In der vorliegenden Arbeit werden die Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann umfassend erläutert und daraufhin diskutiert, welche Konsequenzen sich aus diesen für das Erziehungssystem der Gesellschaft und im Speziellen für die Funktion der Schule ergeben. Dabei zeigen sich grundlegende Differenzen in den Ansichten, die völlig unterschiedliche Herangehensweisen an das Problem aufweisen, in wie weit die Schule die Erziehung im Elternhaus ergänzen oder gar ersetzen kann.
Diese unterschiedlichen Ansätze werden erläutert und bezüglich ihrer Vor- und Nachteile diskutiert. Das Für und Wider beider soziologischer Ansätze wird abgewogen und, so weit überhaupt möglich, bewertet. Diese Arbeit stellt nicht den Anspruch, eine universelle Lösung zu liefern, sondern ist vielmehr der Versuch, die Diskussion, die Angesichts von Gewalt an Schulen, Schulschwänzern, Pisa-Studien etc. hoch aktuell geführt wird, um einen weiteren theoretischen Aspekt zu erweitern.
Sich mit konträren soziologischen Theorien auseinander zu setzen, ist in diesem Zusammenhang eine Annäherung an das Problemfeld „Was kann und was muss die Schule leisten?“, die jenseits der Diskussion um die konkrete Vorgehensweise Anregung zu einer Grundsatzdiskussion liefern soll. Dass in diesem Zusammenhang gerade die Arbeiten von Bourdieu und Luhmann erörtert werden, geschieht bewusst, denn beide haben sich eindeutig zu der Fragestellung nach der soziologischen Funktion der Schule und ihrer gesellschaftlichen Aufgabe geäußert, beide in sich schlüssig, aber aus einer völlig anderen Perspektive beschreibend und mit einem ebenso unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Anspruch an Erziehung.
Der Aufbau der Arbeit ist mit Absicht so gewählt, dass sich die beiden Theorien in ihrer Beschreibung und Erläuterung abwechseln, um unmittelbar die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Herangehensweise aufzuzeigen und dem Leser im direkten Vergleich sowohl der Theorie, als auch ihrer praktischen Konsequenzen die soziologischen Aussagen beider zu verdeutlichen.
Inhalt
1 Einleitung:
2 Luhmanns Theorie sozialer Systeme:
3 Einführung in das Bourdieusche Denken
4 Luhmann: Erziehung und Selektion
5 Bourdieu: Die Abhängigkeit des Schulerfolgs von kulturellem Kapital:
6 Luhmann: Zur Unvermeidlichkeit der Selektion
7 Bourdieus Forderung einer reinen Hochschuldidaktik
8 Die pädagogische Bedeutung der Bourdieuschen und Luhmannschen Theoriekonzepte
Literaturverzeichnis:
1 Einleitung:
Im vorliegenden Text werden die Theoriekonzepte von Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu miteinander verglichen und speziell bezüglich ihrer Aussagen, welche sie über die Funktion der Schule treffen, untersucht. Während Luhmann Analysen zum „Erziehungssystem der Gesellschaft“ als Teil eines umfassenden Theorieprogramms anzusehen sind, und er sich auch mit Wissenschaft, Religion, Kunst, Politik etc. in ihrer Funktion als Teilsysteme der Gesellschaft befasst, gehören für Bourdieu die Untersuchungen über die Funktion der Schule, sowie über das Erziehungs- und Bildungssystem, zu den zentralen Themen bezüglich der Analysen der Reproduktion gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Bourdieu analysiert die „Illusion der Chancengleichheit“, indem er aufzeigt, dass Ungleichheiten schon dadurch gegeben sind, dass einige Kinder von ihren Familien kulturelle Bildung mitbekommen, die anderen verwehrt bleibt, und deswegen von Chancengleichheit nicht die Rede sein kann. Als Konsequenz fordert er eine Änderung überkommener Zustände ein. Der Zustand, in dem sich das Bildungssystem befindet, könnte nur behoben werden, wenn die Schule es sich zur Aufgabe machte jenen Kindern das Wissen, was anderen von ihren Familien `sozial vererbt` wird, durch methodische und inhaltliche Unterweisung zu vermitteln. Luhmann und Bourdieu nehmen unterschiedliche Beobachterperspektiven ein: Während Luhmann die Prozesse der Ausdifferenzierung im Großen und Ganzen nur von oben herab betrachtet, kreuzt Bourdieu diese `Vogelperspektive` mit der `Froschperspektive`. Er ist mittendrin, möchte etwas ändern, während für Luhmann Selektionen unvermeidbar, gleichsam als Nebenprodukte sozialer Differenzierung anfallen.
