Einleitung
Der Schulanfang stellt für Kinder den Beginn eines neuen Lebensabschnittes dar, der für sie viele Änderungen birgt. Das Kind sieht sich neuen Lerninhalten und neuen Kindern in einer neuen Umgebung und einem neuen Tagesablauf gegenübergestellt. Diese neue Lernumgebung ist von zahlreichen Erwartungen geprägt, die einerseits vom Kind ausgehen und andererseits an das Kind gestellt werden.
Die meisten Kinder freuen sich auf den Schulanfang und können es gar nicht erwarten, etwas zu lernen. Sie brennen darauf, endlich zu lesen und zu schreiben. Die Kinder wollen nun zu den „Großen“ gehören, ihren eigenen Ranzen tragen, ihre eigenen Hefte und ihren eigenen Schreibtisch haben. Die meisten Kinder sind neugierig und gespannt auf ihre Mitschüler1, den Klassenraum, die Schule und vor allem natürlich auf die Lehrer.
Das Offensein, das Neugierigsein auf all das, was da jetzt kommen mag, ist für alle Kinder aufregend. Es gibt aber auch viele Kinder, die weder vom Elternhaus noch vom Kindergarten Vorbereitung auf die Schule erfahren haben und die vielleicht vor der neuen Situation in der Schule Angst haben. Der Schulanfang beinhaltet komplexe Situationen, in welchen vom Kind der Übergang von der Kindergartenwelt in die Schule geleistet werden muss.
Bei dem Schuleintritt entscheidet es sich, ob das Kind Spaß, Energie und vor allem die Bereitschaft für die neue Situation entwickeln kann oder ob Probleme auftreten, die sich zu größeren Schwierigkeiten entwickeln können. Es wird sozusagen eine Weiche für den weiteren Lebensweg gestellt. Wichtig ist es auch, dass das Kind die Schule als neuen „Lebens-Raum“ erlebt: Vom manchmal nicht ganz ungefährlichen Schulweg über den lärmenden Schulhof bis hin zum Klassenzimmer.
Jedes Kind verhält sich natürlich anders und bringt seine eigenen individuellen Erfahrungen mit. Hier beginnt für die Schule bzw. für den Lehrer die Aufgabe, zu differenzieren und nicht alle Kinder gleich zu behandeln. Vor allem ängstlichen, zurückhaltenden Kindern muss von Anfang an besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, um ihnen den Schulalltag zu erleichtern.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben
2.1 Das Lesen
2.2 Die Schriftsprache
2.2.1 Die geschichtliche Entwicklung der Schrift
2.2.2 Charakterisierung unseres Schriftsystems
2.2.3 Bedeutung und Funktion von Schrift
2.2.4 Die strukturellen Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsprache
2.2.5 Unterschiede zwischen Laut- und Schriftsprache
2.2.6 Erfahrungen zum Sprechenlernen
2.3 Die Bedeutung des Lesens und Schreibens in unserer Gesellschaft
3. Lesen und schreiben lernen
3.1 Voraussetzungen für das erfolgreiche Lesen- und Schreibenlernen
3.2 Die Entwicklung des Lesenlernens
3.3 Die Entwicklung des Schreibenlernens
3.4 Phasen des Lesen- und Schreibenlernens
4. Darstellung der Methoden des Lesen- und Schreibenlernens
4.1 Geschichtlicher Überblick
4.2 Klassische Ansätze
4.2.1 Die synthetischen Leselehrverfahren oder auch Lautiermethoden
4.2.2 Die ganzheitlichen Leselehrverfahren
4.2.3 Kritische Betrachtung der beiden klassischen Methoden
4.2.4 Die Methodenintegration: Das analytisch-synthetische Leselehrverfahren
5. Forderungen des Rahmenplans der Grundschule an den Deutschunterricht des ersten Schuljahres
6. Die Bedeutung des Anfangsunterrichts
7. Anfangsunterricht mit oder ohne Fibel?
7.1 Fibelorientierter Anfangsunterricht
7.1.1 Der Lehrgang „Meine liebe Fibel“
7.1.2 Kritik an dem fibelorientierten Unterricht bzw. an dem Lehrgang „Meine liebe Fibel“
7.1.2.1 Allgemeine Kritikpunkte
7.1.2.2 Kritik an „Meine liebe Fibel“
7.1.2.3 Konsequenzen
7.2 Fibelunterricht mit einer offeneren Fibel
7.2.1 Der Lehrgang „Löwenzahn und Pusteblume“
7.2.2 Kritik an den offeneren Fibeln bzw. an dem Lehrgang „Löwenzahn und Pusteblume“
7.3 Fibelunabhängiger Anfangsunterricht
7.3.1 Der Lehrgang „Lesen durch Schreiben“
7.3.2 Kritik an dem fibelunabhängigen Unterricht bzw. an dem Lehrgang „Lesen durch Schreiben“
7.4 Zusammenfassung
8. Exemplarische Beobachtungen in drei Schulklassen
8.1 Kriterien für die Unterrichtsanalyse
8.2 Grundschule Runkel „Meine liebe Fibel“
8.2.1 Ziele der Unterrichtsstunde
8.2.2 Verlaufsübersicht
8.2.3 Einordnung der Unterrichtsstunde in den Ablauf des Lehrgangs
8.2.4 Wie wird die Unterrichtsstunde im Lehrerkommentar beschrieben?
8.2.5 Wie hat die Unterrichtsstunde in der Praxis stattgefunden?
8.2.6 Kritische Betrachtung der Unterrichtsstunde
8.3 Grundschule Obertiefenbach „Löwenzahn und Pusteblume“
8.3.1 Ziele der Unterrichtsstunde
8.3.2 Verlaufsübersicht
8.3.3 Einordnung der Unterrichtsstunde in den Ablauf des Lehrgangs
8.3.4 Wie wird die Unterrichtsstunde im Lehrerkommentar beschrieben?
8.3.5 Wie hat die Unterrichtsstunde in der Praxis stattgefunden?
8.3.6 Kritische Betrachtung der Unterrichtsstunde
8.4 Grundschule Laubach „Lesen durch Schreiben“
8.4.1 Ziele des Unterrichts
8.4.2 Verlaufsübersicht
8.4.3 Einordnung des Unterrichts in den Ablauf des Lehrgangs
8.4.4 Wie wird der Unterricht bei REICHEN beschrieben?
8.4.5 Wie hat der Unterricht in der Praxis stattgefunden?
8.4.6 Kritische Betrachtung des Unterrichts
8.5 Perspektive: Ein halboffener Lehrgang
9. Interviews mit den Lehrerinnen
9.1 Interview mit der Lehrerin, die mit dem Lehrgang „Meine liebe Fibel“ arbeitet
9.2 Interview mit der Lehrerin, die mit dem Lehrgang „Löwenzahn und Pusteblume“ arbeitet
9.3 Interview mit der Lehrerin, die mit dem Lehrgang „Lesen durch Schreiben“ arbeitet
9.4 Kommentar
10. Schlussbetrachtung
11. Literaturverzeichnis
12. Verzeichnis der Abbildungen
13. Anhang
13.1 Transkript zur Unterrichtsstunde in Runkel („Meine liebe Fibel“)
13.2 Transkript zur Unterrichtsstunde in Obertiefenbach („Löwenzahn und Pusteblume“)
13.3 Transkript zur Unterrichtsstunde in Laubach („Lesen durch Schreiben“)
1. Einleitung
Der Schulanfang stellt für Kinder den Beginn eines neuen Lebensabschnittes dar, der für sie viele Änderungen birgt. Das Kind sieht sich neuen Lerninhalten und neuen Kindern in einer neuen Umgebung und einem neuen Tagesablauf gegenübergestellt. Diese neue Lernumgebung ist von zahlreichen Erwartungen geprägt, die einerseits vom Kind ausgehen und andererseits an das Kind gestellt werden.
