Autobiographien bieten uns heutigen Menschen einen unglaublichen Einblick in das tatsächliche Leben vergangener Zeiten, wie es bloße historische Fakten nicht tun können. Sie geben uns die Möglichkeit die Menschen in einer vergangenen Epoche auch wirklich als solche zu sehen, zu verstehen wie das private Leben der Zeit aussah, welche Moralvorstellungen die Menschen hatten, was für sie von Bedeutung war und wie sie miteinander auskamen. Autobiographien sind sozusagen ‚Zeitzeugen’, die helfen jene Distanz die zwischen den Jahrhunderten liegt abzubauen. Goethes Autobiographie, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, spiegelt das Leben des 18. Jahrhunderts wider. An seinem Buch kann man gut sozialgeschichtliche Strukturen des Bildungsbürgertums der Neuzeit ablesen. Goethe betrachtet, als er den ersten Teil des Buches verfasst, sechzig jährig seine Kindheit in Frankfurt und wird sich dabei ‚selbst historisch’. Er stellt, wie der Titel schon sagt, sein Leben nicht nur in faktischer Wahrheit dar, sondern weist sofort darauf hin, dass erlebte Geschichte nicht als bloße Wahrheit abzubilden ist, sondern es zugleich der Dichtung benötigt, um das eigene Leben literarisch abzufassen. Dessen muss man sich bei der sozialgeschichtlichen Betrachtung des Werkes sicherlich bewusst werden. Aber Goethes Autobiographie will gerade: „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darstellen“2 und damit ist das Werk, auch wenn einige Details oder Geschehnisse nicht der ‚ganzen Wahrheit’ entsprechen, dennoch ein gutes Zeugnis des Lebens des Bildungsbürgertums im 18. Jahrhundert. Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen – steht als Motto zu den zwanzig Büchern der Autobiographie Goethes. Ist dieses Motto auch tatsächlich eine Erziehungsmaxime des 18. Jahrhunderts und wurde Goethe in seiner Kindheit wirklich so ‚geschunden’? Dies sind Fragen, die durch die genauere Betrachtung des Familienlebens in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich werden. [...] 1 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Erich Trunz (Hrsg.) Johann Wolfgang von Goethe Werke Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 9 und 10: Autobiographische Schriften, München 121994, S.7,4 und S.641 (Kommentar von Erich Trunz) 2 FA I, 14, S.13 aus: Benedikt Jeßing, Dichtung und Wahrheit. Entstehung, Quellen, Textgeschichte, in: Bernd Witte/Peter Schmidt (Hrsg.), Goethe Handbuch, Band 3: Prosaschriften, Stuttgart/Weimar, 1997, S.278-330, hier S.280
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Geburt und Kindersterblichkeit in der Familie
2.2 Vom ‚ganzen Haus’ zur ‚Kernfamilie’
2.3 Die Rolle der Frau innerhalb der bürgerlichen Familie
2.4 Die Rolle des Mannes innerhalb der bürgerlichen Familie
2.5 Erziehung und Privatunterricht im Bildungsbürgertum
3. Schluss
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Ό µη δαρεις άνθρωπος ου Παιδεύεθαι -
Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen“[1]
Autobiographien bieten uns heutigen Menschen einen unglaublichen Einblick in das tatsächliche Leben vergangener Zeiten, wie es bloße historische Fakten nicht tun können. Sie geben uns die Möglichkeit die Menschen in einer vergangenen Epoche auch wirklich als solche zu sehen, zu verstehen wie das private Leben der Zeit aussah, welche Moralvorstellungen die Menschen hatten, was für sie von Bedeutung war und wie sie miteinander auskamen. Autobiographien sind sozusagen ‚Zeitzeugen’, die helfen jene Distanz die zwischen den Jahrhunderten liegt abzubauen. Goethes Autobiographie, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, spiegelt das Leben des 18. Jahrhunderts wider. An seinem Buch kann man gut sozialgeschichtliche Strukturen des Bildungsbürgertums der Neuzeit ablesen. Goethe betrachtet, als er den ersten Teil des Buches verfasst, sechzig jährig seine Kindheit in Frankfurt und wird sich dabei ‚selbst historisch’. Er stellt, wie der Titel schon sagt, sein Leben nicht nur in faktischer Wahrheit dar, sondern weist sofort darauf hin, dass erlebte Geschichte nicht als bloße Wahrheit abzubilden ist, sondern es zugleich der Dichtung benötigt, um das eigene Leben literarisch abzufassen. Dessen muss man sich bei der sozialgeschichtlichen Betrachtung des Werkes sicherlich bewusst werden. Aber Goethes Autobiographie will gerade: „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darstellen“[2] und damit ist das Werk, auch wenn einige Details oder Geschehnisse nicht der ‚ganzen Wahrheit’ entsprechen, dennoch ein gutes Zeugnis des Lebens des Bildungsbürgertums im 18. Jahrhundert.
