Wenn heute von interkultureller Kommunikation gesprochen wird, dann bedeutet dies das aufeinander Zugehen zweier kulturell verschiedener Individuen oder Gruppen. Gerade im Fremdsprachenunterricht ist dieses Thema von besonderer Bedeutung, denn dort beschäftigen sich Lehrende und Teilnehmer mit dem Mysterium einer fremden Kultur.
Nun gibt es für den Unterricht verschiedene Arten, diese Kultur kennenzulernen. Dies geschieht durch landeskundliche Beiträge in Form von Video-Dokumentationen, Liedern und Hörbeispielen authentischer Alltagskommunikation, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei wird häufig versucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen zu untersuchen, um darüber einen Zugang zur Sprache und damit der Kommunikationswelt der anderen Kultur zu erlangen. Auch die Literatur spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Diese Arbeit untersucht die Rolle von Kinderliteratur, insbesondere der Märchen, im fremdsprachlichen Deutschunterricht.
Ein Ziel dieser Arbeit ist es, zu zeigen, dass Kinderliteratur ein geeignetes Material zur Durchführung fremdsprachlichen Unterrichts darstellt - nicht nur für Kinder. Insbesondere wird der Einsatz von Kinderliteratur in Bezug auf den Deutsch als Fremdsprache Unterricht (im Weiteren „DaF“ abgekürzt) anhand der Textsorte Märchen untersucht. Denn jede Kultur besitzt eine Tradition mündlicher Überlieferung von fantastischen Begebenheiten, mystischen Wesen, Geschichten der Entstehung der Erde durch göttliche oder wie auch immer geartete Gestaltung. Eine dieser Überlieferungsformen ist das Märchen. Von sog. Märchensammlern gesammelt und zusammengetragen, sind Märchen ein kulturelles Gut, das über Generationen hinweg überliefert wurde. In diesen Überlieferungen finden sich Regeln des sozialen Zusammenlebens der einstigen Gesellschaft, aus der die Märchen uns überliefert wurden, aber auch moralische Wertevorstellungen, wie sie auch heute noch Geltung haben können.
Inhalt:
1.Einleitung
2.Definitionen
2.1.Kinderliteratur
2.2.Märchen
3.Exkurs: Der pädagogische Nutzen von Märchen
3.1.Forschungsüberblick
3.2.Zur Eignung von Märchen als Kinderliteratur
4.Fremdsprachenerwerb
4.1.Spracherwerbsmodelle
4.2.Zweit- und Fremdsprachenerwerb
5.Kinderliteratur im fremdsprachlichen Deutschunterricht für Erwachsene
6.Analyse der Merkmale des Märchen
6.1.Struktur eines Märchens
6.2.Symbole
6.3.Märchen-Charaktere
6.4.Exkurs: Gemeinsamkeiten europäischer und außereuropäischer Märchen
7.Mediale Umsetzungen von Märchen und ihr Nutzen im fremdsprachlichen Deutschunterricht
8.Unterrichtskonzept für fremdsprachlichen Deutschunterricht
8.1.Der Unterrichtsvorschlag
9.Diskussion
Quellen
Anhang
1. Einleitung
Wenn heute von interkultureller Kommunikation gesprochen wird, dann bedeutet dies das aufeinander Zugehen zweier kulturell verschiedener Individuen oder Gruppen. Gerade im Fremdsprachenunterricht ist dieses Thema von besonderer Bedeutung, denn dort beschäftigen sich Lehrende und Teilnehmer mit dem Mysterium einer fremden Kultur. Nun gibt es für den Unterricht verschiedene Arten, diese Kultur kennenzulernen. Dies geschieht durch landeskundliche Beiträge in Form von Video-Dokumentationen, Liedern und Hörbeispielen authentischer Alltagskommunikation, um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei wird häufig versucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen zu untersuchen, um darüber einen Zugang zur Sprache und damit der Kommunikationswelt der anderen Kultur zu erlangen. Auch die Literatur spielt hierbei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese Arbeit untersucht die Rolle von Kinderliteratur, insbesondere der Märchen, im fremdsprachlichen Deutschunterricht. Der Begriff „Kinderliteratur“ kann Literatur bezeichnen, die für Kinder geschrieben wird, und solche, die von Kindern verfasst wird. In Abschnitt 2 werden diese Definitionen näher erläutert. Ein Ziel dieser Arbeit ist es, zu zeigen, dass Kinderliteratur ein geeignetes Material zur Durchführung fremdsprachlichen Unterrichts darstellt - nicht nur für Kinder. Insbesondere wird der Einsatz von Kinderliteratur in Bezug auf den Deutsch als Fremdsprache Unterricht (im Weiteren „DaF“ abgekürzt) anhand der Textsorte Märchen untersucht. Denn jede Kultur[1] besitzt eine Tradition mündlicher Überlieferung von fantastischen Begebenheiten, mystischen Wesen, Geschichten der Entstehung der Erde durch göttliche oder wie auch immer geartete Gestaltung. Eine dieser Überlieferungsformen ist das Märchen. Von sog. Märchensammlern gesammelt und zusammengetragen, sind Märchen ein kulturelles Gut, das über Generationen hinweg überliefert wurde. Wie Abschnitt 2 zeigen wird, finden sich in diesen Überlieferungen Regeln des sozialen Zusammenlebens der einstigen Gesellschaft, aus der die Märchen uns überliefert wurden, aber auch moralische Wertevorstellungen, wie sie auch heute noch Geltung haben können. Viele dieser Geschichten sind, mit einigen Änderungen, in ganz Mitteleuropa bekannt, und spätestens durch moderne Verfilmungen, beispielsweise durch die schon in den 30er Jahren erschienenen Produktionen der Walt Disney Company, auch in den Rest der Welt vorgedrungen. In Abschnitt 3 wird auf die wissenschaftliche Diskussion zur pädagogischen Eignung von Märchen als Kinderliteratur detailliert eingegangen. Im Anschluss daran soll ein kurzer Überblick über den Fremdsprachenerwerb gegeben werden, der sich dann in Abschnitt 5 auf die Nutzung literarischer Werke im Unterricht konzentriert, mit besonderem Augenmerk auf Kinderliteratur und Märchen (auch) im Unterricht für Erwachsene. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Hypothese lautet: Auch erwachsene Fremdsprachenlerner können von der strukturellen Beschaffenheit der Kinderliteratur profitieren und sich dadurch schneller Kommunikationsformen einer Sprache erschließen. Es wurde das Märchen als Beispielstextsorte gewählt, da diese Texte stark strukturiert sind. Diese Struktur macht sie zu besonders reizvollen Objekten bei der Auswahl von Unterrichtsmaterial. So kann man z.B. die Strukturierung von Erzählungen anhand von Märchen verdeutlichen, denn Anfang, Klimax und Ende sind im Märchen deutlich markiert. Dies wird in Abschnitt 6 genauer untersucht. Das Besondere bei der Anwendung der Textsorte Märchen als Literatur im Unterricht DaF ist, dass alle Teilnehmenden eines Sprachkurses über Wissen der Textsorte Märchen verfügen.[2] Denn Märchen gibt es in allen Kulturen. Die asiatischen Völker erzählten sich ebenso Geschichten über Drachen und mystische Gestalten, wie beispielsweise die Kulturen Mitteleuropas. In dieser Arbeit werden vor allem die europäischen Märchen berücksichtigt, da diese sich in Form und Inhalt oftmals überschneiden. Exotischere Märchen, aus dem nahen wie dem fernen Osten sowie Afrika, können leider nicht in vollem Umfang einbezogen werden. Sie werden in Abschnitt 6 in Bezug auf vergleichbare Motive europäischer Märchen grob skizziert. Außerdem wird das Märchen und seine Funktion in der interkulturellen Kommunikation vorgestellt. Die Erscheinungsformen der medialen Umsetzung von Märchen werden in Abschnitt 7 kurz im Hinblick auf ihren Nutzen für den fremdsprachlichen Deutschunterricht untersucht. Anhand der in Abschnitt 6 definierten Eigenschaften von Märchen verschiedener Kulturen wird ein didaktisches Konzept für den Unterricht DaF erstellt. Dazu wird in Abschnitt 8 ein ausgewähltes Märchen der Gebrüder Grimm didaktisiert und in eine Unterrichtseinheit eingebunden.