Die meisten Kinder freuen sich auf den Schulanfang und können es gar nicht erwarten, etwas zu lernen. Sie brennen darauf, endlich zu lesen und zu schreiben. Die Kinder wollen nun zu den „Großen“ gehören, ihren eigenen Ranzen tragen, ihre eigenen Hefte und ihren eigenen Schreibtisch haben. Die meisten Kinder sind neugierig und gespannt auf ihre Mitschüler[1], den Klassenraum, die Schule und vor allem natürlich auf die Lehrer.
Das Offensein, das Neugierigsein auf all das, was da jetzt kommen mag, ist für alle Kinder aufregend. Es gibt aber auch viele Kinder, die weder vom Elternhaus noch vom Kindergarten Vorbereitung auf die Schule erfahren haben und die vielleicht vor der neuen Situation in der Schule Angst haben. Der Schulanfang beinhaltet komplexe Situationen, in welchen vom Kind der Übergang von der Kindergartenwelt in die Schule geleistet werden muss.
Bei dem Schuleintritt entscheidet es sich, ob das Kind Spaß, Energie und vor allem die Bereitschaft für die neue Situation entwickeln kann oder ob Probleme auftreten, die sich zu größeren Schwierigkeiten entwickeln können. Es wird sozusagen eine Weiche für den weiteren Lebensweg gestellt. Wichtig ist es auch, dass das Kind die Schule als neuen „Lebens-Raum“ erlebt: Vom manchmal nicht ganz ungefährlichen Schulweg über den lärmenden Schulhof bis hin zum Klassenzimmer.
Jedes Kind verhält sich natürlich anders und bringt seine eigenen individuellen Erfahrungen mit. Hier beginnt für die Schule bzw. für den Lehrer die Aufgabe, zu differenzieren und nicht alle Kinder gleich zu behandeln. Vor allem ängstlichen, zurückhaltenden Kindern muss von Anfang an besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden, um ihnen den Schulalltag zu erleichtern.
Schule hat also die Aufgabe, die Schüler dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Aber wo stehen sie gerade? Einige können schon ein wenig schreiben und lesen, ein wenig rechnen, andere haben noch nie einen Stift zum Schreiben in der Hand gehalten. Wenn Kinder in die Schule kommen, dann haben sie schon seit sechs oder sieben Jahren Lernerfahrungen gemacht. Sie beherrschen einen wesentlichen Teil des Wortschatzes und die wichtigsten Satzelemente. Die Kinder haben sich grundlegende Regeln und Muster für die Verständigung angeeignet und gelernt, wie man mit Konventionen umgehen kann und ihnen auch folgen muss, um persönliche Interessen durchzusetzen. Das Bemerkenswerte hierbei ist, dass sie all dies und noch vieles mehr meist ohne ausdrückliche Unterweisung gelernt haben.
Die Vermittlung der Lese- und Schreibfertigkeit steht im Mittelpunkt des Anfangsunterrichts[2]. Sie stellt für den Schulanfänger den ersten zentralen Lerngegenstand schulischen Lernens dar, von dessen Erfolg (oder Misserfolg) die weitere Schulkarriere des Kindes beeinflusst wird. Die Erfahrungen beim Lesen- und Schreibenlernen sind entscheidend dafür, welche Einstellung das Kind später zum Lernen ganz allgemein haben wird, welche Meinung es über sich selbst in Bezug auf seine Lernfähigkeit und als Person im Allgemeinen entwickeln wird. Lesen und schreiben lernen ist also mehr als das bloße Aneignen einer kulturellen Fähigkeit.
Auch in späteren Klassen ist das Lesen- und Schreibenkönnen unerlässlich, da die schriftliche Übermittlungstechnik überwiegt. Häufig wird der Schulerfolg mit der Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, gleichgesetzt. So stellt sich die Frage nach richtigen Lernwegen an, also dem effektivsten Anfangsunterricht. Sein didaktisches Vorgehen, das Lesen und Schreiben zu lehren, sollte langfristig eine positive Einstellung im Schüler zu diesem Lerngegenstand hervorrufen. Des Weiteren ist es erforderlich, sowohl die strukturellen Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsprache als auch die Funktion der Schrift zu vermitteln.
Die Suche nach einer idealen Methode ist bis heute nicht abgeschlossen; vermehrt wird die Arbeit mit der Fibel und das mit ihr einhergehende festgelegte, geradezu starre Unterrichtskonzept der beiden klassischen Methoden, analytisch und synthetisch, kritisiert.
Aber auch der Zusammenschluss dieser Methoden zur Methodenintegration wird schon lange nicht mehr als ein den Anforderungen gerecht werdender Lösungsweg angesehen. Genauso wie seinen Vorgängern wird diesem ebenfalls fibelorientierten Verfahren zu wenig individuelle Anpassung an die Kinder vorgeworfen.
Mit der vorliegenden Arbeit möchte ich einen Überblick über die wesentlichen Faktoren geben, die am Erfolg oder Misserfolg des Lesen- und Schreibenlernens der Schüler beteiligt sind. Um eine theoretische Grundlage zur Auseinandersetzung mit dem Thema Anfangsunterricht zu schaffen, beginnt meine Arbeit mit einer Analyse der Kulturtechniken Lesen und Schreiben (Kapitel 2). Diese Untersuchung ist für das Verständnis des Lese- und Schreibprozesses unumgänglich. Es wird hierbei auch auf die Bedeutung des Lesens und Schreibens in unserer Gesellschaft eingegangen.
Im dritten Kapitel - lesen und schreiben lernen – werden Voraussetzungen, Entwicklungen und Phasen des Lesen- und Schreibenlernens beschrieben.
Das vierte Kapitel – Darstellung der Methoden des Lesen- und Schreibenlernens – gibt zuerst einen geschichtlichen Überblick und beschreibt dann die klassischen Leselehrmethoden.
Die Forderungen des Rahmenplans der Grundschule an den Deutschunterricht des ersten Schuljahres, die ich in Kapitel fünf zusammenfasse, sind bei der kritischen Betrachtung der unterschiedlichen Lehrmethoden hilfreich. Nachdem die Bedeutung des Anfangsunterrichts hervorgehoben wurde (Kapitel 6), werden im siebten Kapitel – Anfangsunterricht mit oder ohne Fibel - drei Methoden des Lesen- und Schreibenlehrens vorgestellt.
Da auch praktische Vorschläge für einen Anfangsunterricht gegeben werden sollen, werden diese drei Methoden im achten Kapitel im Unterricht beobachtet und in einer Videoaufzeichnung festgehalten (Exemplarische Beobachtungen in drei Schulklassen).
Im Anschluss daran werden die Lehrerinnen der beobachteten Schulklassen in einem Interview befragt (Kapitel 9).
Die abschließende Schlussbetrachtung stellt die wichtigsten Ergebnisse nebeneinander (Kapitel 10).
2. Die Kulturtechniken Lesen und Schreiben
Im folgenden Kapitel wird auf die beiden Kulturtechniken Lesen und Schreiben näher eingegangen.
Um die effektivste Lehrmethode auswählen und die Voraussetzungen des Lesens verstehen zu können, ist es notwendig, sich zunächst mit den Lerngegenständen Schriftsprache und Lesen auseinanderzusetzen. Dementsprechend stellt das erste Kapitel dieser Arbeit die theoretische Basis des Themas Anfangsunterricht dar.
2.1 Das Lesen
Der Begriff des Lesens wird eingegrenzt, um für die folgenden Ausführungen ein einheitliches Begriffsverständnis zu schaffen.