Der nicht geschundene Mensch wird nicht erzogen – steht als Motto zu den zwanzig Büchern der Autobiographie Goethes. Ist dieses Motto auch tatsächlich eine Erziehungsmaxime des 18. Jahrhunderts und wurde Goethe in seiner Kindheit wirklich so ‚geschunden’? Dies sind Fragen, die durch die genauere Betrachtung des Familienlebens in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich werden. Dabei ist es wichtig zu verstehen, unter welchen Bedingungen Familienleben damals überhaupt stattgefunden hat. Zunächst soll gezeigt werden, welche Bedeutung die Geburt von Kindern überhaupt hatte und wie die Einstellung ihnen gegenüber, in einer von hoher Kindersterblichkeit geprägten Zeit, war. Die folgende Betrachtung des sich wandelnden Familienbildes im 18. Jahrhundert macht die Rahmenbedingungen für das Familienleben der Zeit deutlich. Überdies soll die Rollenverteilung innerhalb der Familie herausgestellt werden. Aus dieser resultierend wird zuletzt ein Einblick in die Erziehung der Zeit gegeben.
2. Hauptteil
2.1 Geburt und Kindersterblichkeit in der Familie
Schon Goethes Geburt am 28. August 1749 stand, dank Goethes nachträglicher Manipulation und Verlegung der Geburtstunde um einige Minuten[3], unter einem ‚guten Stern’. Mit dem Glockenschlag zur zwölften Stunde des Tages, dem Sonnenhöchststand und Planten wie Jupiter, Venus und Merkur in einer guten Konstellation[4], benutzt der Autor Goethe seine Geburtsstunde als Zeichen für die Geburt eines einmaligen und besonderen Individuums. Dieses Motiv ist zum einen geläufig aus anderen biographischen Werken, wie z.B. Hieronymus Cardanus Buch De vita propria von 1643[5], zum anderen ist die Erstellung eines Geburtshoroskops in der frühen Neuzeit auch durchweg gebräuchlich. Besonders in den oberen Schichten waren Geburten mit vielen Gebräuchen und Ritualen verbunden und die Geburtsstunde und der Tag der Geburt wurden oft benutzt um dadurch Voraussagen über das Leben des Kindes zu machen.[6] Geburten hatten im Familienleben eine äußerst große Bedeutung. Kinder galten als Segen Gottes, als Zeichen für Fruchtbarkeit und als Fortführer des Familiennamens. Im 18. Jahrhundert fürchteten die Angehörigen bei jeder Geburt um das Leben der Mutter und des Kindes. Bis zu einem Drittel der Kinder starb bei der Geburt und der Tod im Kindsbett gehörte bei den Frauen im gebärfähigem Alter mit zu den häufigsten Todesursachen.[7] Bei Komplikationen während der Geburt sanken die Überlebenschancen und wenn sogar eine Operation, wie beispielsweise ein Kaiserschnitt von Nöten war, gab es kaum Hoffnung auf Leben.[8] Geburten fanden in der Regel zu Hause statt und meist wurden Hebammen, auch „Wehmütter“ genannt, zur Hilfe gerufen. Hebammen hatten sich ihr Wissen meist in langjähriger Erfahrung und durch Überlieferung angeeignet. Wie aus Goethes Erzählung über seine Geburt hervorgeht, wurde auch er durch eine Hebamme auf die Welt gebracht, wobei diese jedoch ihm zu Folge nach „ungeschickt“ gewesen sein muss, so dass er zunächst für tot gehalten wurde und: „nur durch vielfache Bemühungen [...] das Licht der Welt erblickte“.[9] Die Folgen, die aus dieser Geburtstragik entsprangen, brachten den Bürgern Frankfurts jedoch nur Positives, da Goethes Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor daraufhin unter anderem das Hebammenwesen verbesserte:
