Erich Kästners Konzept von Gebrauchslyrik


Thesis (M.A.), 2003

109 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhalt

I. Einleitung

II.1. Kästners Lyrikkonzept in der Theorie
2. Umsetzung des Konzepts
2.1 Der private Bereich
2.1.1 Beziehungen
Sachliche Romanze
Familiäre Stanzen
Gewisse Ehepaare
Ein Mann gibt Auskunft
2.1.2 Sexualität
Moralische Anatomie
2.2 Der öffentliche Bereich
2.2.1 Militarismus und autoritäre Strukturen
Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?
2.2.2 Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse
Vorstadtstraßen
Ein Buchhalter schreibt seiner Mutter
Maskenball im Hochgebirge
2.2.3 Heldentum
Der Handstand auf der Loreley

III. Zusammenfassende Betrachtung

Literaturverzeichnis

I. EINLEITUNG

Im Jahr 1928 erschien Erich Kästners erster GedichtbandHerz auf Taille. Es folgtenLärm im Spiegel(1929),Ein Mann gibt Auskunft(1930) undGesang zwischen den Stühlen(1932). Die vier Bände aus Kästners engagiertester Zeit, der Zeit der Weimarer Republik, mit Gedichten, die – entstanden in Kästners „kleiner Versfabrik“[1]– fast alle ursprünglich in Tageszeitungen, Wochenschriften etc. erschienen waren[2], erreichten allesamt ungewöhnlich hohe Auflagenzahlen[3]. Der Verkaufserfolg ist dabei nicht zuletzt zurückzuführen auf die Volkstümlichkeit der Kästnerschen Gedichte, die sich sowohl an der Themenwahl, als auch am eingängigen Sprachstil festmachen läßt. Erich Kästner verwendete für seine Gedichte gerne den Begriff „Gebrauchslyrik“.[4]Die genannten Merkmale der Volkstümlichkeit nun gehören unmittelbar zu Erich Kästners Konzept von Gebrauchslyrik, das in der vorliegenden Arbeit in Theorie und Umsetzung dargestellt und untersucht werden soll.

Wird in wissenschaftlicher Literatur der Begriff „Gebrauchslyrik“ verwendet, so ist damit vorrangig die beim Lesen leicht zugängliche und vielfach in irgendeiner Weise (gesellschafts-) politisch ambitionierte Lyrik gemeint, die als typische Äußerungsform der sogenannten Neuen Sachlichkeit in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts ihre kurze Blütezeit hatte.[5]Genau zu definieren, was unter Gebrauchslyrik eigentlich zu verstehen ist, gestaltet sich allerdings nicht einfach. Hermann Kesten versucht mit einiger zeitlicher Distanz zur Neuen Sachlichkeit, den Begriff durch Nennung typischer Merkmale folgendermaßen zu fassen:

„Die ‚Gebrauchslyrik‘ gehört zum Programm der ‚Neuen Sachlichkeit‘, der Gegenbewegung zum Expressionismus; sie parodiert mit der Mischung von Volkslied und Chanson, Bänkelsang und Kabarett; es ist eine zerebrale Lyrik voller programmatischer Nachlässigkeit; der Ton kommt von Heinrich Heine, die Tendenzen stammen vom ‚Jungen Deutschland‘; es ist ein exzedierender Naturalismus. Ohne die Schärfe des fortgesetzten Epigramms wäre diese Lyrik oft nur gereimte Prosa, ohne den Reim zuweilen nur politischer Jargon, ohne die echten lyrischen Bilder und Gefühle wäre sie oft nur gereimtes Feuilleton.“[6]

Als die Vertreter dieser Form der Lyrik, deren Namen heute noch bekannt sind, nennt Kesten neben Kästner Tucholsky, Brecht, Karl Kraus, Alfred Kerr, Walter Mehring, Mascha Kaleko, Erich Weinert, Klabund, Morgenstern und Ringelnatz.[7]Ganz klar wird der Begriff durch die Charakteristika, die Kesten zusammenträgt, jedoch nicht. Schon in den 1920er Jahren wichen die Vorstellungen, die verschiedene Autoren und Kritiker mit einer Gebrauchslyrik verbanden, teilweise erheblich voneinander ab. Hans Sahl beispielsweise sieht in dem Begriff lediglich den Hinweis auf die Möglichkeit des alltäglichen Gebrauchs der Lyrik. Andere verlangten von einer Gebrauchslyrik ganz spezielle Nutzwerte: So forderten den Ideen des Marxismus Nahestehende – ihnen voran Walter Benjamin –, eine Gebrauchslyrik müsse sich der Arbeiterbewegung verschreiben und einen Beitrag zur Herbeiführung der Revolution leisten.[8]

Kurt Tucholsky nimmt eine recht präzise Definition der Art des Gebrauchs vor, der sich nach seinem Verständnis mit einer Gebrauchslyrik verbindet. Diese Definition kommt wegen ihres Verzichts auf ganz spezielle – womöglich ideologisch geprägte – Nutzwertbestimmungen auch dem Kästnerschen Verständnis von einer Gebrauchslyrik relativ nahe:

„Es hat zu allen Zeiten eine Sorte Lyrik gegeben, bei der die Frage nach dem Kunstwert eine falsch gestellte Frage ist: ich möchte diese Verse ‚Gebrauchs-Lyrik‘ nennen. Nur scheinbar hebt hier ein Begriff den anderen auf.

Der politische, ethische oder religiöse Zweck benutzt, um auf die Massen zu wirken, die Formen der Kunst, deren nicht alltägliche Ausdrucksformen ihm sehr gelegen kommen. Die Wirkung soll sofort erfolgen, sie soll unmittelbar sein, ohne Umschweife – die These passiert also nicht die Kunst, sie wird nirgends sublimiert, sondern unmittelbar, in literarischer Maskerade vorgeführt.“[9]

Sehr unterschiedlich waren Ende der 1920er Jahre aber nicht nur die generellen Vorstellungen von einer Gebrauchslyrik, ebenso breit gefächert fielen auch die Bewertungen zu Kästners Gedichtbänden aus. So wurde Kästners Lyrik als „intellektueller Vorspann kommunistischer Polemik“[10]bezeichnet, während andere Kritiker in Kästner nur den Humoristen sahen[11]. Walter Benjamin hielt Kästners Gebrauchslyrik deren „linksradikale“ Haltung vor, die eine bürgerliche und fatalistische sei, wenig mit der Arbeiterbewegung zu tun habe und – trotz einer häufig politisch relevanten Thematik in den Gedichten – keiner politischen Aktion mehr entspreche.[12]In der Zeit zwischen dem Ende des zweiten Weltkriegs und heute sah man in Kästner mit einiger zeitlicher Distanz häufig vor allem den humorvollen „programmatischen Aufklärer“[13]und den Moralisten, der gegen „Verstandesvernebelung und Herzensträgheit“[14]vorging.

Wie diese Arbeit zeigen wird, strebt Kästner mit seinen Gedichten tatsächlich zumeist eine nachhaltige Brauchbarkeit an, nämlich eine Wirkung auf den Leser in einem aufklärerischen Sinn. Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, zunächst Kästners eigenes Verständnis von Gebrauchslyrik, seine theoretische Konzeption dieser Lyrik in ihren Grundzügen darzustellen, so, wie diese aus einer ganzen Reihe von theoretischen Aussagen zu Lyrik im allgemeinen bzw. zu seinem Selbstverständnis als Schriftsteller und als Aufklärer hervorgeht. Anschließend soll die Lyrik, die der Leser tatsächlich vorfindet, dahingehend untersucht werden, inwieweit sie Kästners theoretischer Konzeption und den damit verbundenen Intentionen, Wirkungsabsichten gerecht werden kann, welchen Gebrauch der Leser von den Gedichten wirklich machen kann.

Bei der Konzipierung der vorliegenden Arbeit ergab sich die Frage, ob die richtige Vorgehensweise die wäre, die typischen Elemente der Kästnerschen Gebrauchslyrik wie Sprache oder Humor jeweils in abgeschlossenen Kapiteln auf die gesamte Lyrik bezogen darzustellen und dabei nur dazu passende Ausschnitte verschiedener Gedichte zu betrachten; sinnvoller erschien es stattdessen, das Auftreten der verschiedenen Elemente an kompletten Gedichten zu untersuchen und hierbei ihr Zusammenwirken zu betrachten. Eine Schwierigkeit lag dabei in der Auswahl der Gedichte, die im Endeffekt alle typischen Kennzeichen Kästnerscher Gebrauchslyrik aufweisen und darüber hinaus die wichtigsten Themenbereiche berühren sollten. Da bei der großen Gesamtzahl der Gedichte Kästners die Bandbreite an Themen beachtlich ist, erweist sich auch eine Einteilung der Gedichte nach der inhaltlichen Aussage als schwierig. Im Rahmen dieser Magisterarbeit können die Themenbereiche nur grob und beispielhaft angesprochen werden. Bezüglich der Einteilung der Gedichte ergeben sich immerhin aber zwei Gruppen, die recht deutlich voneinander getrennt werden können: Die einen Gedichte befassen sich mit dem privaten zwischenmenschlichen Bereich, die anderen mit eher öffentlichen, politisch oder gesellschaftlich relevanten Phänomenen.

