Die unterschiedlichen Anschauungen und Einschätzungen zu Sadomasochismus (SM) in den heterogenen Bereichen Sexualwissenschaft, Sexualtherapie und von Menschen, die SM praktizieren, wurden in einer subjektiven Auswahl aus ca. 100 Jahren dargestellt. Auch auf Ergebnisse aus der Hirnforschung zu Lust und Schmerz wurde kurz eingegangen. Diesen Ausführungen wurden differierende Definitionen wichtiger Begriffe zu Sadomasochismus vorangestellt.
Umfangreiche Recherchen eruierten Bestrebungen der modernen wissenschaftlichen Theorien und therapeutischen Ansätze, konsensuellen Sadomasochismus und seine Praktizierenden aus der pathologischen Spezifizierung der Vergangenheit herauszunehmen und vorurteilsfrei zu erforschen. Es konnte aufgedeckt werden, dass schon Krafft-Ebing, entgegen allen recherchierten Zitationen, eine Differenzierung in Perversitäten (Laster) und Perversionen (Krankheit) unternahm.
Anschließend wurden in einer Online-Erhebung Unterschiede in den fünf Dimensionen der Persönlichkeit von Lesenden und Nicht-Lesenden des Buches „Shades of Grey“ (N = 1576) untersucht. Als Moderator wurde schon mal mit SM beschäftigt eingesetzt. Die Ergebnisse werden entweder nicht signifikant oder erreichen nach Konvention von Cohen nur kleine Werte. Die niedrigeren Werte bzgl. Neurotizismus sowohl bei den SM-Vertrauten unter den Lesenden als auch unter den Nicht-Lesenden überraschten und sollten weiter untersucht werden.
Teile aus der Studie von Brockmann (1991) wurden repliziert, mittels derer allgemein nach Meinung und Affinität zu SM gefragt wurde. Die Ergebnisse lassen eine Liberalisierung vermuten, allerdings sind Stichprobeneffekte sehr wahrscheinlich.
Auf Skalen von jeweils 1 bis 100 erreichten die SM-Frauen bei der Selbsteinschätzung des Emanzipations- und Selbstbewusstseinsgrades höhere Werte als die Vanilla - Frauen.
Unter den SM-Unerfahrenen zeigten die Auswertungen der selbst generierten Items, dass Lesende von „Shades of Grey“ signifikant mehr über SM wissen als Nicht-Lesende. Vor allem bei den negativ formulierten Items, wie z.B. „Sadomasochismus (SM) hat mit Gewalt zu tun“, zeigten die Lesenden bei mittleren Effektgrößen mehr Wissen über SM als die Nicht-Lesenden. „Shades of Grey“ regte zwar 56% der SM-unerfahrenen Lesenden an über eigene Phantasien nachzudenken, die Lust, Spielarten des SM real auszuprobieren war aber sowohl bei den Lesenden als auch bei den Nicht-Lesenden gering.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Begriffe und Theorien zu Sadomasochismus
2.1 Sadomasochismus und Bezug zum Buch
2.2 Zentrale Begriffe
2.1.1 Sexueller Sadomasochismus
2.1.2 Sexueller Sadismus
2.1.3 Sexueller Masochismus
2.1.4 BD/SM
2.1.5 Perversion/Deviation vs. Paraphilie
2.3 Stationen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle und Therapieansätze zu SM
2.3.1 Havelock Ellis (1859 – 1939)
2.3.2 Psychoanalyse
2.3.3 Gestalttherapie: Friedrich Salomon Pearls (1893 – 1970)
2.3.4 Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch (geb. 1940)
2.3.5 Hirnforschung zum Zusammenhang von Schmerz und Sex
2.3.6 Neurobiologie: LeVay (geb. 1943)
2.3.7 Therapeutische Ansätze
2.3.7.1 Verhaltenstherapie nach Arentewicz und Schorsch
2.3.7.2 Psychoanalytiker Morgenthaler (1919 – 1984)
2.3.7.3 Syndyastische Sexualtherapie nach Beier (geb. 1961) und Loewit (geb. 1958)
2.3.7.4 Affirmative Psychotherapie bei Fiedler (geb. 1945)
2.4 ICD- 10 und DSM – IV und Vorabversion ICD-10-GM
2.5 Beispiele aus der SM-Literatur
2.5.1 Pauline Rèage (1907 – 1998)
2.5.2 Sina Aline Geißler (geb. 1965)
2.5.3 Eva B. (geb. 1954)
2.5.4 www.schlagzeilen.de
2.6 Phänomen „Shades of Grey“
2.6.1 Buch und Autorin E. L. James (geb. 1963)
2.6.2 Inhalt Shades of Grey
2.7 Forschungsarbeiten zu Sadomasochismus
2.7.1 Sadomasochisten und ihre Subkulturen (Spengler, 1979)
2.7.2 Szenen und Rituale (Wetzstein, Steinmetz, Reis und Eckert, 1993)
2.7.3 Konsensueller Sadomasochismus. Eine empirische Prüfung von Bindungsstil und Sozialisationseinfluss. (Witte, Poser und Strohmeier, 2007)
2.8 Ziele der Arbeit
3 Methode
3.1 Untersuchungsaufbau
3.2 Stichprobe
3.2.1 Rekrutierung der Stichprobe
3.2.2 Beschreibung der Stichprobe
3.2.2.1 Lesende
3.2.2.2 Nicht-Lesende
3.2.2.3 SM-lerinnen
3.2.2.4 Vanillas
3.3 Untersuchungsinstrument Fragebogen
3.3.1 Kurzskalen von GESIS
3.3.1.1 Big- Five-Inventory-10 (BFI-10)
3.3.1.2 Skala Impulsives Verhalten, (I – 8)
3.3.1.3 Allgemeine Selbstwirksamkeitskurzskala (ASKU)
3.3.1.4 Skala Internale-Externale-Kontrollüberzeugung-4 (IE – 4)
3.3.1.5 Kurzskala Interpersonales Vertrauen (KUSIV3)
3.3.1.6 Skala Optimismus, Pessimismus 2 (SOP2)
3.3.2 Brokmann
3.3.3 Eigene Items zum Leseverhalten und Einstellungen bzgl. SM
3.3.3.1 Warum explorativer Fragebogenteil?
3.3.3.2 Exploration und Formulierung der Fragen
4. Ergebnisse
4.1 Auswertungen zum Buch
4.1.1 Kaufverhalten
4.1.2 Leseentscheidung
4.1.3 Buchbewertung
4.2 Hypothesen 1 und
4.2.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.2.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.2.3 Vorgehensweise zu Hypothese
4.2.4 Ergebnisse zu Hypothese
4.3 Hypothese
4.3.1 Untersuchungsinstrument zu Hypothese
4.3.2 Vorgehensweise zu Hypothese
4.3.3 Auswertungen zu Hypothese
4.3.4 Ergebnisse zu Hypothese
4.4 Hypothese
4.4.1 Auswertung zu Hypothese
4.4.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.5 Hypothese
4.5.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.5.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.6 Hypothese
4.6.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.6.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.7 Hypothese
4.7.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.7.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.8 Hypothese
4.8.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.8.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.9 Hypothese
4.9.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.9.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.10 Hypothese
4.10.1 Vorgehensweise zu Hypothese
4.10.2 Ergebnisse zu Hypothese
4.11 Auswertung zu den SM-Szenen und SM-Kontext
4.11.1 Dichotome Items
4.11.2 Intervallskalierte Items
4.12 Gab es Anregung für das eigene Sexualleben?
4.13 Klärt „Shades of Grey“ über Sadomasochismus auf oder schürtes Vorurteile?
4.14 N/SMb: Reizt es SM selbst auszuprobieren?
5 Diskussion
5.1 Theoretischer Teil
5.2 Empirischer Teil
5.2.1 Über die Stichprobe
5.2.2 Persönlichkeitsskalen
5.2.3 Brokmann
5.2.4 Selbstbewusstsein und Sadomasochismus bei Frauen
5.2.5 Generiert SoG Anregungen für das eigene Sexualleben?
5.2.6 Klärt SoG über SM auf oder schürt es Vorurteile?
5.2.7 Reaktivität des Fragebogens in Bezug auf Zufriedenheit mit der derzeit gelebten Sexualität bei allen Probanden, bei SM-lerinnen und bei Vanillas
5.3 Kritik an der Arbeit
5.4 AusblickundAnregungen für weitere Forschung
Literaturverzeichnis
Anhang A
Erweiterte Ausführungen zu Vertretern der Psychoanalyse
Textliche Darstellung zur Reaktivität des Fragebogens
Anhang B
Tabellen
Anhang C
Fragebogen
Zusammenfassung
Umfangreiche Recherchen eruierten Bestrebungen der modernen wissenschaftlichen Theorien und therapeutischen Ansätze, konsensuellen Sadomasochismus und seine Praktizierenden aus der pathologischen Spezifizierung der Vergangenheit herauszunehmen und vorurteilsfrei zu erforschen. Es konnte aufgedeckt werden, dass schon Krafft-Ebing, entgegen allen recherchierten Zitationen, eine Differenzierung in Perversitäten (Laster) und Perversionen (Krankheit) unternahm. Die Auswertungen der Persönlichkeitsskalen zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden des Buches „Shades of Grey“ anhand validierter Kurzskalen brachten entweder keine signifikanten Ergebnisse oder Ergebnisse mit nur kleinen Effekten. Die niedrigeren Werte bzgl. Neurotizismus sowohl bei den SM-Vertrauten unter den Lesenden als auch unter den Nicht-Lesenden überraschten und sollten weiter untersucht werden. Die SM-Frauen in der Studie erreichten signifikant höhere Selbstbewusstseins- und Emanzipationsgrade als die Vanilla-Frauen (Nicht-SM-Frauen). Vor allem bei den negativ formulierten Items, wie z.B. „ Sadomasochismus (SM) hat mit Gewalt zu tun“, zeigten die Lesenden bei mittleren Effektgrößen mehr Wissen über SM als die Nicht-Lesenden. „Shades of Grey“ regte zwar 56% der SM-unerfahrenen Lesenden an über eigene Phantasien nachzudenken, die Lust, Spielarten des SM real auszuprobieren war aber sowohl bei den Lesenden als auch bei den Nicht-Lesenden gering.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: SM-Utensilien: Ledermanschette, Peitschen, Seil (Quelle: eigenes Bild)
Abbildung 2: „Der Ring der O“ (Neitram, 2006)
Abbildung 3: Gruppiertes Balkendiagramm zum Item „ Wie sind Sie auf die Studie aufmerksam geworden?“ unterschieden nach Lesenden und Nicht-Lesenden in Prozent
Abbildung 4: Bildungsverteilung der Gesamtstichprobe
Abbildung 5: Altersstruktur der Befragten
Abbildung 6: Verteilung aktiv/passiv bei Frauen
Abbildung 7: Verteilung aktiv/passiv bei Männern
Abbildung 8: Geschlechtszugehörigkeit und SM-Präferenz
Abbildung 9: Mit wem leben Sie SM derzeit real aus (Frauen)?