2 Luhmanns Theorie sozialer Systeme:
Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann, 1927-1998, war, bevor er sich entschied, eine soziologische Laufbahn einzuschlagen, Oberregierungsrat in der öffentlichen Verwaltung. Er studierte ab 1960/61 an der Harvard-Universität, wo er sich mit der Systemtheorie von Talcott Parsons befasste. 1968 wurde er an die neu gegründete Universität in Bielefeld berufen. Luhmann, der weder den Weg der empirischen noch den der theoretischen Soziologie einschlagen wollte, da er der Empirie vorwarf, nichts zu einer vereinheitlichenden Theorie beitragen zu können sondern, dass sie sich in einer `Welt der selbstgemachten Daten` bewege, der Theorie gleichermaßen vorhielt, sich stets aus Klassikern selbst zu kopieren, ohne etwas wahrhaft Neues zu erkennen, war primär an der Entwicklung einer Theorie interessiert, die besser als alle anderen Theorien geeignet sein sollte, die Prozesse fortschreitender Differenzierung in modernen Gesellschaften zu erfassen. Luhmann untersuchte die Ausdifferenzierungsprozesse sozialer Systeme. „Das Ergebnis von Ausdifferenzierungsprozessen wird normalerweise mit dem Begriff der Autonomie (Systemautonomie) beschrieben.“[1] Systemautonomie bedeutet, dass die Systeme zwar im kausalen Sinne von ihrer Umwelt unabhängig sind, sich demnach selbst erhalten, auf die Umwelt, um zu existieren, aber angewiesen sind. Luhmann war als Systemtheoretiker immer Differenztheoretiker, die Umorientierung von Einheit auf Differenz war der Startpunkt seiner Theorieentwicklung. Seine Arbeit ist vom `radikalen Konstruktivismus` beeinflusst, dem er den `systemthoretischen` entgegensetzt, der sich durch das Vermeiden von Radikalisierungen der Subjektivität des Beobachters und Einführen eines quasi-objektiven Beobachters als `beobachtendes System`, von diesem unterscheidet. Sein Gesamtwerk betrachtend ist es wichtig, zwischen dem `autopoietischem` und dem `vorautopoietischem` Denkmodell zu unterscheiden. Das 1984 erschienene Werk „Soziale Systeme“ vollzieht einen konzeptionellen Umbau seiner Theorie. In der, nach Luhmann, ersten Phase der Entwicklung einer Allgemeinen Systemtheorie werden soziale Systeme als ein Sinnzusammenhang von aufeinander verweisenden Handlungen dargestellt, die sich von einer Umwelt abgrenzen. Sie werden als geschlossene Ganzheiten konzipiert, die aus mehreren Teilen zusammengesetzt sind, wobei die Differenz zwischen dem Ganzen und seinen Teilen betont wird. In der zweiten Phase bestimmt die Primärunterscheidung zwischen System und Umwelt das gesamte Modell. Luhmann konzipiert Systeme als `autopoietische` Systeme, eine Vernetzung selbstreferentieller Operationen, über die alles, was als Einheit erscheint, einschließlich der eigenen Letztelemente über eine Bewegung der Abgrenzung gegenüber der Umwelt eigendynamisch konstituiert wird. Den `Autopoiesisbegriff` übernahm er von den Biologen und Neurophysiologen Maturana und Valera, welche diesen ausschließlich für Lebewesen im biologischen Sinne konzipierten, generalisierte ihn und übertrug ihn auf andere Systemarten. Luhmanns Theorie selbstrefentieller Systeme geht von keinen Vorannahmen bzw. Wesensannahmen aus und kennt als ihr Fundament ausschließlich `Operationen`, für Luhmann den bloßen Vollzug einer augenblicklichen und als solche nicht wiederholbaren Unterscheidungshandlung. In diesem Zusammenhang überwindet Luhmann das Identitätskonzept, das sogenannte `alteuropäische Denken`. „Aus dem Subjekt im traditionellen Sinne wird ein empirisch beobachtbares, operativ geschlossenes, selbstreferentielles System, aus dem Objekt im traditionellen Sinne wird die vom System selbst abgegrenzte bzw. konstruierte Umwelt des Systems.