Über die Förderung eines lese- und rechtschreibschwachen Schülers

Legasthenie-Einzelfallförderung


Seminararbeit, 2004

61 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1 Theoretische Grundlagen zur Lese- Rechtschreibförderung

2 Didaktisch-methodische Prinzipien und Fördermaßnahmen

3 Charakterisierung des Entwicklungsstandes des Kindes
3.1 Lernausgangslage des Schülers
3.2 Ziele der Förderung

4 Planung, Durchführung und Reflexion der Förderstunden

5 Reflexion des Förderzeitraumes
5.1 Entwicklung der Lesefertigkeit des geförderten Schülers
5.2 Überprüfung der Erreichung der Lernziele
5.3 Zusammenfassung und Vorschläge für die weitere Förderung

6 Literaturverzeichnis

1 Theoretische Grundlagen zur Lese- und Rechtschreibförderung

Zur Erklärung von Lese- und Rechtschreibproblemen gibt es eine Vielzahl von Theorien. Im Rahmen dieser Einzelfallstudie wird darauf verzichtet diese allesamt darzustellen und zu bewerten.

Vielmehr sollen empirisch abgesicherte Aussagen über die aktuelle skizziert werden.

Walter schließt aus der Betrachtung der ihm vorliegenden Forschungsbefunde, dass eine Unterscheidung zwischen sogenannten diskrepanten und nicht-diskrepanten Legasthenikern nicht sinnvoll erscheint, da sich u.a. in Volksschulen kaum Unterschiede der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten zwischen Schülern der genannten “Kategorien“ zeigen.1 Unspezifische Ansätze zur Rechtschreibförderung haben sich bisher als wenig erfolgreich erwiesen, während spezifische Ansätze vergleichsweise erfolgreich waren.2 Mit unspezifischen Ansätzen sind solche gemeint, denen als Ursache für Lese- Rechtschreibschwäche Störungen allgemein kognitiver Funktionen zugrunde gelegt werden. Diese Ansätze zielen nicht auf lese- und schreibspezifische Übungs- und Therapiemaßnahmen ab, sondern mit ihnen wird versucht allgemeine Fähigkeiten wie die visuelle Wahrnehmung oder Fähigkeiten zur Lautdiskrimination zu fördern.

Insbesondere das Konzept einer zentralen cerebralen Störung (MCD), das vor allem von Schenk-Danziger3 vertreten wird und das der visuellen Wahrnehmungsstörung, das ebenfalls von Schenk-Danziger, aber auch von Frostig4 und anderen angenommen wird sind in diesem Zusammenhang zu nennen.

Als Konsequenz aus diesen Erklärungsversuchen ergeben sich für die Förderpraxis unter anderem Funktionsübungen zum Training visueller und akustischer Wahrnehmung, Behandlungsformen zur Behebung der Raumlage-Labilität und allgemein sprachliche Übungen.5

Empirische Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser unspezifischen Maßnahmen zeigen, dass von diesen Funktionstrainings keine Verbesserungen der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten bei Schülerinnen und Schüler zu erwarten sind.6

Spezifische Angebote zum Lesen und Schreiben erscheinen sinnvoller. Dabei können auf der Basis des entwicklungspsychologisch-funktionsanalytischen Ansatzes spezifische Teilprozesse des Lesens ausgemacht und aus denen spezifische Fördermaßnahmen abgeleitet werden.7

Um die für das Lesen spezifischen Teilprozesse darzustellen, erscheint das Modell von Scheerer-Neumann als geeignet und soll kurz dargestellt werden, um zum einen den theoretischen Hintergrund zum Verstehen des Leseprozesses darzustellen und zum anderen im folgenden Kapitel die didaktisch-methodischen Prinzipen und spezifischen Fördermaßnahmen ableiten zu können.8

Das in Abbildung 1 dargestellte Modell nimmt Operationen (oval dargestellt) und Speicherkomponenten (rechteckig dargestellt) an, die bei der Identifikation und dem lauten Lesen eines Wortes eine Rolle spielen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Modell des Wortleseprozesses nach SCHEERER-NEUMANN (1981). Aus: Walter 1996, 64

