren Schülern, wird jedoch akzeptiert. Marc ist im Unterricht oft abwesend und nicht konzentriert. Er beteiligt sich nicht am Unterricht. Dies spiegelt sich auch in seinen Noten wider. Durch die Klassenarbeiten, die meistens befriedigend oder ausreichend sind, gleicht er sein ruhiges Verhalten teilweise aus. In Mathematik gelingt ihm das jedoch nicht. Marcs Mathematiknoten werden durchschnittlich mit „mangelhaft“ bewertet. Marc hat Probleme, die geforderten Aufgaben zu lösen. Oft ist er sehr ratlos und weiß nicht, was er tun muss. Marc schafft es beispielsweise nicht, geometrische Figuren von der Tafel in sein Heft zu übertragen. Ihm fehlen zudem die mathematischen Grundkompetenzen, um Grundrechenarten durchzuführen. Marc ist oft bei den Grundrechenarten mit der Zahl Null überfordert. Er kann die Null nicht korrekt anwenden und verwechselt oft die Addition und Subtraktion mit der Multiplikation und Division. Je schwieriger der Unterricht wird, desto mehr wendet er sich ab. Marc starrt oft vor sich hin. Er stört seine Klassenkameraden nicht. Marc redet nur, wenn er gefragt wird. Auf Außenstehende macht Marc einen sehr verunsicherten Eindruck. Die Klasse wird seit der fünften Klassenstufe von demselben Lehrer im Fach Mathematik unterrichtet. Marcs Lehrer berichtet, dass er ihn so ruhig kennen gelernt hat, wie er sich auch aktuell gibt. Er sei zu schüchtern und lustlos. Marc besucht einmal die Woche den Förderkurs Mathematik für zwei Stunden. Auch hier zeigt er dieselbe Haltung.
2.4 Spezifische Rechensituationen
Im Weiteren werde ich konkrete Rechenaufgaben und Rechensituationen der oben genannten Kinder vorstellen. Ich habe die drei Kinder persönlich kennengelernt und über einen längeren Zeitraum beobachtet. Die Aufgaben wurden von mir vorbereitet und in den jeweiligen Klassen verteilt. Ich werde nach der Aufgabenvorstellung die Fehler und mögliche Gründe wie auch die Reaktion des betreffenden Kindes, der Mitschüler und der Lehrer vorstellen.
2.4.1 Eva
Eva und ihre Klasse bekamen unter anderem die Additionsaufgabe 1439 + 548 gestellt.
Eva und die meisten anderen Kinder haben die gängige Methode „schriftliche Addition“ angewendet. Evas Rechnung sah wie folgt aus:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als Vergleich die Aufgabe ihres Tischnachbars:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie bereits bei der Vorstellung erwähnt, hat Eva ein Problem mit dem Stellenwertsystem. Sie ordnet bei der schriftlichen Addition die Zahlen falsch untereinander. Eva ist zwar in der Lage, einzelne Ziffern mit Inhalt zu füllen, kann jedoch die Ziffernzuordnung bei mindestens dreistelligen Zahlen nicht begreifen. Ihre Zuordnung verläuft von links nach rechts. Ich habe sie im nächsten Schritt gefragt, ob man die Zahlen wie folgt untereinander schreiben und bündeln bzw. addieren darf:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es sei „[…] egal wie man rechnet. Hauptsache ich rechne irgendwelche Zahlen zusammen.“28 Zudem ist Eva einen
Übertragfehler unterlaufen. Sie hat korrekt den Einer notiert aber den Zehner im nächsten Schritt nicht beachtet. Eva hat von insgesamt vierzehn Aufgaben fünf korrekt gerechnet. Auffällig ist, dass sie ihr die Aufgaben, bei denen beide Summanden sich im zweistelligen Bereich befinden, weniger Probleme bereiten. Der Übertrag wurde in allen Aufgaben nicht richtig beachtet. An manchen Stellen hat Eva den Übertrag direkt mit in die Summe notiert.