Das Wort „Lesen“ ist abgeleitet aus dem Lateinischen „legere“ und bedeutet soviel wie auflesen, zusammenklauben, sammeln. Demnach liegt in diesem Wort
„(…) ein synthetischer Vorgang begründet, der auf eine sammelnde und zuordnende Tätigkeit hindeutet.“ (BAER 1979, 63)
Lesen ist immer eine aktive Handlung, die sich aus dem (in der Regel optischen) Wahrnehmungsakt, der Zuordnung von Lauten zu geschriebenen Buchstaben, der Fähigkeit, diese Laute zu Silben und Wörtern zusammenzuziehen und einem auf Sinnentnahme gerichteten Vorgang zusammensetzt.
„Lesen ist das verstehende Aufnehmen von schriftlich fixierten Sprachfügungen, somit die auf Grund der erworbenen Kenntnis der Schriftzeichen vollzogene Tätigkeit des Sinnerfassens graphisch niedergelegter Gedankengänge.“ (KAINZ 1956, 162)
Die Motivation zu lesen kann aus unterschiedlichen Anlässen resultieren:
- aus Freude an einer Geschichte,
- um etwas zu lernen,
- aus Gründen der Kommunikation (Briefe),
- um sich vorher notierte Dinge ins Gedächtnis zu rufen.
Stets beinhaltet der Vorgang des Lesens jedoch, dass Informationen einem Text entnommen werden und der Text verstanden wird. Somit ist das Lesen immer an einen Zweck gebunden (vgl. GIBSON/LEVIN 1980, 17 ff.).
Aus diesem Grund ist das Verstehen dessen, was man liest, eine unverzichtbare Voraussetzung für das Lesen. Wird ein Text ohne Sinnentnahme gelesen, (zum Beispiel ein fremdsprachiger Text), so ist dies nach BAER lediglich ein optisch-akustisch-motorischer Wahrnehmungsakt. Die Bezeichnung „Lesen“ wäre dann nicht zutreffend, da der kognitive Aspekt des Verständnisvorganges fehlt (vgl. BAER 1979, 64).
„Lesen“ lässt sich zusammenfassend als ein informationsverarbeitender Prozess definieren, der sowohl den technischen als auch den sinnerfassenden Ablauf beinhaltet (vgl. BLEIDICK 1977, 22).
Wenn in den folgenden Kapiteln von „Lesen“ die Rede ist, so ist diese Definition zu berücksichtigen.
2.2 Die Schriftsprache
Im Folgenden werden nach einem geschichtlichen Überblick die Beziehungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache näher erläutert. Anfangsunterricht soll von Anfang an zu sachlich richtigen Erkenntnissen bezüglich der Schriftsprache führen. Die deutsche Sprache hat keine lauttreue Schreibweise. Die Vermittlung der Annahme, dass z.B. artikulierte Laute durch Buchstaben genau ersetzt werden können, würde zwangsläufig zu Fehlern führen. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich mit unserem Schriftsystem auseinanderzusetzen, bevor man sich mit den Lehrmethoden des Lesens und Schreibens befasst.
2.2.1 Die geschichtliche Entwicklung der Schrift
„Die Schrift entstand, als der Mensch lernte, seine Gedanken und Gefühle durch sichtbare Zeichen mitzuteilen, die nicht nur er, sondern auch alle anderen Personen, die dieses System kannten, verstanden.“ (GELB 1958, 20)
Die ersten Beweise für diese Fähigkeit des Menschen stammten von den Sumerer aus dem 4. Jahrtausend v. Chr. und wurden in Mesopotamien, dem heutigen Syrien und Irak, gefunden. Auch in Ägypten und später in China fand man schriftliche Aufzeichnungen, die fast so alt waren wie die sumerischen. Die ersten Schriften waren Bildschriften, bei denen jeweils ein Zeichen für ein Wort stand. Aus der sumerischen Bilderschrift entstand dann nach und nach eine Keilschrift, die von verschiedenen Völkern übernommen wurde.
„Zu Anfang gaben Bilder dem menschlichen Gedanken einen optischen Ausdruck; sie waren zum größten Teil von der Sprache unabhängig, die die menschlichen Gedanken in akustischer Form wiedergibt. Die Beziehung zwischen Schrift und Sprache war in den frühen Stufen der Schrift nur sehr lose, die geschriebene Mitteilung entsprach den sprachlichen Formen nicht exakt. Eine bestimmte Botschaft hatte nur eine einzige Bedeutung und konnte durch den `Leser` nur in einer einzigen Art gedeutet, aber in Worten sogar verschieden ausgedrückt und `gelesen` werden.“ (GELB 1958, 20)
Um 2500 v. Chr. benutzten die Sumerer in ihrer Keilschrift die einzelnen Zeichen nicht nur für die Darstellung von Begriffen, sondern es wurden auch Silben repräsentiert, womit der erste Schritt hin zu einer phonetisch orientierten Schrift beschritten wurde. In Byblos und Kreta wurden schon um 2000 v. Chr. reine Silbenschriften verwendet, bei denen man mit ca. 80 Zeichen auskam.
Die Ägypter erfanden mit den Hieroglyphen eine Schrift, bei der die etwa 800 lesbaren bildhaften Zeichen zum Teil Idiogramme, die das Gemeinte darstellen, und zum anderen Teil Phonogramme waren, die entweder einen oder mehrere Konsonanten wiedergaben (vgl. HUßMANN 1977).
Alle Schriften, die wie die Hieroglyphen, Begriffe darstellten, bestanden aus sehr vielen unterschiedlichen Zeichen. Die Kenntnis dieser vielen Zeichen setzte jahrelanges Lernen voraus, so dass der Gebrauch nur auf einen kleinen Kreis Schriftkundiger beschränkt blieb.
Die Phönizier entwickelten dann ein Alphabet mit 22 Zeichen und wandten als erste das phonetische Prinzip konsequent, ohne die Repräsentation der Vokale, an. Aus dieser „alphabetischen“ Schrift entwickelten die Griechen um 800/900 v. Chr. das Alphabet, mit dem sie auch die Unterschiede zwischen den Vokalen abbilden konnten.
Dieses Alphabet breitete sich rasch von Griechenland in die westliche Welt aus, war doch sein Gebrauch durch seine im Vergleich zu anderen Schriften leichte Erlernbarkeit nicht mehr auf einen kleinen Kreis wie Priester und Gelehrte beschränkt (vgl. NAVEH 1979).
MAAS beschreibt die geschichtliche Entwicklung der Schrift als zunehmende Spezialisierung:
„Von der logographischen Schrift, in der jedes Zeichen etwa einem Wort entspricht, zur Silbenschrift und schließlich zur Buchstabenschrift, die um 800 vor der Zeitrechnung bei den Griechen in ihrer modernen Form entwickelt wurde.“ (MAAS 1992, 9)
Das griechische Alphabet war nicht nur die Grundlage für die Entwicklung der anderen alphabetischen Lautschriften, sondern auch für die Buchstabenform. Das wohl auf der Welt am meisten verbreitete lateinische Alphabet wurde, wie auch das kyrillische, aus der griechischen Schrift entwickelt.
Neben dem phonematischen Prinzip gibt es noch drei weitere wichtige Merkmale unserer heutigen Schrift, die THOMÉ in Anlehnung an AUGST als Basisfunktionen bezeichnet und die sich über Jahrtausende zu der heutigen gebräuchlichen Form entwickelt haben.
Dazu gehört die Markierung der Wortgrenzen mit einem Spatium (Zwischenraum). Ursprünglich wurden die Texte fortlaufend, ohne Gliederung in einzelne Wörter, geschrieben.
Aber schon in der phönizischen Zeit und später in allen anderen antiken Alphabetschriften geschah die Markierung der Wortgrenzen durch Punkte. So vermutete man, dass schon damals die Leser Schwierigkeiten mit den ungegliederten Schriften hatten. Nach und nach setzte sich dann das Spatium durch (vgl. THOMÉ 1989, 29-38).
