Die Anwendung des Jugendstrafrechts (und damit die Anwendung des § 105, Jugendgerichtsgesetz (JGG)) auf Heranwachsende gerät immer wieder in den Fokus der politischen und öffentlichen Diskussion. Dabei votiert eine Mehrheit für die Abschaffung dieses Paragraphen, allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen. Während der überwiegende Teil der Fachliteratur für die generelle Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und damit eine Abschaffung des § 105 JGG plädiert (vgl. Eisenberg 2012, S. 997; DVJJ 2002), wird die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende in der öffentlichen und politischen Diskussion oftmals äußerst kritisch betrachtet. Es sind daher auch immer wieder Bestrebungen zu erkennen, die generelle Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende durchzusetzen. Ein Beispiel hierfür ist der „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz“ (Bundesrat 2003), der durch das Land Baden-Württemberg in den Bundesrat eingebracht wurde. Zeichen dieser Bestrebungen ist auch die Regelung in Baden-Württemberg zu verstehen gewesen, dass Heranwachsende zwischenzeitlich keine der Regelungen für junge Untersuchungsgefangene in Anspruch nehmen konnten (vgl. Jung-Pätzold et al. 2010, S. 303). Ziel der damaligen Landesregierung war es augenscheinlich, [...] der regelhaften Einbeziehung Heranwachsender in das allgemeine Strafrecht ‚durch die Hintertür’ näherkommen “ (Jung-Pätzold et al. 2010, S. 306). Je nach Rechtskreis, nach dem der Heranwachsende verurteilt wird, hat dies eklatante Folgen für die betroffene Person (vgl. Allgeier 2010).
Die Diskussion der Fragestellung, inwieweit Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, wird durch eine (bislang) sehr polemische Debatte und Darstellung in der Öffentlichkeit weiter befeuert, zum Beispiel durch Publikationen wie „Das Ende der Geduld“ (Heisig 2010), oder „Schluss mit der Sozialromantik! Ein Jugendrichter zieht Bilanz“ (Müller 2013), die beide ein eindrückliches Bild von der mentalen Belastung der Jugendrichter zeichnen.
Dabei werden alle gewünschten Klischees bedient: Der Rückgang der Jugendkriminalität, weil eine neue Generation von Jugendrichtern „hart durchgreift“ (Müller 2013, S. 409), die „in Kuschelpädagogik hervorragend ausgebildeten Sozialarbeiter“ (Müller 2013, S. 44), die daher als Kooperationspartner ungeeignet sind, und als „Sozialromantiker“ der „ungeliebten Person des Richters“ „persönlich die Robe ausziehen wollen“ (Müller 2013, S. 47).
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Stand der Forschung
- Der § 105 (1) JGG
- Inhalt
- Historische Entwicklung
- Die Anwendungspraxis des § 105 (1) Nr. 1 JGG
- Die Beurteilungskriterien des § 105 (1) JGG
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“ aus Perspektive der Entwicklungspsychologie
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“ aus Perspektive der Entwicklungspsychopathologie
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“ aus Perspektive der Kriminologie
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“ aus Perspektive der Entwicklungskriminologie
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“ aus Perspektive der Soziologie
- Das Beurteilungskriterium „Umweltbedingungen“
- Das Beurteilungskriterium „Umweltbedingungen" aus Perspektive der Entwicklungspsychopathologie
- Das Beurteilungskriterium „Umweltbedingungen“ aus Perspektive der Bindungstheorie
- Das Beurteilungskriterium „Umweltbedingungen" aus Perspektive der Resilienzforschung
- Das Beurteilungskriterium „Umweltbedingungen“ aus Perspektive der Kontrolltheorie
- Das Kriterium „geistige Entwicklung“
- Das Kriterium „geistige Entwicklung“ aus Perspektive der Entwicklungspsychologie
- Das Kriterium „geistige Entwicklung" aus Perspektive der Neurowissenschaften
- Das Kriterium „sittliche Entwicklung“
- Das Kriterium „sittliche Entwicklung" aus Perspektive der Moralpsychologie
- Das Kriterium „sittliche Entwicklung" aus Perspektive der Neurowissenschaften
- Das Beurteilungskriterium „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“
- Operationalisierung der Beurteilungskriterien des § 105 JGG
- Psychosoziale Diagnostik und soziale Arbeit
- Die Marburger Richtlinien
- Das Modell nach Esser et al.