Abbildung 10: Mit wem leben Sie SM derzeit real aus (Männer)?
Abbildung 11: Gruppiertes Balkendiagramm zum Item „ Die Sub unterwirft sich voll und ganz dem Dom“
Abbildung 12: Gruppiertes Balkendiagramm zum Item „ Praktizierter SM ist Gewalt “
Abbildung 13: Gruppiertes Balkendiagramm zum Item „ Beim SM-Spiel darf die Sub dem Dom nicht in die Augen schauen.“
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Altersstrukturvergleich Wetzstein et al. (1993) und vorliegende Studie (2013)
Tabelle 2: Mit wem leben Sie Ihre Neigung derzeit real aus? (Frauen und Männer)
Tabelle 3: Häufigkeitsverteilung über Art des Bucherwerbs
Tabelle 4: Notenvergabe unterschieden nach Frauen und Männern und Band 2 gelesen, ja oder nein
Tabelle 5: Gegenüberstellung der Selbsteinschätzung bzgl. Emanzipation und Selbstbewusstsein separiert nach SM-Frauen und Vanilla-Frauen
Tabelle 6: Mittelwerte der Einschätzungen zu den SM-Szenen im Buch, unterschieden nach „mit SM beschäftigt“ Ja und Nein
Tabelle 7: Mittelwertunterschiede zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden bei Wissensfragen zu SM und Gegenüberstellung zu Grimme: Items mit Zustimmung bei SoG und N/SoG
Tabelle 8: Mittelwertunterschiede zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden bei Wissensfragen zu SM und Gegenüberstellung zu Grimme: Items mit Zustimmung bei SoG und Ablehnung durch N/SoG
Tabelle 9: Mittelwertunterschiede zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden bei Wissensfragen zu SM und Gegenüberstellung zu Grimme: Items mit Ablehnung bei SoG und N/SoG
Tabelle 10: Mittelwertunterschiede zwischen Lesenden und Nicht-Lesendenbei Wissensfragen zu SM und Gegenüberstellung zu Grimme: Items mit Ablehnung bei SoG und N/SoG – Grimme „Ja“
Tabelle 11: N/SMb: Unterschiede in den Einstellungsfragen zu SM zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden
Tabelle 12: Gegenüberstellung ausgewählter demographischer Daten, unterschieden nach Lesenden, Nicht-Lesenden, SM-lerinnen und Vanillas
Tabelle 13: BFI – 10, Big-Five-Inventory-
Tabelle 14: I – 8, Skala Impulsives-Verhalten-
Tabelle 15: ASKU, Allgemeine Selbstwirksamkeit Kurzskala
Tabelle 16: IE – 4, Internale-Externale-Kontrollüberzeugung-
Tabelle 17: KUSIV3, Kurzskala Interpersonales Vertrauen
Tabelle 18: SOP2 Skala Optimismus – Pessimismus
Tabelle 19: Mittelwerte der Skalen BFI-10, I-8, ASKU, IE-4, KUSIV3 und Optibei Lesenden und Nicht-Lesenden
Tabelle 20: Mittelwertvergleiche von Lesenden und Nicht-Lesenden bzgl. ausgewählter Persönlichkeitsskalen unterschieden nach „mit SM beschäftigt“(ja oder nein)
Tabelle 21: Prozentuale Häufigkeitsverteilung zwischen Lesenden, Nichtlesenden und Brokmann (1993) bzgl. Bewertung von weichem Sadomasochismus als pervers
Tabelle 22: Prozentuale Häufigkeitsverteilung zwischen Lesenden, Nicht-Lesenden und Brokmann (1993) bzgl. Bewertung von hartem Sadomasochismus als pervers
Tabelle 23: Ja-Antworten in Prozent bei Lesenden und Nicht-Lesenden der Items
bei Brokmann (1993)
Tabelle 24: Kreuztabelle SoG * Lesende und Genus: Beobachtete und erwartete
Häufigkeiten
Tabelle 25: Erinnerte Gefühle bei den SM-Szenen, separiert nach Frauen und Männern
Tabelle 26: Mittelwertevergleich von SM-lerinnen und Vanillas bzgl. verschiedener Einstellungsfragen zu SoG, p <
Tabelle 27: Ja-Antworten auf verschiedene Items unterschieden nach Vanillas und SM-lerinnen
Tabelle 28: Gegenüberstellung der Ja-Antworten der SM-Beschäftigten, SM- Unvertrauten und von Grimme
Tabelle 29: Mittelwertvergleich zwischen SM-Vertrauten und SM-Unvertrauten bzgl. der Einschätzungen der SM-Szenen
Tabelle 30: Antworten zu den gefühlsmäßigen Einschätzungen der SM-Szenen unterschieden nach „mit SM beschäftigt“ (ja oder nein)
Tabelle 31: Ja-Antworten bei den Items über Anregungen bzgl. Sexualität, ausgelöst durch Lesen von SoG nach erinnerter Selbsteinschätzung
Tabelle 32: Demographische Daten der N/SMb
Tabelle 33: N/SMb: Unterschiede in Bezug auf Wissen über SM unterschieden nach Lesenden und Nicht-Lesenden
Tabelle 34: Reaktivität des Fragebogens bei allen Probanden
Tabelle 35: Reaktivität des Fragebogens bei den Vanillas
1 Einleitung
2012 machte die Buchtrilogie „Shades of Grey“ Schlagzeilen. Band 1 erklomm in kürzester Zeit die Bestsellerlisten. Allein im deutschsprachigen Raum wurden 6,8 Millionen Exemplare der Trilogie, die aus den Titeln „Shades of Grey – Geheimes Verlangen“, „Shades of Grey – Gefährliche Liebe“ und Shades of Grey – Befreite Lust“ besteht, verkauft (Pressestelle Randomhaus, persönl. Mitteilung, 28.08.2013). Für das Buch wurde aggressiv mit den beinhalteten sadomasochistischen Szenen geworben. In der Time (Luscombe, 2012) schaffte es die Autorin E. L. James auf die Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt mit der Begründung, dass die Frauen des Landes durch das Lesen des Buches „in eine bebende Woge der Begierde“ (Steinlein, 2012, S. 1) verwandelt würden. Es wird eine hauptsächlich weibliche Leserschaft vermutet (ebda).
In vielen Facetten wurde im Zusammenhang mit diesem Buch über das Thema Sadomasochismus (SM), sei es in Talkshows wie z.B. Markus Lanz oder in Zeitungen wie z.B. in der Frankfurter Rundschau am 23. Oktober 2012 (Moll, 2012) und Zeitschriften, wie z.B. bei Spiegel online am 06. Juli 2012 (Haeming, 2012) und am 31. Juli 2012 (Backhaus, 2012) und bei Focus-Online, 09. Juli 2012 (Steinlein, 2012), diskutiert. Es wurden Insider wie Matthias Grimme[1], aber auch Psychologen und Soziologen zum Buch, zur Leserschaft und zu ihren Erklärungen bzgl. des großen Interesses interviewt. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Buch und seiner Leserschaft gibt es nicht (Pressestelle Goldmann-Verlag, persönl. Mitteilung, 04.02.2013). Das Unverständnis über diesen Hype regte die Autorin zu vorliegender Arbeit an.
Umfangreiche Recherchen in der sexualpsychologischen und -medizinischen Fachliteratur ergaben, dass publizierende Sexualforscher und –therapeuten heute um eine neutrale Sprache und Differenzierung in Bezug auf Sadomasochismus bemüht sind und sich von der meist gängigen Pathologisierung vergangener Tage distanzieren. Dennoch ist Sadomasochismus nach wie vor gleichwertig mit Pädophilie im ICD-10 und auch im Vordruck des ICD-10-GM unter Störungen der Sexualpräferenz gelistet. Bei der Recherche unter SM-Praktizierenden entstand der Eindruck, dass nach wie vor fast ausschließlich die psychoanalytische Sichtweise zu SM mit wissenschaftlichem Kenntnisstand gleichgesetzt wird. Deren Pathologisierung hat bei vielen Anhängern des konsensuellen (einvernehm-lichen) SM eine große Skepsis gegenüber der Wissenschaft erzeugt, die erst überwunden werden muss, will man sie für Studien gewinnen.
Diese Diskrepanzen sind Anlass dafür im theoretischen Teil dieser Arbeit die unterschiedlichen Theorien subjektiv ausgewählter Sexualwissenschaftler und -therapeuten der letzten ca. 100 Jahre zu SM ausführlich den Sichtweisen von Menschen, die konsensuellen Sadomasochismus praktizieren, gegenüber zu stellen. Immer wieder zitiert werden der Psychotherapeut und Hochschulprofessor Fiedler (geb. 1945) und der Gründer der deutschen Sexualforschung Sigusch (geb. 1940). Fiedler (2004) prägte neue Begriffe zur Differenzierung von Sadomasochismus (in einvernehmlichen und gefährlichen) und Sigusch (2005) plädiert dafür den belasteten Begriff der Perversion, der nach wie vor im Paradigma der Psychoanalyse gebräuchlich ist, durch Neosexualität zu ersetzen. Als Beispiele für Szene-Publikationen werden die Bücher „Geschichte der O“ (Reage, 1954/1994), „Lust an der Unterwerfung“ (Geißler, 1990) und die beiden Bücher „Mit dem Schmerz gehör ich dir“ und „Ich trage Striemen wie andere Frauen ihren Ehering“ von Eva B. (2007/2009a, 2009b) vorgestellt. Ebenso wird die Plattform www.schlagzeilen.de besprochen und relevante Begriffe zum Thema SM erklärt.
Exemplarisch für Feldstudien unter Menschen, die sadomasochistische Praktiken in ihr Leben integriert haben, werden die Arbeiten von Spengler (1979), Wetzstein, Steinmetz, Reis und Eckert (1993) und Witte, Poser und Strohmeier (2007) beschrieben.