1. KÄSTNERS LYRIKKONZEPT IN DER THEORIE

In einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1930, erschienen unter dem TitelRingelnatz und Gedichte überhaupt, stellt Erich Kästner in bezug auf die zeitgenössischen Lyriker mit Bedauern fest:

„Ihre Gedichte sind, wenn man von wenigen Autoren absieht, in keiner Weise verwendbar: der Fall ist nicht selten, daß sie nicht einmal verständlich sind. [...] Es ist Lyrik im luftleeren Raum. Sie ist weder in privater noch in kollektiver Hinsicht verwendbar.“[15]

Und er fährt fort:

„Es gibt vielleicht ein halbes Dutzend Gebrauchslyriker. [...] Und diese Gebrauchslyriker werden gelesen. Sie werden auch verstanden und überall vorgetragen, sogar geliebt und auswendig gelernt. Das ist sehr schön. [...] Ihre Anteilnahme und ihre Arbeit gehört – ohne daß wir sie überschätzen wollen – unserer Zeit und deren Bewohnern.“[16]

Kästner stellt hier sehr provokativ zwei Arten von Lyrik einander gegenüber: Die Gebrauchslyrik, die verständlich und in einem kommunikativen Sinn zu gebrauchen ist, die durch ihre Aussage in irgendeiner Weise anregend oder bewegend auf den Leser wirkt, bewertet er uneingeschränkt positiv; als mehr oder weniger uninteressant abgetan hingegen wird all jene Lyrik, die diese Eigenschaften nicht besitzt. Der Gebrauchswert, der hier allerdings noch nicht näher bestimmt wird, stellt für Kästner also das primäre Kriterium dar, nach dem er ein Gedicht beurteilt.

Bei der Lyrik, der Kästner diesen Gebrauchswert abspricht, denkt er an intuitiv entstandene, esoterisch anmutende Gedichte, deren Sinn sich einer einleuchtenden Interpretation entzieht[17], sowie an eine gefühlsselig-schwärmerische, aber aussagearme Liebes- und Naturdichtung:

„Die Mehrzahl der heutigen Lyriker singt und sagt noch immer von der ‚Herzliebsten mein‘ und von dem ‚Blümlein auf der Wiesen‘ und behauptet anschließend, von der Muse mitten auf den Mund geküßt worden zu sein.“[18]

Die Autoren dieser Formen von Lyrik bezeichnet Kästner in einer recht bösen Satire als „Grossisten der Intuition“, die ihre Schaffenskraft aus „mystischen Beziehungen“ schöpfen[19], außerdem spricht er ihnen sowohl handwerkliches Können als auch künstlerisches Talent ab[20]. In derartigen Gedichten beschränkt sich der Gehalt auf Wortspielereien und Schwärmereien, oder sie sind so intuitiv, daß ihr Inhalt privat bleibt und ohne Anreiz für den Leser. Die Feststellung, die besagte Lyrik habe gegen Ende der Weimarer Republik das Angebot an Gedichten dominiert, mag aus heutiger Sicht zunächst Zweifel hervorrufen, da die heute kanonisierte Lyrik dieser Zeit eine andere ist und von einem Überangebot einer gefühlsseligen und rein intuitiven Lyrik nichts ahnen läßt. Doch, wie Dirk Walter feststellt, enthielt in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts selbst eine der bekannteren Lyriksammlungen zu einem nicht unerheblichen Teil Gedichte, auf die die Bezeichnung „Blümleinpoesie“ paßt.[21]Heinz Kindermann lobt in seinem AufsatzVom Wesen der ‚Neuen Sachlichkeit‘ebensolche Gedichte gar als die Vertreter einer begrüßenswerten neuen literarischen Strömung[22], die er selbst „Idealistische Sachlichkeit“ nennt.[23]Allerdings ist die genannte Art der Lyrik nicht die einzige, die Kästner wegen ihres fehlenden Gebrauchswertes für nicht zeitgemäß hält: Seine Kritik richtet sich auch gegen die Lyrik des gerade erst ausgegangenen Expressionismus. Deren künstlerischen Wert erkennt er dabei durchaus an, vermißt aber eine Zugänglichkeit zu den Gedichten für ein breites Publikum:

„Typische Grundgefühle wurden, eruptiv und abstrakt, ausgedrückt; und das große Publikum stand diesen Aufschreien und Sammelsurien beziehungslos gegenüber.“[24]

Die Unbrauchbarkeit der Gedichte resultiert hier daraus, daß durch die Abstraktheit der Aussage die Verständlichkeit stark eingeschränkt wird.

Unbrauchbare Gedichte können sich für Kästner also auf niedrigem oder auf hohem künstlerischem Niveau bewegen. Gemeinsam aber ist ihnen allen, daß ihre Autoren beim Schreiben weder vorrangig noch nebenbei die Absicht verfolgten, auf einen „normalen“ Leser eine Wirkung auszuüben. Als eine der Folgen des Überangebotes an unbrauchbaren Gedichten sieht Kästner nun das immer geringer werdende Interesse der Menschen am Gedichtelesen. Er bezieht sich vor allem auf die Autoren der genannten gefühlsselig-schwärmerischen und intuitiven Dichtung, wenn er erklärt:

„Denn jene Lyriker mit dem lockig im Winde wallenden Gehirn diskreditieren die Lyrik persönlich. Sie sind an der irrigen Ansicht des Publikums schuld, Gedichtelesen sei eine gegenwärtig unpassende Beschäftigung.“[25]

Wenn Kästner der unbrauchbaren Lyrik nun also eine brauchbare entgegensetzt, dann ist deren Hauptcharakteristikum zunächst, daß sie in der Lage ist, auf einen durchschnittlichen Leser eine positive Wirkung auszuüben. Sie vermag das, weil sie auf die Zeit und die Menschen zugeschnitten ist, weshalb als Folge dann auch tatsächlich ein Gebrauch durch ein breites Publikum zustande kommt. Kästner betont in derProsaischen Zwischenbemerkungaber auch unmißverständlich seine Ansicht, daß diese Eigenschaften für Lyrik eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollten, ja überhaupt seien nur solche brauchbaren Gedichte wirkliche Lyrik. Der Begriff „Gebrauchslyrik“ sei dementsprechend auch nur aus dem Grund notwendig, daß die brauchbaren Gedichte eben sehr selten geworden seien:

„Man hat für diese Art von Gedichten die Bezeichnung „Gebrauchslyrik“ erfunden, und die Erfindung beweist, wie selten in der jüngsten Vergangenheit wirkliche Lyrik war. Denn sonst wäre es jetzt überflüssig, auf ihre Gebrauchsfähigkeit wörtlich hinzudeuten. Verse, die von den Zeitgenossen nicht in irgendeiner Weise zu brauchen sind, sind Reimspielereien, nichts weiter. Es gibt freilich geschickte Reimereien und ungeschickte Gedichte, aber noch diese sind jenen vorzuziehen. Mit der Sprache seiltanzen, das gehört ins Varieté.“[26]

In solchen Aussagen steckt implizit das allgemeine Literaturverständnis Kästners, daß nämlich Literatur – und damit auch die Lyrik – nicht Selbstzweck, sondern immer in irgendwie engagierter Weise an einen Leser gerichtet sein sollte.

In derProsaischen Zwischenbemerkungerläutert Kästner nun einige grundsätzliche Merkmale seiner Idee von einer Gebrauchslyrik. Da Kästner diesem kurzen Aufsatz durch dessen Plazierung mitten im GedichtbandLärm im Spiegeleine besondere Bedeutung zukommen läßt, seien hier die zentralen Passagen zitiert:

„Zum Glück gibt es ein oder zwei Dutzend Lyriker – ich hoffe fast, mit dabei zu sein –, die bemüht sind, das Gedicht am Leben zu erhalten. Ihre Verse kann das Publikum lesen und hören, ohne einzuschlafen; denn sie sind seelisch verwendbar. Sie wurden im Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart notiert; und für jeden, der mit der Gegenwart geschäftlich zu tun hat, sind sie bestimmt. [...]

Es gibt wieder Verse, bei denen auch der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken. Und weil sie nicht nur für sich selber und um ihrer Sechseroriginalität willen schreiben, finden sie inneren Anschluß.