„Dieser Umstand, welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater [...], daher Anlaß nahm, dass ein Geburtshelfer angestellt, und der Hebammenunterricht eingeführt oder erneuert wurde“.[10]
Diese folgende Verbesserung passt in die Entwicklung des Hebammenwesens jener Zeit. In den Städten hatte man schon im 16. Jahrhundert begonnen, Hebammen stärker zu kontrollieren und im 18. Jahrhundert wurden dort erstmals Hebammenschulen und medizinische Prüfungen für Hebammen eingeführt.[11] Goethes Geburt, sein erster ‚öffentlicher Auftritt’ bewirkt also sogleich etwas durchweg Positives, was der Text unterstreicht.[12]
Eine überstandene Geburt bedeutete jedoch noch lange nicht, dass die Kinder tatsächlich das Erwachsenenalter erreichen sollten. Dieses erlebten schätzungsweise nur die Hälfte aller Kinder. Die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit zog sich dabei durch alle Schichten der Zeit. Als Gründe sind besonders Infektionen, Seuchen und Epidemien zu nennen, gegen die es häufig noch keine Mittel gab.[13] Gerade die Pocken rafften viele Kinder dahin. Die meisten Menschen erkrankten in ihrem Leben an diesen und die Überlebenden hatten oft unschöne Narben. Goethe berichtet von der Pockenkrankheit, auch Blattern genannt, als eine der vielen Kinderkrankheiten die ihn heimsuchten und an der er im Jahr 1758[14], also mit ca. neun Jahren erkrankte:
„die Krankheit wütete durch die Familien, tötete und entstellte viele Kinder, und wenige Eltern wagten es, nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Hülfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war.[...]Der ganze Körper war mit Blattern übersäet, das Gesicht zugedeckt [...]“.[15]
Das Mittel, das Goethe in seiner Autobiographie nennt, ist die Pockenschutzimpfung, die 1721 in England entdeckt wurde, jedoch bis zur Entwicklung der Impfung mit Kuhpocken 1796 durch den Arzt Edward Jenner, noch zu gefährlich war.[16] Dass also viele Eltern es noch nicht wagten, ihre Kinder impfen zu lassen ist recht verständlich, da besonders die deutschen Ärzte auf Grund des hohen Impfrisikos gegen die Immunisierung waren. Eine sich durch alle Bevölkerungsschichten ziehende hohe Kindersterblichkeitsrate zeigt sich auch in Dichtung und Wahrheit, als Goethe von einem jüngerem Bruder und einer Schwester erzählt, die neben drei weiteren Kindern (darunter eine Todgeburt)[17] nicht die Kindheit überstanden:
„Unter mehreren nachgeborenen Geschwistern [insgesamt 6]17, die gleichfalls nicht lange am Leben blieben, erinnere ich mich nur eines [...] Mädchens, die aber auch bald verschwand“.[18]
Die Wortwahl Goethes in diesem Zitat lässt auch Rückschlüsse auf den Umgang mit dem Kindstod führen. Die Umschreibung, „die aber auch bald verschwand“[19] wirkt eher unbeteiligt und wie die Beschreibung eines natürlichen Laufs der Dinge. Nach Paul Münch waren die Angehörigen: „betroffen, doch nicht sentimental“[20] , der Kindstod gehörte mit zum Familienleben der Zeit und wurde durch einen starken christlichen Glauben aufgefangen. Auch gerade in dem Bewusstsein der Kindersterblichkeit war die Kinderzahl pro Frau in der Gesellschaft so stark erwünscht.[21]
2.2 Vom ‚ganzen Haus’ zur ‚Kernfamilie’