Im empirischen Teil soll mittels eines Fragebogens, der aus validierten Persönlichkeitsskalen, Auszügen einer wöchentlichen Blitzumfrage zum Thema Perversion aus den Jahren 1991/92 und einem selbst erstellten explorativen Fragenkatalog besteht, untersucht werden, ob sich Lesende von „Shades of Grey“ (SoG) in wichtigen Persönlichkeitsmerkmalen, Einstellungen zur Sexualität und in ihrer Einschätzung und ihrem Wissen über Sadomasochismus von Nicht-Lesenden unterscheiden.
2 Begriffe und Theorien zu Sadomasochismus
Sexualität „unterliegt einer ständigen kulturellen Umwertung, sozialen Umschreibung und gesellschaftlicher Transformation“ schreibt Sigusch (2005, S. 27). Dabei geht es ausgesprochen oder unausgesprochen immer auch um die Fragen: Was ist normal? Was ist krank? Was ist kriminell? Was muss therapiert werden? Die Antworten auf diese Fragen sind – kulturell und historisch bedingt – immer unterschiedlich beantwortet worden. „Je strikter die Moral [einer Kultur], desto (quantitativ) umfangreicher und (qualitativ) bedeutsamer ist das Problem der Perversion“ (Schorsch, 1975/1980, S. 121).
2.1 Sadomasochismus und Bezug zu „Shades of Grey“
Was in einer Gesellschaft als normal oder nicht normal, als psychisch gestört oder krank betrachtet wird, ist größtenteils von Sexualwissenschaft, Psychiatrie und Psychologie abhängig, schreibt Fiedler (2010). In den letzten Jahren haben sich neben den psychoanalytischen Theorien bezüglich Sadomasochismus auch liberalere entwickelt. In der breiten Öffentlichkeit scheinen die psychoanalytischen Theorien mit ihren Begriffen „pervers“ bzw. „Perversion“ große Verbreitung gefunden zu haben (Fiedler, 2004). Inwieweit sind die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse und Sichtweisen zu SM bei Menschen, die sich noch nie mit SM beschäftigt haben, angekommen bzw. mit ihnen kongruent? Es soll der Frage nachgegangen werden, ob ein Buch wie „Shades of Grey“ eher Vorurteile zu SM nährt oder über SM aufklärt. Wer sind die Lesenden? Werden durch das Buch Wünsche und Bedürfnisse geweckt? Reicht ein Fragebogen zum Thema SM aus, um Begehrlichkeiten zu wecken und/oder bewusst zu machen? Die Reaktivität des Fragebogens wurde deshalb überprüft. Liefert eine Studie Hinweise, dass veränderte Einstellungen angekommen sind oder eher überschätzt werden? Marneros berichtet in seinem Geleitwort zu Fiedler (2004) von extremen Überschätzungen (Schätzung: 500 -10.000 gegenüber 25 - 47 tatsächlichen pro Jahr) seitens seiner Studenten in Bezug auf die Häufigkeit von sexuell motivierten Tötungen durch deren Aufbauschen in der Presse (Fiedler, 2004, S. IX f.). Könnte es sich bzgl. SM ebenso verhalten?
Auf Grund der Tatsache, dass die überwiegende Anzahl der Befragten Frauen sind und um eine leichtere Lesbarkeit zu erreichen, wird in dieser Arbeit das generalisierte Femininum benutzt, wenn eine genderneutrale Sprache nicht möglich oder sehr umständlich in der Formulierung ist. Beim generalisierten Femininum sind immer Frauen und Männer gemeint, außer es wird explizit anderes beschrieben (zum Vergleich: Fischer & Wolf, 2009 und Haerdle, 2013). Diese Vorgehensweise schien gerade im Zusammenhang mit dem Thema weiblicher Masochismus adäquat.
2.2 Zentrale Begriffe
Die für diese Arbeit relevanten Begriffe sexueller Sadomasochismus bzw. sexueller Sadismus und sexueller Masochismus und Perversion/Deviation bedürfen einer Erklärung. Vielfältige Begriffserklärungen und Bedeutungsinhalte, die je nach Informationsquelle sehr divergieren, verhindern, dass ein einheitliches psychologisches Bild elaboriert werden kann und werden deshalb parallel dargestellt.
2.2.1 Sexueller Sadomasochismus
Häufig wird in sexualwissenschaftlichen und sexualtherapeutischen Auslassungen keine Unterscheidung zwischen konsensuellem[2] und nicht konsensuellem SM getroffen und es bleibt unklar, vorauf sich die Ausführungen jeweils beziehen. Darauf weist auch Fiedler (2004) kritisierend hin.
Beide Begriffe (Sadismus und Masochismus) gehen auf den deutschen Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing (1840 – 1902) zurück, der sie in seinem Buch „Psychopathia sexualis“ (1886) erstmals vorstellt. Krafft-Ebing entwickelte seine Theorie auf einer vergleichsweise kleinen Anzahl von meist schweren klinischen Fällen (Sulloway, 1982). Vor Krafft-Ebing wurden sadomasochistische Abweichungen als medizinische Kuriosität betrachtet, aber nicht als pathologisch, berichten Passig und Strübel (2004). Krafft-Ebing wird immer ohne Unterscheidung zwischen einvernehmlichen und nicht-einvernehmlichen sadistisch-masochistischen Akten zitiert. Auf seinen Ausführungen beruhen die Kategorisierungen des ICD-10, die Vorabversion ICD-10-GM als auch des DSM-IV und lange Zeit die Geschichte der Psychiatrie, Psychologie und Therapie zu diesem Thema. Liest man im Original nach, findet man folgende Ausführungen:
P e r v e r s i o n des Geschlechtstriebes ist, wie sich unten ergeben wird, nicht zu verwechseln mit P e r v e r s i tät geschlechtlichen Handelns, denn dieses kann auch durch nicht psychopathologische Bedingungen hervorgerufen sein. Die konkrete perverse Handlung, so monströs sie auch sein mag, ist klinisch nicht entscheidend. Um zwischen Krankheit (Perversion) und Laster (Perversität) unterscheiden zu können, muss auf die Gesamtpersönlichkeit des Handelnden und auf die Triebfeder seines perversen Handelns zurückgegangen werden. Darin liegt der Schlüssel der Diagnostik. (Krafft-Ebing, 1912/1984, I, S. 68)
Im Dorsch wird Sadomasochismus als „Zusammenspiel von Sadismus und Masochismus als Ziel sexueller Befriedigung im gleichen Individuum“ (1999) beschrieben. Allerdings will Dorsch nur ausgeprägte Formen so benannt wissen, da nach Freud (vergl. polymorph-pervers) beide Triebformen in Maßen im Menschen angelegt sind.
Im BD/SM Lexikon von Stein und Marino (2005) werden Komponenten in der Beschreibung von SM angeführt, die in den wissenschaftlichen Büchern keine Erwähnung finden. Es entsteht der Eindruck, als ob von zwei verschiedenen Phänomenen die Rede ist:
Bei allen SM-Praktiken (besonders natürlich bei den härteren) ist es ein absolutes Muss, dass der dominante Partner[3], also die Domina bzw. der Dominus jederzeit die Kontrolle über die Situation behält. Er/sie muss die körperlichen und geistigen Grenzen ihres Sklaven/ihrer Sklavia[4] genau einschätzen können und sich an diese Limits halten. Er/sie darf vor allem niemals eine Situation kreieren, die zu ernster Gefahr für Leib und Leben des devoten Partners führen kann. (Stein & Marino, 2005, S. 153)
Die Verantwortung des dominanten Parts wird immer wieder betont. An anderer Stelle heißt es „wer einem anderen bewusst Qual oder Schmerz zufügt, muss auch wissen, wann Schluss ist“ (Stein & Marino, 2005, S. 156). Auf der Basis von Vertrauen begibt sich die Sub freiwillig in die Position der Machtlosigkeit und soll auf diese Weise in die Lage versetzt werden Katharsis erleben zu können. „Der Reiz der Unterwerfung beginnt im Kopf“ (Stein & Marino, 2005, S. 156). Oberstes Gebot in der SM-Szene ist safe, sane, consensual and fun, was soviel bedeutet wie sicher, mit gesundem Menschenverstand, einvernehmlich (alles Andere ist Vergewaltigung) und mit Spaß, Lust, Genuss und Zufriedenheit (Grimme, 1996/2012). „Alles, was dem nicht entspricht, ist kein SM“ (ebda, S. 28). Laut Grimme geht es im real erlebten SM in erster Linie um Liebe, Fürsorge und erotische Vorstellungskraft – um Gefühl und Verstand – und nicht um Genitalien (vergl. Sigusch, 2005).
2.2.2 Sexueller Sadismus
Krafft-Ebing definiert Sadismus als „Verbindung von aktiver Grausamkeit und Gewalttätigkeit mit Wollust“ (1886/1984, S. 69), sieht aber fließende Übergänge von noch normalen Äußerungen des Geschlechtslebens bis hin „zu den monströsesten Akten der Vernichtung des Lebens“ (ebda). Er führt zum Begriff Sadismus in der Fußnote aus, dass er auf den berüchtigten Marquis de Sade (1740–1814) zurückgehe, „dessen obszöne Romane von Wollust und Grausamkeit triefen“, (ebda) und in der französischen Literatur eingebürgert sei.
Im Wörterbuch zur Psychologie von Drever und Fröhlich wird Sadismus als „eine Form der sexuellen Perversion [definiert], bei dem durch den einem Mitmenschen zugefügten Schmerz sexuelle Lustgefühle oder Befriedigung erzielt wird“ (1968, S. 203). Sadistischem Handeln wird ein aggressiver Impuls attribuiert. (Drever & Fröhlich, 1968).
Im Pschyrembel (1986) wird unter Sadismus „Neigung oder Praxis, sexuelle Erregung durch Demütigung, Fesselung oder Züchtigung des Partners zu gewinnen“ verstanden. Es wird die Unterscheidung getroffen zwischen Sadismus mit Einverständnis oder gegen den Willen der Partnerin, was dann als Körperverletzung definiert ist.
Im Fremdwörterbuch des Dudens lassen sich unter Sadismus zwei Definitionen finden. Zum einen wird er beschrieben „als Veranlagung, beim Quälen anderer zu sexueller Lust zu gelangen“ zum anderen als „Lust am Quälen, an Grausamkeiten“ (Duden, 2007).
