EINFÜHRUNG
Die Landschaftsbetrachtungen von Indianern liefern uns einen einfachen Schlüssel zum Verständnis ihres sehr komplexen Weltbildes. Ihre Sicht von Landschaft gibt uns Aufschluss über die Art, wie sie die Welt sehen, sowie über ihr zyklisches Denken, das alle Erscheinungsformen ihrer Kultur prägt. Zitate von Häuptling Seattle, von Zeitgenossen sowie Urenkeln unsere Tage bilden ein „Tor“ zur der kreisförmigen Welt der Indianer. Und genauso kreisförmig sind die Teilbereiche dieser Arbeit wie in einem Rad mit Speichen vernetzt: So bedingt die Sicht der Landschaft die Zeremonialordnung und umgekehrt, oder das Raum- und Zeitdenken steht in Wechselwirkung mit dem Aufbau der indianischen Sprache. Jedes Element des Kreises ergibt sich aus dem jeweils vorherigen – steht aber genauso mit jedem anderen in ursächlicher Verbindung. Das Betrachten einer Landschaft erscheint uns als etwas ganz Selbstverständliches, und man wird zuerst denken, man müsse dazu in seiner natürlichen Umgebung nur „die Augen auf machen“. Dass es nicht ganz so einfach ist, muss uns klar sein, seit wir wissen, dass wie wir „sehen“ und das Gesehene „verstehen“ von unserer Kultur und Individualität abhängt. Das menschliche „Sehen“ als Wahrnehmung von Helligkeiten, Farben, Räumen und Gegenständen mit Hilfe des von diesen ausgestrahlten, zurückgeworfenen oder gebeugten Lichts, das auf der Netzhaut des Auges eine Erregung auslöst, die wiederum über Sehnerven dem Sehzentrum des Großhirns zugeleitet wird, ist aufgrund gleicher physiologischer Anlagen bei allen Menschen gleich. Sobald es aber um das „Verstehen“ des Gesehenen geht, erhalten wir oft schon von zwei Personen eine unter-schiedliche Beschreibung desselben Bildes, da es von beiden unter dem Eindruck ihres individuellen Charakters und einer unterschiedlichen Gemütsverfassung aufgenommen wird.
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Inhalt
1. Einführung
2. Das Landschaftserlebnis der Indianer
2.1. Landschaft als Sakral-Erlebnis
2.2. Landschaft und Erfahrung
2.3. Landschaft und Bewusstsein
3. Indianische Ordnungssysteme: Ausdruck zyklischen Denkens
3.1. Kennzeichen indianischer Sprachen
3.2. Kennzeichen der indianischen Zeremonial-Ordnung
3.3. Grundzüge indianischer Stammesordnung und Lebensweise
3.4. Grundzüge indianischer Raum- und Zeiteinteilung
4. Das Welt- und Landschaftsbild der Indianer
5. Schlusswort
6. Kommentierte Quellenangabe
1 . EINFÜHRUNG
Die Landschaftsbetrachtungen von Indianern liefern uns einen einfachen Schlüssel zum Verständnis ihres sehr komplexen Weltbildes. Ihre Sicht von Landschaft gibt uns Aufschluss über die Art, wie sie die Welt sehen, sowie über ihr zyklisches Denken, das alle Erscheinungsformen ihrer Kultur prägt. Zitate von Häuptling Seattle, von Zeitgenossen sowie Urenkeln unsere Tage bilden ein „Tor“ zur der kreisförmigen Welt der Indianer. Und genauso kreisförmig sind die Teilbereiche dieser Arbeit wie in einem Rad mit Speichen vernetzt: So bedingt die Sicht der Landschaft die Zeremo-nialordnung und umgekehrt, oder das Raum- und Zeitdenken steht in Wechselwirkung mit dem Aufbau der indianischen Sprache. Jedes Element des Kreises ergibt sich aus dem jeweils vorherigen – steht aber genauso mit jedem anderen in ursächlicher Verbindung.
Das Betrachten einer Landschaft erscheint uns als etwas ganz Selbstverständliches, und man wird zuerst denken, man müsse dazu in seiner natürlichen Umgebung nur „die Augen auf machen“. Dass es nicht ganz so einfach ist, muss uns klar sein, seit wir wissen, dass wie wir „sehen“ und das Gesehene „verstehen“ von unserer Kultur und Individualität abhängt.