Zur Basisfunktion gehört ebenfalls die rechtsläufige Schreibrichtung. Zu Beginn gab es in der Geschichte der Schrift keine festgelegte Lese- bzw. Schreibrichtung.
Phönizische Texte wie auch frühere griechische und lateinische wurden zunächst von rechts nach links geschrieben. Später fand man in Griechenland auch Schriften, die bustrophedon (fortlaufend von rechts nach links und am Zeilenende spiegelbildlich verkehrt wieder von links nach rechts) geschrieben waren.
Die rechtsläufige Schreibweise wurde später zur überwiegenden Schreibrichtung. GANGKOFER erklärt das so:
„Dieses Verfahren [bustrophedon] ist aufgrund des geringen Weges, den die Hand bzw. das Auge zurücklegen muss, gar nicht so unökonomisch, wurde aber geändert, weil eine eindeutige Anordnung der Buchstaben und Wörter effektiver war.“ (GANGKOFER 1993, 200)
Als vierte Basisfunktion führt THOMÉ den einheitlichen Gebrauch der Minuskeln (kleine Buchstaben) auf, die sich gegenüber der reinen Verwendung von Majuskeln (große Buchstaben) seit dem ersten Jahrtausend v. Chr. durch die Möglichkeit des flüssigeren Schreibens auf Papyrus langsam durchgesetzt hat.
„Die vier historisch bedingten Basisfunktionen unserer Schrift (…) gelten auch in allen anderen europäischen Alphabetschriften. Sie stellen sozusagen das gemeinsame Schrifterbe dar. Bei der Einführung eines Alphabets für das Verschriften einer Sprache werden die phonematische Schreibung und – je nach Entwicklungsstand der Schrift – weitere Basisfunktionen übernommen. Mit der Zeit wird der Schriftgebrauch den besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Sprache angepasst. Hierdurch entwickeln sich Konventionen, die in bestimmten Fällen eine von der Basisfunktion der Schrift abweichende Schreibung fordern. Diese - für jede Sprache unterschiedlichen - Abweichungen (…) bilden das Schreibsystem oder die Orthographie einer Sprache.“ (THOMÉ 1989, 30)
Eine Parallele zu der historischen Entwicklung dieser vier Basisfunktionen der deutschen Alphabetschrift findet sich in der Schriftsprachentwicklung von so genannten „Spontanschreibern“, d.h. von solchen Kindern, die ohne ausdrückliche Unterweisung und Lehrgang eigenständig die Schriftsprache für sich entdeckt haben.
Für sie führt der grundlegende Schritt auch über das Malen zum Schreiben, wobei die ersten geschriebenen Wörter, die sich die Kinder logographisch einprägen, noch die Symbolfunktion von Bilderschriften haben (vgl. JUNA 1995, 16-24).
Erst danach kommt der Schritt zu der Entwicklung der phonematischen Schreibung. Für ihre ersten Verschriftlichungen nutzen die Kinder in der Regel nur Majuskeln, sind oft noch unentschieden, was die Schreibrichtung betrifft, und schreiben - wie die alten Griechen – oft bustrophedon, ehe sie den Zeilensprung entdecken.
Auch die Untergliederung eines Textes in Wörter entwickelt sich bei Spontanschreibern erst allmählich; zuerst schreiben sie völlig ohne Gliederung, markieren dann erst Wortgrenzen durch Punkte oder auch senkrechte Striche und lernen erst viel später, eine Lücke zwischen den Wörtern zu lassen.
2.2.2 Charakterisierung unseres Schriftsystems
Unsere Schrift ist eine Buchstabenschrift und somit laut KAINZ der leistungsfähigste Gipfel aller Schriftsysteme (vgl. KAINZ 1977, 33).
Die chinesischen Schriftzeichen stellen zum Beispiel auch heute noch Inhalte in einigen Fällen direkt dar: Sie stehen als Symbole für Teile des Inhalts. Die deutschen Schriftzeichen hingegen stellen Inhalte stets indirekt dar: Es wird kein Bild, sondern eine Buchstabenfolge verwendet, die nicht die Bedeutung, sondern die Lautung der Sprache abbildet (vgl. BERGK 1980, 134).
Der deutschen Schrift liegt somit das Lautprinzip zugrunde: Jeder gesprochene Laut soll durch einen Buchstaben ersetzt werden, wobei die Zuordnung von Laut und Buchstabe (bzw. Zeichen) eine beliebige ist.
Es gibt keine 1:1 Entsprechung zwischen Buchstaben und Lauten. Dies sollen die folgenden Analysen der Laut- und Schriftsprache verdeutlichen.
2.2.3 Bedeutung und Funktion von Schrift
Schrift ist in erster Linie ein geistiges System. Es ermöglicht den Menschen, sich Fremdes zu Eigen zu machen (Perspektive des Lesens) und sich anderen unabhängig von Raum und Zeit mitzuteilen (Perspektive des Schreibens). Durch den Gebrauch von Schrift geschieht die Umwandlung geschriebener Zeichen in Sinn und umgekehrt die Umwandlung von Sinn in geschriebene Sprache.
Zu betonen im Blick auf den Schriftspracherwerb ist im Besonderen die Tatsache, dass die Schrift nicht nur eine zusätzliche Form der Artikulation und der Mitteilung ist. Die Schrift trägt darüber hinaus zu einer geistigen Entlastung bei, macht frei für neue Ideen, hilft ordnen und klären.
Mit „Schriftsprache“ wird im Folgenden der gesamte Komplex bezeichnet, der Schrift für Kinder und Erwachsene umfassen kann. In Unterscheidung zur mündlichen Sprache wird der Begriff „Schrift-Sprache“ gewählt. Hierzu zählt auch die Möglichkeit, sich spontan durch erste Bild- und Schriftzeichen auszudrücken, etwas oder sich selbst anderen mitzuteilen, wie auch die Fähigkeit, Gedanken, Ideen und Erlebnisse schriftlich zu formulieren und festzuhalten.
Dem entspricht das erste Entziffern-Können einer Bilder- und Schriftsymbolik und später das Sinn-Entnehmen von Handgeschriebenem und Gedrucktem.
Der Begriff „Schrift-Sprache“ soll hier wörtlich verstanden werden und für Kommunikationsformen in ihrem ganzen Spektrum vom umgangssprachlichen Ausdruck bis zu literarischen Formen des Schreibens und Lesens stehen.
2.2.4 Die strukturellen Zusammenhänge zwischen Laut- und Schriftsprache
Laut REICHEN lassen sich aus unserer Schriftsprache 45 Einzellaute isolieren; das Alphabet umfasst allerdings nur 26 Schriftzeichen[1]. Folglich ist es nicht möglich, jeden Phon (Laut) durch einen Graph (Buchstaben) zu ersetzen. Stattdessen wird versucht, Phoneme durch Grapheme abzubilden.
Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten der Lautsprache, also die Lautmerkmale, die für das Bedeutungsverständnis von Sprache maßgeblich sind. Ihre graphische Entsprechung stellen Grapheme dar, die die kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten auf der Schriftebene bilden. Sie lassen sich in eingliedrige (wenn sie durch einen Graph repräsentiert werden) und mehrgliedrige (z.B. ch, sch) Grapheme unterteilen (vgl. GÜMBEL 1993, 369 und 374).
Die beschränkte Anzahl von Zeichen macht Verallgemeinerungen notwendig, aus denen die Mehrdeutigkeit der Beziehungen zwischen Lauten und Buchstaben entsteht. Dies hat besondere Schwierigkeiten des Schriftspracherwerbs zur Folge. So kann ein Graphem für verschiedene Phoneme stehen (Lautung des „ch“ bei dich, Reich, Rauch, Dach, ich).
Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich. Ein Phonem kann durch unterschiedliche Grapheme abgebildet werden (Kranich, tranig / Rad, bunt) (vgl. BIERWISCH 1976, 52). Die graphemische Struktur ist demnach mit der phonologischen nicht isomorph (vgl. WEIGL 1974, 114).
Die Problematik fast WEIGL wie folgt zusammen:
„Das System der jeweiligen Buchstabenschrift besteht nicht nur aus einem Inventar von graphischen Grundelementen und deren Verknüpfungsregeln, sondern auch aus einem Inventar von graphemischen Einheiten, für die die Korrespondenz, zu entsprechenden phonemischen oder phonetischen Einheiten spezifiziert, invariant ist.“ (WEIGL 1974, 114)
Den Regelkomplex der vielfältigen Laut- und Schriftstrukturbeziehungen bezeichnet BIERWISCH mit „Graphisch-Phonologischen Korrespondenzregeln“ (GPK-Regeln), deren Beherrschung Voraussetzung der orthographisch richtigen Schreibung ist (vgl. BIERWISCH 1976, 51 ff.).
Es ist wichtig, sich den Umfang dieser Regeln zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, welchen Schwierigkeiten Lese- und Schreibanfänger gegenüberstehen und wie viele Irrtumsmöglichkeiten existieren. Es zeigt sich, dass eine systematische Einführung von Buchstaben als Abbildungen von Lauten oft nicht diesen Regeln entspricht. Folglich würde die Vermittlung von Schriftsprache mit Hilfe des Grundsatzes: „Schreibe wie du sprichst“ zwangsläufig zu Problemen führen.
„Der Schriftkundige erkennt aus dem Kontext, wie er das jeweilige Graphem lesen bzw. das Phonem schreiben muss, d.h. er wendet – unbewusst – die GPK – Regeln an. Schulanfänger jedoch, die diese Regeln erst durch häufiges Lesen und Schreiben von Morphemen erwerben müssen, können nicht von vornherein wissen, welches Schriftzeichen sie welchem Sprechlaut zuordnen müssen.“ (BERGK 1980, 138)
Aus den Grundlagen der Schriftsprache und der Definition des Lesens ergeben sich zwei Ansprüche, denen der Anfangsunterricht prinzipiell gerecht werden muss:
1. Er muss dem Leselerner Informationen über die Elemente der Sprache und Schrift vermitteln, über deren Funktion und die Regeln ihrer Verknüpfung.
2. Er muss dem Ziel der Sinnentnahme verbunden bleiben, weil nur in der Reaktualisierung der in der Schrift verschlüsselten Sprache und des in ihr verborgenen Sinnes ein Antrieb für die Tätigkeit des Lesens zu sehen ist (vgl. BERGK 1980, 138 ff.).
Dies ist bei der Methodenwahl des Anfangsunterrichts (siehe Kapitel 4 und 7) stets zu berücksichtigen.
2.2.5 Unterschiede zwischen Laut- und Schriftsprache
Beim Lesen oder Schreiben fehlt im Gegensatz zur mündlichen Sprache der Kommunikationspartner. Dies stellt einen besonderen Schwierigkeitsgrad dar, da in der mündlichen Sprache dem Gesprächspartner durch Betonung, Gestik, Mimik u. a. Hinweise zum Verstehen gegeben werden können.
In der Schriftsprache bieten die Interpunktionsgrapheme Strukturierungshilfen. Außerdem ist zu beachten, dass bei unseren Schriftzeichen die Wortgrenzen durch Spatien, d.h. durch Zwischenräume markiert werden. Auffallend hierbei ist, dass aber nur der geschriebene Satz die Wortgrenzen eindeutig bestimmt.
In der Lautsprache sind die einzelnen Wortgrenzen nicht klar festzulegen. Es wird deutlich, dass der Anforderungsgrad beim Anfertigen eines Schriftstückes im Vergleich zum mündlichen Formulieren wesentlich höher liegt. Das Kind muss beim Schreiben lernen, sehr kontrolliert und überlegt mit den Wörtern zu operieren, während in der mündlichen Form die Wortabfolge weitgehend automatisch und ohne tiefer greifende Analyse oder Planung vonstatten geht.
Laute sind auch im Dunkeln hörbar. Das ist der Vorteil der hörbaren Zeichen. Deshalb ist unser normales Verständigungsmittel das Sprechen und Hören. Gesprochene Wörter haben dennoch ihren Nachteil: Sie verklingen sofort! Wenn wir dauerhafte Mitteilungen haben wollen, müssen wir zum Sichtbaren zurück.
Im Unterschied zu der mündlichen Sprache, die wir Menschen täglich benutzen, die geübt wird im Gebrauch, in der dauernden Wiederholung bei der Begegnung mit anderen Menschen, hat die Schrift eine eigene, besondere Stellung. Die Schrift ist nicht unbedingt notwendig, um im Alltag mit anderen zu kommunizieren. Sie ist zwar „anwesend“ und hilfreich, wenn man sie beherrscht, aber sie ist entbehrlich.
2.2.6 Erfahrungen zum Sprechenlernen
Wenn man im Anfangsunterricht so vorgehen will, dass man sich am Vorbild des frühen Sprechspracherwerbs der Kinder orientiert, dann muss man natürlich wissen, wie der Sprechspracherwerb abläuft, weshalb nun ein kurzer Abriss folgen soll.
Ehe ein Kind beginnt, Lesen und Schreiben zu lernen, hat es schon eine enorme Leistung vollbracht – es hat Sprechen gelernt.
Hierbei ist zu beachten, dass kaum ein Elternteil oder sonstige Bezugspersonen ein bewusst gegliedertes Methodenrepertoire haben, wie sie ihrem Kind das Sprechen „beibringen“. Ein Kind lernt das Sprechen, weil es dauernd von Sprache umgeben ist.
Die Eltern, Geschwister und andere Personen sprechen mit dem Kleinkind, längst bevor es die Worte überhaupt versteht oder selbst sprechen kann. Und doch erfasst ein Kind schnell die Bedeutung der Worte, da die mündliche Sprache nicht eingeschränkt ist auf verbale Äußerungen. Denn der Sinn des Gesprochenen wird parallel mitgeteilt über den Klang und die Melodie der Stimme, über Mimik und Gestik. Meist sind die Äußerungen eingebunden in einen konkreten Handlungs- und Sinnzusammenhang.
Der Anfang des Sprechenlernens ist fließend. Zu Beginn sind es Laute und die Körpersprache, mit denen ein Kleinkind seine Bedürfnisse ausdrückt. Dann kristallisieren sich ganz allmählich aus Tönen und Stimmmelodien wieder erkennbare Lautmalereien heraus, aus denen man erste Worte heraushören kann.
Alle gesunden Kinder verfügen über die Ausgangsposition, sprechen lernen zu können, und zwar jede beliebige Sprache, egal aus welcher Kultur. Alle Säuglinge haben gemeinsam, dass sie mit ihrer eigenen „Sprache“ beginnen. Sie bringen eine große Anzahl von verschiedenen Lauten hervor. Aus dieser Vielfältigkeit „sortieren“ die Kinder die Lautkombinationen heraus, die der Sprache, die sie umgibt, am nächsten kommen (vgl. REICHEN 2001, 57 ff.).
SMITH (1976, 39 ff.) zitiert hier das Beispiel des Bildhauers, der, um eine Statue aus Stein zu hauen, alles Überflüssige wegschlägt, was nicht zur Figur gehört.