2. Definitionen
Die folgenden Definitionen werden der Arbeit vorangestellt, um einen Überblick über die vorhandenen Unterschiede im Sprachgebrauch und in der literaturwissenschaftlichen Analyse zu geben und die darauffolgenden Ausführungen nicht durch Erklärungen unterbrechen zu müssen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass nicht auf die komplette Forschungsgeschichte eingegangen werden kann, sondern nur für diese Arbeit relevante Aspekte der Forschung in die Definitionen einfließen, d.h. es wird darauf geachtet, dass ein Bezug zum Deutschunterricht oder der Rezeption durch Kinder und / oder Erwachsene hergestellt werden kann.
Es werden die beiden großen Themenkomplexe, die der Kinderliteratur und des Märchens, definiert, um einen Überblick über die vorherrschenden literaturwissenschaftlichen Termini sowie einen Einblick in die Problematik der Definition zu geben. Die Einordnung verschiedener Stücke in die beiden Genres wird im literaturwissenschaftlichen Diskurs ausgiebig behandelt, kann hier aber nur begrenzt aufgenommen werden. An einigen Beispielen wir diese Problematik aufgeführt, mit den o.g. Einschränkungen in Bezug auf die ausgewählten Aspekte. Zum Thema Märchen werden hauptsächlich die Gattungsmerkmale des Märcheninterpreten Max Lüthi[3] zur Definition verwendet. Die strukturellen, morphologischen und syntaktischen Besonderheiten der Märchen werden hier nicht ausführlich besprochen, da sich Abschnitt 6 diesem Thema ausführlich zuwendet.
2.1. Kinderliteratur
Der Begriff Kinderliteratur fasst mehrere Gattungen[4] der Literatur zusammen. Das größte unterscheidende Merkmal hierbei ist die Autorenschaft der Kinderliteratur. Einerseits umfasst der Begriff solche Werke, die von Erwachsenen geschrieben wurden, auf der anderen Seite handelt es sich um jene Literatur, die von Kindern geschrieben wurde. Die weiteren Unterteilungen der Kinderliteratur werden im Folgenden kurz vorgestellt.
Seit einigen Jahren gibt es Projekte verschiedener Bildungsträger, meist sind dies gemeinnützige Vereine, in denen Kinder und Jugendliche lernen sollen, Bücher selbst zu schreiben, zu gestalten, zu drucken und zu publizieren[5]. Diese Projekte haben das Ziel, Kinder und Jugendliche zum Schreiben zu animieren, ihre Fertigkeiten und Kenntnisse in diesem Bereich zu trainieren und dadurch ihre Kompetenzen im Bereich der schriftsprachlichen Produktion zu fördern. Die in diesen Projekten publizierten Bücher, in kleiner bis mittelgroßer Auflage, sind, je nach Zielvorstellungen des Projektes und der verfolgten Vermarktungsstrategie, auch durchaus erfolgreich. Die Geschichten in diesen Büchern sind von Kindern verfasst, sind somit also auch als Kinderliteratur zu bezeichnen, im Gegensatz zu dem weiter unten definierten klassischen Begriff der Kinderliteratur. Eine Zielsetzung dieser Projekte ist, dass die Kinder sich selbst und ihre Arbeit wertschätzen lernen und ihren persönlichen Schreibstil im Sinne des ganzheitlichen Empowerments [6] entwickeln können. Dabei ist nicht wichtig, wie viel geschrieben wird oder ob der Text sprachlich korrekt ist, das Hauptaugenmerk liegt auf der Tatsache, dass geschrieben wird. Solche Projekte eignen sich durchaus auch für den Deutschunterricht, zum Beispiel als interkulturelles Projekt für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund. In diesem Projekt kann der Lerner seine Muttersprache in den Erwerbsprozess des Deutschen aktiv einbringen, und Geschichten zweisprachig verfassen. Die Muttersprache der Kinder, die normalerweise im schulischen Alltag eher unterdrückt wird, wird so gewinnbringend in den Unterricht eingebracht. Denn „Mehrsprachigkeit [hat] positive Effekte auf die Selbsteinschätzung, die Bildungsaspiration und die Familiensolidarität“[7]. Auch bei erwachsenen Fremdspachenlernern kann ein solcher Projektunterricht durchaus motivierend wirken und die Textproduktion dadurch auch im Anfängerunterricht, begleitet durch ausgewähltes Bildmaterial, zugänglicher machen.