Im Modell werden drei Verarbeitungsstufen unterschieden.9 In der ersten Verarbeitungsstufe findet eine visuelle Operation statt, bei der eine Merkmalsanalyse und visuelle Segmentierung in Verarbeitungseinheiten des zu lesenden Wortes abläuft. Bei der Segmentierung müssen Silben oder andere Segmentiereinheiten vom Leser selbst herausgegliedert werden. Für die visuelle Merkmalsanalyse und Segmentierung sind Informationen (Lernerfahrungen) nötig, die im visuellen Langzeitspeicher vorliegen.

Die zweite Verarbeitungsstufe ist die der phonologischen Kodierung (Abtastung), bei der die segmentierten Einheiten nacheinander phonologisch kodiert und dann wieder verbunden werden. Häufig wiederkehrende Einheiten werden dabei nur einmal phonologisch kodiert, wobei unbekannte Wörter Buchstabe für Buchstabe kodiert werden. Die phonologisch kodierten Segmente werden dann in das auditiv-verbale Kurzzeitgedächtnis transferiert, wo sie zusammen mit den vorherigen und nachfolgenden phonologischen Segmenten verbunden und gespeichert werden.

Die dritte Verarbeitungsstufe ist die semantische Kodierung, welche sich jedoch nicht direkt an die phonologische Kodierung anschließen muss. Hier wird der Sinn des Wortes aufgrund der phonologischen Kodierung durch den Abgleich der im Langzeitgedächtnis gespeicherten Wörter festgestellt. Die semantische Kodierung kann sich direkt an die visuelle Kodierung anschließen, in diesem Fall findet häufig eine zur semantischen Kodierung parallele phonologische Kodierung statt.

Dies aus diesem Modell resultierenden Förderansätze werden im folgenden Kapitel “Die didaktisch-methodischen Prinzipen und spezifische Fördermaßnahmen“ dargestellt. Für die Förderplanung bei Kindern mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche scheinen ebenfalls die empirischen Befunde von größter Bedeutung zu sein, die nachweisen konnten, dass sich die Leseförderung auf Basis der Silbe oder des Morphems als wirksam erwiesen haben. Zudem scheint die Einbindung metakognitiver Komponenten in Lese- Rechtschreibförderprogramme eine notwendige und effektive Maßnahme zu erweisen.10

2 Didaktisch-methodische Prinzipien und Fördermaßnahmen

Aus den bisher dargestellten theoretischen Grundlagen zur Lese-Rechtschreibschwäche lassen sich didaktisch-methodische Prinzipien zur Gestaltung des Förderunterrichts im Bereich des Lesens und Schreibens ableiten.

Folgende Prinzipien sollten dabei berücksichtigt werden:

1. Die Fördermaßnahmen müssen spezifische Übungen zu den verschiedenen Ebenen des Wortleseprozesses darstellen und sollten keine unspezifischen Funktionstrainings sein.
2. Bei der Förderung müssen dem Kind geeignete Segmentierstrategien (z. B. Silbe oder Morphem) zum Erlesen eines Wortes beigebracht werden.
3. Parallel zu Übungen auf der Wortebene sollte auch auf der Textebene gearbeitet werden. Dies kann bei der Sinnerschließung eines Wortes helfen und macht deutlich, dass Wörter im Kontext eines Satzes oder eines Textes stehen und dazu dienen Informationen zu übermitteln.
4. Die Förderung sollte ebenfalls zur Vermittlung von metakognitiven Fähigkeiten und Strategien wie Selbstinstruktion und Selbststeuerung zur gezielten Problemlösung enthalten.

Neben diesen didaktisch-methodischen Prinzipien und Fördermaßnahmen, die sich aus den bisherigen theoretischen Überlegungen zum Lese- und Schreiblernprozess ableiten ließen, lassen sich weitere didaktisch und methodische Maßnahmen finden, die zum Gelingen einer Förderung beitragen können.

