Daniel Everett hat mit seinen Veröffentlichungen über die Sprache und Kultur der Pirahã - einem indigenen Volk, das im Amazonasgebiet Brasiliens lebt - einige Grenzen in Frage gestellt, die davor für den Zusammenhang von Sprache und Kultur in weiten Bereichen der Linguistik angenommen wurden. In „Don't Sleep, There are Snakes“ versucht er insbesondere den starken und weitreichenden Einfluss zu verdeutlichen, den die Kultur und Umgebung der Pirahã auf ihre Sprache gehabt haben muss, bis hin zu grundlegenden grammatischen Regeln und Sprachkanälen. Einen Einfluss der Sprache auf die Kultur stellt er dabei weniger heraus. Der Sapir-Whorf-Hypothese, gemäß derer Sprache unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt formt, was wiederum unsere Kultur stark prägen dürfte, bescheinigt er sogar, ungeeignet zu sein, die meisten der sprachlichen Besonderheiten der Pirahã-Kultur zu erklären (vgl. S. 220). Was in „Don't Sleep, There are Snakes“ nur wenig thematisiert wird, ist die Möglichkeit eines direkten Einflusses, den Sprache (in einem weiten Sinn) auf die Sozialität und den Umgang der Sprecher miteinander haben könnte. Der Frage, ob sich ein solcher Einfluss zeigen lässt, möchte ich in diesem Essay nachgehen, insbesondere anhand eines Vergleichs zwischen dem Sprachkanal des Summens in der Sprache der Pirahã und dem des Flüsterns in unserer Sprache, welche z.T. dieselben Funktionen erfüllen. Die Informationen über die Sprache und Kultur der Pirahã, auf denen meine Überlegungen basieren werden, stammen allerdings ausschließlich aus Daniel Everetts „Don't Sleep, There are Snakes“, in dem wie gesagt ein etwas anderer Fokus gesetzt wird, vermutlich auch hinsichtlich der Auswahl der ethnographischen Beobachtungen, die darin berichtet werden. Dennoch lassen sich meiner Meinung nach einige interessante Aspekte insbesondere der gesummten Sprache herausstellen, die in diesem Buch noch nicht explizit thematisiert oder in Zusammenhang gebracht wurden.
Daniel Everett hat mit seinen Veröffentlichungen über die Sprache und Kultur der Pirahã - einem indigenen Volk, das im Amazonasgebiet Brasiliens lebt - einige Grenzen in Frage gestellt, die davor für den Zusammenhang von Sprache und Kultur in weiten Bereichen der Linguistik angenommen wurden. In „Don't Sleep, There are Snakes“ versucht er insbesondere den starken und weitreichenden Einfluss zu verdeutlichen, den die Kultur und Umgebung der Pirahã auf ihre Sprache gehabt haben muss, bis hin zu grundlegenden grammatischen Regeln und Sprachkanälen. Einen Einfluss der Sprache auf die Kultur stellt er dabei weniger heraus. Der Sapir-Whorf-Hypothese, gemäß derer Sprache unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt formt, was wiederum unsere Kultur stark prägen dürfte, bescheinigt er sogar, ungeeignet zu sein, die meisten der sprachlichen Besonderheiten der Pirahã-Kultur zu erklären (vgl. S. 220). Was in „Don't Sleep, There are Snakes“ nur wenig thematisiert wird, ist die Möglichkeit eines direkten Einflusses, den Sprache (in einem weiten Sinn) auf die Sozialität und den Umgang der Sprecher miteinander haben könnte. Der Frage, ob sich ein solcher Einfluss zeigen lässt, möchte ich im folgenden Essay nachgehen, insbesondere anhand eines Vergleichs zwischen dem Sprachkanal des Summens in der Sprache der Pirahã und dem des Flüsterns in unserer Sprache, welche z.T. dieselben Funktionen erfüllen. Die Informationen über die Sprache und Kultur der Pirahã, auf denen meine Überlegungen basieren werden, stammen allerdings ausschließlich aus Daniel Everetts „Don't Sleep, There are Snakes“, in dem wie gesagt ein etwas anderer Fokus gesetzt wird, vermutlich auch hinsichtlich der Auswahl der ethnographischen Beobachtungen, die darin berichtet werden. Dennoch lassen sich meiner Meinung nach einige interessante Aspekte insbesondere der gesummten Sprache herausstellen, die in diesem Buch noch nicht explizit thematisiert oder in Zusammenhang gebracht wurden.