Eva war während der Arbeitsphase relativ locker und nahm den Unterricht nicht besonders ernst. Die Klasse hatte insgesamt vierzig Minuten für die Bearbeitung des Arbeitsblatts zur Verfügung. Der größte Teil war nach zwanzig bis dreißig Minuten fertig. Eva ließ sich ständig ablenken und lenkte selbst auch Mitschüler ab. Mit jeder Ermahnung löste sie zwei bis drei Aufgaben. Nach vierzig Minuten fehlten Eva noch zwei Aufgaben. Einige Schüler, darunter Eva, sollten jeweils eine Aufgabe an der Tafel vorstellen. Nach einigen Anläufen und einigen Überzeugungsbemühungen rechnete Eva die oben vorgestellte Aufgabe vor. Ich fragte Eva, ob sie sich sicher sei bei ihrer Lösung. Ihre Reaktion war teilweise bockig aber auch zurückhaltend. Einige Kinder versuchten, Eva durch Meldungen zu helfen. Ihre Mitschüler äußerten sich weder abfällig noch wurde Eva ausgelacht. Die eigentliche Fachlehrerin versuchte ebenfalls, Eva durch Stichpunkte auf ihre Fehler aufmerksam zu machen. Sie forderte Eva auf, an den „Übertrag“ und die „Schreibweise“ zu denken. Eva gelang es dennoch nicht, die Aufgabe korrekt zu rechnen. An ihrer Haltung war deutlich abzulesen, dass sie nicht mehr versuchte, sich zu konzentrieren. Sie begann, willkürlich gewählte Zahlen als Summe der Aufgabe an die Tafel zu notieren, bis die Lehrerin Eva auf ihren Platz schickte. Sie überspielte schnell ihr Verhalten.
Evas Fehler liegt bereits in der Vorbereitung der Aufgabe. Sie notiert die Aufgabe falsch ins Stellenwertsystem. Eva orientiert sich an
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dem ersten Summanden und schreibt die erste Ziffer des zweiten Summanden unter die erste Ziffer des ersten Summanden. „Statt mit den Einern (‚hintenʻ) beginnt das Kind mit den Hundertern (‚vorneʻ) zu rechnen.“29 Sie addiert die untereinander stehenden Zahlen richtig zusammen. Dabei beachtet sie allerdings den Übertrag nicht. In den seltensten Fällen denkt sie an den Übertrag, notiert ihn jedoch an die falsche Stelle. Dies deutet darauf hin, dass sie nicht konzentriert ist oder die Regel des Übertrags nicht verstanden hat. Bei der Stellenzuordnung kann man erkennen, dass sich Eva nicht des Zahlenverständnisses bewusst ist.
2.4.2 Paula
Ich habe mich bei Paula für eine Textaufgabe entschieden. Da Paulas Leseleistungen stark sind, wollte ich sehen, wie sie diese mit Mathematik in Verbindung bringen kann.
Aufgabe: Wir sind 24 Kinder in einer Klasse. 6 Kinder bilden eine Gruppe. Wie viele Gruppen haben wir insgesamt? Rechne bitte schriftlich!
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Als Hilfe wurden Kästchen geboten. Hier konnten die Kinder ihr Ergebnis kontrollieren aber auch die Kästchen durch beispielsweise Bündelungen als Hilfsmittel benutzen.
Während der Bearbeitung der Aufgabe habe ich mich zu Paula gesetzt und sie beobachtet. Paula hat die Kästchen nicht benutzt. Sie hat, wie wir oben sehen, 24 minus 6 gerechnet und ist auf das Ergebnis 22 gekommen. Die Textaufgabe hat sie anscheinend nicht korrekt verstanden. Sie hat die Informationen 24 und 6 dem Text entnommen und daraufhin eine Subtraktion durchgeführt. Als ich sie fragte, warum sie „minus“ gerechnet habe, konnte Paula keine Antwort geben. Auf die Frage: „Wie viele Gruppen haben wir nach deiner Rechnung?“ antwortete sie mir sehr unsicher: „22“. Es schien so, als wüsste Paula, dass ihr Ergebnis falsch sei. Ich bat sie darum, mir ihre Rechnung 24 minus 6 erneut schriftlich und laut vorzurechnen. Sie schrieb die Zahlen untereinander korrekt auf. Nun rechnete sie „4 minus 6 geht nicht, also muss ich 6 minus 4 rechnen und da kommt 2 raus!“ Sie notierte die 2. Im nächsten Schritt versuchte sie erneut vom Subtrahenden aus zu rechnen, was ihr gelang. „2 minus nix ist 2!“ Auch diese 2 wurde im Stellenwertsystem richtig aufgeschrieben.
Paula war in der Arbeitsphase sehr konzentriert. Sie gab sich viel Mühe, die Aufgabe richtig zu lösen. Oft fragte sie mich, ob es richtig sei, was sie mache. Paula suchte nach Bestätigung. Da ich Paula nicht demotivieren wollte und erfahren hatte, dass sie schnell traurig wird, erklärte ich ihr, dass ihre Lösung nicht „ganz richtig“ sei. Ich ging mit Paula erneut die Aufgabenstellung durch und fragte sie, welche Operation sie anwenden müsse. Nach langem Überlegen gab ich ihr den Tipp, dass in der gestrigen Stunde eine ähnliche Aufgabe an der Tafel gerechnet worden sei. Da fiel ihr das „Geteiltrechnen“ ein. Als ich ihr recht gab, freute sie sich und schrieb ohne Zögern „24 : 6 =“ auf. Wieder schaute sie mich fragend an. Sie wusste nicht, wie es weiter ging. Ich fragte, wie oft die 6 in die 24 passe. Ich versuchte sie auf die Kästchen hinzuweisen. Paula war nicht in der Lage, die Aufgabe zu rechnen. Weder schriftlich noch durch das Bündeln.