Mit diesem Vergleich will SMITH die Erkenntnis verdeutlichen, zu der auch übereinstimmend alle Forschungsbemühungen über den Spracherwerb des Kleinkindes in den letzten Jahren gekommen sind: Das Kind vollzieht den Prozess des Sprechenlernens selbständig über das aktive Ausprobieren und Experimentieren mit der Sprache. Es bildet sich seine eigenen Regelstrukturen, nach denen es beginnt, erste Worte und dann auch erste Sätze zu sprechen.
Im Umgang mit der Sprache „überprüft“ das Kind seine vorläufigen Regeln. Der Erfolg seiner Äußerungen und der dauernde Vergleich mit der Sprache der Erwachsenen bestätigen seine Denkstrukturen oder geben ihm den Anreiz, seine Äußerungen zu variieren. So kommt es langsam zu neuen, immer komplexer werdenden Regelstrukturen, mit denen es die Sprache gebrauchen und verstehen lernt.
Wichtig sind bei dieser Erkenntnis zwei Dinge:
1. Das Kind ist grundsätzlich mit der Fähigkeit ausgestattet, seine eigenen Regeln zu entwerfen, die erst allmählich an die Regeln der Erwachsenen angeglichen werden.
2. Es ist darauf angewiesen, aus dem „Überangebot“ an Sprache, die weit über seinen aktiven Sprachschatz hinausgeht, sich gemäß seines Entwicklungsstandes und seiner Bedürfnisse die ihm hilfreichen Elemente herauszunehmen.
Erst durch die Auswahl zwischen vielen Begriffen und Redewendungen, durch immer wiederkehrende Worte in anderen Zusammenhängen kann das Kind verallgemeinernde Kategorien ableiten (vgl. REICHEN 2001, 57 ff.).
SMITH gibt dazu ein Beispiel:
Ein Kind lernt nicht begreifen, was eine Katze ist, wenn man versucht, spezifische Merkmale einer Katze zu erklären und ihm nur eine Katze zeigt. Es könnte alle Vierbeiner für eine Katze halten. Erst wenn das Kind Kühe, Pferde, Hunde sieht, diese benennt, seinen Irrtum revidieren kann und weitere Bezeichnungen hinzukommen, findet es langsam seine Kategorien, mit denen es eine Katze von einem Hund oder einem Pferd unterscheiden wird (vgl. SMITH 1976, 48).
Der Anreiz für das Kind, sprechen zu lernen, entsteht aus der täglichen Erfahrung, dass Wortsprache neben nonverbalen Möglichkeiten eine zentrale Rolle in der zwischenmenschlichen Begegnung spielt.
Mündliche Sprache ist eine Verständigungsmöglichkeit, die „natürlich“ zur zwischenmenschlichen Begegnung gehört.
Das Kind macht sich verständlich, es versucht, sich anderen mitzuteilen, es verwendet von Anfang an sichtbare wie hörbare Zeichen: Es strampelt, schreit, verzieht das Gesicht, lacht…! Die Eltern verstehen das Kind.
Der Mensch ist für sichtbare und hörbare Zeichen gleichermaßen empfänglich. Eltern ist es egal, ob sie sehen oder hören, wie es ihrem Kind geht. Sie wollen es nur wissen.
Schreiben und Lesen bahnen sich über ähnliche Lernprozesse an wie das Sprechenlernen.
Das Kind begegnet der Schrift auch in vielfältiger Form. Es ist längst vor Schulbeginn schon mit der Schrift bekannt, z.B. in Form von Reklametafeln, Straßenschildern, Lebensmittelaufschriften, Kinderbüchern usw.
Die Vielfalt und Wahrnehmung von Schrift ist ebenso wie bei der Sprache stark abhängig vom sozialen Umfeld und Kontext, in dem sich die Kinder bewegen.
Es ist zu beobachten, dass sich die Kinder, wie beim Sprechenlernen auch, eigenständig nach ihren Interessen und Fertigkeiten Zugang zum Lesen und Schreiben verschaffen: Sie fragen, ahmen nach, beobachten und begreifen durch selbständiges Handeln.
Die meisten Kinder fangen längst bevor sie in die Schule gehen an zu „schreiben“, indem sie ihren Namen kritzeln oder malen.
Nachdem der alltägliche Sprechspracherwerb kleiner Kinder glänzend funktioniert, der schulische Schriftspracherwerb hingegen zunehmend schlechtere Resultate erbringt, liefern diese Unterschiede Hinweise, inwiefern der traditionelle Anfangsunterricht falsch konzipiert sein könnte. Was vorstehend für den Sprechspracherwerb dargestellt wurde, gilt nämlich auch für den Schriftspracherwerb (siehe Kapitel 3), und damit komme ich wieder auf das Lesen und Schreiben zurück (vgl. REICHEN 2001, 75).
2.3 Die Bedeutung des Lesens und Schreibens in unserer Gesellschaft
Lesen und Schreiben zu können hat außerordentliche Auswirkungen auf die Entwicklung in der Gesellschaft und die persönliche Weiterentwicklung des Menschen.
Der Schriftkultur wird heute etwas weniger Bedeutung zugemessen, da die Teilhabe am kulturellen Leben stark durch andere Medien wie Fernsehen und Radio geprägt wird. Dennoch ist die Schriftsprache aus unserem täglichen Leben nicht wegzudenken.
Viele Erwachsene kommen zwar nach ihrer Schullaufbahn mit einem minimalen Einsatz von Schrift aus, z.B. Schilder lesen, Notizen machen, Zeitung lesen. Doch für andere ist die Schrift ein wichtiger, nicht mehr wegzudenkender Bestandteil in ihrem Leben: Sie lesen Bücher, schreiben Tagebuch, lesen Zeitungsartikel und erweitern so ihr Wissen.
Eine große Bedeutung kommt dem Schreiben und Lesen mit dem Eintritt in die Schule zu (siehe Kapitel 6). Lesen und Schreiben stehen in der Schule als Kommunikationsmittel weit oben. Wer beim Lesenlernen Schwierigkeiten hat, wer dabei scheitert, lernt zugleich beim Lernen, in der Schule Misserfolge von sich zu erwarten und zu haben (vgl. HEYER 1975, 293-297).
Die Erfahrungen beim Lesenlernen sind also entscheidend für die weitere Einstellung zum Lernen im Allgemeinen und auch für die Selbsteinschätzung bezüglich der eigenen Person und der eigenen Lernfähigkeit. Erfolg oder Misserfolg beim Erwerb des Lesens und Schreibens entscheiden über den Schulerfolg und letztlich auch über die Berufswahl bis hin zur Stellung im gesellschaftlichen Umfeld.
Wer nicht lesen und schreiben kann, hat dementsprechend auch Schwierigkeiten, Alltagsanforderungen zu bewältigen. So können unter anderem Briefe, Verträge, Bestellungen oder Anträge kaum oder nur mit Hilfe anderer Personen erstellt und entziffert werden.
3. Lesen und schreiben lernen
Im Lese- und Schreiblehrgang machen die Schüler erste Erfahrungen im Umgang mit der Schriftsprache. Im Gegensatz zu ihrer sicheren Verwendung der gesprochenen Sprache sind die Schulanfänger überwiegend nicht in der Lage, schriftlich fixierte Sprache zu dekodieren, d.h. sie in gesprochene Sprache zu übersetzen und den Sinn der Schrift auszumachen. Im Lese- und Schreiblehrgang müssen den Schülern deshalb die fundamentalen Aspekte des Zusammenhangs zwischen Schrift- und Lautsprache verdeutlicht werden.
Ausgehend von unserer Schrift als einer Lautschrift sollte im Mittelpunkt des Lehrgangs die Beziehung zwischen den Grundelementen der geschriebenen Sprache, also den Buchstaben, und denen der gesprochenen Sprache, den Lauten, stehen (siehe Kapitel 2.2.4).