Die klassische Kinderliteratur ist, im Gegensatz zur oben beschriebenen Literatur, von Erwachsenen verfasst. Eine Definition für Kinder- und Jugendliteratur bieten Schweikle / Schweikle (1990). Sie beschreiben Kinder- und Jugendliteratur als die „Gesamtheit des Schrifttums, das als geeignete Lektüre für Kinder und Jugendliche gilt, wie auch alles von ihnen tatsächlich Gelesene“. Aber auch hier lassen sich einige Unterkategorien finden. So kann der Begriff beispielsweise die tatsächliche Kinder- und Jugendlektüre bezeichnen, nämlich die Literatur, die Kinder und Jugendliche selbst aus dem literarischen Angebot aussuchen. Abzugrenzen davon ist die sog. sanktionierte Literatur, im Sinne von „anerkannte“ Literatur, also das literarische Angebot, das von Institutionen wie der Schule und Jugendschutzverbänden als zur Rezeption von Kindern und Jugendlichen geeignet angesehen wird. Zu dieser sanktionierten Literatur kann auch die eigentliche Kinderliteratur gehören, diese besteht aus der „intentionalen, spezifischen [...] Kinder- und Jugendliteratur“[8], also dem literarischen Angebot, das Kinder und Jugendliche bei der Publikation ausdrücklich als Rezipienten vorsieht, bzw. das ausdrücklich für Kinder und Jugendliche verfasst wird.
All diese Definitionen machen deutlich, dass es bestimmte einheitliche Merkmale in der Literatur gibt, welche sie für Kinder und Jugendliche zugänglich macht. Das betrifft vor allem Kriterien wie die thematische Komplexität sowie die strukturelle Beschaffenheit des Textes. Erwachsenenliteratur wird dem jüngeren Publikum durch Adaption oder assimilative Anpassung zugänglich gemacht, d.h. die Texte werden den kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen angepasst. „Sie können zur Unterhaltung dienen oder auch zum Verständnis der Umgebung, Gesellschaft oder Welt beitragen“[9].
Die Gattungen, die der Kinderliteratur angehören, sind vielfältig. Für Kinder adaptiert werden können prinzipiell alle literarischen Gattungen, von Sachlexika über Bilderbücher und Romane bis hin zu Benimmbüchern und Zeitschriften. Die uns interessierende Gattung ist hierbei die der literarischen Anthologien[10], nämlich die Märchensammlungen.
Im Laufe der Literaturgeschichte entwickelte sich die Kinderliteratur. Sie entwickelte sich von ihren Anfängen mit fantastischen und spielerischen Themen hin zur vielfältigen Kinderliteratur, die wir heute als solche zusammenfassen können. Themen wurden im Laufe der Zeit verändert, hinzugefügt, andere wieder verdrängt, dann wiederentdeckt und weiterentwickelt. So wurden beispielsweise durch die Aufklärung[11] die volkstümlichen Kinderreime, Sagen und Legenden aus der Lebenswelt der Kinder verdrängt. Im Zuge dieser Bewegung entstanden viele pädagogisch lehrreiche Werke, welche „die Grundlagen für ein breites, moralisch und sachlich belehrendes Schrifttum mit unterhaltendem Charakter gelegt“ haben[12]. Erst im Zuge der deutschen Romantik[13] wurden die volkstümlichen Texte und Kinderreime wiederentdeckt. In dieser Zeit entstanden auch die uns heute noch bekannten Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm sowie ein Großteil der Kunstmärchen, die in Deutschland vor allem durch die Werke von Schriftstellern wie E.T.A. Hoffmann (z.B. Nussknacker und Mausekönig), Hans Christian Andersen (z.B. Die Prinzessin auf der Erbse) und Ludwig Tieck (z.B. Der blonde Eckbert) bekannt sind, in anderen Ländern durch Autoren wie Alexander Puschkin (z.B. Сказка о Золотом Петушке [14] ), Madame Le Prince de Beaumont (z.B. La belle et la bête [15] ) und Oscar Wilde (z.B. The happy Prince [16] ) ihre Verbreitung fanden. In den darauffolgenden Jahrhunderten zeigten sich verschiedene Tendenzen in der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland, von Abenteuerromanen (im 19. Jahrhundert z.B. von Karl May) über Werke zur künstlerischen Erziehung bis hin zu Literatur mit nationalsozialistischem und imperialistischem Gedankengut (ab dem Ende des 19. Jahrhunderts). In den Jahren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entwickelte sich die Literatur vor allem in Westdeutschland zurück zu den fantastischen, realitätsfernen Texten der Romantik. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand eine dieser fantastischen Literatur entgegenstehende realistische Strömung. Die märchenhaft-fantastische Literatur Ottfried Preußlers (z.B. Krabat) oder Michael Endes (z.B. Die unendliche Geschichte) entstand aus dem Trend, die Realität durch Flucht ins Fantastische zu bewältigen. Sie kann als dem Kunstmärchen (s. Abschnitt 2.2.2.) ähnliche Literatur angesehen werden und ist nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene interessant und lesenswert. Diese Literatur ist, wie noch erwähnt wird, ein geeigneter Stoff für erwachsene Deutschlernende, die über Literatur einen Zugang zur Sprache zu finden hoffen[17]. Natürlich empfehlen sich Werke wie Die unendliche Geschichte nicht für den Anfängerunterricht bzw. Unterricht oder Selbststudium bis in die Niveaustufen A1 / A2 (nach dem GER[18] ). Auf den fortgeschrittenen Niveaus ab B1 / 2 (nach dem GER) bietet sich diese Literatur jedoch an, gerade für solche Lerner, die auch in ihrer Muttersprache gerne und viel lesen. Interessant sind Werke wie die o.g. auch deshalb, weil sie verfilmt wurden. Durch diese Verfilmungen lassen sich vielfältige Übungen zur Arbeit mit dem Text erstellen (vgl. Abschnitt 7).
Die eigentliche Kinderliteratur, also solche, die intentional für Kinder publiziert wird, eignet sich nach Meinung der Autorin dieser Arbeit für den erwachsenen Deutschlerner durch die ihr eigenen strukturellen und thematischen Eigenschaften. Wie oben bereits angesprochen, definiert sich die Kinderliteratur vor allem durch die unterschiedliche Herangehensweise an verschiedene Themen der Erwachsenenwelt. So sind Adaptionen von Erwachsenenliteratur in ihrer gesamten Erzählstruktur einfacher gestaltet, mit klar zu erkennenden köhärenzstiftenden Mitteln und vielen zeitlichen und örtlichen Referenzmarkierungen (genauer definiert s. Abschnitt 6), die auch dem Deutschlernenden zugute kommen können. Diese Texte zeichnen sich auch durch eine vereinfachte Thematik aus. Subtile oder ambige Darstellungen werden entweder ausführlich erklärt oder, je nach Eignung der Deutung für die Rezeption durch Kinder, ausgelassen. Die Sprache ist ebenfalls, je nach Adressatenalter, d.h. dem Alter des vom Autor vorgesehenen Rezipienten, einfacher gestaltet. Wie in der mündlichen - an Kinder gerichtete - Kommunikation erwachsener Sprecher, ist die Komplexität des Textes an der kognitiven Verstehensleistung der Rezipienten ausgerichtet. Sätze werden in ihrer Ausdrucksweise deutlicher und weniger ineinander verschachtelt gestaltet, Wörter werden bewusst nach ihrer Verständlichkeit für den Rezipienten gewählt, und auch die gesamte Organisation des Textes gestaltet sich einfacher, mit klar erkennbaren Struktureinheiten[19].