Daß jemand ausspricht, was ihn bewegt und bedrückt – und andere mit ihm –, ist nützlich. Wem das zu einfach gesagt ist, der mag es sich von den Psychoanalytikern erklären lassen. Wahr bleibt es trotzdem.“[27]

Wenn Kästner hier zunächst ganz bescheiden sagt, er hoffe, mit zu den brauchbaren Lyrikern zu gehören, dann wirkt das fast wie eine Entschuldigung für den Fall, daß ein Leser eben doch nichts mit seinen Gedichten anfangen kann. Nach dem Verkaufserfolg des ersten LyrikbandesHerz auf Tailleist die Aussage wohl aber eher als bescheidene Geste zu verstehen. Der insgesamt sehr selbstbewußte Ton derProsaischen Zwischenbemerkungund ihr Abdruck im Zentrum des GedichtbandesLärm im Spiegeldeuten an: Diese Sätze sind als Programm zu verstehen für Kästners gesamte Lyrikproduktion jener Jahre.

Bezüglich der Merkmale einer Gebrauchslyrik in seinem Sinne wiederholt Kästner in derProsaischen Zwischenbemerkungnoch einmal: Gebrauchslyrik spricht den Leser an, ja sie spricht sogar ein größeres Publikum an und sie wird angenommen, weil sie in der Lage ist, das seelische Befinden des Lesers positiv zu beeinflussen. Um das zu erreichen, greift sie Themen auf, die die inneren Befindlichkeiten des durchschnittlichen Zeitgenossen betreffen. Ihre Themen haben dabei einen Bezug zur Gegenwart. Besondere Betonung legt Kästner auf die Feststellung, daß in seiner Gebrauchslyrik Empfindungen natürlicher Menschen dargestellt werden. Ihnen scheint für den Gebrauchswert der Gedichte eine besondere Bedeutung zuzukommen. Wiedergegeben werden aber neben Gefühlen auch Ansichten dieser natürlichen Menschen: Insgesamt zielt die Lyrik also auf eine Identifikation des Lesers mit den dargestellten Ansichten, Gefühlen bzw. Charakteren. Da dieProsaische Zwischenbemerkungals Programm für Kästners gesamte Gedichtproduktion zu verstehen ist, bleiben die Aussagen zur Wirkung der Gedichte hier notwendigerweise insgesamt recht vage und allgemein. Welchen Nutzen seine Gedichte dem Leser konkret bringen, was genau er unter seelisch verwendbar versteht, welche Art von Gefühlen er wiedergeben möchte, bestimmt Kästner nicht genauer.

Einenmöglichen Gebrauchswert der Kästnerschen Lyrik kann man allerdings der zitierten Passage aus derProsaischen Zwischenbemerkungschon entnehmen. Wenn Kästner von einer seelischen Verwendbarkeit spricht, die bewirkt, daß der Leser „froh in die leere Stube lächelt“[28]– wobei die „leere Stube“ wohl allgemein mit einer trostlosen Gemütsverfassung in Verbindung gebracht werden kann –, dann kann die Brauchbarkeit eines entsprechenden Gedichts im Trost liegen, den es spendet. Trostspenden als eine der Wirkungsabsichten der Kästnerschen Gedichte erkennen in den Aussagen derProsaischen Zwischenbemerkungsowohl Kiesel[29]als auch Dirk Walter[30]. Betrachtet man allerdings die unterschiedlichen Inhalte Kästnerscher Gedichte, dann ist sofort offensichtlich, daß Trost zu spenden der Gebrauchswert nur einiger Gedichte sein kann. Kästner will mit seiner Lyrik mehr bewirken, als die Mitmenschen nur zu trösten. Hinweise darauf finden

sich schon in derProsaischen Zwischenbemerkung, wenn Kästner nämlich davon spricht, daß es nützlich sei, die Ansichten natürlicher Menschen in Stellvertretung auszudrücken. Der Begriff „Ansichten“ geht im Gesamtzusammenhang derProsaischen Zwischenbemerkungzwar fast unter, diese Aussage ist es aber, mit der Kästner sich auf die zahlreichen kritischen Gedichte bezieht, die nicht die rein privaten Themen behandeln.

Die bisherige Darstellung betraf Erich Kästners Verständnis von einer allgemeinen Gebrauchslyrik, das er dem Leser in Form derProsaischen Zwischenbemerkunggleichsam als Programm und als eine Art Gebrauchsanleitung mitgegeben hat. Untrennbar mit Kästners Selbstverständnis als Schriftsteller und somit auch mit seinem Konzept von Gebrauchslyrik verbunden ist nun aber sein Selbstverständnis als „Urenkel der deutschen Aufklärung“, wie er sich selbst ausdrücklich bezeichnet[31]. Kästners allgemeines Literaturverständnis gründet sich auf die Ideen der Aufklärung genauso wie sein Menschenbild, und auch die Werte, die er vertritt, Vernunft, Humanität, Freiheit des Individuums, findet man ebenso in der Aufklärung wieder. Auch wenn Kästner den Lesern seiner Gedichte gegenüber selbst zunächst nicht von aufklärerischen Ideen gesprochen hat, darf man doch nicht übersehen, daß diese von Anfang an zu seinem Konzept von Gebrauchslyrik gehört haben. In der Literaturwissenschaft herrscht darüber auch weitestgehend Einigkeit.[32]So konstatiert Helmut Kiesel: „Die meisten seiner Gedichte [...] sind geschrieben als Beiträge zur Sisyphusarbeit der Aufklärung.“[33]Im Rückblick auf sein bisheriges Schaffen bekennt sich Kästner im Jahr 1949 in einem Zeitungsaufsatz, den er in Form einer Laudatio auf sich selbst verfaßt hat, ganz klar zu den Ideen der Aufklärung:

„Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister! Betrachtet man seine Arbeiten – vom Bilderbuch bis zum verfänglichsten Gedicht – unter diesem Gesichtspunkte, so geht die Rechnung ohne Bruch auf. Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten „Tiefe“, die im Land der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.“[34]

Helmut Kiesel stellt hinsichtlich dieser Aussage fest: „ Dies ist nicht weniger als ein Bekenntnis zu den wichtigsten Grundsätzen der Aufklärungsliteratur um 1770 und zugleich eine entschiedene Absage an alle (folgenden) literarischen Richtungen, die weniger durch Vernunft und Einfachheit geprägt waren.“[35]

Schon während seines Studiums hat Erich Kästner sich insbesondere und sehr intensiv mit der späten Aufklärung und der Klassik befaßt. In Hinblick auf seine Dissertation beschäftigte er sich einige Zeit mit LessingsHamburgischer Dramaturgie, über die er ursprünglich hatte schreiben wollen.[36]Den Aufklärer Lessing bezeichnet Kästner immer wieder als sein geistiges Vorbild, als Deutschlands „kritischsten Geist“[37]. Kästner entschied sich bei der Dissertation, die er 1925 einreichte, zwar schließlich für ein anderes Thema, mit der Aufklärung beschäftigte sie sich aber ebenfalls.[38]Wie Klaus Doderer, der Kästner persönlich gekannt hat, feststellt, ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzung mit Aufklärung und Klassik bei Kästner ein lebenslang gleich gebliebenes Weltbild, nach dem das menschliche Miteinander idealerweise geprägt ist vom solidarischen Verhalten aufgeklärter und in Eigenverantwortung handelnder Individuen.[39]

Erstaunlich ist – trotz der etwa 150 Jahre, die beispielsweise zwischen Lessing und Kästner liegen – die hohe Übereinstimmung vieler Gedanken Kästners mit denen der Aufklärung. So basiert Kästners Menschenbild, genau wie das der Aufklärung, auf der Grundannahme, daß der Mensch von Natur aus dazu fähig ist, mit Hilfe seines Ver-standes als Individuum selbständig und vernünftig zu urteilen und zu handeln. Im Sinne der Aufklärung dient ein vernünftiges Handeln, vor allem im Alltag, dem Streben nach irdischem Glück für jeden einzelnen Menschen. Weil ein harmonisches Zusammenleben in der Gemeinschaft von Individuen für jeden am nützlichsten ist, setzt die Vernunft den Interessen des einzelnen Grenzen zugunsten dieser Harmonie. Die Vernunft verlangt also nach einem mitmenschlichen Handeln, nach Tugend, weiser Bescheidung.[40]Die Vernunft, die Kästner bisweilen als den „gesunden Menschenver-stand“ bezeichnet[41], stellt auch er sowohl in seinen literarischen[42]wie auch in seinen publizistischen[43]Äußerungen immer wieder als die entscheidende Größe in Hinblick auf eine glücklichere Welt heraus. Die feste Überzeugung der Aufklärer vom geschichtlichen Fortschritt als dem allmählichen Lernprozeß der gesamten Menschheit zugunsten der Vernunft[44]teilt Kästner wegen seiner Erfahrungen mit der Geschichte zwar nicht uneingeschränkt[45]; das Festhalten an den Ideen der Aufklärung beweist aber, daß er – wenigstens noch in der Zeit der Weimarer Republik[46]– trotz aller Zweifel die Hoffnung auf einen Sieg der Vernunft und auf eine Besserung der Welt nicht aufgibt.