Kretschmann weist beispielsweise darauf hin, dass Lese- und Übungstexte Ereignisse wiederspiegeln sollten, welche für Kinder eine persönliche Bedeutung haben.11 Dabei können entsprechende Texte im Unterricht selbst entwickelt werden und sollten im Sinne des Erlebnisansatzes an die Erlebnisse der Kinder anknüpfen. Weiterhin wird vorgeschlagen die Förderung so zu gestalten, dass möglichst viele Sprechanlässe geboten werden, da Schrift ein Abbild der gesprochen Sprache darstellt. Auch das parallele Üben von Lesen und Schreiben erscheint sinnvoll, damit Kinder so früh wie möglich eigene Vorstellungen und Erfahrungen aufschreiben können. Bei der Gestaltung von Lesetexten ist darauf zu achten, dass diese aus solchen Wörtern bestehen, die vom Schüler semantisch sicher verfügbar sind, damit sinnerfassendes Lesen ermöglicht wird.

Natürlich sollte aber neben der Arbeit an Texten, gerade bei Kindern mit erheblichen Schwierigkeiten im Lese- Schreibprozess, verstärkt das Lesen auf der Wortebene geübt werden. Das Lesen isolierter Wörter ohne Textzusammenhang macht ebenfalls Sinn, wenn orthographisch-phonologisches Wissen vermittelt werden soll. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass eine Lese- und Schreibförderung auf Wort- und Textebene stattfinden sollte.

Bei der Gestaltung der Förderung sollten möglichst vielfältige Übungsformen gewählt werden. Dabei geht es zum einen um den Aspekt der Motivation und zum anderen darum, dass verschiedene Einzelfähigkeiten parallel und in unterschiedlichen Zusammenhängen angewendet werden sollen.12

Als letztes Unterrichtsprinzip zur Förderung bei Lese-Schreibschwäche soll das Prinzip der lernprozessbegleitenden Diagnostik genannt werden.13 Gemeint ist die Erfassung des sachstrukturellen Entwicklungsstandes und der Lern- und Aneignungsweisen der Schülerinnen und Schüler. Dies ist wichtig um Lernergebnisse zu sichern und dem Lernenden eine Rückmeldung über Gelerntes geben zu können, sowie weitere Förderangebote gezielt planen zu können.

3 Lernausgangslage des Schülers

Nachdem bisher allgemeine theoretische und didaktisch-methodische Grundlagen und Prinzipien zur Gestaltung einer Lese- und Rechtschreibförderung zusammengetragen wurden, geht es nun darum die Lernausgangslage des Schülers zu beschreiben und Lernziele für die Förderung zu bestimmen. Dabei soll eine möglichst optimale Passung zwischen Lernausgangslage des Schülers und den theoretischen und didaktisch-methodischen Grundlagen und Prinzipien zur Lese- und Schreibförderung angestrebt werden. Die konkreten Methoden zur Erreichung der angestrebten Förderziele werden bei der Beschreibung der einzelnen Förderstunden aufgeführt.

3.1 Charakterisierung des Entwicklungsstandes

Bei der Charakterisierung des Entwicklungsstandes wird auf Informationen der Klassenlehrerin, des Betreuers des Praktikums und des Förderlehrer der letzten Lese- und Rechtschreibförderung zurückgegriffen.

Gefördert wird der 15 jährige Schüler Paul14, der sich im 8. Schuljahr einer Förderschule befindet.