Um eine deutliche Unterscheidung bemüht, führte Fiedler folgende zwei Begriffe ein:
- inklinierender Sadismus (lat. inclinare: sich zuneigen)
(konsensuelle Spielarten des Sadismus)
- periculärer Sadismus (lat. periculosus: gefährlich, riskant)
(gefährlicher und/oder delinquenter Sadismus)
2.2.3 Sexueller Masochismus
Krafft-Ebing leitete den Begriff vom Namen des österreichischen Schriftstellers Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836 – 1895) ab, der in seiner Novelle „Venus im Pelz“ (1870) die Geschichte eines Mannes erzählt, der auf seinen Wunsch hin von einer Frau zu ihrem Sklaven erzogen wird. Sacher-Masoch war damals ein hoch angesehener und erfolgreicher Schriftsteller. Seine Einwände gegen diese Bezeichnung blieben erfolglos (Sacher-Masoch, 1980). „Ja, … [Sacher-Masoch] war empört, seine persönlichen erotischen Vorlieben in eine diagnostische Kategorie verwandelt zu sehen“ (Wetzstein et al., 1993, S. 10).
Im Pschyrembel von 1986 findet sich folgender Eintrag: „ Masochismus (Leopold von Sacher-Masoch, Schriftsteller, 1835-1895): wollüstige Erregung bei Misshandlung (z.B. Flagellation[5] )“.
Unter Masochismus wird im Fremdwörterbuch des Dudens von 2007 „das Empfinden von sexueller Erregung durch Erleiden von körperlichen oder seelischen Misshandlungen“ beschrieben.
Für Geißler (die sich als Masochistin outete) ist Masochismus eine Lebensform und jeder Mensch füllt diesen Begriff je nach seiner Individualität mit spezifischen Wünschen und Bedürfnissen. „Der Begriff kann ebenso die Lust nach absoluter Unterwerfung bezeichnen wie das Bedürfnis, sich im klar abgegrenzten Bereich der Sexualität devot zu verhalten, er kann die Lust am körperlichen Schmerz meinen wie das Verlangen nach seelischer Demütigung“ (Geißler, 1991, S. 11).
Fiedler (2004) prägt für den sexuellen, einvernehmlichen Masochismus, der auf sexuelle Erregung und Befriedigung abzielt und eines konkreten Partners bedarf, die Bezeichnung inklinierenden Masochismus und folgt damit einem Vorschlag von Umann aus dem Jahr 2003. Damit grenzt Fiedler Masochismus von dependenten Persönlichkeitsstörungen, selbstverletzendem Verhalten und Unterwürfigkeitsneigungen nichtsexueller Art ab.
2.2.4 BD/SM
In der Szene bzw. Subkultur der Sadomasochisten hat sich das Akronym BD/SM oder BDSM durchgesetzt. Es setzt sich aus den englischen Begriffen B ondage, D iscipline, D omination, S ubmission, S adism und M asochism zusammen. Damit soll die gesamte Bandbreite sadomasochistischer Erfahrungsmöglichkeiten erfasst werden und nicht nur SM (Stein & Marino, 2005). Dennoch wird auch innerhalb der Subkultur gern verkürzt von SM gesprochen, auch wenn BD/SM gemeint ist. Dies soll auch für diese Arbeit gelten.
2.2.5 Perversion/Deviation vs. Paraphilie
Perversion ist der Begriff für abweichendes Sexualverhalten, das vor allem im psychoanalytischen Paradigma Verwendung findet. Dieser zur damaligen Zeit (1905) übliche Begriff im psychiatrischen und juristischen Kontext für alle sexuellen Abweichungen (z. B. Masturbation und Homosexualität) wurde von Freud übernommen, obwohl er innerhalb dieser Abweichungen zwischen psychisch gesund und krank unterschied (Fiedler, 2004).
Das Fremdwörterbuch von Duden definiert Perversion als „von einer gesetzten Norm in erheblichem Maß abweichendes Verhalten“ (2007).
Nach Dorsch (2009) bezeichnete Perversion im 19. Jahrhundert falsches verdrehtes oder schädliches Sexualverhalten. Diese abwertende Konnotation ist heute nicht mehr adäquat, da es kein „richtiges“ Sexualverhalten gäbe (ebda).
In seinem etwas anderen Glossar Mundus sexualis definiert Sigusch (2005) Perversion folgendermaßen: „Der Name einer sexuellen Perversion, die keine Krankheit ist, sei sexuelle Obsession oder Neosexualität“ (S. 194).
Im BD/SM Handbuch wird ausgeführt, dass unter Perversion eine krankhafte Abweichung vom Normalen verstanden und BD/SM von Unwissenden auch als pervers eingestuft wird, weil es fälschlicherweise mit sinnloser Gewalt gleichgesetzt wird (Stein & Marino, 2005).
Für Deviation ist im Fremdwörterbuch von Duden nur das Wort „Abweichung“ zu finden (2007). Auch bei Stein und Marino (2005) wird Devianz als „von den gesellschaftlichen Normen abweichendes Sexualverhalten bezeichnet“. Der Begriff Devianz wird hier nicht als so extrem und negativ betrachtet, wie das Wort Perversion.
Um eine neutralere Perspektive zu demonstrieren sind viele Wissenschaftler dazu übergegangen, den Begriff der Perversion durch Paraphilie zu ersetzen (Fiedler, 2004). Paraphilie leitet sich aus den griechischen Wörtern para = abseits, neben und philia = Freundschaft, Liebe ab. Bezeichnet werden damit von der gesellschaftlichen Norm abweichende sexuelle Präferenzen (Fiedler, 2004).
Laut Fremdwörterbuch von Duden versteht man unter Paraphilie eine „Verhaltensweise, die von der Form der von einer bestimmten Gesellschaft als normal angesehenen sexuellen Beziehung oder Betätigung abweicht“ (2007)
2.3 Stationen wissenschaftlicher Erklärungsmodelle und Therapieansätze
Die sehr unterschiedlichen Sichtweisen und Theorien über Sadomasochismus machen es notwendig subjektiv ausgewählte Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Paradigmen der letzten 100 Jahre zu Wort kommen zu lassen. Zunächst soll Ellis vorgestellt werden, von dem das Zitat am Anfang der Arbeit stammt. Psychoanalyse, Gestalt- und Verhaltenstherapie finden ebenso Erwähnung wie Neurobiologie und Hirnforschung. Ebenso wird eine Auswahl therapeutischer Ansätzen vorgestellt.
2.3.1 Havelock Ellis
Für den britischen Arzt Havelock Ellis (1859 – 1939) sind Sadismus und Masochismus zwei Ausprägungen desselben Phänomens. Als Überhöhung des natürlichen Verhältnisses von Frau (Masochistin) und Mann (Sadist) ziehen beide innerhalb des sexuellen Kontextes daraus Befriedigung. Nach Ellis muss zunächst der Mann durch courtship (Ellis, 1903/1942, Volume II, p. 68) die Frau erobern, sie dazu bringen, dass sie sich auf ihn einlassen will. Ellis akzentuiert, dass dem Sadomasochisten nicht Grausamkeit, sondern der Schmerz Lust bereitet. Der Schmerz soll liebevoll verabreicht werden, was sowohl für den Sadisten als auch für die Masochistin entscheidend sei. Als Erklärung nennt Ellis den Schmerz als ein sehr wirksames Mittel um starke Emotionen hervorzurufen. Schon in der Überschrift des Kapitels Love and Pain (Ellis, 1903/1942, Volume II, p. 66) ist zu sehen, dass Ellis Lust am Schmerz deutlich von Gewalttätigkeit abgrenzt.
2.3.2 Psychoanalyse
Die psychoanalytische Sichtweise zur Sexualität des Menschen fand bald weite Verbreitung und trug einerseits zur Liberalisierung der Sexualerziehung bei, andererseits förderte sie auch die Stigmatisierung der Menschen, die sexuell abweichende Bedürfnisse zeigten (Fiedler, 2004). Ihre Vorlieben wurden psychoanalytisch als Perversion (lat. pervers = verdreht) bezeichnet, sie selbst als Perverse. Die Ausgrenzung schloss teilweise ihre Familien mit ein, die häufig für die vermeintlich fehlgeleitete Entwicklung verantwortlich gemacht wurden (Fiedler, 2004). Aus diesem Grund werden die Anschauungen und Einschätzungen des psychoanalytischen Paradigmas zu Sadomasochismus in Anhang A ausführlicher anhand fünf ihrer Repräsentanten dargestellt.
2.3.3 Gestalttherapeut Friedrich Salomon Pearls (1893 – 1970)
Pearls (1951/2006) vertritt die Ansicht, dass ohne Aggression die Liebe kontaktlos wird und stagniert. Für ihn ist das Zerstören das Mittel der Erneuerung. Gleichzeitig sieht er in der Aggression des Sadisten ein Mittel sich selbst von der Last unterdrückter Begehrlichkeiten zu befreien. Je rigider seine Unterdrückung desto heftiger sein Agieren im Außen. Erleichterung erfährt er durch diese Entlastung des Selbst. „In dem Maße, in dem das Selbst irgendein Bild seiner Selbst im Außen findet, entsteht rigider Sadismus“ (Pearls, 1951/2006, S. 177). Der Masochist wiederum sehnt sich gemäß Pearls nach der Abgabe von Verantwortung für unterdrückte und selbst verurteilte Triebe und erfährt durch den äußeren Zwang durch den Sadisten Erleichterung (ebda).