Entsprechend dem Menschenbild der Aufklärung teilt Kästner nun auch in weiten Teilen deren Literaturverständnis, besonders dabei das durch Lessing geprägte der späten Epoche. Ebenso wie die Schriftsteller der Aufklärung sich als Erzieher sahen, so nennt auch Kästner sich selbst „Lehrer“, „Pauker“, Fortbildungsschulmeister“[47]. Die Literatur dient in beiden Fällen also nicht sich selbst, ist nicht l’art pour l‘art, sondern sie dient einem höheren Zweck, zunächst einmal ganz unmittelbar der Erziehung. Im Sinne der Aufklärer ist diese Erziehung eine zum Gebrauch der Vernunft – denn nicht bei jedem Menschen ist die Fähigkeit zum vernünftigen Urteilen gleichermaßen ausgebildet –, der Vernunftgebrauch bildet dann die Voraussetzung sowohl für das Glück des einzelnen als auch für das harmonische Zusammenleben aller[48]. Wie Wucherpfennig zusammenfassend darstellt, verfolgt die Literatur der Aufklärung unter anderem den Zweck, „Untugenden, Modehaltungen und unbegründete Normen aus lebenspraktischer Sicht zu entlarven, nicht indem sie eine Lehre eigens aussprechen, sondern indem ihre Pointe das selbständige Denken anregt“[49]. Die Schriftsteller der Aufklärung appellierten also an den Gebrauch der Vernunft derart, daß sie dem Leser unvernünftige Erscheinungen und Verhaltensweisen des Alltagslebens in deren Unzulänglichkeit vor Augen führten. In bezug auf die Untugenden heißt es bei Kästner dann hinsichtlich des satirischen Schriftstellers – Kästner bezieht sich dabei auf seine eigene Gebrauchslyrik – auch analog:

„Der satirische Schriftsteller [...] stellt die Dummheit, die Bosheit, die Trägheit und verwandte Eigenschaften an den Pranger. Er hält den Menschen einen Spiegel, meist einen Zerrspiegel, vor, um sie durch Anschauung zur Einsicht zu bringen. Er begreift schwer, daß man sich über ihn ärgert. Er will ja doch, daß man sich übersichärgert! Er will, daß man sich schämt. Daß man gescheiter wird. Vernünftiger. Denn er glaubt, zumindest in seinen glücklicheren Stunden, Sokrates und alle folgenden Moralisten und Aufklärer könnten recht behalten: daß nämlich der Mensch durch Einsicht zu bessern sei.“[50]

Aber auch die erwähnten Modehaltungen und unbegründeten Normen gehören für Kästner wie für die Aufklärer zu den unvernünftigen Erscheinungen, die einer besser funktionierenden Gesellschaft im Wege stehen. Mit seinen publizistischen Arbeiten wendet Kästner sich immer wieder gegen solche Erscheinungen und Konventionen. In dem AufsatzDas Zeitalter der Empfindlichkeitzählt er seine Vorbilder in dieser Hinsicht auf, darunter ist wiederum der von Kästner hochgeschätzte Aufklärer Lessing:

„Jene Männer, die mit dem Finger auf das Welken und Sterben der alten Regeln zeigen und neue, lebendige Regeln fordern, sind ihre natürlichen Feinde. Luther, Swift, Goya, Voltaire, Lessing, Daumier und Heinrich Heine waren solche Spielverderber.“[51]

Eine notwendige Folge des Erziehungsanspruchs der Aufklärer ist das Anstreben einer möglichst großen Breitenwirksamkeit, da nur durch das Aufklären breiter Bevölkerungsschichten ein durchgreifender Bewußtseinswandel zugunsten der Vernunft erreicht werden kann. In seiner Dissertation bringt Kästner sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß der Literatur der späten Aufklärung in der Realität diese Breitenwirksamkeit nicht zuteil wurde:

„Der neue Geist, der zwischen 1765 und 1775 eine Schar von Menschen zu Hingabe und Werk zwang, blieb für die Gesamtheit des Volkes unwirksam.“[52]

Eine breitenwirksame Literatur wäre aber nicht nur in der Aufklärung notwendig gewesen, um deren Ideale tatsächlich möglichst vielen Menschen zu vermitteln, sie war auch in der Klassik, deren Vorstellungen Kästner ebenfalls zugetan war[53], Bestandteil des humanistischen Bildungsideals. So erklärt sich in doppelter Hinsicht Kästners Forderung nach einer Lyrik, die möglichst viele Menschen ansprechen soll.

Einen Begriff gilt es hier aufzugreifen, der fest zu Kästners Selbstverständnis als Schriftsteller gehört: den des Moralisten. Enzyklopädien verzeichnen unter diesem Stichwort zweierlei Bedeutungen: Einmal ist ein Moralist dort einfach ein Sittenlehrer, was durchaus abwertend gemeint sein kann, andererseits bezeichnet der Begriff jemanden, der das seelische und soziale Verhalten der Menschen beobachtet und kritisch beschreibt, ohne dabei dogmatische Grundsätze des sittlichen Handelns aufzustellen.[54]Was Kästner selbst unter dem Begriff versteht, geht aus seinen theoretischen Äußerungen nicht eindeutig hervor. Wenn er sich aber in einem Gedankengang selbst sowohl Aufklärer als auch Moralist nennt[55], so deutet das darauf hin, daß Kästner als Moralist sich von den Menschen ein moralisches Verhalten wünscht, vor allem weil und insofern dies im Sinne der Aufklärung vernünftig ist. Dem widerspricht auch nicht die Definition Walters, der den Moralisten im Hinblick auf Kästner – ganz allgemein und ohne Berücksichtigung der Aufklärung – als jemanden bezeichnet, der die Mißstände der Welt aus einem mangelhaften ethischen Verhalten der einzelnen Individuen erklärt[56]. Der Hauptunterschied der beiden Definitionen ist das umgekehrte Vorzeichen der Formulierung. Kiesel erklärt den Moralisten als einen Menschen, der in seinem Handeln versucht, „die Einheit von Anständigkeit und Vernunft zu wahren“[57]. Nimmt man Kästners bekanntes EpigrammMoral(277)[58]zur Klärung des Begriffs zu Hilfe, dann erkennt man eine Verwandtschaft von Kästners Moralbegriff mit der praktischen Vernunft Kants[59], womit wieder die Nähe Kästners zur Aufklärung deutlich wird. Offensichtlich ist die Moral bei Kästner eng verbunden mit der Vernunft. Inwieweit er in seiner Gebrauchslyrik nun nur kritisch beschreibt oder andererseits (belehrend) moralische Grundsätze aufstellt, kann nur die Betrachtung der Gedichte zeigen.

Interessant in bezug auf Kästners Anlage seiner Gebrauchslyrik ist auch die spezielle Verlagerung der Thematik spätaufklärerischer Literatur auf den Charakter des einzelnen Menschen. Die menschliche Natur wird jetzt auch als die konkrete Psyche des einzelnen gesehen und nicht mehr nur als reine Vernunftnatur. Das Interesse der Literatur der späten Aufklärung ist immer noch auf die allen Menschen gemeinsame und die Menschen verbindende Natur gerichtet, nun aber mehr auf die Gemeinsamkeiten in den seelischen Strukturen. Das Augenmerk gilt dem wahrscheinlichen Charakter des normalen Menschen, mit dem sich jeder identifizieren kann. Vor allem Lessing ist es, der – hauptsächlich in seinen Tragödien – neben einer kritischen Betrachtung der gesellschaftlichen Zustände besonders die seelischen Regungen und inneren moralischen Konflikte des einzelnen privaten Menschen beschreibt. Eine Identifikation des Lesers mit den literarischen Charakteren dient in der späten Aufklärung, wie schon zuvor die Erziehung zum Vernunftgebrauch, einerseits der Anregung zur Selbsterziehung zum persönlichen Glück; vor allem aber soll im Sinne Lessings durch die Identifikation Mitleid mit dem „mittleren“ Helden erzeugt werden. Das Mitleid führt dann in Fortführung der aristotelischen Katharsis günstigenfalls zur Besserung des Rezipienten.[60] Erkennbar sind die Ähnlichkeiten dieser Ausprägungen spätaufklärerischer Literatur mit den Aussagen, die Kästner in der Prosaischen Zwischenbemerkung zur Gebrauchslyrik macht, wo er den Anspruch seiner Lyrik betont, das Seelenleben des
einzelnen, des „natürlichen Menschen“ darzustellen, was zur Identifikation mit den dargestellten Gefühlen und Ansichten oder aber den Charakteren führt.[61] Wenn Kästner in der Prosaischen Zwischenbemerkung von den Empfindungen des natürlichen Menschen spricht und damit unter anderem auch das Mitleid im Sinne Lessings meint, dann paßt dazu auch die Forderung nach der „Aufrichtigkeit des Empfindens“[62], die er in Kästner über Kästner formuliert.