Es ist auffällig, dass Paula dem Sachtext nicht die Informationen entnehmen kann, die nötig sind, um die richtige Operation anzuwenden. Im Weiteren schafft Paula die Durchführung jeglicher Operationen nicht. Paula weiß, dass sie sich an Regeln halten muss. Jedoch gelingt es ihr nicht, die richtige Anwendung durchzuführen. Ihr ist beispielsweise nicht klar, dass es nicht irrelevant ist, ob der Minuend vom Subtrahenden abgezogen wird oder umgekehrt. Mit der Schreibweise hat sie keine Probleme. Sie hat die Subtraktion und die Division richtig aufgeschrieben. Paula ist in der Lage, mit bestimmten Begriffen wie „Geiteltrechnen“ oder „Minusrechnen“ Schreibweisen zu assoziieren. Es lässt sich vermuten, dass Paula diese auswendig gelernt hat. Als sie wusste, dass geteilt gerechnet werden muss, schrieb sie auf der Stelle „24 : 6 =“ auf. Sie muss auswendig gelernt haben, dass die größere Zahl immer vorn steht. Sie versteht jedoch den Inhalt oder den Sinn der Operationen nicht. Anwendungen funktionieren dementsprechend auch nicht. In der gesamten Phase war Paula sehr aufmerksam und konzentriert. Sie hat stets mitgearbeitet und versucht, mir ihre Gedankengänge zu erklären.
2.4.3 Marc
In meiner Beobachtungsphase fiel mir häufig auf, dass Marc Probleme mit der Null und teilweise mit den Überträgen hat. Daher stellte ich ihm eine Multiplikationsaufgabe, welche die Null enthielt.
Die Aufgabe lautete wie folgt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Marc hat die „schriftliche Multiplikation“ zum Berechnen der Aufgabe genutzt. Er hat die Multiplikation korrekt aufgeschrieben und weiß auch, dass er später addieren muss. Seinen ersten Fehler macht er in der dritten Zeile in Spalte vier. Hier muss er 3 x 0 rechnen. Marc errechnet als Ergebnis drei, die er notiert. In der nächsten Zeile rechnet er 4 x 2. Hier bekommt er höchstwahrscheinlich die 8 heraus. Er ergänzt von der vorherigen Multiplikation die 2 und notiert als Ergebnis die 0. Dann rechnet Marc 4 mal 0. Er macht denselben Fehler wie in der vorherigen Zeile. Er bekommt 4 heraus vergisst zudem den Übertrag. Die letzte Zeile der Multiplikation ist sehr auffällig. Marc multipliziert jede Ziffer mit der 0 und notiert als Ergebnis 9027. Im letzten Schritt möchte Marc nun die Zwischenergebnisse addieren. Ab der fünften Spalte entstehen wieder Fehler. Er addiert falsch und vergisst die aufgeschriebenen Überträge.
Ich fragte Marc, ob er mir seine Rechnung erklären könne und ob
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
[...]
1 Weltgesundheitsorganisation ICD-10, S. 338.
2 Vgl. ebd.
3 Vgl. ebd.
4 Ebd. S. 339.
5 Wehrmann, Michael 2003, S. 46.
6 Interview: Wilhelm Schipper zu Rechenstörungen, Dyskalkulie.
6 Gaidoschik, Michael 2002, S.11.
7 Vgl. ebd.
8 Vgl. ebd.
9 Mathematisches Lerntherapeutisches Zentrum.
10 Gaidoschik, Michael 2002, S.11.
11 Vgl. Lorenz, Radatz 1993.
12 Grissemann, Hans 2000, S. 8. nicht willkürlich gewählt. und verschiedene
13 Lorenz 1985 S.171
14 vgl. Lorenz, Radatz 1993
15 Grissemann 2000 S.8
16 Lorenz 1985, S. 171.
17 Grissemann, Weber 2000, S. 11.
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Vgl. Jacobs, Petermann 2005, S. 10.
21 Gaidoschik 2002, S. 14.
22 Ebd.
23 Vgl. ebd., S. 15.
24 Vgl. Gaidoschik, Michael 2002.
25 Vgl. ebd.
26 Im Sinne Pierre Bourdieus.
27 Gaidoschik, Michael 2002, S. 20.
28 Eva. Aus dem Unterricht am 7.11.2014 übernommen.
29 Gaidoschick, Michael 2002, S. 52.
- Quote paper
- Hatice Kabasakal (Author), 2014, Fernsehkonsum und Mathematikleistung. Der Zusammenhang von Rechenschwäche und außerschulischen Einflüssen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/298699
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