- Die Bonner Delphi Studie
- Die alternative Möglichkeit der Beurteilung auf Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
- Die Entwicklung höchstrichterlicher Rechtsprechung in Bezug auf § 105 (1) Nr. 1 JGG
- Die Entwicklung der Rechtsprechung aus entwicklungspsychologischer Perspektive
- Fazit
- Erkenntnisse
- Diskussion und offene Forschungsfragen
- Literaturverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Bachelorarbeit befasst sich mit der Anwendung des § 105 (1) Nr. 1 JGG auf Heranwachsende aus psychologischer Sicht. Ziel ist es, die Beurteilungskriterien des Paragraphen aus verschiedenen psychologischen Perspektiven zu beleuchten und Schlussfolgerungen für die Anwendungspraxis zu ziehen. Die Arbeit analysiert die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende und die damit verbundenen Herausforderungen.
- Die Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende
- Die Beurteilungskriterien des § 105 (1) JGG
- Die Anwendung des § 105 (1) JGG aus psychologischer Sicht
- Schlussfolgerungen für die Anwendungspraxis
- Die Entwicklung höchstrichterlicher Rechtsprechung in Bezug auf § 105 (1) Nr. 1 JGG
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende ein und beleuchtet die aktuelle Debatte um den § 105 JGG. Sie stellt die Relevanz der Fragestellung dar und skizziert den Aufbau der Arbeit.
Das Kapitel „Stand der Forschung“ gibt einen Überblick über die wissenschaftliche Literatur zum Thema Heranwachsende und Jugendstrafrecht. Es werden verschiedene Perspektiven auf die Anwendung des § 105 JGG vorgestellt und die aktuelle Forschungslage beleuchtet.
Das Kapitel „Der § 105 (1) JGG“ erläutert den Inhalt des Paragraphen, seine historische Entwicklung und die Anwendungspraxis. Es werden die verschiedenen Aspekte des § 105 (1) JGG im Detail betrachtet und die Herausforderungen bei der Anwendung in der Praxis aufgezeigt.
Das Kapitel „Die Beurteilungskriterien des § 105 (1) JGG“ analysiert die verschiedenen Beurteilungskriterien des Paragraphen aus unterschiedlichen psychologischen Perspektiven. Es werden die Kriterien „Gesamtwürdigung der Persönlichkeit“, „Umweltbedingungen“, „geistige Entwicklung“ und „sittliche Entwicklung“ aus der Sicht der Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Kriminologie, Entwicklungskriminologie, Soziologie, Bindungstheorie, Resilienzforschung und Kontrolltheorie betrachtet.
Das Kapitel „Operationalisierung der Beurteilungskriterien des § 105 JGG“ befasst sich mit der praktischen Umsetzung der Beurteilungskriterien in der Anwendungspraxis. Es werden verschiedene Modelle und Ansätze zur Operationalisierung der Kriterien vorgestellt, darunter die Marburger Richtlinien, das Modell nach Esser et al. und die Bonner Delphi Studie.
Das Kapitel „Die alternative Möglichkeit der Beurteilung auf Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs“ analysiert die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Bezug auf § 105 (1) Nr. 1 JGG. Es werden die wichtigsten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in diesem Bereich vorgestellt und die Entwicklung der Rechtsprechung aus entwicklungspsychologischer Perspektive betrachtet.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen den § 105 JGG, Heranwachsende, Jugendstrafrecht, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Kriminologie, Entwicklungskriminologie, Soziologie, Bindungstheorie, Resilienzforschung, Kontrolltheorie, Moralpsychologie, Neurowissenschaften, Psychosoziale Diagnostik, soziale Arbeit, Marburger Richtlinien, Modell nach Esser et al., Bonner Delphi Studie, Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
- Quote paper
- Stephan Müller (Author), 2014, Die Einschätzung nach §105(1) Nr.1, JGG aus psychologischer Sicht und Schlussfolgerungen für die Anwendungspraxis der Heranwachsendenregelung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/280470