Für viele Zusammenhänge, die man in dieser Richtung vermuten kann, lässt sich schwer zeigen, ob und warum die Kausalität nicht eigentlich nur andersherum besteht, sprich dass, wie Everett das herausstellt, eine Kultur, die das ganze Leben einer Gesellschaft umfasst, einen Einfluss sowohl auf deren Sprache, als auch auf deren Umgang miteinander hat. Oft ist man auch geneigt, eine enge wechselseitige Verbindung von Sprache, Sozialität und Kultur zu vermuten, in der sich bestimmte Kausalitäten kaum noch nachvollziehen lassen. Ein Beispiel für die Vermutung eines Einflusses der Sprache auf den Umgang miteinander wäre eine Hypothese, die besagt, dass die hohe Relevanz des relativen Status des Gegenübers in der japanischen Sprache (z.B. direkt in den Verbformen), dazu führt, dass der Status auch im Umgang miteinander unter Japanern eine größere Rolle spielt, als in anderen Sprachgemeinschaften.
Auch unter Aufweis vieler Beispiele für ein Übereinstimmen von Besonderheiten der Sprache mit Besonderheiten des Umgangs untereinander erscheint es schwer zu beweisen, dass nicht eine zumindest zum Teil von der Sprache Unabhängige Kultur, in der Status eine außergewöhnlich große Rolle spielt, sowohl das soziale Leben in Japan als auch die japanische Sprache in gleicher Weise beeinflusst hat.
Wenn man dennoch den Versuch unternehmen möchte, einen solchen Zusammenhang aufzuzeigen, ist Pirahã dafür besonders interessant. Da uns die Kultur und die Sprache von ihrer ganzen Struktur her sehr fremd sind und lange unbekannt waren, und da sich fast schon erwiesen hat, dass sich an der Sprache fundamentale Zusammenhänge mit der Kultur nachweisen lassen, bestehen vergleichsweise gute Chancen, dass sich daran, verglichen mit unserer Sprache, Einflüsse der Sprache auf die Sozialität gut herausstellen lassen, sofern es tatsächlich welche gibt.
Um einen Eindruck von der Sprache der Pirahã zu gewinnen, ist es nötig einige ihrer allgemeinen Besonderheiten zu betrachten. Die Anzahl der Phoneme in Pirahã ist so gering wie in nur wenigen anderen Sprachen. Es gibt drei Vokale (i, a, o), acht Konsonanten für Männer (p, t, k, s, h, b, g und den Stimmritzenverschlusslaut x) und sieben für Frauen (kein s, anstelle dessen ebenfalls h) (vgl. S. 178). Was bei der ohnehin sehr geringen Anzahl an Phonemen überrascht, ist, dass es für viele Wörter in Pirahã einen großen Spielraum an freier Variation der Konsonanten gibt, d.h. Konsonanten können ausgetauscht werden, ohne dass sich die Bedeutung des jeweiligen Wortes ändert (vgl. S.181). Dies ist möglich, weil Pirahã in hohem Maß eine Tonsprache ist: Es gibt zwei verschiedene für einzelne Silben bedeutungskonstitutive Tonhöhen, betonte und unbetonte Silben und mehrere Silbenlängen. Hierdurch ergibt sich für jeden Satz in Pirahã eine spezifische musikalische Form, die es ermöglicht, dass die Sprache als Ganzes auch gepfiffen oder gesummt werden kann. Außerdem kann jede Kombination an Silben verschiedene Wörter bilden, je nach Verteilung der Tonhöhen über die Silben.