Die o.g. Eigenschaften verhelfen auch dem erwachsenen Deutschlerner zu einer vereinfachten Rezeption von Kinderliteratur und erweitern dadurch das Spektrum der literarischen Texte für den Deutschunterricht für Erwachsene[20]. Dabei ist es wichtig, den Lernern zu erklären, zu welchem Zweck diese Kinderliteratur gewählt wurde. Manche Erwachsenen fühlen sich möglicherweise nicht ernst genommen, wenn sie Kinderliteratur bearbeiten sollen. Die Erklärung würde demnach die Transparenz des Lernziels gewährleisten und den Lernenden sich als vollwertiges Gegenüber im Unterricht begreifen lassen. Daher ist auch die Auswahl des zu behandelnden Textes bewusst der Lernergruppe anzupassen. Gut geeignet für diesen Zweck sind nach Meinung der Autorin dieser Arbeit bereits erwähnten Geschichten Michael Endes oder Ottfried Preußlers (vgl. Abschnitt 5), die immer auch einen für Erwachsene interessanten Bezug zur Realität aufweisen oder Adaptionen der Erwachsenenliteratur für die kindliche Rezeption. Wie diese Arbeit noch zeigen wird, eignen sich auch Märchen hervorragend für den fremdsprachlichen Deutschunterricht mit Erwachsenen.
2.2. Märchen
Das Genre des Märchens bezeichnet bestimmte Erzählungen aus der ursprünglich mündlich überlieferten Literatur. Es ist dabei abzugrenzen von den benachbarten Gattungen Sage, Legende, Mythos und Fabel, obwohl diese Gattungen sich in ihrer Verwendung des Übernatürlichen und Fantastischen ähneln.
Die Sage ist, nach Lüthi (2004), eine Kontrastgattung zum Märchen. Trotz ähnlicher Thematik handelt es sich bei der Sage um Erzählungen, die den Anspruch auf historische Korrektheit erheben, im Gegensatz zum Märchen, und deren Hauptinteresse auf außergewöhnliche Gestalten (Helden, übernatürliche Wesen), Taten oder Orte und deren Auswirkungen auf die Nachwelt gerichtet ist, weshalb auch Ort, Zeit und Personen oft möglichst genau geschildert werden[21]. Die meisten Märchen dagegen sind relativ kurze Erzählungen, die keinen Anspruch auf Darstellung realer Begebenheiten erheben. Sie widmen sich einem emotional anregenden Thema auf unterhaltsame Art und Weise[22], und stellen dabei die Handlung, also sozusagen das Wie in den Vordergrund, während die handlungstragenden Charaktere, also das Wer, eher undefiniert - bezeichnet durch sie beschreibende Eigenschaftsnamen („das Aschenputtel“), ihren gesellschaftlichen Rang („der Prinz“, „das Schneiderlein“) oder anonymisierende Allerweltsnamen („Hänsel und Gretel“) - bleiben[23].
Die Legende zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine Vorbildfunktion erfüllen soll. Sie berichtet zwar auch von Übernatürlichem, oder Ungewöhnlichem, ist aber in ihrer Wirkung eher auf religiöse Erziehung ausgelegt. Sie stellt durch göttliche Kraft bewirkte Wunder in den Vordergrund und zeigt dem Rezipienten meist den Weg in die Unsterblichkeit der Seele. Ähnlich wie die Sage erhebt sie Anspruch auf Realitätsnähe.
Während Sage, Legende und Märchen sich meist auf menschliche Handlungsträger beziehen, sind die in Mythen bedeutenden Charaktere Götter (auch in Gestalt von Tieren oder Menschen auftretend). Diese Erzählungen sind zeitlos, überirdisch gestaltet und „gelten als die ältesten Schöpfungen der Menschheit [...]. Sie beantworten die Urfragen des Menschen nach dem Sein, dem Werden, der Liebe und dem Tod.“[24].
Um die Fabel vom Märchen zu unterscheiden, muss man sich auf eine Abstraktionsebene begeben, und die Fabel als „eine um der Nutzanwendung willen erfundene Geschichte“[25] auffassen, die dem Leser eine praktische Bedeutung vermitteln will. Sie beinhaltet, ähnlich der Legende, moralisierende Elemente, wollen belehren.
Der Schwank ist eine märchenähnliche Erzählung, die allerdings die Unterhaltung des Rezipienten zum Ziel hat. Er wirkt durch seine Neigung zur Entstellung und durch seine satirischen Elemente meist unwirklich. Er ist nicht als eigenständige Gattung aufzufassen, sondern immer als Mischform einer der anderen Gattungen zuzuordnen. Denn natürlich sind Mischformen all dieser Gattungen nicht ausgeschlossen und auch vielfach vorhanden.
Weder die vom Märchen abzugrenzenden Gattungen der Sage, Fabel, Legende und Mythos, noch der parodistische Schwank und andere Mischformen sind für das Thema dieser Arbeit relevant, da diese sich auf die Eignung der eigentlichen Märchen (s. Abschnitt 2.2.1.) für den fremdsprachlichen Deutschunterricht konzentriert.
Ein Märchen kann, wie bereits angedeutet, mythische Stoffe, Fabelwesen und andere magische Geschöpfe beinhalten, sich aber auch in der realen Welt und Zeit abspielen. Der Handlungsort ist meist ein Ort, den die Rezipienten leicht einem gedanklichen Bild zuordnen können. Er besitzt also wenige spezifische Eigenschaften, sondern ist eher eine Bezeichnung eines allgemein bekannten Objektes („das Schloss“ oder „der Wald“). Die Zeit, in der die Geschichten meist handeln, ist die keine bestimmte Jahreszeit, es kann Frühling, Sommer oder Herbst sein. Im Winter sind die Geschichten nur selten situiert. Dies entstammt möglicherweise auch noch der Tradition aus den Zeiten der Märchenerzähler. Denn in Zeiten der mündlichen Erzähltradition versammelten sich die Menschen in der kalten Jahreszeit, wenn weder in Wald noch Feld gearbeitet werden konnte, und erzählten sich Märchen, bzw. ließen sich Märchen erzählen, um sich die Zeit zu vertreiben. Diese Geschichten dienten sowohl zur Unterhaltung, als auch zur Behandlung sozialer Themen. Denn Märchen stellen in ihrer Gesamtheit einen Teil des geistig-kulturellen Gutes einer Kultur dar. Literatur im Allgemeinen, und damit auch die Märchen, vermittelt als „künstlerisches Medium der Erinnerung“[26] moralische und religiöse Werte einer kulturellen Gemeinschaft. Diese stehen damit auch den nachfolgenden Generationen, zumindest rezeptiv, im Sinne eines kulturellen Erbes zur Verfügung, bilden einen Grundstein der Gesellschaft.
