Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eine der schwierigsten und gleichzeitig notwendigsten Fragen überhaupt. Darum muss sie immer wieder neu gestellt und die bereits vorhandenen und erarbeiteten Antworten auf diese Frage müssen immer aufs Neue untersucht, kritisch hinterfragt, rekonstruiert bzw. aktualisiert werden. Dass das Glück und Unglück der Menschen, welche nach Aristoteles ihrem Wesen gemäß in Gemeinschaften und vielgestaltigen Kooperationsbeziehungen leben, in einer engen Beziehung zur Frage der Gerechtigkeit steht, leuchtet jedem reflektierten Mitglied einer Gesellschaft unmittelbar ein. Dagegen mag die Idee, das Glück des Menschen (Eudaimonia) mit einem noch nicht näher bestimmten „Kampf um Anerkennung“ in Verbindung zu bringen, vielleicht zunächst ungewöhnlich erscheinen. Wenn man sich aber das Glück nicht als Glücksmoment, sondern als Lebensglück oder als gelingendes und selbstbestimmtes Leben vorstellt, wird sowohl die enge Verbindung zur Problematik der Gerechtigkeit im Allgemeinen klarer, als auch die Tatsache, dass die Gerechtigkeit, wenn sie Wirklichkeit haben soll, irgendwie abhängig ist von der Anerkennung und Wahrung der Rechte eben jedes einzelnen Menschen.
Wie aber kommt der einzelne Mensch zu seinem Recht bzw. zur Anerkennung seiner selbst als ein vernünftiges und freies Wesen, welches ja indirekt auch Voraussetzung für sein gelingendes Leben im Sinne der Eudaimonia ist? Sicherlich nicht so, dass ein Philosoph - sei er noch so einsichtig, weise und gebildet - sagen und wirksam fixieren könnte, wie dessen Rechte verfasst sein müssten und was die Gerechtigkeit im Allgemeinen sei.
Hans Kelsen eröffnet sein Buch „Was ist Gerechtigkeit“1 aus dem Jahre 1953 damit, zu konstatieren, dass es bei der Frage nach der Gerechtigkeit gerade nicht um das Geben einer endgültigen Antwort gehen kann, sondern um die fortlaufende Suche nach noch besseren Fragen2. Diese Arbeit nimmt die Frage nach der Gerechtigkeit bei den Antworten und Lösungsversuchen des Aristoteles auf und untersucht zunächst rekonstruierend, dann aber kritisch, nach der universalen Geltung bzw. den Grenzen der Geltung dieser Antwortmöglichkeiten auf die zu jeder Zeit aktuelle Frage nach der Gerechtigkeit bzw. nach dem was als jeweils gerecht gelten kann. Zuletzt wird eine eigene Antwort versucht, welche dennoch nicht vergisst, dass die Frage nach der Gerechtigkeit gerade keine endgültige und dogmatische Antwort erlaubt [...]
Ronny D. Kupfer: Eudaimonia und der Kampf um Anerkennung: Eine Frage der Gerechtigkeit (2015)
Philosophie ist als praktische Philosophie in einer Zwickmühle: einerseits sind Philosoph_innen oft darum bemüht, normative Allgemeingültigkeit als »hard science« – und sei es in nach Möglichkeit schlagenden und streng formalisierten Minimalgewissheiten – zu fixieren (durchaus auch positiv zwecks Sicherung der Rechte motiviert), andererseits gälte es, dem Menschen anthropologisch als »offenem« und lebenslang lernendem Wesen Rechnung zu tragen, wobei wir sogleich beim dahinterstehenden Menschenbild und der in ihm ausgedrückten Erwartungsbefindlichkeit angelangt wären: haben wir ein optimistisches oder pessimistisches Menschenbild, ein flexibel-offenes oder festgelegt-festlegend starres? Ferner, davon unabhängig, kommen die Menschenrechte ins Spiel, in deren Horizont doch eine Balance von selbstbestimmten, mündigen Weltbürger_innen statt des Hobbesschen »Bellum omnium contra omnes« leitbildhaft als Allgemein-Telos aufleuchtet. Für den Pessimisten ist die Sache schon a priori erledigt: für ihn ist der Mensch nicht zum Glücklichsein geboren.