“[2] Erkennen wird als das Beobachten eigener Operationen verstanden. „Die Frage nach der Realität, als die Frage nach dem Gegenstand des Erkennens verstanden, wird dann zur Frage nach dem `Wie` der Grenzziehung zwischen innen und außen bzw. nach der Art und Weise der Ausdifferenzierung von erkennenden Systemen.“[3] Nach Luhmann ist die Realität, die Welt, für uns nicht zugänglich, nicht erfassbar. Empirie ist nicht darstellbar. Von der Realität, zu der ein Organismus keinen kognitiven Zugang hat, konstruiert sich dieser durch die Beobachtung eigener interner Operationen eine eigene Vorstellung. Wir sind demzufolge nur über Ausschnitte, welche wir selbst konstruieren, indem wir die Weltkomplexität in reduzierter Form betrachten, mit der Realität verbunden. Die Reduktion von Weltkomplexität findet über Systembildung statt, da die Komplexität des Systems immer geringer ist, als die Komplexität seiner Umwelt. Die Unterscheidung ist in Luhmanns Theorie das Unterbrechungsmoment einer unbegrenzten Bewegung von Operationen. Die Unterscheidung zwischen System und Umwelt ist immer auch eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz. Die Beobachtungsoperation ist eine Sonderform der allgemeinen Operation des Unterscheidens. „Der Beobachtungsbegriff ist auf dem Abstraktionsniveau des Begriffs der Autopoiesis definiert. Er bezeichnet die Einheit einer Operation, die eine Unterscheidung verwendet um die eine oder andere Seite der Unterscheidung zu bezeichnen. Die Art der Operation kann Leben, Bewusstsein oder Kommunikation sein.“[4] Luhmann unterscheidet zwischen organischen, psychischen und sozialen Systemen, welche sich als autopoietische Systeme durch die genannten nicht weiter auflösbaren Letzteinheiten reproduzieren. Sie sind alle strukturell aneinander gekoppelt und bilden reziprok füreinander Umwelt. Jedes autopoietische System ist operativ geschlossen, was mit autopoietischer Reproduktion gleichbedeutend ist, denn die Systeme können keine Elemente, keine unverarbeiteten Partikel aus ihrer Umwelt importieren. „Alles, was für sie im rekursiven Prozess ihrer eigenen Reproduktion die Funktion (nicht weiter auflösbaren) Elements erfüllt und rekursiv bezugsfähig ist, ist ein Produkt des Systems selbst.“[5] Die Systemoperationen finden im, durch die, vom Medium des Systems zur Verfügung gestellten, Systemelemente abgegrenzten System statt. Psychische Systeme reproduzieren sich durch Gedanken im Medium Bewusstsein und soziale Systeme reproduzieren sich durch Kommunikation im Medium Sinn. Sowohl psychische als auch soziale Systeme sind sinnverarbeitende Systeme und operieren in diesem Medium. Es gibt nicht nur keinen Import von Elementen, sondern auch keinen Import von Strukturen. Autopoietische Operationen können allerdings sehr unterschiedliche Strukturen hervorbringen. „Die Verschiedenheit der Systembildung – von Zellen bis zu Gehirnen, von Bewusstseinssystemen bis zu Kommunikationssystemen – ist ein Resultat evolutionär erfolgreicher Operationsweisen.