Nach Venohr (2005) wurden diese Erzählungen eigentlich für die Rezeption von Erwachsenen konzipiert, und erst durch die in der deutschen Romantik stattfindende Bewegung „hin zum ursprünglichen, volkstümlichen“[27] auch für Kinder zugänglich gemacht. Schon der Begriff Märchen, eine Diminutivform des Wortes „Mär“[28], zeugt von der Funktion, die diese Erzählungen seit ihren Anfängen innehatte. Allerdings zeigt er auch die ambivalente Bedeutung, die der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch innehat („Märchenhafte Landschaft“ / „Erzähl keine Märchen!“)[29].
Im Allgemeinen werden mit dem Begriff Märchen meist die Geschichten zusammengefasst, die erst durch mündliche Überlieferung und anschließende schriftliche Sammlung in Anthologien in unsere heutige Gesellschaft getragen wurden. Dabei bleiben die Elemente der Mündlichkeit (Elemente der oral poetry[30] ) und die formelhafte Sprache auch in der schriftlichen Fixierung erhalten. Darauf wird in Abschnitt 6 noch einmal eingegangen werden.
Diese fantasievollen Geschichten, die sich meist um einen seit Generationen unveränderten thematischen Kern gestalten, wurden „durch das Weitererzählen verändert, adaptiert oder auch motivisch verarbeitet“[31]. Die Märchenerzähler veränderten ihre Märchen dabei durch Anpassung der Thematik an die Bedürfnisse der Zuhörer. Diese Änderungen erfolgen je nach „moralische[m] Postulat sowie individuellen Charaktereigenschaften des jeweiligen Märchenerzählers“[32].
Die Erzählung ist meist in einem zeitfreien Raum situiert. Dies kann eine Methode der Erzähler sein, denn ohne Zeitbezug kann die Geschichte dem Rezipienten angepasst werden. Deshalb können diese Themen, auch wenn ihre archaische Sprache und die Erzählstruktur nicht mehr der Lesegewohnheit der heutigen Gesellschaft entsprechen, durch Anpassung an unsere Sprache und auch teilweise durch das Versetzen des Geschehens in unsere Gesellschaft auch in der heutigen Zeit aktuell sein, und uns emotional ansprechen. Wegen dieser Anpassungsfähigkeit des Märchens ist auch nicht vollständig nachvollziehbar, wie weit die Anfänge dieser Erzählungen in der Zeit zurückreichen. Wir können anhand einiger schriftlicher Fixierungen der Märchen ihren Weg ein Stück weit zurückverfolgen, aber ihre „Überlieferungswege liegen im Dunkeln, manche führen zurück bis in die Antike, andere nach Persien, von da nach Indien“[33]. Märchen könnten also schon seit Anbeginn der mündlichen Überlieferung, d.h. seit Anbeginn der mündlichen Kommunikation überhaupt existieren[34]. Denn aufgrund der von Erzähler zu Erzähler stattfindenden Veränderung kann nicht genau bestimmt werden, wie die ursprüngliche Form der Erzählung sich von der heute existierenden Form unterscheidet. In schriftlicher Form existieren diese Texte durch die Erfassung der volkstümlichen Überlieferungen durch die sog. Märchensammler, wie beispielsweise die Gebrüder Grimm in Deutschland oder Charles Perrault[35] in Frankreich. Diese Märchensammler, hier am Beispiel der Gebrüder Grimm, waren in Realität nicht unbedingt wandernde Märchensucher, wie sie manchmal in Produktionen von Film und Fernsehen dargestellt werden[36], sondern eher „Stubenhocker“, die sich selten außerhalb ihres Studierzimmers aufhielten und sich auf ihre schriftstellerische Leistung konzentrierten. Die Quellen ihrer Sammlung Kinder- und Hausmärchen bestanden größtenteils aus schon existierenden Märchensammlungen. Auch haben gerade die Gebrüder Grimm die Märchen nicht nur gesammelt, sondern durchaus auch eigene kreative Einflüsse in das Werk eingearbeitet (s. Exkurs Abschnitt 2.2.4.).
Der deutsche Begriff Märchen erfasst, im Gegenteil zu den in anderen Sprachen verwendeten Begriffen, genauer, welche Art der Erzählung ihm zugerechnet werden kann. Lüthi (2004) führt aus, dass Bezeichnungen anderer Sprachen oft auch benachbarte Gattungen umfassen (z.B. engl. folktale, frz. légende), ein allgemeineres literarisches Gut bezeichnen (z.B. engl. tale, franz. conte), oder nur einen bestimmten Teil des Märchenguts erfassen(z.B. engl. fairytale, frz. conte de fées). Wegen seiner genaueren Definition haben auch Forscher in anderssprachigen Kontexten das Wort Märchen in ihren wissenschaftlichen Diskurs eingeführt, als Fremdwort legitimiert durch die internationale Bekanntheit der Märchensammlung der Gebrüder Grimm[37]. Generell unterscheidet die literaturwissenschaftliche Forschung in Deutschland mehrere Unterarten des Märchens, da auch dieser Begriff noch zu weit gefasst ist.
In dieser Arbeit wird das sog. Volksmärchen, das Kunstmärchen und das Zaubermärchen unterschieden, wobei das Zaubermärchen Vertreter der anderen beiden Formen in sich beinhalten kann. Aufgrund des Umfangs dieser Arbeit kann nicht auf alle Gattungen des Aarne-Thompson Typenverzeichnisses[38] eingegangen werden. Unterteilungen bzw. märchenähnliche Geschichten, die hier nicht genauer definiert und voneinander abgegrenzt werden können sind z.B. das Tier- oder Lügenmärchen, die legendenartigen oder novellenartigen Märchen und die Ammenmärchen.
Die drei zu unterscheidenden Formen des Märchens (Volks-, Kunst- und Zaubermärchen) werden im Folgenden näher erläutert und ihre Relevanz zum Thema der Arbeit verdeutlicht.