Betrachtet man die Sozialgeschichte zur Zeit von Goethes Kindheit, so fällt einem besonders ein sich wandelndes Familienbild, das Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, auf. Im Deutschland der frühen Neuzeit bildete „das [ganze] Haus – nicht die Familie – [...] die zentrale Lebensordnung“.[22] Der moderne Familienbegriff von ‚Vater, Mutter, Kind’ als Kernfamilie, wie wir ihn noch heute kennen, bildete sich erst im 18. Jahrhundert heraus. Dabei ist die Schilderung Goethes Kindheit in Dichtung und Wahrheit exemplarisch für einen solchen Wandel. Das ‚ganze Haus’ war die Gemeinschaft aller im Haus lebenden Personen. Dazu konnten neben dem Hausbesitzer, samt Ehefrau und Kindern auch Stiefkinder, Verwandte und das Gesinde, also die Bediensteten gehören.[23] Dabei hatte die patriarchalische Hausherrschaft eine außerordentlich bedeutende gesellschaftliche Rolle, denn sie galt als wichtigstes Herrschaftsmodell, so bei Agrippa von Nettesheim:
„Denn, der ist nicht würdig, eine Stadt zu regieren, welcher nicht gelernt hat, ein Haus zu regieren, und kann er einer Republik vorstehen, wenn er nicht seinem eigenen Hause vorstehen kann. Das Haus ist ein Bild des Staates“.[24]
Das Haus war ein rechtlich geschützter Friedensraum, in dem der Hausvater für den Hausfrieden zu sorgen hatte, es war Schutz- und Wohnstätte zugleich, sowie Ort der Arbeit und des Lebens. Dabei bildete der Hausverband eine traditionelle Arbeitsorganisation. Erst seit dem 18. Jahrhundert begann man in Kernfamilie, Gesinde und sonstige Verwandte zu unterscheiden.[25]
[...]
[1] Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Erich Trunz (Hrsg.) Johann Wolfgang von Goethe Werke Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band 9 und 10 : Autobiographische Schriften, München 121994, S.7,4 und S.641 (Kommentar von Erich Trunz)
[2] FA I, 14, S.13 aus: Benedikt Jeßing, Dichtung und Wahrheit. Entstehung, Quellen, Textgeschichte, in: Bernd Witte/Peter Schmidt (Hrsg.), Goethe Handbuch, Band 3: Prosaschriften, Stuttgart/Weimar, 1997, S.278-330, hier S.280
[3] Vgl. Jeßing, Dichtung und Wahrheit. Entstehung, Quellen, Textgeschichte, S.281
[4] HA Band 9, S.10,22ff
[5] Ebd. Band 9, Anmerkungen von Erich Trunz S.644
[6] Vgl. Paul Münch, Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500 bis 1800, Frankfurt am Main/Berlin 1992, S.242/243
[7] Vgl. ebd. S.236
[8] Vgl. Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Band 1: Das Haus und seine Menschen 16.-18. Jahrhundert, München 1990, S.83
[9] HA Band 9, S.10,25/26
[10] Ebd. S.10,26-31
[11] Vgl. van Dülmen S.82
[12] Vgl. Jeßing, Dichtung und Wahrheit. Entstehung, Quellen, Textgeschichte, S.281
[13] Vgl. Münch S.246 und van Dülmen S.88
[14] Vgl. HA I Anmerkungen von Erich Trunz S.659
[15] HA Band 9, S.36,33-39
[16] HA Band 9, Anmerkungen von Erich Trunz S.659
[17] Vgl. Nicholas Boyle, Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Band 1: 1749-1790, München 21999, S.75
[18] HA Band 9, S.37,39-S.38,1-4
[19] HA Band 9, S.28,3/4
[20] Münch S.247
[21] Vgl. van Dülmen S.88
[22] Ebd. S.12
[23] Vgl. ebd. S.12
[24] Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim, Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaft, Hrsg. Fritz Mauthner, München 1913, S.300, aus: Münch S.192
[25] Vgl. van Dülmen, S.13
- Quote paper
- Katrin Fischotter (Author), 2003, Familienleben und Privaterziehung im Frankfurt Mitte des 18. Jahrhunderts.Sozialgeschichtliches zum ersten Teil von Goethes Dichtung und Wahrheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29357
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