2.3.4 Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch (geb. 1940)
Während Freud die Perversion als „Negativ der Neurose“ (vergl. Freud, 1905/2010, S. 122) bezeichnet, nennt Sigusch, der als Pionier der deutschen Sexualmedizin gilt, die Perversion das Positiv der Normalität und definiert Perversion damit als eine Betonung oder Überhöhung der Normalität. „Vom Perversen werden sexuelle Wünsche in Handlungen umgesetzt, die der Normale nur phantasiert oder gar nicht ins Bewusstsein dringen lässt“ (Sigusch, 2005, S. 83). Für Sigusch sind die neuen Sexualformen, die seiner Ansicht nach mehr mit Liebe (Selbstliebe und Beziehungsliebe) verbunden sind, nicht deckungsgleich mit den früheren Perversionen. Er kreierte dafür das Wort Neosexualitäten, wozu er auch Sadomasochismus zählt. Als Begründung führt er an, dass das triebhaft Sexuelle im alten Sinn nicht mehr im Vordergrund steht. Sie sind zugleich sexuell und nonsexuell [die Neosexualitäten], weil Selbstwertgefühl, Befriedigung und Homöostase nicht nur aus der Mystifikation der Triebliebe und dem Phantasma der orgastischen Verschmelzung beim Geschlechtsverkehr gezogen werden, sondern ebenso oder stärker aus dem Thrill, der mit der nonsexuellen Selbstpreisgabe und der narzisstischen Selbsterfindung einhergeht. (Sigusch, 2005, S. 37)
Sigusch (2005) sieht die Gründe für diese Bedürfnisveränderung in den Herausforderungen des Alltags mit seinen strengen Restriktionen und in der Befreiung des Sexualaktes als reinen Reproduktionsakt. Menschen suchen in der Sexualität einen Bereich, in dem sie sich ohne Gängelung ausleben und befreit ausprobieren können (ebda).
2.3.5 Hirnforschung zum Zusammenhang von Schmerz und Sex
Bei allen psychologischen Theorien und Erklärungen bleibt die Frage von Ellis (1903) nach der Verbindung von Liebe und Schmerz unbeantwortet. Warum lassen sich Menschen freiwillig Schmerzen, die per definitionem unangenehme Sinnes- und Gefühlserlebnisse (Schmidt, 1936/1987) sind, zufügen? Bolz (1992) findet Erklärungen zumindest für den Zusammenhang von Schmerz und Sex im Schmerzverarbeitungssystem des menschlichen Gehirns und in den Funktionen der endogenen Opiate, die sowohl physiologische Prozesse beeinflussen, als auch die Komponenten Schmerzwahrnehmung, -empfindung, -bewertung und -toleranz steuern. Auf diese Weise kann Schmerz entweder gar nicht ins Bewusstsein gelangen oder als sexueller Reiz umgedeutet werden (Bolz, 1992).
Dafür verantwortlich sind die endogenen Opiate (Endorphine und Enkephaline), der Neurotransmitter Serotonin und ein Neuropeptid namens Substanz P, die bei sexueller Aktivität in hohen Mengen freigesetzt werden (vergl. Bolz, 1992, S. 132 ff.). Im palaeospinothalamischen System, durch welches dumpfer Schmerz verarbeitet wird, ist das zentrale Höhlengrau (PAG[6] ) bei sexueller Aktivität in der Lage den Schmerz zu unterdrücken. Gleichzeitig kann durch eine Reizung des PAG, die wie Belohnung wirkt, sexuelle Aktivität ausgelöst werden, wie Komisaruk in seinen Experimenten nachwies (Bolz, 1992). Somit werden die negativen Gefühle wie Angst, Fluchtwunsch oder Zorn, die gern auf dumpfen Schmerz folgen, vom limbischen System und medialem Thalamus nicht aktiviert, sondern sogar als lustvoll erlebt. Im SM-Kontext ist es üblich neben dem Schmerzreiz, z.B. mit der Peitsche, parallel sexuelle Stimulation anzubieten. „Zur `normalen` sexuellen Stimulierung kommt also bei sadomasochistischen Praktiken die nozizeptive Stimulation hinzu. Das endogene Opiatsystem wird dementsprechend doppelt stimuliert“ (Bolz, 1992, S. 138). Diese Ausführungen erinnern an Witte, Poser und Strohmeier und ihrer Idee von unterschiedlich hohen optimalen Erregungsniveaus (Sensation Seeking) zwischen SM- und Vanilla-Paaren (vergl. Witte et al., 2007).
2.3.6 Neurobiologe LeVay (geb. 1943)
LeVay unterscheidet zwischen der Verhaltens- und der Gefühlsebene. Beide müssen nicht unbedingt übereinstimmen. Die Verhaltensebene kann jedoch stark von moralischen Vorgaben beeinflusst sein. „Das tatsächliche menschliche Sexualverhalten stimmt nicht mit den von der öffentlichen Moral, der Religion oder dem Gesetz vorgeschriebenen Normen überein“ (LeVay, 1994, S. 150). Für LeVay ist die gefühlsmäßige Sexualität signifikanter, tief greifender und stabiler als das Verhalten. LeVay, als überzeugter Neurobiologe, will ein Verständnis der Sexualität als zellulären Prozess vermitteln. Der Hypothalamus ist maßgeblich für sexuelles Verhalten und für die Gefühle verantwortlich. LeVay vertritt die Auffassung, dass hauptsächlich genetische Veranlagung eine Rolle spielt und der Einfluss der Erziehung nur bescheiden ist.
2.3.7 Therapeutische Ansätze
Beispielhaft sollen im Folgenden die Therapieansätze der Verhaltenstherapeuten Arentewicz und Schorsch aus dem Jahr 1980, des Psychoanalytikers Morgenthaler aus dem Jahr 1984, der Syndyastische Sexualtherapieansatz von Beier und Loewit aus den Jahren 2004/2011 und die affirmative Psychotherapie, wie Fiedler (2004) sie ausführt, dargestellt werden.
2.3.7.1 Verhaltenstherapie nach Arentewicz und Schorsch
Gemäß dem Grundsatz der Verhaltenstherapie wird davon ausgegangen, dass Perversionen erlerntes Verhalten sind. Arentewicz und Schorsch (1980) beziehen sich unter anderem auf die lerntheoretischen Erklärungsansätze von McGuire et al. bzgl. der Genese von Perversionen Für McGuire et al. ist die Ausbildung einer sexuellen Perversion das Ergebnis einer Lernerfahrung (Prägung) nach den Modellen der klassischen bzw. operanten Konditionierung. So kann ein zunächst neutraler Reiz, der temporär mit sexueller Erregung zusammenfällt und in Masturbationsphantasien erinnert und immer wieder neu erlebt wird, zu einem sexuellen Reiz führen (Arentewicz & Schorsch, 1980). Nach ihrer Theorie geht jeder Perversion eine lange Masturbationserfahrung voraus. Da Frauen, laut McGuire, nicht masturbieren, ist das die Erklärung für das völlige Fehlen von sexueller Perversion bei Frauen. Die Therapieansätze leiten sich von diesen Überlegungen ab. So versucht Watson 1913 im Sinn der klassischen Konditionierung den sexuellen Reiz mit negativen Erfahrungen (z. B. Elektroschocks) zu koppeln, so dass dieser verhindert wird (Arentewicz & Schorsch, 1980). Die klassischen Methoden der Verhaltenstherapie, die systematische Desensibilisierung und das Selbstbehauptungstraining, werden nur selten angewendet. Bis 1980 war die Aversionstherapie üblich, in der der erregende Reiz entweder mit Ekel oder mit Schmerz gekoppelt wurde. Als beliebte Methode setzte sich immer mehr Covert sensitization durch. Hier liegt die Verantwortung für die negative Verknüpfung mit dem einst lustvoll erregenden Reiz beim Patienten. Durch Visualisierung sollten neue Verknüpfungen, jetzt negativer Art, erreicht werden. Vor allem McGuire wandte diese Technik im Zusammenhang mit Masturbation an, wobei er allerdings keine negativen, sondern „gerade noch stimulierende nichtperverse Inhalte“ (Arentewicz & Schorsch, 1980, S. 231) verwendete. So sollte eine allmähliche Umkonditionierung erfolgen.
2.3.7.2 Psychoanalytiker Morgenthaler (1919 – 1984)
Der Schweizer Psychoanalytiker und Künstler Morgenthaler beschreibt Perversionen als sexuelle Erlebnisweisen, die sich nur graduell von noch normal unterscheiden, aber dennoch als befremdlich gelten. Die Ursache dafür sieht er in der Unterdrückung des polymorph-perversen Charakters (vergl. Freud) des menschlichen Sexuallebens durch die Gesellschaft, die Anspruch auf ein ideologisches Moralmonopol vorgibt. Etwas als pervers zu titulieren, beschreibt Morgenthaler als Distanzierung, Abgrenzung und in gewisser Weise auch als verlogen. Dieses Vorgehen soll nach Morgenthaler Ratlosigkeit verdecken. „Jede Gesellschaft produziert Perversionen und die Perversen, die sie braucht.“ (1984/2004, S. 170). Für Morgenthaler hat die Perversion eines Menschen die Funktion eines Pfropfes, mit dem er die Lücke im Selbstgefühl, die durch Störungen in der narzisstischen Entwicklung entstanden ist, geschlossen werden soll. So soll ein inneres und äußeres Gleichgewicht aufrechterhalten werden. Deshalb gehe es laut Morgenthaler in der Therapie nicht darum, die Perversion als etwas Krankhaftes und Störendes zu bekämpfen, sondern dem Betroffenen ein lustvolles Leben mit der Perversion zu ermöglichen.
2.3.7.3 Syndyastische Sexualtherapie nach Beier (geb. 1961) und Loewit (geb. 1958)
Beier und Loewit (2004), um eine moralisch neutrale Begrifflichkeit bemüht, schlagen den Begriff „Dissexualität“ vor als ein „sich im Sexuellen ausdrückendes Sozialversagen“ (2004, S. 156). Beier (2004, zitiert nach Beier, 1995) versteht darunter das Verpassen von durchschnittlich erwarteten Partnerinteressen, die zeit- und soziokulturell bedingt und damit in ihrer Bewertung veränderlich sind. Paraphiles sexuelles Verhalten bildet sich üblicherweise zu Beginn der Pubertät aus und wird zu einem unveränderlichen Teil der Sexualstruktur oder füllt diese vollständig aus. Daraus können sich für die Betroffenen innere Konflikte, Unsicherheiten und Selbstzweifel ergeben. Fragen der Akzeptanz, sich selbst und/oder gegenüber einem potenziellen Partner (Finde ich jemand, der mich so akzeptiert, wie ich bin?) werden relevant. Paraphiles Erleben ist „nach allen empirischen Daten eine Domäne männlicher Sexualität“, führten Beier und Loewit noch 2004 aus (S. 158). Sie sehen Unterstützungsmöglichkeiten für die Betroffenen mit ihrer selbst entwickelten Syndyastischen Sexualtherapie, wenn in einer bestehenden Partnerschaft eine gewisse Offenheit auf beiden Seiten vorhanden ist. Die Syndyastischen Sexualtherapie hebt die Beziehungsebene des Paares in den Vordergrund, setzt an ihrer Stabilisierung an und sieht in der Befriedigung sexueller Bedürfnisse, auch der abweichenden, einen zwischen den Partnern auszuhandelnden Bereich (Beier & Loewit, 2004).