Pirahã ist in vielerlei Hinsicht von der Umgebung der Pirahã sowie ihrer Kultur geprägt. Sehr wichtig für die Sprache sind die verschiedene Sprachkanäle: eine normale, eine gepfiffene, eine gesummte, eine gerufene und eine musikalische Form der Sprache, die z.T. sehr offensichtlich der Umgebung angepasst sind. Die gepfiffene Sprache ist für die Männer klar besonders gut zum Jagen geeignet, denn sie verschreckt das Wild nicht so wie tiefe Männerstimmen und bleibt über weite Strecken verständlich. Die gerufene Sprache, in der fast alle Vokale durch a ersetzt werden und alle Konsonanten durch x oder k, trägt viel weiter als normale Sprache. Man kann sich in ihr auch bei starkem Regenfall über weite Strecken verständigen, was für die Pirahã häufig praktisch, wenn nicht sogar notwendig ist. Eine „gesungene“ musikalische Form der Sprache wird u.a. auch für wichtige neue Informationen verwendet. Durch die gegenüber der normal gesprochenen Sprache größere Betonung der Tonhöhenunterschiede und der gleichzeitig reichen Satzrhythmik sowie des Einsatzes aller Phoneme, die in Pirahã vorkommen, scheint sich dieser Kanal dafür besser zu eignen. Informationen können damit langsamer und klarer übertragen werden (vgl. S. 209). Die Pirahã bilden eine Gesellschaft, deren Mitglieder häufig miteinander sprechen und daher viele Wissensinhalte miteinander teilen. Normale Kommunikation kann deshalb vergleichsweise schnell vonstattengehen, da in ihr vieles implizit bleiben kann. Everett vermutet, dass sich hieraus das Bestehen eines gesonderten Kanals für (komplexe) neue Informationen erklären lässt (vgl. ebd.).
Bei dem Kanal des Summens erscheint es auf den ersten Blick, dass sein Bestehen vor allem der generellen Verfasstheit der Sprache als Tonsprache geschuldet ist. Wie die gepfiffene und die gerufene Sprache ist sein Bestehen nur möglich, weil Tonhöhe und Rhythmik insgesamt einen so hohen bedeutungskonstitutiven Anteil in der Sprache haben. Beim Flüstern, das in unserer Sprache zum Teil ähnliche Funktionen erfüllt, wie das Summen in Pirahã, würden sich unterschiedliche Tonhöhen nicht umsetzen lassen. Deshalb ist es als Kanal für Pirahã nicht geeignet, Pirahã lässt sich nicht flüstern.
Geht man davon aus, dass dies tatsächlich der Hauptgrund ist, warum Pirahã summen statt zu flüstern, also davon, dass sich die Tonsprache Pirahã aus mehreren anderen Gründen entwickelt hat und dass sich das Summen dieser Sprache aus praktischen innersprachlichen Gründen dann als beste Möglichkeit durchgesetzt hat, um Privatheit herzustellen oder Informationen zu verschleiern, dann scheint dies ein idealer Ansatzpunkt zu sein, um einen Einfluss der Sprache auf Sozialität aufzuzeigen. Die gesummte Sprache eröffnet nämlich einige ganz andere Formen der Kommunikation als das Flüstern, die bestimmte Formen der Interaktion wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher oder vielleicht sogar unmöglich werden lassen. Umgekehrt gilt dasselbe für das Flüstern gegenüber dem Summen. Solche Unterschiede würden sich dann eindeutig auf innersprachliche Gründe zurückführen lassen.
Everett beschreibt eine Situation, in der eine Mutter ihrem Baby beim Stillen die Bilder aus einem National Geographic-Magazin in gesummter Sprache beschreibt und hin und wieder, wenn ihr Baby von der Brust zu den Bildern aufschaut, darauf zeigt und nachdrücklicher summt (vgl. S. 186).
Bei der Kommunikation der Mütter mit ihren Kindern wird die gesummte Sprache regelmäßig eingesetzt. Das hat offenbar nichts mit einer Verschleierung des Gesagten für am Gespräch unbeteiligte Personen zu tun, wofür unser Flüstern hauptsächlich eingesetzt wird, es vermittelt aber den Eindruck von Nähe und Intimität. Die Kommunikation in der gesummten Sprache, die normalerweise in sehr geringer Lautstärke geführt wird, erfordert noch größere körperliche Nähe von den Teilnehmern und Konzentration von den Zuhörern, als unser Flüstern. Im Gegensatz zum Flüstern scheinen mir beim Summen auch mehr Eigenheiten der Stimme, wie das Timbre erhalten zu bleiben, was den Kanal für persönliche Zuwendung noch geeigneter machen dürfte, als Flüstern. Allerdings spricht Everett auch davon, dass die gesummte Sprache genutzt wird, um die eigene Identität zu verschleiern (vgl. S.186). In jedem Fall eignet sich das Summen, um Nähe und Intimität zu einer Person herzustellen, auch noch aus anderen Gründen, als dass es von aus diesem Gespräch ausgeschlossenen Dritten nicht verstanden werden kann. Man könnte annehmen, dass z.B. deutschsprachige Eltern ihren Kindern Bücher deshalb nicht geflüstert vorlesen, weil diese o.g. Eigenschaften vom Flüstern so nicht erfüllt werden.