2.2.1. Das Volksmärchen
Das sog. Volksmärchen bezeichnet solche Märchen, die nach der oben beschriebenen Art der mündlichen Überlieferung verbreitet wurden. In der heutigen Zeit sind sie größtenteils durch schriftliche Fixierung erhalten[39]. Die Mündlichkeit ist dabei ein ganz entscheidendes Definitionsmerkmal, denn nur „Erzählungen, die eine Zeitlang von Mund zu Mund gegangen sind“ gehören den Volksmärchen an[40]. Obwohl nicht „vom Volk“ verfasst, tragen diese Erzählungen den Namen laut Lüthi (1975) zurecht, da die - anfangs wohl auch durch schriftliche Vorlagen beeinflussten - Erzählungen in ihren heute vorhandenen Versionen auf anonymes volkstümliches Erzählgut zurückgehen. Die behandelten Themen sind solche, die auf einer abstrakten Ebene Probleme (oft solche des Erwachsen-Werdens) in seinem sozialen Umfeld beschreiben, sind also sozusagen aus dem Leben einer Gesellschaft gegriffen, und damit „aus dem Volk“ stammend. Deshalb kann diese Gattung auch nach Meinung der Autorin ohne Schwierigkeiten als Volksmärchen bezeichnet werden. In Deutschland werden mit Märchen meist die Erzählungen der Gebrüder Grimm benannt, welche die mündlich überlieferten Märchen in schriftlicher Form festhielten und für die Nachwelt in einer Publikation zugänglich machten[41] (s. Exkurs Abschnitt 2.2.4.).
Laut Grimm / Grimm (1812/15) sind Märchen in jeder Kultur vorhanden und beinhalten Themen, die den Menschen emotional ansprechen. Sie appellieren an die Moral jedes Einzelnen, und kommen uns in ihrer Darstellungsform heutzutage möglicherweise naiv vor. Aber sie zeigen auch das Unglaubliche, die „Veränderbarkeit der Welt [...] [durch] die gewaltsamen Befreiungsakte“[42] von bösen Autoritätsfiguren, wie beispielsweise die Verbrennung der Hexe in Hänsel und Gretel, die Folter der bösen Königin in Schneewittchen und die sieben Zwerge, etc. Sie lassen den Leser, so Finger (2009), an einer wichtigen Menschheitserfahrung, nämlich der gewaltsamen Überwindung des Bösen durch das Gute, teilhaben. Dabei ist dieser Befreiungsakt und die „gewaltsame Überwindung des Bösen“ keine den ursprünglichen, volkstümlichen Erzählungen immanente Eigenschaft, sondern wurde durch die schriftliche Erfassung durch die Märchensammler eingeführt. Wie Ritz (2000) kritisch bemerkt, wurden die ursprünglich sehr grausamen und für den Helden nicht immer glücklich endenden Märchen durch die „deutsche[...] Sehnsucht nach Versöhnung“[43] in ihre heutige Form gebracht. Und dies nicht nur durch die Gebrüder Grimm. Das „gute Ende“ ist also durchaus eine europäische Erfindung des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts finden sich v.a. in Deutschland häufiger sog. Rettungsmärchen. Diese spiegeln den Wunsch nach Rettung aus dem Elend und der Tyrannei wieder. So finden beispielsweise afrikanische oder asiatische Erzählungen nicht sehr häufig ein gutes Ende, wenn man es nach der Situation des Helden beurteilt (s. Abschnitt 6).
Die Volksmärchen Europas eint, trotz einiger nationaler, zeitlicher oder individueller Unterschiede, über die Landesgrenzen hinaus ein sog. Grundtyp des europäischen Volksmärchens. Dieser Grundtyp ist ein Idealtyp, dem sich die Erzählungen innerhalb Europas annähern, ohne diesem jedoch genau zu entsprechen. Die Merkmale dieses Grundtyps sind: die Neigung zu einem bestimmten Personal und Requisitenbestand, ein relativ standarisierter Handlungsverlauf und ein gewisser Erzähl- und Darstellungsstil[44] (s. Abschnitt 6).
Wie bereits erwähnt ähneln sich auch die thematischen Kernaussagen der europäischen Volksmärchen, denn es handelt sich um Situationen aus dem gesellschaftlichen Leben. Sie sind zwar geprägt durch die kulturellen Eigenheiten der verschiedenen Kulturen Europas, gleichen sich aber im Kern, wie sich auch die europäischen Kulturen in ihren sozialen und moralischen Vorstellungen in manchen Teilen ähneln. Das Volksmärchen fungierte ursprünglich als „Spiegelbild und Zerrbild gesellschaftlicher Verhältnisse“, stellte als Vermittler der traditionellen und kulturellen Werte einer Gesellschaft „auch das Obszöne, Brutale und Groteske“ dar[45]. Die Volksmärchen sind in ihrer Ursprungsform demnach nicht so harmlos, wie sie uns durch die Gebrüder Grimm präsentiert wurden. Sie sind der ursprüngliche, „symbolische Ausdruck eines Volkes“[46].
2.2.2. Das Kunstmärchen
Das sogenannte Kunstmärchen unterscheidet sich von der oben bereits definierten Gattung des Volksmärchens darin, dass es nicht der mündlichen Überlieferung entstammt. Es wurde von namentlich bekannten Autoren von Beginn an mit der Intention der schriftlichen Fixierung erdacht. Das Kunstmärchen kann betont artifiziell in Anlehnung an die Form des Volksmärchen entstehen, oder „das Übernatürliche-Wunderbare in freier Phantasie entwerfen und als Metapher für philosophisch-existentielle Aussagen benutzen“[47]. Dies wird vor allem an den literarischen Werken unserer Zeit deutlich, in denen verschiedene gesellschaftliche Einflüsse, wie die technische Entwicklung und die soziale Ungleichheit, subtil oder explizit, thematisiert werden[48]. Das Kunstmärchen bildet nur bedingt eine eigene literarische Gattung, da es sich immer an den literarischen Strömungen der Epoche orientiert und immer mit diesen in Verbindung gebracht werden kann. Diese Märchen spiegeln auch nicht die Lebenswelt eines Volkes wieder, sondern stellen die Lebenserfahrung, Intention und moralische Einstellung des Autors dar[49]. Viele Kunstmärchen sind in Form von Novellen verfasst. Einige der berühmtesten Autoren aus dem deutschsprachigen Raum sind hierbei E.T.A. Hoffmann (z.B. Der goldene Topf), Hans Christian Andersen (z.B. Die kleine Meerjungfrau) und Ludwig Tieck (z.B. Der gestiefelte Kater). Ebenfalls im In- und Ausland bekannt sind aus dem russischen Sprachraum vor allem die Märchen Alexander Puschkins (z.B. Сказка о царе Салтане[50]), aus dem französischen Sprachraum Madame de Villeneuve (z.B. Histoire de la bête[51]), aus dem Englischen die Märchen Oscar Wildes (z.B. The Star Child[52]).