Ronny D. Kupfer, vorher auch schon als Lyriker hervorgetreten, hat sich in seiner 2014 am Institut für Philosophie an der Universität Leipzig vorgelegten Bachelorarbeit – fast möchte man sagen: seiner Jugend gemäß – für das zweitere, optimistische (zuerst »intuitiv«, wie er auf S. 22 sagt) entschieden: Er geht das Risiko ein, die »Eudaimonia« ins praktisch-philosophische und auch rechtsphilosophische Spiel zu bringen, wobei »Glück« nicht einfach nur subjektive »Glücksmomente« meint, »sondern als Lebensglück oder als gelingendes und selbstbestimmtes Leben« (S. 1) anvisiert wird. Da jedoch solches »Glück« selbstverständlich auch zumindest zum Teil in der Eigenverantwortung der einzelnen liegt und von Schicksalsbedingungen mitabhängig sein kann, die gesellschaftlich sogar beim besten sozialplanerischen Willen kaum mehr gravierend modifiziert werden können, nicht zuletzt auch von der – allerdings durch soziale Rahmenbedingungen förder- sowie auch unterdrückbaren – jeweiligen Glücksfähigkeit der einzelnen mitabhängig ist, stellt sich zudem die sozialphilosophische, um nicht zu sagen konkret-utopische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Gedeihens überhaupt (und zwar prinzipiell für alle). Es zeugt von der Humanität Kupfers, dass er ausdrücklich festhält, es sei »Unrecht und ein Ausdruck der Unmoral, einen Menschen in Abhängigkeit zu halten, selbst wenn er aktuell nicht eigenverantwortlich und frei sein Glück realisieren kann. Wir wissen heute, dass der Mensch erst zur freien Person erzogen und befähigt werden muss, dass er abhängig ist von den Umständen in denen er lebt und dass es immer nur der allerletzte Schritt (sozusagen im Notfall) sein kann, einem Menschen ein Abhängigkeitsverhältnis zuzumuten.« (S. 9)
Kupfer meint, »dass die Frage nach der Gerechtigkeit gerade keine endgültige und dogmatische Antwort erlaubt« (S. 1f.) und betrachtet dies als »die wesentliche These dieser Arbeit« (S. 2). Die Frage nach der Gerechtigkeit sei keine »reine ›Geometrieaufgabe‹« (S. 2), denn den Menschen charakterisiere anthropologisch sein »offenes und werdendes Wesen« (S. 31); es gälte, jederzeit seiner »Potentialität« (S. 24) eingedenk zu bleiben, statt eine Vorentscheidung zugunsten einer dogmatischen »Statik« (S. 2) zu treffen, die als »monologisch«, obzwar »wissenschaftlich exakt« (S. 32) letzten Endes doch nur die »Angst vor der Freiheit« (S. 32) zum Ausdruck bringe. Kupfer plädiert stattdessen für eine »Offenheit und Flexibilität des Gerechtigkeitsbegriffs« (S. 32). Die menschliche Situation sei eine immer wieder neue. Allerdings ließen sich »Freiräume und Offenheit nicht positiv bestimmen« (S. 25), es handele sich um nicht immer vorauskalkulierbare »zu füllende Freiräume« (S. 25). »Der Widerspruch scheint zu sein, dass mit möglichst exakter Sprache ein Problem beschrieben werden soll, dass sich dadurch auszeichnet, dass es erst zum Problem wird, wenn sein offenes Prinzip bereits verletzt wurde.« (S. 25) Diese Beobachtung Kupfers erinnert an einen Spruch von Heraklit: »Den Namen des Rechtes würde man nicht kennen, wenn es das Unrecht nicht gäbe.«
Ronny D. Kupfer sieht den »sozialen Frieden als höchsten Wert« (S. 27). Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Abhängigkeitsverhältnisse sind Quellen des Unfriedens – auch sozial- und moralphilosophische Theorien, die jene rechtfertigen. Nicht mehr überzeugend heute ist der Standpunkt des Aristoteles, wonach der »Sklave« von Natur aus unfähig zur Selbstbestimmung sei und deshalb eines »Herrn« bedürfte. Dieser Standpunkt mystifiziert einen soziologischen, in den Herrschaftsverhältnissen begründeten Zusammenhang als »von Natur« bestehend, statt ihn als »ein Produkt von Menschen gemachten Umständen« (S. 8) zu erkennen, zu dem Zweck, den Status quo der bestehenden Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten und zu verewigen. Für Aristoteles waren aber nicht nur die Sklaven, sondern auch die Frauen in Unmündigkeit zu halten. Solche Asymmetrien gefährden aber, meint Kupfer, der offenbar nicht mit einer Revolution liebäugelt, den sozialen Frieden. In den moralphilosophischen Gerechtigkeitskonzeptionen müsse das menschliche Potenzial Berücksichtigung finden, ja das Recht auf Entwicklung. Diese Berücksichtigung des Potenzials habe in der aristotelischen Konzeption gefehlt, vielleicht auch deshalb – so merkt der Rezensent hier an –, weil Aristoteles sich selber stets als Lernenden erlebte, ja selber von dieser Offenheit selbstverständlichen Gebrauch machte. Es gehe in einer zeitgemäßen, modernen Gerechtigkeitskonzeption darum, eine »Synchronisierung der Interessen der einzelnen Menschen« zu bewerkstelligen. Dies ist nicht zuletzt das politische Kunststück par excellence, die »Triade: Eudaimonia, Gerechtigkeit und Anerkennung« (S. 11) in einer jeweils immer erst dialogisch auszuhandelnden und damit fragilen, ergebnisoffenen und riskanten Balance der Interessen zu bewerkstelligen. Dies zeige sich auch vor allem an der Bewältigung des Problems der Verteilungsgerechtigkeit, die die Selbstverwirklichungsbedürfnisse des Menschen nicht ersticken dürfe. Die Frage, ob der einzelne dieser Rechte »würdig« sei, ist je nach ideologischer Voreingenommenheit unterschiedlich beantwortbar; der Begriff »Würdigkeit« (axia) ist bei Aristoteles unbestimmt wie auch die Gerechtigkeit letztlich hinsichtlich ihrer Konkretisierbarkeit. Ungleichen Personen stehe in gerechter Weise ungleich viel zu – aber es gibt unterschiedliche Ungleichheiten und das Maß diesbezüglich ist ungewiss; außerdem reflektierte Aristoteles auch die Möglichkeit einer »ausgleichenden Gerechtigkeit«. Gerechtigkeit ist keine »einfache«, auszumathematisierende Mitte. Es war der österreichische Rechtsphilosoph Hans Kelsen, der in seinem 1953 erschienenen Buch ›Was ist Gerechtigkeit?‹ die aristotelische Mesotes-Lehre einer vernichtenden Kritik unterzogen hatte. Kelsen als Liberaler vermeinte, in dieser Lehre eine konservative, den Status quo verewigende ideologische Finte ausfindig machen zu können: ihr liege eine schon immer im voraus gewusste, statische Idee von Gerechtigkeit zugrunde. Ronny D. Kupfer dagegen hält die aristotelische Konzeption für rettbar und brauchbar, wenn sie um den offenen Horizont des menschlichen Potenzials erweitert würde. Es wird dadurch der Rechtsbegriff um eine Zukunftsdimension erweitert, ja um ein Zukunftsrecht. Schon der Individualanarchist Max Stirner pointierte das, indem er sagte: »Nur der Lebende hat Recht.« Bei Kupfer gemäßigter: »Ohne Entfaltung und Entwicklung stirbt nämlich alles Lebendige notwendig ab.« (S. 16) Der Mensch, um sich entwickeln zu können, sei »vorschussangewiesen«. Das Ideal der Gerechtigkeit sei nicht ein für allemal fixiert, so Kupfer, sondern selber einbezogen in den Diskurs seiner selbst.
Kupfer zieht zur Untermauerung seines Ansatzes den ursprünglich aus Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ stammenden Begriff vom »Kampf um Anerkennung« in der sozialphilosophischen, entmetaphysizierten Lesart Axel Honneths heran. Bei Hegel begegnet uns wiederum das Problem von »Herr« und »Knecht«, jedoch dialektisiert. Die Formel »Kampf um Anerkennung« enthält zwei Substantiva: den Kampf und die Anerkennung. Meist wird in den Interpretationen dieser Hegelschen Formel das Moment des Kampfes unterstrichen: Anerkennung kann dann allenfalls als Resultat dieses Kampfes erscheinen. Zunächst wäre die Welt resonanzverweigernd, ja feindlich. Anders ist es, wenn auf Anerkennung der Schwerpunkt gelegt würde: sie impliziere »Liebe, Recht und Wertschätzung« (S. 17). Dabei ist der »Kampf« entschärft bzw. sublimiert: findet er unter Philosoph_innen statt, sollte er eine »kultivierte Form« (S. 33) annehmen. Der »Kampf um Anerkennung« ist sogar der »Streit um die Wahrheit des Menschen als eines immer unfertigen und werdenden Wesens, welches auf einen Vorschuss von Gütern (und Vertrauen) aus der Gemeinschaft prinzipiell angewiesen ist« (S. 15f.).
Ronny D. Kupfer ist sich dessen bewusst, dass es einiger Weiterführungen bedürfte, um seinen Entwurf mit materialen Inhalten füllen zu können. Ein diskreter Hinweis auf Kant in einer Fußnote auf S. 25 zeigt das philosophisch brückenschlagende Talent des jungen Autors: »Wenn nun keine Anschauung zu diesen Begriffen passen will und wenn das am Ende auch logisch gar nicht möglich ist, so müssen sie (nach Kant) wohl Ideen (Begriffe ohne Anschauungen) und Ideale sein, welche dem Menschen bei seiner praktischen Orientierung helfen können/sollen. Diese Arbeit muss aus Zeitmangel und wegen der Umgangsbeschränkung ohne den Einbezug explizit Kant'scher Theorie auskommen. Nur sollte dieser Querverweis nicht ausgespart bleiben, weil er sich aus der internen
Überlegung so wunderbar organisch und passend entwickelte.«
In Zeiten sogar an der Bildung knausernder Austeritätspolitik und zunehmender gesellschaftlicher Konflikt- und Verfeindungsprozesse ist es durchaus mutig und auch aufklärerisch wichtig, eine philosophische Wesensbesinnung auf Menschsein, Gerechtigkeit und Glück nicht nur als Goodwill-Bekundung uns ins Gedächtnis zu rufen und anzumahnen, sondern auch als Konstruktionsmomente auf dem Wege zu einer »Eunomia« (Ilmar Tammelo) einzubringen: einer gerechteren Ordnung, die zugleich eine dem Menschen als futurischem Wesen gerechtwerdende Ordnung sein müsste. Ein wohlgeordnetes Gemeinwesen ist zum Wohle des Menschen da: aller Menschen!
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