Paul wurde schon im vorherigen Jahr gefördert und hat den Kieler Leseaufbau15 durchlaufen, wobei er sich anscheinend bei einigen Wörtern noch nicht ganz sicher ist. Zudem wurde Wert auf das Üben des Sinnentnehmenden und Automatisierten Lesens gelegt. Graphem-Phonem- Korrespondenzen wurden geübt und es ließen sich Lernerfolge verzeichnen (beispielsweise für die Konsonantenverbindung „chs“). Ein weiteres Ziel der letzten Förderung ist das Vermitteln von geeigneten Segmentierstrategien und Methoden der Selbstinstruktion zur Problemlösung gewesen, die Erfolge scheinen hier jedoch nicht groß gewesen zu sein. Zudem konnte vom Betreuer des Praktikums in Erfahrung gebracht werden, dass es sich bei Paul um einen Schüler handelt, der sich motivieren lässt und gerne mitarbeitet. Außerdem interessiere er sich für Fußball und dabei insbesondere für den Verein Borussia Dortmund. Dieser ersten “Standortbestimmung“ Pauls hinsichtlich seines Entwicklungsstandes liegen wie erwähnt lediglich Informationen “Dritter“ zu Grunde. Genauere Angaben zum lese- und rechtschreibspezifischen Entwicklungsstand wie z. B. Lesefertigkeit, Lesestrategien und dem sinnentnehmenden Lesen können im Sinne der prozessbegleitenden Diagnostik erst im Verlaufe der ersten Förderstunden gemacht werden. Demzufolge werden die im Folgenden geschilderten Lernziele keine statischen Lernziele sein, sondern lediglich eine erste Arbeits- und Fördergrundlage. Im Laufe der Förderung müssen diese sicherlich spezifiziert und/oder modifiziert werden um der Lernausgangslage des Schülers gerecht zu werden.

3.2 Ziele der Förderung

Von der dargestellten Lernausgangslage und den theoretischen, didaktischen und methodischen Vorüberlegungen ausgehend, lassen sich erste Ziele der Förderung wie folgt beschreiben:

1. Da Paul in ca. einem Jahr die Schule beendet, wird der Schwerpunkt der Förderung auf das Lesen gelegt, damit Paul die Schule nicht als “funktionaler Analphabet“ verlassen wird. Wenn sich Schreibanlässe ergeben sollten, werden diese natürlich auch in die Förderung integriert.
2. Schwerpunktmäßig soll das sinnentnehmende Lesen geübt werden, damit es Paul möglich wird Texte zu lesen und das Lesen als ein Mittel zur Informationsgewinnung zu erkennen.
3. Bisherige Defizite beim Lesen von schwierigen Wortstrukturen sollen aufgearbeitet werden.

Um Pauls Lesefertigkeit zu optimieren, werden folgende Teillernziele angestrebt:

- Der Schüler soll Graphem-Phonem-Korrespondenzen herstellen können.
- Der Schüler soll Segmentierstrategien kennen lernen und anwenden.
- Der Schüler soll bestimmte orthographische Regelmäßigkeiten der Schriftsprache verstärkt und isoliert einüben

pauls Fähigkeiten zum sinnentnehmenden Lesen sollen durch die folgenden Teillernziele erreicht werden:

- Der Schuler soll Fähigkeiten der Selbstinstruktion erlangen, die es ihm ermöglichen systematisch den Inhalt eines unbekannten Textes zu erschließen.
- Der Schüler soll motiviert werden Texte zu lesen, die für ihn von lebenspraktischer Bedeutung sind.

Wie bereits erwähnt, sind dies zunächst vorläufige Lernziele, die modifiziert und ergänzt werden müssen, wenn die Förderung weiter fortgeschritten ist.

Im folgenden Kapitel werden Planung, Durchführung und Reflexion der einzelnen Förderstunden aufgezeigt. Hier soll deutlich werden, welche konkreten Lernziele angestrebt werden.

4 Planung, Durchführung und Reflexion der Förderstunden

1. Förderstunde am 29.10.02

Die ersten Stunden sollen insbesondere dazu dienen diagnostische Informationen zu sammeln um die konkrete Förderung zu planen und adäquate Lernziele zu finden. Für die erste Stunde habe ich einen Text über Pauls Lieblingsverein Borussia Dortmund mitgebracht. Der Text handelt von einem geschichtsträchtigen Spiel, in dem das Spielergebnis annulliert werden musste, da ein Tor 22cm zu breit war (siehe Anlage 1, S.11). Ausgewählt wurde dieser Text, weil er Paul thematisch interessieren sollte und somit einen für ihn lebenspraktischen Bezug hat.