Insgesamt ergeben sich vielfache Verbindungen zwischen Kästners Selbstverständnis als Aufklärer und seinem Konzept von Gebrauchslyrik, wie er es in derProsaischen Zwischenbemerkungund anderen publizistischen Texten umreißt. Wenn Kästner sich in dem bereits erwähnten AufsatzKästner über Kästnerzu einer Literatur in der Tradition der Aufklärung bekennt und von der Aufrichtigkeit des Empfindens, der Klarheit des Denkens und der Einfachheit in Wort und Satz spricht[63], dann ist das genauso als Programm für seine Gebrauchslyrik zu verstehen wie die Aussagen derProsaischen Zwischenbemerkung. Dabei ist es die Einfachheit in Wort und Satz, die als formales Element einer Gebrauchslyrik zu der geforderten Verständlichkeit führt und somit die Voraussetzung liefert für die angestrebte Breitenwirksamkeit. Nach dem dargestellten Konzept von Kästners Gebrauchslyrik ist deren Adressat der natürliche Mensch aus derProsaischen Zwischenbemerkung: Er ist der mittlere Held Lessings, er ist der Mensch mit dem wahrscheinlichen Charakter und er ist derjenige, der von Natur aus in der Lage ist, seine Vernunft einzusetzen, dessen gesunder Menschenver-stand derselbe ist wie derjenige der Aufklärung. Wenn im anschließenden Teil dieser Arbeit die Lyrik im einzelnen betrachtet und analysiert wird, wird sich zeigen, wen Kästner konkret anspricht und wen er wirklich zu erreichen in der Lage ist. Wie in der Einleitung schon angedeutet, gilt es zu zeigen, welche Wirkungsabsichten in den Gedichten erkennbar sind, welche praktische Wirkung auf den Leser tatsächlich möglich erscheint und letztlich, inwieweit und auf welche Weise es Kästner gelingt, seine theoretischen Aussagen zur Gebrauchslyrik und seinen Anspruch an eine Literatur in der Tradition der Aufklärung in seinen Gedichten umzusetzen.

2. UMSETZUNG DES KONZEPTS

2.1 Der private Bereich – Beziehungen und Sexualität

Stellvertretend für die Gedichte Erich Kästners, die sich mit den ganz privaten menschlichen Problemen auseinandersetzen, sollen hier diejenigen betrachtet werden, die sich mit dem Verhältnis von Männern und Frauen zueinander beschäftigen. Sie nehmen innerhalb der Kästnerschen Lyrik einen quantitativ relativ großen Raum ein, wobei die Aussagen der Gedichte äußerst vielfältig sind. Auffällig ist, daß typisch männliche und typisch weibliche Verhaltensweisen nicht immer gleichermaßen kritisch behandelt werden. Besonders das in Kästners Lyrik gezeichnete Bild der Frauen, das Bild von deren Sexualverhalten und -moral stellt sich kompliziert dar. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit jedoch darauf liegt, die Umsetzung des Kästnerschen Konzepts von Gebrauchslyrik zu untersuchen, und nicht auf einer möglichst detailgenauen Darstellung aller inhaltlicher Facetten der Lyrik, können anhand der ausgewählten Gedichtbeispiele nur bestimmte inhaltliche Aspekte beleuchtet werden. Dort, wo es nötig erscheint, werden auch Verbindungen zur übrigen Lyrik hergestellt, vor allem dann, wenn sich Interpretationen dadurch stark verschieben.

2.1.1 Beziehungen

Zu Beginn der konkreten Auseinandersetzung mit Kästners Gebrauchslyrik soll dieSachliche Romanze, eines von Kästners bekanntesten Gedichten, betrachtet werden. An diesem Gedicht lassen sich gleich eine ganze Reihe von charakteristischen Merkmalen der Kästnerschen Lyrik festmachen. Interessant ist schon der Titel des Gedichts. So trägt der Begriff Romanze zweierlei Bedeutungen: Zunächst steht er im allgemeinen Sprachgebrauch ganz schlicht für eine Liebesgeschichte; zum anderen bezeichnet der Begriff eine episch-lyrische Gattung aus der spanischen Literatur, nämlich das volkstümliche Erzähllied. Die Sachlichkeit aus dem Titel bezieht sich in Kästners Gedicht nun auf beide Bedeutungen der Romanze: Sachlich und nüchtern erscheint auf den ersten Blick die dargestellte, übriggebliebene Beziehung der beiden Menschen; ebenso sachlich und nüchtern zeigt sich auch die Darstellung in der Form des Erzählliedes:

Sachliche Romanze

Als sie einander acht Jahre kannten

(und man darf sagen: sie kannten sich gut)

kam ihre Liebe plötzlich abhanden.

Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.

Sie waren traurig, betrugen sich heiter,

versuchten Küsse, als ob nicht sei,

und sahen sich an und wußten nicht weiter.

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken.

Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier

und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken.

Nebenan übte ein Mensch Klavier.

Sie gingen ins kleinste Café am Ort

und rührten in ihren Tassen.

Am Abend saßen sie immer noch dort.

Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort

und konnten es einfach nicht fassen. (65)

Das Gedicht ist recht gleichmäßig aufgebaut, die ersten vier Strophen besitzen je vier Zeilen, die letzte besitzt fünf, wobei durch den eingeschobenen Vers die inhaltliche Hilflosigkeit des Paares betont wird. Die einzelnen Verse sind durchweg vierhebig, das Versmaß ist allerdings unregelmäßig, der Rhythmus ruhig; auch dies entspricht wiederum der inhaltlichen Hilflosigkeit. Das Reimschema ist in den ersten drei Strophen a-b-a-b, ein Kreuzreim, in der letzten durch einen eingeschobenen zusätzlichen Vers ergänzt zu a-b-a-a-b. Männliche und weibliche Versenden wechseln sich ab. Bei der Suche nach einem formalen Vorbild für die Versart finden sich weitgehende Übereinstimmungen zwischen den Versen derSachlichen Romanzeund dem (freien) Knittel: Dessen Merkmale sind Vierhebigkeit und freie Füllung des Verses zwischen den Hebungen. Nur das Reimschema ist beim Knittel, anders als bei Kästners Gedicht, paarig. Passend zu Kästners Literaturverständnis ist auch, wenn man das Versmaß derSachlichen Romanzeals Knittel bezeichnet, daß dieser, der im 16. Jahrhundert der wichtigste Vers in der deutschen volkstümlichen Literatur gewesen ist, im 18. Jahrhundert als volkstümliche Versart wieder aufgegriffen wurde, u. a. in GoethesUrfaust.[64]Die gleichmäßige formale Orientierung an traditionellen Mustern dient – abgesehen von der Betonung der inhaltlichen Hilflosigkeit – der von Kästner geforderten Verständlichkeit des Gedichts, der Eingängigkeit und Anschaulichkeit des Inhalts.

Lakonisch und sachlich, in klaren, unkomplizierten Sätzen wird zunächst festgestellt, daß die Liebe ganz plötzlich und wie eine Sache verschwunden ist. Der Vergleich des Liebesverlustes mit dem einer Sache ist dabei nicht anders als so zu verstehen, daß man auf die Liebe, solange sie da war, nicht besonders geachtet hat – vielleicht, weil sie so selbstverständlich war wie eben der Hut in der Garderobe –, erst nach dem Verlust merkt man dann, was sie einem bedeutet hat. Mit „plötzlich“ ist dabei der Moment gemeint, in dem die Beteiligten sich dessen bewußt werden, was sie vorher möglicherweise verdrängt haben, daß nämlich die Leidenschaft ohne ein besonderes Ereignis von außen verschwunden ist.