“[6] Der Begriff der strukturellen Kopplung erläutert, warum autopoietische Systeme ohne operativen Kontakt mit ihrer Umwelt bestimmte Strukturen ausbilden, die diesen spezifischen Umwelten angepasst sind. Die operative Geschlossenheit autopoietischer Systeme ermöglicht kognitive Offenheit, demnach Umweltkontakt nur auf der Grundlage von Selbstkontakt. Genauso, wie es keinen Input von der Umwelt in das System gibt, gibt es auch keinen Output des Systems an die Umwelt. Informationen aus der Umwelt, welche an das System gerichtet sind, sind für dieses Irritationen, die den Zustand des Systems verändern. Die Art, wie diese Irritationen verarbeitet werden, ist eine Eigenleistung des Systems. Was auch immer einem psychischen System angeboten wird, ob dieses angenommen wird, was es auslöst, kann nicht überprüft werden, denn man kann nicht in ein System hineinschauen, es ist nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst intransparent. Ein autopoietisches System operiert im Raum selbsterzeugter Ungewissheit, da es sich von Moment zu Moment durch die Gesamtheit momenthaft realisierter Ereignisse verwirklicht. Einem psychischen System, welches sich durch die Letztelemente Gedanken reproduziert, ist es unmöglich, nur einen einzigen bestimmten Gedanken zu denken, weil dies der Reproduktion durch Gedanken widersprechen würde, demnach auf jeden Gedanken ein neuer Gedanke folgen muss. Zwar ist das System ständig vom Dauerzerfall seiner Elemente bedroht, jedoch ermöglicht dieser Zerfall auch stets eine Aktualisierung des Systems. „Keine Operation des Systems kann etwas bestimmen, ohne im gleichen Zuge einen Horizont des Unbestimmten, vor allem: eine Zukunft, mitzuerzeugen.“[7] Durch ihre Strukturdeterminiertheit sind autopoietische Systeme geschichtliche Systeme mit der Möglichkeit des Vergessens und Erinnerns. „Jede Operation dieser Systeme diskriminiert immer auch Vergessen und Erinnern und gewinnt durch das Vergessen freie Kapazität für weitere Operationen.“[8] Jedes autopoietisch operierende System ist umweltangepasst, denn es kann sich in seiner Umwelt, von der es sich unterscheidet und damit erst eine Umwelt schafft, nur halten, wenn es für seine Operationen in seiner Umwelt hinreichende Voraussetzungen vorfindet. Demzufolge ist das Bewusstseinsystem auf Gehirn und Nervenbahnen als Umwelt in Form einer organischen Komponente angewiesen. Obwohl das Bewusstsein bei der Produktion von Gedanken auf Gehirnaktivitäten angewiesen ist, sind diese Gehirnaktivitäten nicht die Gedanken. Man kann weder von Gehirnaktivitäten auf Bewusstsein schließen, noch verraten uns Gedanken etwas über die beteiligten Gehirnprozesse. So, wie es zwischen diesen Systemen keinen unmittelbaren Kontakt gibt, so gibt es auch keinen unmittelbaren Kontakt zwischen zwei Bewusstseinsystemen. Da das System nicht außerhalb seiner Grenzen operieren kann und ein Gedanke an einen Gedanken nur innerhalb der Grenzen des Systems anschließen kann, kann folglich kein Gedanke das Bewusstsein als Gedanke verlassen. Dass der Kontakt zwischen psychischen Systemen möglich ist, ist nur durch das soziale System möglich. Psychische System bleiben für soziale Systeme Umwelt und können diese nur irritieren. Luhmann formuliert den von Talcott Parsons als Beschreibung zirkulärer Abhängigkeiten in sozialen Systemen eingeführten Begriff der doppelten Kontingenz als Begriff für mehrstellige Selektionen, was bedeutet, dass jede Selektion im Bewusstsein der Tatsache, dass ihr weitere Selektionen folgen werden, getroffen wird. So tritt doppelte Kontingenz im Bezug auf Kommunikation erst dann auf, wenn sich soziale Systeme gebildet haben, in denen die Individuen ihre individuellen Selektionen von der erwarteten Reaktion des Gegenübers beeinflussen lassen, einer gemutmaßten Interpretation des eigenen Verhaltens als kontingente, ihn betreffenden Selektion. „So sind alle Kommunikationssysteme selbstverständlich an Bewusstseinvorgänge