Sieben Jahre später definieren und differenzieren Beier und Loewit deutlicher. Jetzt verstehen sie unter Paraphilien Störungsbilder, „bei denen die betroffenen Personen unter normabweichenden sexuellen Impulsen leiden oder andere zu Opfern dieser Impulse machen“ (2011, S. 54). Sie definieren die sexuelle Präferenzstruktur auf drei Achsen:
1. hinsichtlich des präferierten Geschlechts
2. hinsichtlich des präferierten Alters
3. hinsichtlich der präferierten Art und Weise sexueller Interaktion
vergl. Beier und Loewit (2011, S. 54)
Diese Präferenzen, die sich spätestens in der Jugend manifestieren, entscheiden darüber, auf welche sexuellen Reize ein Mensch ansprechbar ist. Beide betonen an anderer Stelle „Demzufolge werden Personen, welche abweichende sexuelle Neigungen aufweisen, jedoch nicht unter diesen leiden, auch nicht als gestört, nicht als krank oder behandlungsbedürftig angesehen, solange sie weder andere noch sich selbst durch ihre abweichenden sexuellen Bedürfnisse beeinträchtigen oder gefährden“ (2011, S. 55). Ziel der Therapie ist nicht die Beseitigung der Paraphilie, vielmehr soll in der Paartherapie die sexuelle Präferenz in die drei sexuellen Dimensionen Bindung, Lust und Fortpflanzung eingebunden werden. Dazu ist es notwendig Sexualität in einen erweiterten Sinnzusammenhang innerhalb der Beziehung zu stellen. Beziehung soll als Ort zur Erfüllung von psychosozialen Grundbedürfnissen, auch der sexuellen, erlebt werden. Für Beier und Loewit gilt als Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, dass die Bindung innerhalb der Partnerschaft schwerer wiegt als das Bedürfnis nach Erfüllung der sexuellen Wünsche (vergl. B., 2009a)
2.3.7.4 Affirmative Psychotherapie, von Fiedler (geb. 1945) dargestellt
„Menschen jedweder sexuellen Orientierung haben das Recht auf Rücksichtnahme, Wertschätzung und Schutz ihrer Integrität“, schreibt Fiedler (2004, S. 109). Er sieht es als Aufgabe der medizinischen und psychologischen Wissenschaft an, Menschen darin zu unterstützen, selbstbewusst zu ihrer Andersartigkeit im sexuellen Kontext zu stehen. Für ihn können Spielarten des inklinierenden Sadomasochismus „heute begründbar nicht mehr als psychische Störungen angesehen werden“ (Fiedler, 2004, S. 249).
2.4 ICD-10, die Vorabversion ICD-10-GM 2014 und DSM-IV
Das Klassifikationssystem, nicht Diagnosesystem, für psychische Störungen ICD-10 wurde 1993 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben. In der Rubrik Störungen der Sexualpräferenz ist unter der Nummer F65.5 Sadomasochismus gelistet.
Im DSM-IV, das von der APA (1994) herausgegeben wird, spricht man von Paraphilien und listet Sadismus (302.83) und Masochismus (302.84) getrennt auf. Für eine Klassifizierung nach DSM-IV, Kriterium A, ist es notwendig „über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten wiederkehrende intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen zu haben, die sich auf Leiden oder Demütigung, Schmerz oder Erniedrigung seines Partners oder seiner selbst (Masochismus, Sadismus) beziehen können“ (DSM-IV, 1993).
Professor Beier erläuterte im November 2012 auf dem Kongress für Sexualmedizin und Sexualpsychologie in Salzburg auf Nachfrage, dass es heute in seiner Praxis Usus ist, diese Kategorie erst dann zu vergeben, wenn der Patient unter seiner Präferenz leidet. Dabei wird unterschieden, ob er unter seiner Präferenz leidet oder unter der gesellschaftlichen Bewertung seiner Präferenz. Im letzteren Fall wird eine affirmative Behandlung eingeleitet (vergl. Fiedler, 2004).
Trotz Bewusstseinswandel in der Sexualtherapie und obwohl sich BDSM-Verbände seit Jahren um eine Entfernung des konsensuellen Sadomasochismus aus den Klassifikationssystemen bemühen, wird Sadomasochismus auch in der Vorabversion für 2014, dem ICD-10-GM, bei Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60–F69) unter dem Unterabschnitt Störungen der Sexualpräferenz (F65) ohne Differenzierung in konsensuell und periculär gelistet. Unter F. 65.5 ist zu Sadomasochismus zu lesen:
Es werden sexuelle Aktivitäten mit Zufügung von Schmerzen, Erniedrigung oder Fesseln bevorzugt. Wenn die betroffene Person diese Art der Stimulation erleidet, handelt es sich um Masochismus; wenn sie sie jemand anderem zufügt, um Sadismus. Oft empfindet die betroffene Person sowohl bei masochistischen als auch sadistischen Aktivitäten sexuelle Erregung.“ (Kaiser, 2012)
2.5 Beispiele aus der SM- Literatur
Nach Wetzstein et al. (1993) ist es notwendig, will man das Wesen einer Sache verstehen, ins Feld zu gehen. Aus diesem Grund sollen im Rahmen dieser Arbeit exemplarisch ein paar wenige Veröffentlichungen von SM-Praktizierenden zum Thema Sadomasochismus beschrieben werden. Herausgegriffen wurden der Standardroman der SM-Literatur „Geschichte der O“ von Pauline Reage und im Hinblick auf die Teilnehmenden der Studie zwei Bücher, die im Wesentlichen Erfahrungsberichte von Frauen darstellen, die ihren Weg der Selbstfindung als masochistische Frauen - aus einem inneren Bedürfnis heraus - beschreiben und die Internetplattform schlagzeilen. de. Ziel der Analyse dieser Primärliteratur ist es Erkenntnisgewinn aus der Perspektive der Handelnden zu generieren (Wetzstein et al., 1993).
2.5.1 Pauline Reage (1907 – 1998)
Das Erkennungszeichen mancher BDSM-Praktizierenden (Abbildung 2: „ Der Ring der O“, Neitram, 2006) basiert auf dem Roman „Geschichte der O und Rückkehr nach Roissy“ von Pauline Rèage. Lange vermutete man hinter dem 1954 unter Pseudonym erschienenen Roman einen Mann als Autor. Erst 1994 bekannte sich die erfolgreiche Kritikerin und Übersetzerin Dominique Aury (Anne Desclos) offiziell zu ihrem literarischen Werk. In „Geschichte der O“ erzählt Aury unprätentiös die Geschichte einer jungen Frau, die selbstbestimmt aus Liebe und mit Stolz zustimmt, dazu erzogen zu werden, jederzeit ihrem Geliebten (der auch sie liebt) und gemäß seinen Wünschen auch anderen Herren stets sexuell zu Diensten zu sein. Dies tut er zum Teil auch um sich selbst zu quälen (Stichwort Eifersucht, vergl. Ausführungen zu Freud in Anhang A). Er lässt einen Ring für sie anfertigen, der jedem, der seine Symbolik erkennt, erlaubt, sie zu nehmen. Obwohl permanent betont wird, wie unwichtig O ist, ist sie die unangefochtene Protagonistin des Romans. Keine der anderen Personen wird eingehend beschrieben und ist somit austauschbar. Wegen diverser Szenen, die als Folter gedeutet wurden, kam das Buch wiederholt auf den Index. 1975 drehte der französische Filmregisseur Just Jaeckin nach dem Buch einen Liebesfilm. Lange glaubte man, dass „Geschichte der O“ von Reage eine Fiktion ist. Sie muss jedoch von dem 1780 gegründeten Zirkel Ordre de Roissy gewusst haben, beschreibt sie sowohl Schloss, Rituale als auch die Regeln auf Schloss Roissy sehr genau (CoS, 2000/2007). 2011 gründete sich die Gemeinschaft von Roissy als "Zirkel der O" neu. (ebda).
2.5.2 Sina-Aline Geißler (geb. 1965)
Als freie Journalistin, die für verschiedene Frauenzeitschriften tätig ist, bekennt sich Sina-Aline Geißler 1989 öffentlich zu ihrem Masochismus und definiert das mit dem „Wunsch nach Schmerz, nach Liebe, nach Stärke…“ (1991, S. 136) und mit der Lust an der Unterwerfung. Sie beschreibt das Wesen und die Gefühlswelt einer masochistischen Frau auf Grund von Selbstreflexion und Interviews mit anderen Frauen. Häufig finden dabei scheinbare Paradoxien wie z.B. „selbstbewusst und demütig“ (1991, S. 14) Verwendung. In der Beschreibung dessen, was den Reiz des Masochismus ausmacht, fallen Worte wie „Angst und Faszination“, „Erregung und Beklemmung“, „voller Liebe, voller Stolz: Ich bin eine masochistische Frau….Schmerzen will ich – und Zärtlichkeit. Härte – und Weichheit.“ (ebda, S. 17-18). Auch Wetzstein et al. resümieren aus ihren qualitativen Interviews „Sadomasochismus [ist] nicht ohnmächtiges Triebschicksal, sondern auch Fokus von Selbstreflexion, Selbstthematisierung und Selbststilisierung“ (1993, S. 59) und ein bewusster Wahlakt.
2.5.3 Eva B. (geb. 1954)
Im Juni 2003 erschien unter der Überschrift Gebieter ihrer Lust in der Wochenzeitschrift Die Zeit die private Kontaktanzeige einer Frau. Sie suchte „eine niveauvoll-erotische Beziehung“ (Eva B., 2007/2009a, S. 8). Mit dieser Anzeige reagierte die fast fünfzigjährige Frau spontan auf ihre sexuellen Wünsche und Sehnsüchte, die sie plötzlich in sich entdeckt hatte. Was als Tagebuch begann, erschien unter dem Titel „Mit dem Schmerz gehör ich dir – Bekenntnisse einer Masochistin“ 2007 unter dem Pseudonym Eva B. als Buch. Sie schildert darin ihre Begegnungen mit den Männern, aber auch die Reflexionen ihrer Gefühle, ihre inneren Kämpfe, ihre Entwicklung als Masochistin, die nach und nach erkennt, welche Form von Masochismus ihre ganz persönliche ist (siehe auch Geißler, 1991). Im Schreiben sah sie für sich die einzige Möglichkeit sich selbst zu verstehen, Klarheit über ihre Gefühle zu erlangen und diese neu entdeckten Seiten in ihre Persönlichkeit zu integrieren. Wollten doch ihre Gefühle für sie selbst nicht zu ihr als selbstbewusste, emanzipierte und erfolgreiche Frau passen. Für sie als Akademikerin waren die rationalen, kognitiven Auseinandersetzungen wichtig. Für ein Interview mit einer renommierten deutschen Frauenzeitschrift kreierte sie folgenden Vergleich: Penetration als Akt der Gewalt ist Vergewaltigung, sind beide damit einverstanden, wird es auch als „Liebemachen“ umschrieben.