Beim Lesen- und Schreibenlernen ist eine bestimmte Entwicklung auszumachen, die von verschiedenen Voraussetzungen abhängig ist und in bestimmten Phasen verläuft.
Im Folgenden werden Voraussetzungen, Entwicklungen und Phasen des Lesen- und Schreibenlernens dargestellt.
3.1 Voraussetzungen für das erfolgreiche Lesen- und Schreibenlernen
Die Lernvoraussetzungen der Erstklässler differieren sehr stark. Viele Kinder bringen aber die wichtigste Voraussetzung bereits mit: Sie können und wollen am ersten Tag in der Schule mit dem Lesen- und Schreibenlernen beginnen. Voraussetzungen dafür sind im Einzelnen:
- optische,
- phonematische,
- kinästetische,
- melodische,
- und rhythmische Differenzierungsfähigkeiten.
Dies sind die wichtigsten Teilfunktionen beim Lesen- und Schreibenlernen, die eine gewisse Ausprägung bei Schuleintritt haben sollten, damit diese Prozesse möglichst störungsfrei ablaufen können (vgl. WEIDEN 1994, 16).
Die Teilfunktionen im optischen und akustischen Bereich und die Teilfunktionen für die Sinnentnahme werden nun genauer beschrieben.
Die wichtigsten Teilfunktionen im optischen Bereich:
- Vom Organischen her muss der Sehvorgang gewährleistet sein.
- Schriftzeichen als solche müssen im Unterschied zu bildlichen Darstellungen wahrgenommen werden.
- Raum-Lage-Beziehungen müssen erkannt werden.
- Durchgliederungsfähigkeit muss gegeben sein, d.h. ein Wortganzes muss buchstabenweise und silbenweise segmentiert aufgenommen werden (analytische Teilfunktion).
- Integrationsfähigkeit muss vorausgesetzt werden, d.h. die grafischen Zeichen müssen in der richtigen Abfolge aufgefasst werden (synthetisierende Teilfunktion).
Die wichtigsten Teilfunktionen im akustischen Bereich:
- Vom Organischen her muss der Hörvorgang gewährleistet sein.
- Der optische Reiz muss in akustische Signale umgewandelt werden.
- Die Lautabfolge muss gemäß dem optischen Reiz reproduziert werden.
- Ähnlichklingende Laute müssen unterschieden werden (Trennschärfe bei d/t, g/k, b/p, m/n).
- Dem einzelnen Laut muss der richtige Stellenwert zugeordnet werden.
Die wichtigsten Teilfunktionen für die Sinnentnahme:
- Wortklangbilder müssen gespeichert werden.
- Aus der Fülle von Vorstellungen muss eine Auswahl getroffen werden (Restriktion).
- Innerhalb des Satzes muss dem Wortklangbild der gemeinte Stellenwert zuerkannt werden.
- Dem Wortklangbild muss ein bereits bekannter Sinn zugeordnet werden.
- Das Wort muss richtig artikuliert werden.
Um einen Einblick in die Lernvoraussetzungen der Kinder zu gewinnen, ist eine Überprüfung des Vorhandenseins der Teilfunktionen notwendig. Nur wenn man die Voraussetzungen seiner Schüler kennt, kann man mit einem entsprechenden Lehrgang die Defizite ausgleichen und auf Vorhandenem aufbauen (vgl. WEIDEN 1994, 16).
3.2 Die Entwicklung des Lesenlernens
Nach KLICPERA u. a. (1993, 7) bedeutet das Lesenlernen
„das allmähliche Vertrautwerden mit einem komplexen, über lange Zeit ausgebildeten System der Vergegenständlichung von Sprache.“ (KLICPERA u. a. 1993, 7)
Das System der Sprache wurde in vielen Bereichen willkürlich geformt, beruht aber auf zahlreichen Konventionen. Grundlage ist laut KLICPERA (1993, 7) das „alphabetische Prinzip“, nach dem Graphemen (Buchstaben oder Buchstabengruppen) Phoneme (Laute) zugeordnet werden. Das Wissen um solche Graphem-Phonem-Zuordnungen bildet die Grundlage des Erlesens neuer Wörter.
Im Leselernprozess vollzieht sich eine Entwicklung
„von der unvollständigen Verwendung graphischer Hinweise zur vollständigen Ausnutzung der Graphem-Informationen.“ (KLICPERA u. a. 1993, 7)
Am Beginn dieser Leseentwicklung nutzen die Kinder nur Teile der ihnen zur Verfügung stehenden Buchstabeninformationen. Für sie sind besonders die Anfangsbuchstaben und die Wortlänge interessant. So kommt es beim Schreiben zu Wortbildungen wie „R“ für Rauhaardackel oder die Kinder versuchen ein Wort aufgrund seines Anfangsbuchstabens zu erraten/erlesen. In der weiteren Entwicklung geraten dann auch die Wortenden ins Blickfeld der Leseanfänger, während das Wortinnere lange Zeit keine Beachtung findet.
Diese Entwicklungsstufe ließe sich länger unter erschwerten Bedingungen, wie z.B. bei wenig vertrauten Wörtern und unter Zeitdruck beobachten.
Im späteren Verlauf der Leseentwicklung kommt es immer mehr zu einer Automatisierung des Leseprozesses, d.h., die Kinder benötigen zur Worterkennung immer weniger Zeit und weniger Aufmerksamkeit.
Ein Fortschritt im weiteren Verlauf des Lesenlernens ist zu verzeichnen, wenn im Leseprozess größere Einheiten gebildet werden. Die Kinder sind nun in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf größere orthographische Einheiten zu richten. Sie können die Wörter erkennen, ohne die Merkmale der einzelnen Buchstaben besonders zu beachten (vgl. KLICPERA u. a. 1993, 7).
Eine Weiterentwicklung im Leselernprozess ist dann gegeben, wenn die Schüler das phonologische Rekodieren zur Sinnerfassung des Gelesenen nicht mehr benötigen, sondern das Worterkennen durch einen direkten Zugriff zu einem speziellen schriftsprachlichen bzw. orthographischen Register (Lexikon) möglich ist.
Eine besonders wichtige Funktion in der anfänglichen Leseentwicklung kommt der Ausbildung von Kenntnissen in der Buchstaben-Laut-Zuordnung und der Fähigkeit zu, diese in Form einer phonologischen Rekodierung zum Erlesen neuer Wörter einzusetzen. Der Entwicklung dieser Fähigkeit wird eine große Bedeutung beigemessen, da sie nach KLICPERA u. a. (1993, 8) das selbständige Lesen ermöglicht.
Die Entwicklung der Lesefähigkeit setzt den Aufbau wortspezifischer und orthographischer Kenntnisse voraus. Diese Fähigkeit entfaltet sich mit zunehmender Vertrautheit mit der Schreibweise der Wörter durch wiederholtes Lesen. Diese wortspezifischen Kenntnisse ermöglichen ein Lesen auch dann, wenn das Kind die Wörter noch nicht erlesen kann, sondern sie lediglich aufgrund bestimmter Merkmale wieder erkennt, was häufig bei Leseanfängern der Fall ist.
Die Wortlesefähigkeiten, die unmittelbar an den Merkmalen der Wörter ansetzen, werden durch die Sinnerwartung des Kindes unterstützt.
„Die Sinnerwartung ermöglicht es dem Kind, sein Vorwissen und seine bereits ausgebildeten sprachlichen Fähigkeiten einzusetzen und dadurch den Kontext mit zur Entschlüsselung und zum Erkennen der zu lesenden Wörter heranzuziehen.“ (KLICPERA u. a. 1993, 8-9)
Die Hauptaufgabe, die zu Beginn des Leselernprozesses bewältigt werden muss, ist die Ausbildung der wortspezifischen Lesefähigkeit und die phonologische Rekodierungsfähigkeit (vgl. KLICPERA u. a. 1993, 8).