Paul soll den Text vorlesen und ich möchte dabei einen ersten Eindruck über seine Lesefertigkeit bekommen. Nach dem Lesen möchte ich mit P. über den Text sprechen um zu erfahren, ob er diesem den Sinn entnehmen konnte.

Nach diesem Abschnitt der Förderstunde möchte ich mit P. ins Gespräch kommen und ihm folgende Fragen stellen:

1. Was habt ihr in der letzten Förderung gemacht und was hat dir besonders gefallen?
2. Was hat dir geholfen, damit du jetzt schon besser lesen kannst?
3. Was wünscht du dir noch für diese Förderung?
4. Welche Texte möchtest du gerne lesen (Textart)?
5. Wovon sollen die Texte thematisch handeln?

Durch diese Frage verspreche ich mehr darüber zu erfahren, bei welchem Niveau ich mit der Förderung ansetzen kann. Weiterhin möchte ich gerne von P. erfahren, welche Elemente der letzten Förderung für ihn hilfreich waren um diese auch in die jetzige Förderung verstärkt zu integrieren. Über die Fragen Nr. 4 und 5 möchte ich Informationen darüber sammeln, was P. thematisch interessiert. Diese Informationen sind wichtig um das Lernziel des sinnentnehmenden Lesens verwirklichen zu können.

Beim Lesen des Textes hatte P. große Schwierigkeiten. Längere Wörter wie “Mannschaft“ oder “Schiedsrichter“ konnten nur mit Hilfe erlesen werden. P. erriet viele Wörter, ohne diese genau zu lesen und machte somit viele Fehler. Besondere Schwierigkeiten zeigten sich bei Konsonantendopplungen (“flotte“). Paul hatte oftmals keine Lust mehr den Text weiter zu lesen und musste von mir motiviert werden diesen zu Ende zu lesen. Aus dem Gespräch über

den Inhalt des Textes wurde deutlich, dass P. kaum sinnentnehmend lesen konnte. Er konnte beispielsweise auf einfache Fragen wie “Welche Mannschaften haben gegeneinander gespielt?“ oder “Was war an diesem Spiel so besonders?“ keine Antworten geben. Im zweiten Teil der Stunde kamen wir über die aufgezeigten Fragen ins Gespräch und er berichtete, dass er gerne Bögen ausfüllen und Bücher über Indianer, Flugzeuge und Mofas lesen würde. Er mache gerade einen Mofaführerschein und würde gerne die Prüfungsbogen mit mir lesen.

Rückblickend lässt sich feststellen, dass der von mir ausgewählte Text zu schwierig war.

Viele längere Wörter bereiteten ihm große Schwierigkeiten und das Textlayout (Zeitungsartikel) schien P. das Lesen zudem zu erschweren. Folgende Texte müssen übersichtlicher strukturiert und zumindest längere Wörter segmentiert werden.

Da P. auch bei kürzeren Wörtern mehr Schwierigkeiten als von mir erwartet hatte, werde ich für die folgende Stunde versuchen über Wortlisten des Kieler Leseaufbaus herauszufinden, welche Wörter er sicher beherrscht und welche ihm noch Probleme bereiten. Der Umstand, dass Paul gerade dabei ist seinen Mofaführerschein zu machen, könnte sich für die Verwirklichung des Lernzieles “Sinnentnehmenden Lesens“ als sehr hilfreich erweisen. Hier liegt der lebenspraktische Bezug für Paul geradezu “auf der Hand“, weil er selbst die Fahrschulbogen lesen können möchte. Da P. den Mofaführerschein unbedingt bestehen will, ist seine Motivation diese Texte zu lesen äußerst hoch. Ich habe ihn gebeten sein Fahrschulbuch und die entsprechenden Prüfungsbogen zur übernächsten Förderstunde mitzubringen, damit wir darin lesen, und ich mir Selbige kopieren kann. P. besitzt die Materialien noch nicht, kann sie aber zur dritten Förderstunde mitbringen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anlage 1

2. Förderstunde am 31.10.03

Für die 2. Förderstunde habe ich einen Text über alles Wissenswerte des Mofa-Führerscheins zusammengestellt (siehe Anlage 2, S.14). Diesmal habe ich den Text so aufbereitet, dass die Schrift (Schriftgröße 14) und der Zeilenabstand (1,5) relativ groß sind um den Text für Paul übersichtlicher zu gestalten. Des Weiteren sind längere und/oder schwierigere Wörter segmentiert worden um die Erschließung dieser Wörter für P. einfacher zu gestalten. Damit soll das Lernziel “Segmentierstrategien kennen lernen“ angebahnt werden.