Analog verhält es sich, wenn im erotischen Spiel geschlagen oder gepeitscht wird. Der Vorgang des Schlagens bedeutet Gewalt, wenn es gegen den Willen eines der beiden Partner geschieht. In Einvernehmlichkeit und zur Erfüllung von Bedürfnissen bedeutet es für mich die höchste Form der Liebe. (B., 2007/2009a, S. 233, vergl. Beier und Loewit, 2011)
2.5.4 schlagzeilen.de
`Schlagzeilen` ist das zentrale Magazin der deutschsprachigen BDSM-Szene, das mittlerweile auch eine eigene Webseite und einen Auftritt bei facebook betreibt. Es versteht sich als Magazin aus der Szene für die Szene mit vielen Möglichkeiten der Information und Kontaktaufnahme. Sie reichen von Online-Shop, Kontaktanzeigen, Informationen über Stammtische, Buchtipps, erotische Geschichten bis hin zu Aufklärung über Fragen zu BDSM. Matthias Grimme, der Mitbesitzer des herausgebenden Charon-Verlages, steht am wöchentlichen Beratungstelefon für Fragen zur Verfügung. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und studierter Sozialwissenschaftler.
2.6 Phänomen „Shades of Grey“
Was als Online-Fan-Fiktion für Twilight Anhänger begann, ist für Random House weltweit und für den Goldmann Verlag im deutschsprachigen Raum, zu einem Millionenumsatzgeschäft mutiert. Allein im deutschsprachigen Raum wurden bis heute 6,8 Millionen Exemplare der Trilogie (Stand August 2013) verkauft. Im Feuilleton, z.B. bei ZEIT ONLINE in dem Artikel „ Knallharte Zweisamkeit“ (Pauer, 2012) werden sowohl Schreibstil als auch Geschichte sehr negativ bewertet (vergl. Haeming, 2012).
2.6.1 Buch und Autorin E.L. James
Erika Leonard (geb. 1963), eine Londoner TV Produktionsleiterin und Mutter zweier Söhne (James, 2013), schrieb 2009 für die Teenie-Vampir-Romanze „Twilight“ ein Kapitel einer Version für Erwachsene und veröffentlichte sie unter dem Titel „The Master of the Universe“ unter dem Pseudonym Snowqueens Icedragon als Online-Fan-Fiktion (Welding, 2012). Der große Erfolg dieses Kapitels führte in wenigen Wochen zu einem Buch, das wegen des Erfolgs als E-Book im Mai 2011 unter dem Titel „Fifty Shades of Grey“ unter dem Pseudonym E. L. James als Buch erschien. In vielen Ländern führte es sehr schnell die Beststellerlisten an. Plötzlich begannen, laut Washington Post, Frauen zwischen 30 und 40 Jahren öffentlich in den New Yorker U-Bahnen „Fifty Shades of Grey“ zu lesen. Band 2 und 3 folgten. In Interviews betonte Frau Leonard, dass sie eine Liebesgeschichte schreiben wollte und die SM-Anteile im Internet recherchiert habe (Moll, 2012). Kritiken an den SM-Szenen führten zu ihrer Reduzierung von Band zu Band. Die BDSM-Trilogie, wie sie die Washington Post titulierte, wurde weltweit 70 Millionen Mal verkauft (Charles, 2013). 2012 erschien Band 1 unter dem Titel „Shades of Grey – Geheimes Verlangen“ in Deutsch.
2.6.2 Inhalt „Shades of Grey“
Die Protagonisten der Geschichte sind die 21-jährige selbst-unsichere Studentin Anastasia Steele (Ich-Erzählerin), ohne jegliche sexuelle Erfahrung, und der 27-jährige Christian Grey, Selfmademilliardär, sexuell sehr erfahren und umwerfend gut aussehend, aber durch Kindheitserlebnisse traumatisiert. Anastasia Steele lernt Grey bei einem Interview für eine Studentenzeitung kennen, das sie in Vertretung ihrer Mitbewohnerin durchführt. Sie entpuppt sich bereits bei der ersten sexuellen Begegnung zu multiplen Orgasmen fähig und zur Meisterin des Oralverkehrs. Nach kurzer Zeit handeln sie einen Sklavenvertrag aus, der die Verpflichtungen beider festschreibt, vor allem aber die von Anastasia, die auch ihren Alltag regeln wie zum Beispiel Schlaf- und Essensgewohnheiten. Irgendwann führt Christian Grey Anastasia in seine dunkle Kammer, in der er ihr als Dominus begegnet und mit ihr verschiedene Spielarten des sexuellen SM praktiziert. Band 1 endet damit, dass er dieses Spiel von Dominanz und Sadismus übertreibt und Anastasia flieht. Sie hatte erkannt, dass Christian Grey sie nicht lieben kann, sie aber genau das will. Das empfindet sie als ihr eigenes Versagen. James führt aus: „Eine Woge der Verlegenheit und der Scham erfasst mich. Ich habe versagt. Auf der ganzen Linie. Ich hatte gehofft, Christian auf die helle Seite des Lebens ziehen zu können, doch ich muss mir eingestehen, dass diese Aufgabe meine dürftigen Fähigkeiten übersteigt.“ (2012, S. 601). Mit der Erkenntnis der Protagonistin „Der körperliche Schmerz vom Hieb eines Gürtels ist nichts im Vergleich zu der Seelenqual, die ich gerade durchleide.“ (ebda, S. 602) endet Band 1.
Der Sprachstil des Buches, der laut Zeit -Artikel (Pauer, 2012) nichts mit Literatur zu tun hat, besteht aus vielen Wiederholungen und fragwürdigen Wortschöpfungen. Anastasia errötet mehrfach, beißt sich immer wieder auf die Unterlippe und des Öfteren ist von postkoitalen Haaren die Rede.
2.7 Forschungsarbeiten zu Sadomasochismus
Exemplarisch sollen im Folgenden drei Studien zu Sadomasochismus dargestellt werden. Es handelt sich hierbei um eine qualitative Untersuchung unter Sadomasochisten von Spengler aus dem Jahr 1979, um die umfangreiche qualitative Studie von Wetzstein, Steinmetz, Reis und Eckert aus dem Jahr 1993 und um eine Studie zum Bindungsverhalten von SM praktizierenden Paaren mit Kontrollgruppe von Witte, Poser und Strohmeier aus dem Jahr 2003. Studien zum Buch gibt es nicht.
2.7.1 Sadomasochisten und ihre Subkulturen (Spengler, 1979)
Spengler untersuchte das Verhalten sadomasochistisch aktiver Männer im nicht-klinischen Kontext und hielt seine Ergebnisse in seinem 1979 erschienenen Buch „Sadomasochisten und ihre Subkulturen“ fest. Männer deshalb, weil damals Frauen in der BDSM-Subkultur fast nicht vorkamen und nach Eulenburg als „Erfindung des sadomasochistischen Mannes“ (1902, S. 74, zitiert nach Spengler, 1979) galten. Auch Spengler führte aus „Sadomasochistisches Verhalten von Frauen kann aber kaum als um der eigenen sexuellen Befriedigung willen gewähltes Verhalten verstanden werden“ (1979, S. 20). Mit seiner qualitativen Studie (Auswertung von Annoncen und Fragebögen in Subgruppen) wollte Spengler die soziale Situation und die Organisation der sexuellen Bedürfnisse erforschen. Subgruppen definierte er als „soziale Systeme, in denen besondere, von den Normen der übergeordneten sozialen Bezugssystems abweichende Verhaltensnormen gelten, die das deviante Verhalten in der Gruppe bestätigen und ermöglichen.“ (Spengler, 1979, S. 18). Bis dahin wurden Fakten über Sadomasochisten ausschließlich aus Einzelfall-Analysen von klinisch auffälligen Personen eruiert. In der Gesellschaft wurde SM stigmatisiert, in der Wissenschaft als psychopathisch und gefährlich definiert. Spengler eruierte die Funktion der Subgruppen. Er beschrieb sie als eine Möglichkeit Schuldgefühle und innere Konflikte zu artikulieren, durch gruppale positive Bewertung zu reduzieren, ein Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz aufzubauen, aber auch sadomasochistische Wünsche zu realisieren. Die qualitativen Interviews zeigten, dass vieles im inneren Verhältnis anders ist, als es äußerlich den Anschein hat. So wird der Sadist als jemand beschrieben, der die Bedürfnisse des Masochisten zu befriedigen hat, dem es obliegt die Kontrolle über sich und die Situation zu bewahren (Spengler, 1979, vergl. Stein & Marino, 2005). Er findet in der Subkultur Regeln, die es zum Schutz aller Beteiligten zu befolgen gilt und die als sehr wichtig innerhalb der Gruppe erachtet werden.
Spengler untersuchte in seiner Studie 245 Männer. „Höhere Ausbildungsstufen (Abitur und höher = 40%) sind bei weitem überrepräsentiert“ (1979, S. 62). Ältere Männer werden wegen ihrer Erfahrung bevorzugt und der sonst übliche Vitalitätsverlust mit steigendem Alter wurde hier nicht beobachtet. Eine überdurchschnittlich hohe Anzahl der SM-Praktizierenden führten aus, dass sie auf Grund ihrer Neigungen geschieden sind. Bei 38 % der Befragten bestand die SM-Beziehung länger als ein Jahr. „Nur 20% der Befragten hätte am liebsten keinerlei sadomasochistische Neigung.“ (Spengler, 1979, S. 101). Von den Befragten gehörten 23% der katholischen Kirche an (1979: 44 % der Gesamtbevölkerung), 41% der evangelischen Kirche (50% der Gesamtbevölkerung) und 32 % waren aus der Kirche ausgetreten. Überdurchschnittlich viele der Masochisten waren katholisch.