Der weitere Verlauf des Gedichts schildert Einzelsituationen nach dem Erkennen des Liebesverlustes. Man sieht, daß die beiden Beteiligten sich noch nicht gleichgültig sind, daß sie einander noch etwas bedeuten, denn sie sind traurig über den Verlust des Hochgefühls der Liebe. Sie versuchen verzweifelt, durch Festhalten am Gewohnten an die alte Leidenschaft anzuknüpfen, doch das funktioniert nicht mehr, alles ist nur noch Routine, und die Beziehung beschränkt sich ohne erkennbare Leidenschaft auf das Formale, auf Ersatzhandlungen für die vergangene wirkliche Beziehung. Übrigens ist in derSachlichen Romanze– auch wenn die beiden Hauptpersonen mehrfach durch ein gleichschaltendes „sie“ bezeichnet werden – ein sehr traditionelles Rollenverhalten bezüglich der Äußerung von Gefühlen zu beobachten, wobei die Distanz zwischen den beiden durch die Passivität des Mannes noch verstärkt wird.

Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei.

Ein Merkmal der erlahmten Liebesbeziehung ist, daß die Beteiligten in einem Zustand innerer Leere ihre Aufmerksamkeit nicht mehr auf den jeweils anderen, sondern nach außen hin konzentrieren, beispielsweise auf einen klavierspielenden Nachbarn oder auf die Schiffe vor dem Fenster, die im Gegensatz zu einem selbst nicht im Stillstand verharren, sondern in Bewegung sind, wenn auch in einer recht gleichförmigen. Nachdem die beiden dargestellten Personen in der zweiten Strophe noch auf eine Wiederbelebung der Liebe gehofft hatten, ist diese Hoffnung in der letzten Strophe einer verzweifelten Fassungslosigkeit gewichen, die sich nach außen in einem Beschränken der Kommunikation auf ein – „sachliches“ – Rühren in den Tassen zeigt.

Die Bezeichnung Romanze im Sinne des Erzähllieds ist wegen der inhaltlichen Entwicklung innerhalb des Gedichts durchaus zutreffend: DieSachliche Romanzebesitzt einen für ein Gedicht ungewöhnlich stark ausgeprägten erzählerischen, epischen Charakter, den sowohl Walter[65]als auch Kesten[66]generell an der Kästnerschen Lyrik feststellen. Ermöglicht wird er vor allem durch den Stil des Gedichts: Mit seinen sachlich-prägnanten und einfachen Sätzen, die sehr genau, aber auch in kürzestmöglicher Form und in klaren und anschaulichen Bildern die Tatsachen wiedergeben, schafft Kästner es, eine große Menge von Information auf geringem Raum unterzubringen. Eine zusätzliche Komprimierung der Aussage entsteht durch Kästners präzise Metaphorik, wie z. B. durch den Vergleich der abhandengekommenen Liebe mit einem „Stock oder Hut“ in der ersten Strophe. Anstelle pathetisch ausufernder Beschreibungen bringt Kästner im Gedicht also relativ viel Handlung bzw. Aussage unter, was zu dem narrativen Eindruck führt. Die nüchterne und sehr objektive Sprache derSachlichen Romanzeist der Alltagssprache entlehnt; der Stil, bei dem möglichst viel Information auf geringem Raum untergebracht wird, ähnelt aber auch dem journalistischen[67]. Durch die Sprache werden – ebenso wie durch die geschilderten formalen Elemente – die Verständlichkeit und die Anschaulichkeit des Gedichts unterstützt.

DieSachliche Romanze– und die Werke Kästners im allgemeinen –werden heute wegen der nüchternen, sehr objektiven Art der Darstellung meist der Stilepoche der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Nach den heute angewendeten Kriterien der Epochenzuordnung ist dieSachliche Romanzeinsofern typisch für diese Epoche, als sie eine banale Geschichte exakt schildert, ohne dabei die Hintergründe zu analysieren und ohne eine Lösungsmöglichkeit vorzugeben. Kästner selbst lehnte den Begriff „Neue Sachlichkeit“, als dieser in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts aufkam, allerdings ab.[68]Das ist auch verständlich, wenn man sich ansieht, wie gründlich mißverstanden die Sachlichkeit in seinen Gedichten damals teilweise wurde. Heinz Kindermann beispielsweise ordnete dieSachliche Romanzeals „klassisches“ Beispiel der Stilrichtung Radikale Sachlichkeit zu, die er selbst als eine Art nihilistischen Ableger der Neuen Sachlichkeit definierte.[69]Typisch für diese wie für das Kästnergedicht ist in Kindermanns Augen die „skeptische Ausschaltung der Idealwerte“, außerdem unterstellt er Kästner bzw. seinem Gedicht Gemütslosigkeit.[70]Walter Benjamin gesteht in seinem vielzitierten AufsatzLinke Melancholie, der anläßlich des Erscheinens von Kästners GedichtbandEin Mann gibt Auskunfterschien, Kästner und seinen Gedichten zwar eine ausgeprägte Schwermut zu, schränkt deren möglichen Wert als Gefühlsausdruck aber dadurch ein, daß er erklärt, diese Schwermut komme aus Routine, was bedeute, Kästner habe die Gabe sich zu ekeln preisgegeben.[71]Benjamin glaubt erkennen zu können, Kästner habe Gefühle wie Liebe, Enthusiasmus und Menschlichkeit verloren.[72]

„Kästners Nihilismus [...] verbirgt nichts, sowenig wie ein Rachen, der sich vor Gähnen nicht schließen kann.“[73]

Tatsächlich liegt das In-Frage-Stellen menschlicher Grundwerte und -gefühle keineswegs in Kästners Absicht. Dirk Walter erkennt dagegen vielmehr eine Wendung Kästners gegen ein hohles Pathos, das durch die Massenmedien verbreitet wird: Walter macht an derSachlichen Romanzedie Intention Kästners fest, mit den idealisierenden Vorstellungen von Liebe abzurechnen, die in trivialen Genres wie dem kommerziellen Schlager vertreten werden, und spricht von einer Kritik an der „kulturindustriellen Lüge“. Walter bezieht sich dabei auf einen Schlager, der kurz vor Kästners Gedicht erschienen ist, und erläutert, wie auffällig ähnlich die Sprache und vor allem die Bilder in dem Schlager bzw. in derSachlichen Romanzeeinander sind. Der Kontrast zwischen Schlager und Gedicht, durch den die kritische Position sichtbar wird, entsteht schließlich durch die Umkehrung der Bilder, wenn nämlich das stille Einander-gegenüber-Sitzen im Café nicht wie im Schlager für die große Liebe steht, die keine Worte braucht, sondern für das genaue Gegenteil.[74]

Das Schweigen der beiden Menschen am Ende derSachlichen Romanzesteht – wie bereits erwähnt – aber nicht für ein grundsätzliches In-Frage-Stellen der Liebe. Der in den 1920er Jahren verbreiteten Ansicht, die „neusachliche“ Lyrik sei gefühllos, widerspricht Kästner entschieden in verschiedenen publizistischen Veröffentlichungen. In den AufsätzenIndirekte Lyrik[75]undLyriker ohne Gefühl[76]erklärt er den neuen, nüchternen Stil auf zweifache Weise: zunächst, wie hier schon erläutert, als Gegenreaktion auf Pathos des Expressionismus und „Natürlichkeit“ der intuitiven Dichter.[77]Kästners zweite (und wichtigere) Erklärung ist aber: Die Dichter genieren sich nach den jüngsten Erfahrungen mit dem ersten Weltkrieg, ihre Gefühle direkt auszudrücken. Deshalb maskieren sie sich durch Übertreibungen, Verstellungen und Nebensächliches,[78]„weil ihnen die Hauptsachen zu heilig sind“[79]. Dahinter stecken aber immer tiefe Gefühle. Weil die Stimmungen und Gefühle nicht direkt ausgedrückt werden, mindestens bei genauer Betrachtung aber erkennbar sind, nennt Kästner diese Lyrik „indirekte Lyrik“:

„Der in Krieg und Revolution notwendigen Gefühlsentblößung folgte eine Zeit ernster Verschlossenheit und männlicher Zurückhaltung, die sich besonders im Wesen der künstlerisch genötigten Menschen auswirken mußte. Man kann, ein wenig drastisch, sagen, daß sich der Lyriker genierte, seine Stimmungen und Gefühle auszustellen. Er maskierte sich durch Übertreibungen, durch Bevorzugung unwichtiger, bloß assoziativ wirkender Daten, hinter denen er sich selber verbirgt, ohne seine Sehnsucht, sein Glück, seinen Schmerz deshalb zu verheimlichen. Die heute moderne Lyrik ist eine Dichtung der Umwege. Sie ist – indirekte Lyrik.