Um das sinnentnehmende Lesen zu fördern, soll P. nachdem er den Text gelesen hat, folgende Fragen beantworten:

1. Wie alt muss man sein um einen Mofaführerschein machen zu dürfen?
2. Seit wann braucht man eine Mofa-Prüfbescheinigung?
3. Was muss man machen um diese Bescheinigung zu bekommen?

Die Antworten zu den jeweiligen Fragen soll P. in verschiedenen Farben direkt im Text markieren.

Aus der Beantwortung der Fragen wird einerseits ersichtlich, inwiefern P. bereits sinnentnehmend gelesen hat, andererseits soll er das Stellen von Fragen zum Text als Strategie zur Sinnenerschließung kennen lernen.

Wenn er den segmentierten Text problemlos lesen kann, bekommt er den gleichen Text noch mal ohne Segmentierung. Ich möchte dadurch herausfinden, ob die Segmentierung für ihn tatsächlich eine Lesehilfe darstellt.

Sollte am Ende der Stunde noch Zeit bleiben, soll P. einzelne Wörter aus dem Text aufschreiben. Dadurch möchte ich einen ersten Einblick in Ps Rechtschreibfähigkeiten bekommen.

P. hat den gesamten Text gelesen, auch wenn er lange brauchte und zum Weiterlesen motiviert werden musste. Nachdem er den Text gesehen hatte, schien er zunächst von der Textmenge überrascht und meinte, dass der Text für ihn zu lang sei. Wie schon in der ersten Förderstunde zu beobachten war, rät P. oftmals die zu lesenden Wörter. Dabei stimmt das von ihm gelesene Wort manchmal in keinem Buchstaben mit eigentlichen Wortes überein. Er scheint hier allein von der äußeren Wortgestalt auf ein ihm schon bekanntes Wort zu schließen.

Die Segmentierhilfen schienen ihm zu helfen, da er die segmentierten Wörter fast fehlerfrei gelesen hat und bei den nicht segmentierten Wörtern eher auf seine “Ratestrategie“ zurückgriff.

Die Beantwortung der Fragen zum Text bereiteten P. wiederum Schwierigkeiten. Er konnte erst die entsprechenden Teile des Textes markieren, nachdem ich auf den richtigen Absatz hingewiesen habe.

Das Lesen des Textes ohne Segmentierhilfen gestaltete sich für P. deutlich schwieriger. Wörter die von ihm im segmentierten Text direkt zuvor noch korrekt gelesen wurden, konnte er nur mit Hilfe und sehr mühsam erlesen.

Bei der Verschriftlichung einzelner Wörter des Textes zeigte sich, dass P. sehr sauber und bedacht schreibt. Einsilbige und zweisilbige Wörter wie “Mofa“, “Dazu“ und “Zudem“ konnte er gut schreiben, bei mehrsilbigen Wörtern war keine Strategie zum Schreiben erkennbar. Er schien sich hier an der Segmentiereinheit Silbe oder Morphem zu orientieren.

P. machte aber deutlich, dass er gerne schreibt.

Das Segmentieren mehrsilbiger Wörter schien P. das Lesen zu erleichtern, deshalb werde ich diese Methode auch für die weiteren Förderstunden übernehmen. Bei der weiteren Gestaltung von Texten sollte darauf geachtet werden, dass der Text für P. nicht zu groß und umfangreich erscheint.