Eine ziemlich offensichtlicher, wenn auch nicht so weitreichender Einfluss der gesummten Sprache auf das soziale Leben der Pirahã zeigt sich daran, dass es bei den Pirahã keine Sitte gibt, die das Sprechen mit vollem Mund verbietet, denn dies ist mit der gesummten Sprache ohne Probleme möglich.
Anhand von Everetts Beschreibungen des Alltags und des Zusammenlebens der Pirahã lässt sich aber auch feststellen, dass einige Eigenschaften des Flüsterns in dieser Kultur gar nicht gefragt sein dürften, und dass Summen in vielerlei Hinsicht besser in die Kultur der Pirahã passt.
Flüstern unterscheidet sich vom Summen u.a. dadurch, dass weniger körperliche Nähe und Konzentration nötig ist, um es zu verstehen. Daher kann es auch innerhalb von kleinen Gruppen verstanden werden und sorgt unter diesen für die Privatheit von Gesprächen, oder wird zur Vermeidung von Störung der Aktivitäten anderer anwesender Personen eingesetzt. In einigen Situationen wird Flüstern in unserer Gesellschaft erwartet, z.B. in Anwesenheit Schlafender, in Bibliotheken und in der Oper und ggf. bei Nichteinhaltung mit Sanktionen geahndet.
Für die Pirahã ergeben sich offenbar wenig Situationen, in denen diese Art von Kommunikation vonnöten ist. Eine Privatheit, die durch Flüstern unter einer Gruppe von Menschen erreicht werden könnte, lässt sich jederzeit durch Gewinnung räumlicher Distanz erzeugen. Bei solchen Gelegenheiten gehen Pirahã in den dem Dorf angrenzenden Dschungel, oder fahren in einem Kanu etwas den Fluss herunter (vgl. S. 71). Auf Schlafende im Dorf muss von der Sprachlautstärke her offenbar auch keine Rücksicht genommen werden. Es gibt keine festen Schlafenszeiten und Pirahã schlafen nur in den seltensten Fällen mehrere Stunden am Stück, z.T. nur eine Viertelstunde lang. Pirahã wollen nur wenig und nicht zu tief schlafen, zum einen als Mittel zur Abhärtung, zum anderen um auf den Angriff durch gefährliche Tiere gefasst zu sein (vgl. S. 79). Nicht umsonst weisen sie beim Verlassen anderer Leute Häuser in einer Abschiedsformel darauf hin, dass man nicht schlafen soll, weil es Schlangen gibt. All das führt dazu, dass es kaum eine Tageszeit gibt, zu der im Dorf keine lauten Gespräche geführt werden (vgl. S. 78). Dass es eine zu unserem Flüstergebot vergleichbare Regel in Pirahã nicht gibt, zeigt sich auch an der Strukturierung von Erzählungen der Pirahã. Häufige Wiederholungen werden darin nicht nur als rhetorisches Mittel und aus ästhetischen Gründen eingesetzt, sondern auch, um den oft hohen Geräuschpegel von umgebenden Gesprächen zu berücksichtigen, in dem manche Sätze der Erzählung wahrscheinlich untergehen (vgl. S. 127). Zuletzt könnte es auch sein, dass der Ausschluss Dritter in kleineren Pirahã-Gesprächsgruppen, der durch Flüstern erreicht werden könnte, für Pirahã allgemein keine so wichtige Rolle spielt, wie für uns. Aus Everetts Sicht scheinen die Pirahã alle eng miteinander befreundet zu sein, egal aus welchem Dorf sie kommen (vgl. S. 88). Wenn sie von anderen Pirahã reden, dann immer so, als würden sie sich extrem gut kennen (vgl. ebd.). Zudem gibt es ein grundlegendes Konzept des Zusammenlebens der Pirahã (xahaigí), aufgrund dessen jeder Pirahã dem anderen wichtig ist und das zu großer Solidarität unter den Pirahã führt. Angesichts dieser Solidarität und Freundschaft lassen sich, weniger Situationen denken, in denen Dritte von der Kommunikation unter kleineren Gruppen ausgeschlossen werden müssten.
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- Quote paper
- Ingmar Ehler (Author), 2014, Summen und Flüstern. Über den Einfluss der Sprache auf Sozialität am Beispiel der Pirahã, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295741
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