[...] Der Lyriker spielt nur auf seine Gefühle an; er spricht sie nicht aus. Er verspottet sie eher, als sie unbedenklich zu beichten. Wenn seine Verse am sachlichsten klingen, gerade dann birgt sich dahinter Erschütterung.“[80]

In der Maskierung der Gefühle, die Kästner hier beschreibt, in der gemachten Unterkühltheit, erkennt Dirk Walter einen Trick, Gefühle unter den Umständen der Zeit überhaupt noch glaubhaft ausdrücken bzw. sogar wecken zu können[81], und Kästner ergänzt in Hinblick auf die tiefen Gefühle der indirekten Lyrik seine Gedanken in dem AufsatzLyriker ohne Gefühl:

„Und wer die Dummheit beging, diesen Stil die ‚Neue Sachlichkeit‘ zu nennen, den möge der Schlag treffen!“[82]

Zur Zeit der Weimarer Republik mag der nüchterne Darstellungsstil so provozierend neu gewesen sein, daß man die in derSachlichen Romanzeenthaltenen Gefühle noch übersehen konnte. Aus heutiger Sicht aber kann das kaum mehr passieren. Harald Hartung bescheinigt dem Gedicht sogar eine zutiefst romantische Natur. Er nennt Kästner einen Einfühlungsspezialisten, dessenSachliche Romanzeselbst heute noch zu Recht populär ist, weil sie die Situation so glaubwürdig schildert, daß große Leserschichten sich sofort damit identifizieren können. Rührend und dabei authentisch wirken besonders die Gesten des Paares in der zweiten Strophe, als die beiden verzweifelt versuchen, an die alte Liebe anzuknüpfen.[83]Auch in Hinblick auf die Betrachtung weiterer Gedichte ist noch zu erwähnen, daß Kästner in derSachlichen Romanze, was zunächst nicht ungewöhnlich ist, eine eigene (Trennungs-) Erfahrung verarbeitet[84]; dies kommt natürlich der Authentizität der Situationsbeschreibung zugute. Interessant ist aber, daß Details im Gedicht, wie die Dauer der vergangenen Liebesbeziehung von acht Jahren, exakt mit Kästners Biographie übereinstimmen[85], daß Kästner es aber andererseits schafft, die Situation so allgemein zu gestalten, daß sich fast jeder mit ihr identifizieren kann, wenn auch der Personenkreis, den Kästner unmittelbar anspricht, und hier verallgemeinert er nicht weiter, aus Menschen besteht, die wie das Paar im Gedicht in einer – wohl städtischen – Mietswohnung leben, häufig Cafés besuchen usw., deren äußere Lebensumstände also ähnliche sind wie die Kästners.[86]

Insgesamt leistet dieSachliche Romanzenun folgendes: Was die einfache, antiesoterische Sprache, den verständlichen Stil und den harmonischen und gleichmäßigen formalen Aufbau des Gedichts angeht, entspricht es voll den Forderungen nach Einfachheit und Verständlichkeit, die Kästner in seinem Bekenntnis zur Aufklärungsliteratur[87], aber auch in Aufsätzen wieRingelnatz und Gedichte überhaupt[88]an sich selbst stellt. Daß der Gefühlsausdruck in derSachlichen Romanzeseinerzeit bisweilen übersehen wurde, lag wohl hauptsächlich an der provozierenden Neuartigkeit des Stils. In der Aussage beschränkt sich das Gedicht auf eine ausführliche und sehr exakte und anschauliche Beschreibung der Situation und der Art des Paares, mit dieser umzugehen. Auch inhaltlich entspricht das Gedicht also Kästners Konzept: Die für die Aufklärungsliteratur typischen seelischen Regungen und die Empfindungen natürlicher Menschen[89]werden zwar nicht aus einer seelischen Innensicht heraus ausgesprochen, sie sind aber trotz der indirekten Darstellung anschaulich präsent und werden bei der Identifikation des Lesers mit den Hauptpersonen quasi reproduziert. Einen großen Wert derSachlichen Romanzestellt dabei die Authentizität der Gefühle dar: Sie erfüllt Kästners Forderung nach der Aufrichtigkeit des Empfindens.[90]

Auch wenn dieSachliche Romanzekeinen Ratschlag und keine Aufmunterung explizit ausspricht, ist sie dennoch in der Lage, Trost zu spenden, nämlich dann, wenn sich der Leser mit den Figuren darin identifiziert und sich an ihrem Elend aufrichtet, bzw. an der Tatsache, daß der beklagte Verlust der Leidenschaft etwas Alltägliches ist, das jedem passieren kann. Durch die Allgemeinheit der Darstellung hat der Leser dabei die Möglichkeit, viel an eigenen Empfindungen in die Geschichte hineinzuprojizieren, wodurch die Identifikation erleichtert wird. Und noch ein weiterer Gebrauchswert für den Leser neben dem Trost ist möglich: Das Aufklären (im engeren Sinne des Wortes) darüber, daß und wie jede Liebe einmal zu Ende gehen kann, mag glücklichen Paaren als Mahnung dienen, das Glück nicht als etwas zu Selbstverständliches zu betrachten. Mittel zum Zweck ist dabei wieder die Identifikation bzw. das Wecken von Mitgefühl. Der Gebrauchswert ist dann einer ganz im Sinne der Aufklärung: eine Anleitung zum persönlichen Glück.

Das GedichtFamiliäre Stanzen(129/130) befaßt sich im Gegensatz zurSachlichen Romanzemit den Problemen, die während einer langjährigen Beziehung entstehen können. Schon die erste Verszeile des Gedichts spricht aus, um was es geht: Menschen, die sich hassen und gegenseitig schikanieren, obwohl sie sich eigentlich lieben; die nächsten drei Zeilen zeigen das Ausmaß des Hasses, der sich nicht nur in der Tat äußert, sondern selbst noch in bewußtem Unterlassen von Taten:

[...]


[1]Vgl. KORDON, Klaus: Die Zeit ist kaputt. Die Lebensgeschichte des Erich Kästner, Weinheim 1994, Neuausgabe 1996, S. 112.

[2]Vgl. WALTER, Dirk: Zeitkritik und Idyllensehnsucht. Erich Kästners Frühwerk (1928–1933) als Beispiel linksbürgerlicher Literatur in der Weimarer Republik. Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Heidelberg 1977, S. 66.

[3]Vgl. GÖRTZ, Franz Josef und Hans Sarkowicz: Erich Kästner. Eine Biographie, München 1998, S. 120.

[4]Vgl. KÄSTNER, Erich: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Erich: Werke, herausgegeben von Franz Josef Görtz, München 1998, Band I, Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte, herausgegeben von Harald Hartung, S. 87/88, hier S. 88.

[5]Vgl. auch KORTE, Hermann: Energie der Brüche. In: Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband: Lyrik des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ludwig Arnold, München 1999, S. 63 ff., hier S. 74 ff.

[6]KESTEN, Hermann: Erich Kästner. Vorwort zu: Erich Kästner: Gedichte, Frankfurt am Main 1981, S. 21–57, hier S. 25/26.

[7]Vgl. KESTEN (1981), S. 25.

[8]Vgl. BENJAMIN, Walter: Gebrauchslyrik? Aber nicht so! In: W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Band 3, Frankfurt am Main 1972, S. 183–184.

[9]TUCHOLSKY, Kurt: Gebrauchslyrik. In: Kurt Tucholsky: Auswahl in sechs Bänden. Herausgegeben von Roland Links. Band 5, Berlin 1972, S. 504.

[10]DIETTRICH, Fritz: Lyrik 1928–1929. In: Die Literatur, Jahrgang 1929/30, S. 26 ff., hier S. 29.

[11]Vgl. BRENNER, Hans Georg: Lärm im Spiegel. In: Die neue Bücherschau, H. 9, 7. Jahrgang 1929, S. 514/515, hier S. 515.

[12]Vgl. BENJAMIN, Walter: Linke Melancholie. Zu Erich Kästners neuem Gedichtbuch. In : W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Band 3, Frankfurt am Main 1972, S. 279–283, hier S. 280/281.

[13]KRAUSE, Tilman: Lachen stärkt die Abwehrkräfte. In: Die literarische Welt, Beilage der Welt, Nr. 8, 20. Februar 1999.

[14]HERRLE, Stephan: Satiriker und Lyriker. In: Straubinger Tagblatt, 22. Februar 1979.

[15]KÄSTNER, Erich: Ringelnatz und Gedichte überhaupt. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI: Splitter und Balken. Publizistik, herausgegeben von Hans Sarkowicz und Franz Josef Görtz in Zusammenarbeit mit Anja Johann, S. 226–228, hier S. 227.

[16]KÄSTNER: Ringelnatz und Gedichte überhaupt. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 227.

[17]Vgl. KÄSTNER, Erich: Ein Wort zur Kulturkrise. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II: Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, kleine Prosa, herausgegeben von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke, S. 285/86.

[18]KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 87.

[19]Vgl. KÄSTNER, Erich: Diarrhoe des Gefühls. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 287–290, hier S. 288/289 und S. 290.

[20]Vgl. KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 87.