Zukünftig werde ich P. vor dem Lesen eines Textes explizit darauf hinweisen, dass er keine Wörter raten soll um ihn von dieser Strategie abzubringen. Ansonsten interessiert sich P. sehr für das Thema “Mofa“, was ich für die weitere Förderung nutzen möchte. Die Sinnentnahme gestaltet sich für P. schwierig und bedarf intensiver Übung. Ich werde auch weiterhin Fragen zum Text entwerfen und ihn die Antworten eventuell verschriftlichen lassen, da ihm das Schreiben sehr viel Freude bereitet hat. Um die Beantwortung der Fragen zu erleichtern, werde ich den Absatz, in dem die Antwort zu finden ist, genauer bekannt geben. Um das Schreiben von mehrsilbigen Wörtern zu üben wird sich zukünftig das Computerprogramm “Lese-Schreib-Modell“ anbieten. Zudem möchte ich mit Hilfe der Wortlisten des Kieler Leseaufbaus systematisch herausfinden, welche Wörter P. Schwierigkeiten bereiten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anlage 2

3. Förderstunde am 05.11.02

Zu Beginn der nächsten Stunde möchte ich zunächst mit den Wortlisten 3 und 4 des Kieler Leseaufbaus arbeiten. P. soll die Wörter laut vorlesen und ich möchte beobachten, ob er auch bei längeren Wörtern eine Lesestrategie erkennen lässt. Sollte er keine Strategie erkennen lassen, werde ich ihn die Silben des entsprechenden Wortes klatschen oder schrittweise aufdecken lassen. Im Anschluss soll eine Übung zum Lernziel “Graphem-Phonem- Zurdnungen“ erfolgen. Dazu soll P. mir aus einer Anzahl von Silbenkarten diejenige Silbe heraussuchen, die ich vorspreche. Zudem soll P. einer vorgegebenen Silbe Wörter zuordnen, in denen diese Silbe enthalten ist. Zum Abschluss der Arbeit auf der Wortebene möchte ich, dass P. Wörter (immer 10) aufschreibt, welche die gleiche Silbe enthalten.

Sollte Paul seine Unterlagen zum Mofaführerschein mitgebracht haben, werden wir uns diese anschauen und eventuell einen ersten Text aus dem Fahrschulbuch oder einen Prüfungsbogen lesen.

Leider hatte P. seine Unterlagen zum Mofaunterricht nicht dabei, so dass wir in dieser Stunde nur die beschriebenen Übungen auf der Wortebene durchführen konnten. Beim Lesen der Wortliste hat P. kaum Probleme. Es liest silbensegmentiert und nutzt die Strategie des “Abdeckens“ von Silben sogar bei längeren Wörtern. Zusätzlich habe ich ihn dazu animiert, bei längeren oder schwierigeren Wörtern die Silben zu klatschen. Lediglich das Wort “klauen“ bereitet Probleme. Hier scheint die KKV-Anlautstruktur Probleme zu bereiten. Die Übung zur Graphem-Phonem-Zuordnung gelingt gut. Bei der Zuordnung mehrer Wörter, welche alle eine gemeinsame Silbe enthalten, unterlaufen P. nur bei den Silben “au“ und “ei“ Zuordnungsfehler. Nachdem ich P. auf seinen Fehler aufmerksam gemacht habe, konnte er sich korrigieren.

Beim Schreiben der Wörter, die alle die Silbe “ei“ enthalten, schreibt P. zwei Wörter stattdessen mit “ai“.

Sehr positiv fallen Ps Schriftbild und seine Arbeitseinstellung auf. Er ist motiviert und konzentriert bei der Arbeit.

Die Übungen auf der Wortebene sind von P. gut angenommen worden und haben mir weitere Erkenntnisse über Pauls Lesefertigkeit geben können. Schwierigkeiten scheinen KKV- Strukturen zu bereiten, die in den nächsten Förderstunden gezielt mit einer entsprechenden Wortliste angegangen werden sollten. Die Verwechslung von den Silben “ei“ und “ai“ sollte weiter beobachtet und eventuell eine Wortliste mit Wörtern angefertigt werden, welche die Silbe “ei“ enthalten.