gekoppelt. Ohne Bewusstsein keine Kommunikation. Aber das heißt gerade nicht, daß Bewusstseinsvorgänge [...] als solche schon Elemente eines Kommunikationsprozesses sein könnten. Das Kommunikations-system bleibt, mit anderen Worten, ein operativ geschlossenes selbstreferetielles System. Strukturelle Kopplung bedeutet allerdings und vor allem, daß die Umweltkopplung der Kommunikationssysteme auf Bewusstseinssysteme beschränkt ist und daß es keinen direkten (nicht über das Bewusstsein vermittelten) physikalischen, chemischen oder biologischen Einwirkungen ausgesetzt ist.“[9] Da der empirische Mensch von der Kommunikation nicht erfasst werden kann, wird mit dem Begriff der Person gearbeitet. „Der Mensch – das ist die andere, unmarkierte Seite der Person.“[10] Personen werden ein Gedächtnis und Motive unterstellt. „Daß man zwischen Personen unterscheiden muß, folgt nicht nur aus der Notwendigkeit einer Reduktion der Komplexität. Die Identifikation von Personen ist vielmehr ein Erfordernis von Kommunikation, also eine spezifische Leistung des Kommunikationssystems Gesellschaft.“[11] Dieses Konstrukt „Person“ ergibt sich aus rekursiven Operationen des Kommunikationssystems.
3 Einführung in das Bourdieusche Denken
Einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart, der französische Soziologe Pierre Bourdieu, 1930-2002, ist Ende der fünfziger Jahre mit seinen Arbeiten zur Soziologie der Gesellschaftsstrukturen eines algerischen Stammes, die sich unter dem Einfluss der Kolonialisierung wandelten, erstmals in Erscheinung getreten. Die Erkenntnisse aus seinen ethnologischen Forschungen dehnte er auf die französische Gesellschaft aus. In den sechziger Jahren erforschte er das französische Bildungssystem und dessen Rolle bei der Reproduktion gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Bourdieu ist stark vom Strukturalismus beeinflusst, versucht aber den darin angelegten Objektivismus in seiner `praxeologischen Erkenntnisweise` zu überwinden. Mit dieser kritisiert er sowohl die subjektivistische Sichtweise, bei der primär die sozialen Akteure im Vordergrund stehen, als auch die objektivistische Sichtweise, welche primär den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang betont. Beide Betrachtungen in ihrer Reinform ignorieren sich und werden in der von ihm begründeten Sichtweise dennoch in gewisser Weise vereint. „Die praxeologische Erkenntnisweise annulliert nicht die Ergebnisse objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie,[...]“,[12] indem die im ersten Schritt ausgeklammerten sozialen Akteure wieder einbezogen werden. Seit 1982 ist er Mitglied des College de France, des angesehensten französischen Forschungsinstituts. Bourdieus Arbeiten haben stark aufklärerische Tendenzen. Während bei Kant der Mensch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit geführt werden soll, wird die Welt bei Bourdieu von der Verblendung des Kapitalismus gereinigt. Bourdieu fordert, dass die Wissenschaften und ihre Institutionen die Macht der herrschenden Klasse und die Mechanismen zur Durchsetzung dieser entlarven. Anstatt dessen dienen Wissenschaften, seiner Meinung nach, den „Verborgenen Mechanismen der Macht“. Deswegen gehört er zu den schärfsten Kritikern der Wissenschaft im Allgemeinen und seiner der Disziplin, der Soziologie, im Speziellen. Mit Bourdieus Theoriekonzept ist ein universeller Anspruch verbunden, der, wenn auch anders begründet, der `Großtheorie` Luhmanns in Nichts nachsteht. Sowohl Luhmann, als auch Bourdieu haben eine Theorie entwickelt, die