2.2.3. Das Zaubermärchen
Das Zaubermärchen beinhaltet, seiner Bezeichnung nach, magische Elemente, wie beispielsweise Hexen, Zauberer, Fabelwesen (z.B. Drachen, sprechende Tiere), Verwandlungen und Flüche. Sie umfassen jene Märchen, die das Übernatürliche beinhalten, und allgemein mit dem Begriff des Märchens assoziiert werden. Zaubermärchen, die nach der Tradition der mündlichen Überlieferung über Generationen erhalten blieben, und damit nach der oben gegebenen Definition dem sog. Volksmärchen angehören, werden als „eigentliche Märchen“ bezeichnet[53] (s. Abschnitt 2.2.1.). Hier beginnen auch die definitorischen Schwierigkeiten. Erzählungen, die ihrer Struktur nach dem Genre Märchen zugehörig sind, und die sich gleichzeitig in ihrer Verwendung von unrealistischen Elementen - speziell der Verwendung von Magie - ähneln, sind Zaubermärchen. Aber nicht alle Zaubermärchen stellen die im Sinne des Volksmärchens eigentlichen Märchen dar. Die einstige Mündlichkeit ist hierbei das entscheidende Kriterium. Die Gattung des Zaubermärchens an sich ist nicht dem eigentlichen Märchentyp gleichzusetzen, da sowohl typische Volksmärchen, wie Der Froschkönig, als auch Kunstmärchen, wie Der goldene Topf zu den Zaubermärchen gezählt werden.
Der Begriff des Zaubermärchens ist in seiner Verwendung umstritten, da er eine Einteilung nur aufgrund der tatsächlichen Handlungselemente vornimmt, und die möglicherweise vorhandenen realen Geschehnisse, die ihnen zugrunde liegen, außer Acht lässt. Merkmale für das Zaubermärchen sind, nach Lüthi (2004), die Ausgliederung in mehrere Episoden, eine klar zu befolgende Struktur, der Charakter des Künstlich-Fiktiven, die spielerische Gestaltung (im Gegensatz zu Sage, Legende oder Mythos), das unbedeutend erscheinende belehrende Element (die Moral der Erzählung), der fließende Übergang von Realem, Surrealen und Irrealem, und natürlich die übernatürlichen und magischen Elemente.
2.2.4. Exkurs: Die Märchensammlung der Gebrüder Grimm
Märchen vermitteln, wie bereits oben erwähnt, Werte und Traditionen einer durch Sprache und Sitten zusammengehörenden Gemeinschaft, was wir im allgemeinen Sprachgebrauch als Kultur bezeichnen. In der Zeit der mündlichen Überlieferung durch die Märchenerzähler wurden die Märchen und Sagen intrakulturell weitergegeben, entweder durch einen ansässigen Erzähler, oder durch wandernde Erzähler, die so auch Märchen und Geschichten aus benachbarten Städten und Dörfern, also neue Geschichten, jedoch immer noch im gleichen kulturellen Kontext verhaftet, erzählte. Durch die schriftliche Fixierung und Publikation dieses kulturellen Gutes wurde die Rezeption auch im interkulturellen Kontext möglich. Die Werte und Traditionen einer Gemeinschaft wurden also auch über die Grenzen einer Kultur hinaus vermittelbar. So ist, laut Greiner (2009), das Bild Deutschlands im Ausland auch durch den „Export-Schlager“Kinder- und Hausmärchen - gesammelt durch die Gebrüder Grimm - die Märchensammlung der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm - geprägt.
Keine andere Märchensammlung, mit Ausnahme der orientalischen „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht ist so berühmt geworden wie die Kinder- und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm“[54]. Als sie 1812 ihre zusammengetragenen Märchen publizierten, konnten sie nicht ahnen, welche Wirkung diese Sammlung auch auf unsere heutige multikulturelle Gesellschaft haben würde.
Die Kinder- und Hausmärchen wurden schon im 19. Jahrhundert auch über die Grenzen Europas hinaus übersetzt, bekannt und beliebt, so dass sie heute die Basis unseres Märchenbegriffs im Alltagsgebrauch des Wortes bilden. Sie vermitteln dabei auch die Werte der deutschen Kultur und zeichnen ein Fremdbild der einstigen Gesellschaft Deutschlands durch die Darstellung in den Märchen. Dabei, so eine These Greiners (2009), sind die Märchen der Gebrüder Grimm nicht alle deutschen Ursprungs. Sie stammen aus den verschiedensten Kulturen und Zeiten. Durch ihre Arbeit als Bibliothekare waren die Gebrüder Grimm mit vielen alten Anthologien vertraut und gewannen ihre Märchen teilweise aus vergessenen Schriftwerken älterer Zeiten, aus den Märchensammlungen Charles Perraults und Giambattista Basiles, sowie aus den mündlichen Erzählungen von Mittelsleuten, meist gebildeten Frauen aus ihrem Bekanntenkreis[55], nach Wilhelm Grimms eigenen Worten (1812/15) gesammelt in der Main und Rinziggegend und um Hanau. Allerdings haben die Gebrüder Grimm die Märchen nicht nur gesammelt und publiziert, sondern sie auch nach ihren eigenen Vorstellungen für die Rezeption der Kinder und das Vorlesen durch die Mütter verändert. Laut Greiner (2009) änderte v.a. Wilhelm Grimm die Erzählungen dergestalt ab, dass er alle kinderuntauglichen Elemente, wie beispielsweise Rapunzels Schwangerschaft im Turm, die in früheren Fassungen zu finden ist, und ebenso allzu gewalttätige Szenen, wie sie in den Märchen ursprünglich vorgekommen sind, wegfallen ließ. Auch einige künstlerisch-stilistische Elemente fügte er ein. Durch diese konnte er die teils nüchterne Form der Berichterstattung einiger Märchen in eine Gestalt bringen, die eher der romantischen Idee einer Naturpoesie [56], die ihn zu seiner Arbeit motivierte und seine stilistischen Bemühungen leitete, entsprach. Greiner (2009) stellt fest, dass es Wilhelm Grimm dabei v.a. wichtig war, dass die Sprache und Metaphorik des Märchens „ganz nah an jedermanns Menschennatur, ihre Motive [...] auch für die vermeintlich Geringsten wiedererkennbar“ sind. Also erschuf er die Märchentexte für Kinder gewissermaßen neu, nicht immer ganz im Einverständnis mit seinem älteren Bruder Jacob. Dieser hielt Änderungen, welche die Geschichten zu sehr veränderten, für nicht wissenschaftlich. Sein Anspruch an die Geschichten war ein anderer als der Wilhelms: Er wollte die volkstümlichen Erzählungen sammeln, um sie als Dokumentation der mündlichen Überlieferungstradition für die Nachwelt zu erhalten. Doch auch trotz der Änderungen der Geschichten kann man mit Recht behaupten, dass sein Anliegen geglückt ist. Denn die Entwicklung einer Märchenforschung, ja die Verbreitung der Märchen überhaupt, wäre ohne diese Anthologie nicht möglich gewesen, oder zumindest sehr eingeschränkt möglich gewesen.