2.7.2 Szenen und Rituale von Sadomasochismus (Wetzstein et al., 1993)
Wetzstein et al. führten 1993 eine Feldstudie mit problemzentrierten Interviews, nichtteilnehmender Beobachtung und Gruppendiskussionen in der SM-Szene durch. Ziel der ethnographisch-soziologischen Untersuchung war es die „Perspektive der Feldakteure“ (Wetzstein et al., 1993, S. 25) herauszuarbeiten. Nach umfangreichen vertrauensbildenden Maßnahmen, darunter Offenlegung des Forschungsziels bzw. Erkenntnisinteresses und die Garantie der Anonymität, erlangten sie Zugang zur Szene. Die Befragten versprachen sich von der Untersuchung mehr Verständnis und Toleranz in Wissenschaft und Gesellschaft für ihre Vorlieben. Die Forschergruppe wendete objektive Hermeneutik und Konversations-analyse für Interviews und Beobachtung und quantitative Analysen zur Auswertung der demographischen Daten an. Befragt wurden 143 Personen (N = 143), darunter haupt-sächlich Männer, im Alter zwischen 18 und 78 Jahren. Wetzstein et al. wiesen darauf hin, dass ihre Ergebnisse auf Grund der stichprobentheoretischen Einschränkungen nicht generalisierbar seien, sondern nur zur Hypothesenbildung genutzt werden könnten (1993). In der Stichprobe entstammte die Klientel mehrheitlich aus den oberen Gesellschaftsschichten, mehr als die Hälfte der Männer (54%) ordneten sich der passiven (devot und/oder masochistisch) Seite zu. Die meisten der Befragten entdeckten ihre Neigungen durch Pornographie auf der Suche nach einer befriedigenderen Erotik, durch Partner oder Kontakte zur Szene. Diese Kontakte hätten häufig durch die Erkenntnis mit seinen Vorlieben nicht alleine zu sein, einen stabilisierenden Effekt auf das Selbstbild. Dennoch seien die ersten Auslebeversuche mit negativen Selbstbewertungen verbunden. Rekonstruktionen der Lebensläufe der Befragten förderten keine Erklärungen für die sexuellen Vorlieben zutage. Wetzstein et al. blieben bei einer deskriptiven Darstellung verschiedener Phänomene (z.B. Codes, Schmuck, Kleidung, Partys, Chancen auf Beziehung) des Sadomasochismus. Diese weiter auszuführen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. In der Szene wird das Buch zur Lektüre empfohlen.
2.7.3 Konsensueller Sadomasochismus. Eine empirische Prüfung von Bindungsstil und Sozialisationseinfluss. (Witte, Poser & Strohmeier, 2007)
Witte et al. überprüften 2003 in einer empirischen Studie den Bindungsstil und den Sozialisationseinfluss bei Paaren, die konsensuellen Sadomasochismus miteinander ausleben. Ziel der Studie war die psychoanalytischen Theorien zu den Ursachen von Sadomasochismus mit nicht-klinischen Probanden mit Kontrollgruppe zu überprüfen. Bis dato beruhten die Theorien und ihre Überprüfung ausschließlich auf klinischen Studien (Witte et al., 2007). Untersucht wurden elterlicher Erziehungsstil, traumatische Erfahrungen, Bindungsstil und Beziehungszufriedenheit. „Die Ergebnisse stützten die Hypothese, dass sich klinisch unauffällige, konsensuelle Sadomasochisten von Nicht-Sadomasochisten in den theoretisch hergeleiteten Bereichen nicht unterscheiden.“ (Witte et al., 2007, S.1). Als alternative Erklärungsmöglichkeit, warum sich Menschen zu SM hingezogen fühlen, vermuteten Witte et al. Sensation Seeking[7]. Sie stellten die Theorie auf, dass SM-Ausübende „ein höheres optimales Erregungsniveau“ besitzen als andere und daher möglicherweise generell ein stärkeres Reizsucheverhalten zeigen, das sich auch in ihrer sadomasochistischen Sexualität äußert“ (2007, S.6). Bei den 106[8] nach Alter und Schulbildung parallelisierten Probanden wurden hypothesenkonform geringe Unterschiede mit höheren Werten bei den SM-Ausübenden bei Sensation Seeking gefunden.
2.8 Ziele der Arbeit
Via Online-Erhebung soll mittels Miniskalen erforscht werden, ob sich Lesende des Buches „Shades of Grey“ von Nicht-Lesenden in Bezug auf verschiedene Persönlichkeitsmerkmale unterscheiden. In Ermangelung von Arbeiten zum Buch wurde auf Studien zu SM zurückgegriffen, um daraus Anregungen für eigenes Vorgehen zu generieren. Der Transfer kann nur partiell erfolgen, sollen in dieser Arbeit hauptsächlich Lesende und Nicht-Lesende verglichen werden. Angeregt durch die Theorie von Witte et al. Sensation Seeking als mögliche Erklärung für SM-Neigungen zu untersuchen, soll Impulsivität auf mögliche Unterschiede bei Lesenden und Nicht-Lesenden exploriert werden. Zeigen sich auch hier Unterschiede? Generiert schon das Interesse an einem „SM-Roman“ potenzielle Unterschiede? Die Annahme, dass das Aufsuchen von außergewöhnlichen Situationen Mut und eine stabile Persönlichkeit erfordert – vielleicht schon in der Phantasie? – führte zur Erhebung von potenziellen Unterschieden bei Selbstwirksamkeitserwartung, Kontrollüberzeugung und interpersonalem Vertrauen. Diese Untersuchungen können anhand der derzeitigen Wissenslage nur explorativ erfolgen.
Um zu eruieren, ob sich Lesende von Nicht-Lesenden in Bezug auf Ihre Einschätzung bzgl. SM als Perversion unterscheiden, wurden aus der wöchentlichen Blitzumfrage des sexologischen Instituts (ehemals Hamburg), die von Dezember 1991 bis Dezember 1992 in ganz Deutschland durchgeführt wurde, die acht Fragen zu SM repliziert.
Erhebungen zum Buch (z. B. bzgl. Leserschaft, Benotung des Unterhaltungswertes) wurden mittels selbst erstelltem explorativem Fragebogen realisiert. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, potenzielle Unterschiede in den Einstellungen zu und dem Wissen über SM zwischen Lesenden und Nicht-Lesenden zu eruieren. Es sollten Hinweise gefunden werden, ob SoG über SM aufklärt oder Vorurteile nährt. Dazu wurden 58 Items aus Buch-Recherche, Expertenbefragung - face to face und virtuell - und eigenen Überlegungen generiert. Die, auf diese Weise explorativ erhobenen, Daten wurden den Antworten des Experten Grimme gegenüber gestellt und ausgewertet. Ferner interessierte, ob sich SM-Frauen bzgl. Selbstbewusstsein und Emanzipation von Vanilla-Frauen unterscheiden.
Im Einzelnen wurden folgende Hypothesen geprüft:
Hypothese 1
- Lesende unterscheiden sich in den Persönlichkeitsmerkmalen der Big Five, des interpersonellen Vertrauens, der Impulsivität, der Selbstwirksamkeitserwartung der Kontrollüberzeugung und in Bezug auf Optimismus nicht von Nichtlesenden.
Hypothese 2
- Hypothese 1 wird von schon mal mit SM beschäftigt moderiert.
Hypothese 3
- Das Lesen von „Shades of Grey“ hat keinen Einfluss auf die Einschätzung von SM als pervers nach der replizierten Studie von Brokmann (1993).
Hypothese 4
- Die Einschätzung von SM als pervers nach Brokmann (1993) wird durch schon mal mit SM-beschäftigt moderiert.
Hypothese 5
- Shades of Grey wird von mehr Frauen als Männern gelesen.
Hypothese 6
- SM-lerinnen bewerten das Buch „Shades of Grey“ insgesamt (Inhalt, Geschichte, Sprachstil, Authentizität der Charaktere) und auch bezüglich des erotisch/sexuellen Unterhaltungswertes negativer als Vanillas.
Hypothese 7
- SM- Frauen fühlen sich emanzipierter und selbstbewusster als Vanilla-Frauen.
Hypothese 8
- Frauen, die die SM-Szenen erotisch finden, fühlen sich nicht weniger emanzipiert und auch nicht weniger selbstbewusst als Frauen, die sie nicht erotisch finden.
Hypothese 9
- Die Lesenden, separiert nach Frauen und Männern, erinnern hauptsächlich positive Gefühle beim Lesen der SM-Szenen gehabt zu haben.
Hypothese 10
- SM-lerinnen bewerten SoG bei ausgewählten Items negativer als Vanillas.
3 Methode
3.1 Untersuchungsaufbau
Die Datenerhebung erfolgte mittels Online-Fragebogen über Unipark der FernUniversität Hagen. Es sollten Lesende, Nicht-Lesende, SM-lerinnen und Vanillas[9] befragt werden. Aus technischen Gründen musste der Pretest-Fragebogen benutzt werden. Zunächst wurden von den N = 3136 Datensätzen diejenigen gelöscht, die als Pretest bis einschließlich 05.05.2013 ausgefüllt worden waren. Die verbleibenden N = 3120 Datensätze wurden auf Vollständigkeit geprüft. Auf Grund der hohen Anzahl der erhobenen Daten wurde entschieden alle nicht vollständig ausgefüllten Fragebögen zu eliminieren. Zur statistischen Auswertung kamen N = 1576 Datensätze.
[...]
[1] Buchautor (z.B. „Das SM-Handbuch“, 1996/2012) und Teilhaber eines SM-Verlages
[2] mit Einverständnis der Partnerin
[3] die aktive, bestimmende Partnerin, auch Domina, Dom, Herrin, Herr, Mistress, Meister genannt
[4] die passive, erduldende, sich hingebende Partnerin, auch Sub, Devote, Devoter, Sklavin, Sklave oder Buttom genannt
[5] Lustgewinn durch Schlagen mit Peitsche oder Rohrstock des Hinterteils (Stein & Marino, 2005)
[6] periaquäduktales Grau
[7] Reizsucheverhalten nach Zuckerman (1994, zitiert nach Witte et al., 2007)
[8] 53 pro Gruppe
[9] Name der SM-lerinnen für Menschen, die kein SM ausüben
- Quote paper
- Michaela Daffner (Author), 2013, Relationen zwischen Sadomasochismus und dem Buch "Shades of Grey - Geheimes Verlangen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/294029
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