den Anspruch erhebt, die Komplexität der Welt zu erfassen, um möglichst alle Ausdifferenzierungsprozesse erklären zu können. Luhmann entwickelt ein Gedankensystem, welches derart hochformal ist, dass es keine Möglichkeit gibt, es zu prüfen. Er illustriert das System ohne die Möglichkeit einer Überprüfung zuzulassen, obwohl er als Soziologe anerkannt ist und nicht als Philosoph. In der Philosophie ist es legitim, jeden Schluss zu ziehen, solange er systemkonsistent ist. Diese Denkweise überträgt er auf die Soziologie. Sowohl Luhmann als auch Bourdieu sind vom Strukturalismus beeinflusst, Luhmann vom funktionalen Strukturalismus Parsons, Bourdieu vom klassischen Strukturalismus des Ethnologen Levi-Strauss. Bourdieus Theorie und seine Methode, Theorie durch Empirie zu prüfen, hat so wie die Luhnmanns starken Konstruktionscharakter. Durch die methodischen Apparate der Prüfung ist er Luhmann insofern überlegen, als dass er seine Theorien durch Fakten nachweisbar und auch widerlegbar macht. Auch wenn die Theorie in ihrer Ästhetik betrachtet weder besser noch schlechter ist, als die Luhmanns, so unterscheidet sie sich durch eine vollkommen andere Herangehensweise. Während Luhmann die Gesellschaft aus makrosoziologischer Perspektive betrachtet, kombiniert Bourdieu Makro- mit Mikrosoziologie, indem er aus Empirie seine Theoriekonzepte entwickelt. Bourdieu ist dabei stets selbstreflexiv, somit erfüllt er das Kriterium Luhmanns, eine Theorie mit universellem theoretischen Anspruch sei rekursiv auf sich selbst anzuwenden. Bourdieu allerdings hält wenig vom systemtheoretischen Feldherrenblick und fordert für sich als Strukturtheoretiker einen Anspruch auf empirische Prüfung. Das Bourdieusche Theoriekonzept besteht aus verschiedenen Theoriekomponenten (Sozial-Raum-Modell, Feldtheorie, Kapitaltheorie, Habitustheorie), welche aus je spezifischen Forschungsinteressen entstanden sind. Die genannten Konzepte stehen in einer relationalen Beziehung zueinander und dienen seinem Wissenschaftsverständnis nach als Mittel und Zweck der empirischen Untersuchung sozialer Wirklichkeit.[13] Während das Sozial-Raum-Modell einen umfassenden synchronen Blick auf die Gesamtgesellschaft bietet, bietet die Feldtheorie ein diachron dynamisches Bild. Da bei beiden Konzepten die Gesellschaft aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird, werden sie nacheinander vorgestellt, da sie auch in unterschiedlichem Verhältnis zur Kapitaltheorie und dem Habitus-Konzept stehen.
[...]
[1] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S. 113
[2] Gripp-Hagelstange, H. : „Niklas Luhmann: eine erkenntnistheoretische Einführung“, S. 34
[3] Luhmann, N. : „Ökologische Kommunikation“, S. 266
[4] Luhmann, N. : „Ökologische Kommunikation“, S. 266
[5] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S. 22-23
[6] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S.23
[7] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S.27
[8] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S.25
[9] Luhmann, N. : „Wissenschaft der Gesellschaft“, S. 281
[10] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S. 28
[11] Luhmann, N. : „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“, S. 30
[12] Bourdieu, P. : „Entwurf einer Theorie der Praxis“, S. 148
[13] Vgl.: Bourdieu, P. : „Soziologische Fragen“, S. 56
- Arbeit zitieren
- Dominika Wosnitza (Autor:in), 2004, Die Funktion der Schule. Ein Theorievergleich zwischen Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/28798
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