[...]
[1] Verwendung des von Altmeyer (1997) vorgeschlagenen Kulturbegriffs: in vielfältigen Beziehungen stehende Gebilde, die „eine deskriptive, keine normative Kategorie‟ zur Beschreibung sozio-ökonomischer, moralischer und sprachlicher Eigenschaften einer Gemeinschaft bilden
[2] zur Textmusterkompetenz in Bezug auf Märchen vgl. Venohr (2005)
[3] vgl. Lüthi 1975 / 2004 / 2008
[4] Der Begriff „Gattung“ wird in dieser Arbeit verwendet als Überbegriff einer Sammlung von Texten, die sich in mehreren Merkmalen ähneln
[5] z.B. Buchkinder Leipzig e.V. (http://www.buchkinder.de)
[6] Leistungssteigerung durch Stärkung des Selbstbewusstseins und Selbstvertrauens (vgl. Apeltauer (2007))
[7] vgl. Krumm 2009 : 233
[8] vgl. Schweikle / Schweikle 1990
[9] vgl. Tomačková 2007
[10] griech. „Blütenlese“, Sammlungen ausgewählter Texte (vgl. Schweikle / Schweikle 1990 : 16)
[11] Aufklärung = der Romantik (s. Fußnote 13) vorausgehende „gesamteuropäische Bewegung der Rationaliät und Humanität“ (vgl. http://www.literaturwelt.com/epochen/aufklaerung.html)
[12] vgl. Schweikle / Schweikle 1990 : 237
[13] Romantik = allgemein europäische künstlerische, insbesondere literarische, Bewegung zwischen 1790 und 1850, Beginn der dt. Romantik ca. 1793; „Mittelpunkt ist [...]das Programm einer neuen universalen Poesie“; „verstanden als Ergänzung und Fortbildung der Weimarer Klassik und als Synthese von Philosophie, Religion [...] und Kunst“ (vgl. ebd. 1990 : 398)
[14] Deutscher Titel: Das Märchen vom goldenen Hahn
[15] Deutscher Titel: Die Schöne und das Biest
[16] Deutscher Titel: Der glückliche Prinz
[17] vgl. Apeltauer 2007
[18] A = Elementare Sprachverwendung, B = Selbstständige Sprachverwendung, C = Kompetente Sprachverwendung (ausführliche Informationen auf der Internetseite des Goethe Instituts unter http://www.goethe.de/z/50/commeuro/deindex.htm)
[19] vgl. Apeltauer 2002 : 33
[20] Märchen werden, als Ausnahme, bereits seit längerem im Unterricht für Erwachsene verwendet, allerdings nicht ihrer Rolle als literarischer Textsorte entsprechend
[21] vgl. Pleticha 2003 : 18
[22] vgl. Tomačková 2007 : 7 - 8
[23] vgl. Lüthi 2005 : 115
[24] vgl. Strehlow 1985 : 14
[25] vgl. Lüthi 2004 : 12
[26] vgl. Duhem / Ewes 2008 : XVII
[27] vgl. Schenk 1980
[28] vgl. Lexer 1885: mhd. maere = Kunde, Nachricht, Bericht, Erzählung, Gerücht, dichterische Erzählung
[29] vgl. Lüthi 2004 : 1
[30] vgl. Schweikle / Schweikle 1990 = „mündliche Dichtung, Forschungsrichtung, die sich mit Tradierung, Form, Struktur und Themen des mündlichen Epos in schriftlosen Kulturen auseinandersetzt“, gekennzeichnet durch „ausgeprägte Formelhaftigkeit des Erzählens, stereotype Beschreibungsmuster (Topoi) und Wiederholungen [..]“
[31] vgl Venohr 2005 : 112
[32] vgl. Ai-hua 2009 : 9
[33] vgl. Greiner 2009
[34] Geschichte des Rotkäppchens als Überbleibsel frühgeschichtlicher Initiationsriten (Wiederauferstehung des Jugendlichen in die Phase der Pubertät) (vgl. Ritz 2000 : 10 - 11)
[35] lebte 1628 - 1703, Frankreich: „eine Art Hofdichter, der seine Märchensammlung hochgestellten Aristokratinnen widmete, ziemlich konventionell den Geschmäckern seiner Zeit folgte und [...] der Geschichte eine lehrhafte Moral anhängte. [...] Die Geschichte wird pädagogisiert.“ (vgl. ebd. 2000 : 12)
[36] z.B. Brothers Grimm, Dimension Films, 2005
[37] vgl. Strehlow 1985 : 10
[38] Typensystem des finnischen Märchenforschers Antti Aarne, erweitert durch Sith Thompson, vgl. Aarne / Thompson 1961
[39] die Tradition der mündlichen Erzähler wurde im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer mehr durch die Entwicklung und Verbreitung der Massenmedien verdrängt, weshalb (vor allem wandernde) Märchenerzähler in der westlichen Kultur heute nur noch sporadisch vorzufinden sind. Ein Arbeitsfeld der Märchenerzähler ist die Erwachsenenunterhaltung (vgl. „Bühnenkunst“ in Claussen(2005)), oder die Kinderunterhaltung in Kindergärten und Schulen (vgl. Lüthi 1975)
[40] vgl. ebd. 1975 : 8
[41] vgl. Greiner 2009
[42] vgl. Finger 2009
[43] vgl. Ritz 2000 : 14
[44] vgl. Lüthi 2004 : 25
[45] vgl. Greiner 2009
[46] vgl. Ai-hua 2009 : 1
[47] vgl. Schweikle / Schweikle 1990 : 292
[48] vgl. Fühmann, Franz 2008
[49] vgl. Tomačková 2007 : 12
[50] Deutscher Titel: Das Märchen vom Zaren Saltan
[51] Deutsche Übersetzung (d. Autorin): Die Geschichte des Biests
[52] Deutscher Titel: Das Sternenkind
[53] vgl. Lüthi 2004 : 2
[54] vgl. Greiner 2009
[55] vgl. Greiner 2009
[56] vgl. Schenk 1970
- Arbeit zitieren
- Magistra Artium (M.A.) Laura Scheriau (Autor:in), 2010, Kinderliteratur als Material für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279580
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