Obwohl P. in der letzten Förderstunde beim Lesen von längeren Wörtern keine Strategie zur Erschließung dieser Wörter erkennen ließ, konnte in dieser Stunde selbige beobachtet werden. Im Unterschied zur letzten Förderstunde hat Paul die Wörter nicht im Textzusammenhang, sondern isoliert auf der Wortebene gelesen. Bei der Bewältigung eines Textes, scheint es für P. schwieriger zu sein, diese Strategien anzuwenden. Es gilt also auch weiterhin auf der Textebene zu üben.

Da P. die Wortlisten 3 und 4 des Kieler Leseaufbaus zügig lesen konnte, können in der nächsten Förderstunde gleich mehrere neue Wortlisten abgearbeitet werden.

4. Förderstunde vom 07.11.02

Für die 4. Förderstunde habe ich mir zunächst vorgenommen, die Wortlisten 5-11 des Kieler Leseaufbaus systematisch abzuarbeiten. Damit wird das Lesen auf der Wortebene geübt und ich erhoffe mir weitere Erkenntnisse über Pauls Lesefertigkeiten.

Da mir P. die Materialien für den Mofaführerschein noch nicht mitgebracht hat, habe ich für die Arbeit auf der Textebene die Geschichte “Im Flug“ aus den REMO-Materialien ausgewählt.16 Bisher hat P. gelernt Wörter nach Silben zu segmentieren, mit diesem Text möchte ich herausfinden, ob das Morphem als Segmentiereinheit für ihn nützlich sein könnte. Um das sinnentnehmende Lesen weiter zu üben, soll P. mündlich Fragen zum Text beantworten.

Da ich in der bisherigen Förderung festgestellt habe, dass P. nicht klar war, wann Wörter groß oder klein geschrieben werden, werden wir mit den Wörtern des REMO-Textes eine Liste mit groß und klein geschriebenen Wörtern anfertigen.

Da sich P. bisher in der Förderung sehr motiviert gezeigt hat, möchte ich versuchen ihm eine Hausaufgabe zu geben. Dabei soll er einen weiteren REMO-Text (“So ein Flegel“) bearbeiten.

Bei den angegebenen Wortlisten des Kieler Leseaufbaus treten kaum Schwierigkeiten auf. Probleme bereiten Paul nur das “qu“ und KKV-Anlautstrukturen wie “gro“ oder “pra“. Paul lautiert zunächst jeden Konsonanten einzeln und synthetisiert diese dann. Obwohl sich die Anlautstrukturen in den Wortlisten immer wiederholen, gelingt es ihm nicht diese direkt zu synthetisieren.

[...]


1 Walter 1996, .282

2 Walter 1996, .285

3 Schenk-Danziger, 1975

4 Frostig, 1970

5 vgl. Walter 1996, 33

6 vgl. Walter 1996, 31ff.

7 Walter, 1996, 283

8 Scheerer-Neumann, 1981

9 vgl. Walter, 1996, 63f.

10 vgl. Walter, 1996, 285

11 Kretschmann, 1998

12 Röhner-Münch, 2002, S. 143f.

13 vgl. Röhner-Münch, 2002, 142

14 Name wurde aus Gründen der Anonymisierung geändert

15 Dummer & Hackethal, 1987

16 Walter u. Uppleger, 1997

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Über die Förderung eines lese- und rechtschreibschwachen Schülers
Untertitel
Legasthenie-Einzelfallförderung
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Heilpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
61
Katalognummer
V29220
ISBN (eBook)
9783638307840
ISBN (Buch)
9783638702959
Dateigröße
1480 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird zunächst beschrieben, welche Dinge für eine erfolgreiche Lese- und Rechtschreibförderung zu beachten sind. Anschließend wird ein individueller Förderplan für eine lese- rechtschreibschwaches Kind aufgestellt und die einzelnen Förderstunden (inklusive aller Materialien) detailliert beschrieben und kritisch reflektiert.
Schlagworte
Förderung, Schülers
Arbeit zitieren
Marcus Gummelt (Autor:in), 2004, Über die Förderung eines lese- und rechtschreibschwachen Schülers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/29220

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