3.3 Die Entwicklung des Schreibenlernens
Mittlerweile gibt es zahlreiche Berichte über die natürliche[4] Aneignung der geschriebenen Sprache und darüber, dass das Interesse der Kinder am Schreiben vor der Betrachtung des Lesens einsetzt.
So wird der Schriftspracherwerb nicht mehr als ein zeitlich eng begrenzter, allein schulisch angeregter Vorgang betrachtet, sondern als früh einsetzender mehrstufiger Entwicklungsprozess gesehen. Die Phasen dieses Prozesses sind durch besondere Aneignungsstrategien gekennzeichnet, deren Voranschreiten sich nicht zeitlich festlegen lässt, auch wenn sich bestimmte Stadien herausarbeiten lassen, wie die weiteren Ausführungen noch zeigen werden (vgl. GÜNTHER 1987, 103).
Ein Beispiel dafür bietet die Beschreibung der Entwicklungsphasen von Balouette, FREINETs Tochter:
Sie beginnt mit einem Jahr und sieben Monaten die Schreibhandlung ihrer Mutter nachzuahmen. Ihr Gekritzel stellt schon bald immer mehr graphische Formen dar. Binnen kurzem sucht sie ihre Lieblingsformen heraus und zeichnet sie öfter als andere. So reiht Balouette mit vier Jahren regelrecht serienmäßig graphische Elemente auf. Später „unterschreibt“ sie ihre selbst gezeichneten Bilder, so wie sie es den Erwachsenen abgeguckt hat, auch wenn ihre „Unterschrift“ natürlich nur aus kindlichen Wellenlinien besteht. Zum ersten Mal erkennt sie jedoch eine Funktion von Schrift.
Ihre ersten lesbaren Schreibversuche stehen in Verbindung mit ihrem persönlichen Leben. Sie schreibt ihren eigenen Namen oder den ihrer Freunde.
Später entwickelt sie eine Vorliebe für Briefe und durchschaut somit den kommunikativen Charakter der Schriftsprache. Nachdem sie die ersten Briefe diktiert und abgeschrieben hat, erkennt sie die immer wiederkehrenden Ausdrücke. Daraus lernt sie, dass die Buchstaben graphische Zeichen für Laute sind. Somit hat sie die Grundvoraussetzung für das spätere Erlesen unbekannter Wörter erworben (vgl. FREINET 1980, 33-63).
Der Verlauf des Schriftspracherwerbs von Balouette lässt sich laut SPITTA verallgemeinern:
„Besonders interessant an diesen Forschungs- und Erfahrungsberichten ist, dass alle beobachteten bzw. untersuchten Kinder, unabhängig davon, in welcher Sprachgemeinschaft sie aufwuchsen, während ihrer Entdeckungsreise auf dem Weg zur Schrift bestimmte typische Stadien der Annäherung an die normierte orthographische Schreibweise der Wörter durchliefen.“ (SPITTA 1994, 73)
Vom Erstellen von Kritzelbildern schreitet die Schreibentwicklung über die Entdeckung der kommunikativen Möglichkeiten des Schreibens zu den ersten Vorstellungen voran, wie unsere Schriftsprache aufgebaut ist. Die Fähigkeit, die Lautstruktur von Wörtern wiederzugeben, wird immer weiter ausgebildet, bis die Kinder schließlich die grundlegenden Rechtschreibregeln erworben haben und über einen gesicherten Grundwortschatz verfügen.
Die Forschungsergebnisse über den Schriftspracherwerb lassen sich nach SPITTA in sechs typische Phasen zusammenfassen (siehe Kapitel 3.4):
1. Die vorkommunikative Aktivität
2. Das vorphonetische Stadium
3. Das halbphonetische Stadium
4. Die phonetische Phase
5. Die Phase der phonetischen Umschrift, bei der in zunehmendem Maße typische Rechtschreibmuster integriert werden
6. Der Übergang zur entwickelten Rechtschreibfähigkeit (vgl. SPITTA 1988, 11)
„Der hier skizzierte idealtypische Verlauf der Schreib- bzw. Rechtschreibentwicklung bei Kindern spiegelt beispielhaft, dass erste Verschriftungen und spontanes Schreiben von Kindern als abgebildete Denkversuche dieser Kinder über und mit Schrift zu betrachten sind.“ (SPITTA 1994, 76)
Die sechs Phasen hat SPITTA in einer Schreibentwicklungstabelle festgehalten, die als Orientierungshilfe bei der Einordnung der Schreibergebnisse des Schülers dienen kann.
Die Tabelle gibt
„(…) Einblicke in den Stand der aktuellen Theoriebildung des einzelnen Kindes über unsere Rechtschreibung und damit die Chance, Kinder individuell gepasst zu fördern und herauszufordern.“ (SPITTA 1994, 76)
Die dargestellten Beobachtungen zeigen, dass die Lernwege des Kindes nicht in erster Linie vom Lehrverfahren bestimmt sind. Anscheinend entfaltet der Vorgang des Schriftspracherwerbs schon von Beginn an eine gewisse Eigengesetzlichkeit, deren Verlauf sich mit Hilfe der Fehler des einzelnen Kindes analysieren lässt (vgl. DEHN 1984, 113).
Die natürliche Art und Weise, sich die Schriftsprache anzueignen, bildet bei diesem Prozess die Reihenfolge: Zuerst schreiben und später lesen, wie z.B. CHOMSKY betont:
„Wenn das Kind einmal ein Wort zusammengesetzt hat, schaut es dieses an und versucht es zu erkennen. Das Erkennen vollzieht sich langsam, denn das Lesen des Wortes scheint viel schwieriger als das Schreiben zu sein. (…) Wenn wir einräumen, dass die Wortrekognition oder sogar das Aussprechen von Wörtern viel schwieriger für Kinder zu sein scheinen als das Zusammensetzen von Wörtern, warum erwarten dann unsere Leseprogramme als eine Selbstverständlichkeit von Kindern, sich damit zuerst zu befassen?“ (CHOMSKY 1976, 99-138)
3.4 Phasen des Lesen- und Schreibenlernens
In den letzten Jahren wurden zahlreiche Versuche unternommen, den Prozess des Lesen- und Schreibenlernens in verschiedene Phasen zu untergliedern, um festzustellen, welche Entwicklungsstufe das jeweilige Kind bis zu welchem Grad erreicht hat. Im Folgenden werden die einzelnen Phasen der Lese- und Schreibentwicklung beschrieben. Es ist jedoch zu beachten, dass nicht immer alle Phasen von den Kindern durchlaufen werden (vgl. GÜNTHER 1995, 98-121).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(vgl. GÜNTHER 1995, 98-121)
[...]
[1] Die Schriftzeichen unseres Alphabets sind dem Lateinischen entnommen. Dies erklärt die relativ geringe Anzahl der vorhandenen Grapheme für die weitaus höhere Zahl der darzustellenden Phoneme des Althochdeutschen (vgl. BERGK 1980, 135).
[1] Personenbezeichnungen sind, wenn nicht explizit ausgeführt, auf beide Geschlechter zu beziehen.
[2] Der Begriff Anfangsunterricht bezieht sich in dieser Arbeit nur auf das Lesen- und Schreibenlernen.
[4] „Natürlich“ bedeutet in diesem Fall, dass konsequent von den Entwicklungsphasen des Kindes und seinen jeweiligen Interessen und Bedürfnissen ausgegangen wird. So wird Schreiben als eine der Bedürfnisbefriedigungen angesehen.
- Arbeit zitieren
- Julia Schmidt (Autor:in), 2003, Lesen und schreiben lernen. Der Anfangsunterricht: Deutsch., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28980
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