[21]Vgl. hierzu WALTER (1977), S. 230.

[22]Vgl. KINDERMANN, Heinz: Vom Wesen der ‚Neuen Sachlichkeit‘. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1930, S. 354–386, hier S. 371.

[23]Vgl. auch WALTER (1977), S. 230/231.

[24]KÄSTNER, Erich: Indirekte Lyrik. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 131–134, hier S. 131.

[25]KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 88.

[26]KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 88.

[27]KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 88.

[28]KÄSTNER: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 88.

[29]Vgl. KIESEL, Helmut: Erich Kästner. München 1981, S. 72.

[30]Vgl. WALTER (1977), S. 224.

[31]Vgl. KÄSTNER, Erich: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 323–328, hier S. 326/327.

[32]Vgl. u. a. DODERER, Klaus: Erich Kästner. Lebensphasen – politisches Engagement – literarisches Wirken, Weinheim und München 2002, S. 109 ff.; WALTER (1977), S. 232.

[33]KIESEL (1981), S. 7.

[34]KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/27.

[35]KIESEL (1981), S. 8.

[36]Vgl. KIESEL (1981), S. 36.

[37]Vgl. KÄSTNER, Erich: Die Revolution von oben. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 121–125, hier S. 122.

[38]Vgl. KIESEL (1981), S. 36.

[39]Vgl. DODERER, Klaus: Erich Kästner. Lebensphasen – politisches Engagement – literarisches Wirken, Weinheim und München 2002, S. 37.

[40]Vgl. WUCHERPFENNIG, Wolf: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1986, S. 76.

[41]Vgl. KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 327.

[42]z. B. in dem GedichtUnd wo bleibt das Positive, Herr Kästner?(170/171).

[43]z. B. in dem Aufsatz: KÄSTNER: Die Revolution von oben. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 121–125.

[44]Vgl. WUCHERPFENNIG (1986), S. 76.

[45]Vgl. KIESEL (1981), S. 9.

[46]Vgl. WALTER (1977), 271.

[47]Vgl. Kästner, Erich: Eine kleine Sonntagspredigt. Vom Sinn und Wesen der Satire. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 129.

[48]Vgl. WUCHERPFENNIG (1986), S. 76.

[49]WUCHERPFENNIG (1986), S. 84.

[50]Kästner: Eine kleine Sonntagspredigt. Vom Sinn und Wesen der Satire. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 129.

[51]Kästner, Erich: das Zeitalter der Empfindlichkeit. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 219/220.

[52]Vgl. KÄSTNER, Erich: Friedrich der Große und die deutsche Literatur. Eine Untersuchung des literarischen Geschmacks um 1780, Auszug aus Kästners Dissertation von 1925. In: KÄSTNER, Erich: Kästner für Erwachsene, herausgegeben von Rudolf Walter Leonhardt, Zürich 1966, S. 409–420, hier S. 419.

[53]Vgl. DODERER (2002), S. 109.

[54]Vgl. BROCKHAUS Enzyklopädie in zwanzig Bänden, Wiesbaden 1966–1974, Band 12, S. 789.

[55]Vgl. die weiter oben zitierte Stelle aus KÄSTNER, Erich: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/27.

[56]Vgl. Walter (1977), S. 268.

[57]Kiesel (1981), S. 11.

[58]Als Textquelle bezüglich des lyrischen Werks Erich Kästners diente für diese Magisterarbeit ausschließlich der Gedichtband der neunbändigen Werkausgabe von 1998: KÄSTNER, Erich: Werke, herausgegeben von Franz Josef Görtz. Band I: Zeitgenossen, haufenweise. Gedichte, herausgegeben von Harald Hartung, München 1998. Zugunsten einer vereinfachten Lesbarkeit erfolgen in dieser Arbeit die Nachweise der Zitate von Kästnergedichten und Gedichtausschnitten sowie sonstige Hinweise auf die Gedichte durch die Angabe der entsprechenden Seitenzahlen der genannten Ausgabe in Klammern an passender Stelle. Auf einen Nachweis wird verzichtet, wenn er kurz zuvor bereits erfolgte, insbesondere dann, wenn Verszeilen schon komplett zitiert wurden.

[59]Vgl. HARTUNG, Harald: Der sachliche Romantiker. Erich Kästners Lyrik – wiedergelesen. Nachwort in: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 377–400, hier S. 391/392.

[60]Vgl. WUCHERPFENNIG (1986), S. 91.

[61]Vgl. Kästner: Prosaische Zwischenbemerkung. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 87/88.

[62]KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/327.

[63]Vgl. KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/27.

[64]Vgl. zum Knittel GUTZEN, Dieter, Norbert Oellers und Jürgen H. Petersen: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1976, 6., neugefaßte Auflage 1989, S. 70/71.

[65]Vgl. WALTER (1977), S. 232.

[66]Vgl. KESTEN (1981), S. 30.

[67]Vgl. KLOTZ, Volker: Lyrische Anti-Genrebilder. Notizen zu einigen neusachlichen Gedichten Erich Kästners. In: W. Müller-Seidel u. a.: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft, München 1974, S. 479–495, hier S. 493.

[68]Vgl. KÄSTNER, Erich: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 102–104, hier S. 104.

[69]KINDERMANN (1930), S. 379.

[70]KINDERMANN (1930), S. 380.

[71]Vgl. BENJAMIN: Linke Melancholie (1972), S. 280.

[72]Vgl. BENJAMIN: Linke Melancholie (1972), S. 281.

[73]BENJAMIN: Linke Melancholie (1972), S. 282.

[74]Vgl. WALTER (1977), S. 177/178.

[75]KÄSTNER: Indirekte Lyrik. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 131–134.

[76]KÄSTNER: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 102–104.

[77]KÄSTNER: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 103.

[78]Vgl. KÄSTNER: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 103.

[79]KÄSTNER: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 103.

[80]KÄSTNER: Indirekte Lyrik. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 132.

[81]Vgl. WALTER (1977), S. 225.

[82]KÄSTNER: Lyriker ohne Gefühl. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 104.

[83]Vgl. HARTUNG, Harald: Der sachliche Romantiker. Erich Kästners Lyrik – wiedergelesen. Nachwort in: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 377–400, hier S. 387.

[84]Vgl. VOGEL, Harald und Michael Gans: Erich Kästner lesen. Lesewege – Lesezeichen zum literarischen Werk, Reihe Leseportraits, Band 4, Baltmannsweiler 1999, S. 70.

[85]Vgl. Kommentar des Herausgebers zu dem Gedicht in: KÄSTNER, Werke (1998), Band I, S. 414.

[86]Vgl. beispielsweise HANUSCHEK, Sven: Keiner blickt Dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners, München und Wien 1999, S. 131.

[87]KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/327.

[88]KÄSTNER: Ringelnatz und Gedichte überhaupt. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band VI, S. 227.

[89]Vgl. WUCHERPFENNIG (1986), S. 77.

[90]Vgl. KÄSTNER: Kästner über Kästner. In: KÄSTNER, Werke (1998), Band II, S. 326/327.

Excerpt out of 109 pages

Details

Title
Erich Kästners Konzept von Gebrauchslyrik
College
University of Koblenz-Landau
Grade
1,7
Author
Year
2003
Pages
109
Catalog Number
V29262
ISBN (eBook)
9783638308212
File size
858 KB
Language
German
Notes
Erich Kästners theoretisches Lyrikkonzept und dessen Umsetzung in den Gedichten des "Moralisten" in der Zeit der Weimarer Republik. Im Zusammenhang mit Kästners Lyrik Diskussion der Begriffe von "Gebrauchslyrik" und "Neuer Sachlichkeit".
Keywords
Erich, Kästners, Konzept, Gebrauchslyrik, Thema Erich Kästner
Quote paper
Fabian Otto (Author), 2003, Erich Kästners Konzept von Gebrauchslyrik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29262

Comments

  • guest on 10/16/2007

    Es gibt nichts gutes außer mann tut es..

    Hallo herr Otto,
    Ich bin sehr erfreut einen derartigen Beitrag über Kästner gefunden zu haben. Für mich ist Kästner eine Ikone dem kein Lyriker das Wasser reichen kann. denn wenn sich in unsere gesellschaft eine veränderung vollzihen soll, dann über eine Umstrukturierung der Bevölkerungsschichten. die armen Menschen, die auch geistig verarmt sind, können nur mit einer derartigen Lyrik wieder interesse an bildung finden. Denn jeder mensch kann die Lyrik Kästners verstehen, weil sie eben unmittelbar anwendbar ist und nicht eine weitere Ursache für Desintresse bildet. Beispiel: Nächtliches Rezept für Städter Quelle: Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke.

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Title: Erich Kästners Konzept von Gebrauchslyrik



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