Das menschliche „Sehen“ als Wahrnehmung von Helligkeiten, Farben, Räumen und Gegenständen mit Hilfe des von diesen ausgestrahlten, zurückgeworfenen oder gebeugten Lichts, das auf der Netzhaut des Auges eine Erregung auslöst, die wiederum über Sehnerven dem Sehzentrum des Großhirns zugeleitet wird, ist aufgrund gleicher physiologischer Anlagen bei allen Menschen gleich. Sobald es aber um das „Verstehen“ des Gesehenen geht, erhalten wir oft schon von zwei Personen eine unterschiedliche Beschreibung desselben Bildes, da es von beiden unter dem Eindruck ihres individuellen Charakters und einer unterschiedlichen Gemütsverfassung aufgenommen wird.
Beide legen ihrer Beschreibung unbewusst unterschiedliche „Wertmaßstäbe“ zugrunde, benutzen unterschiedliche „Auswahlkriterien“ für das, was sie für beschreibenswert halten und was nicht, weil die Totalität des Aufgenommenen besonders bei komplexeren Sinneseindrücken in der Regel unbeschreibbar ist. Innerhalb desselben Kulturkreises fällt jedoch eine immer wieder ähnliche oder sogar gleiche Auswahl bzw. Wertung auf – in Einflußsphären anderer Kulturen dagegen oft eine ganz andere bzw. von Grund auf verschiedene.
„Die Anthropologie hat uns gelehrt, dass die Welt an verschiedenen Orten unterschiedlich definiert wird. Es ist nicht nur so, dass die Menschen unterschiedliche Gewohnheiten haben, dass sie an verschiedene Götter glauben und an das Leben nach dem Tode unterschiedliche Erwartungen stellen, vielmehr haben die Welten verschiedener Völker ein unterschiedliches Aussehen. Die metaphysischen Voraussetzungen selbst unterscheiden sich: Der Raum fügt sich nicht in die euklidische Geometrie, die Zeit bildet nicht einen ununterbrochenen Fluss in nur einer Richtung, die Ursachen des Geschehens erklären sich nicht aus der Logik des Aristoteles, der Mensch wird nicht vom Nicht-Menschen, das Leben nicht vom Tod unterschieden wie in unserer Welt. Einiges vom Wesen dieser anderen Welten zeigt sich uns in der Logik der dort gesprochenen Sprachen und in den (...) Mythen und Zeremonien (1).“
Es zeigt sich jedoch auch in einer anderen Betrachtungsweise von Landschaft, einem anderen Sehen und Verstehen der Umwelt. Und bei der Untersuchung indianischer Quellen wird uns eine Art der Landschaftsbetrachtung begegnen, die den Eindruck erweckt, als verfügten diese Menschen über ein anderes, ein schärferes „Sehvermögen“, als könnten sie „mehr“ sehen als wir.
Inwiefern sich die Sehweise eines Indianers von unserer unterscheidet, verdeutlicht das Beispiel eines simplen Kochtopfes. Jeder kann für sich selbst die Frage beantworten, was er bei dessen Anblick alles sieht, aber nur wenige uns werden etwas anderes aufzählen als den Topf selbst, seinen Inhalt, den aufsteigenden Dampf und den Herd mit dem Feuer. Aber ebenso wie bei der Wahrnehmung seiner Umgebung und der Beschreibung von Landschaft nimmt ein Indianer auch hier „mehr“ wahr als wir.
„Was siehst du hier, mein Freund? Nur einen gewöhnlichen alten Kochtopf, verbeult und schwarz vom Ruß. Er steht auf dem Feuer, (...) das Wasser darin brodelt, und der aufsteigende Dampf bewegt den Deckel. Im Topf ist kochendes Wasser, Fleisch mit Knochen und Fett und eine Menge Kartoffeln.
Es scheint, als hätte er keine Botschaft für uns, dieser alte Topf, und du verschwendest bestimmt keinen Gedanken an ihn. Außer, dass die Suppe gut riecht und dir bewusst macht, dass du hungrig bist. Aber ich bin ein Indianer. Ich denke über einfache, alltägliche Dinge wie diesen Topf hier nach.
Das brodelnde Wasser kommt aus der Regenwolke. Es ist ein Sinnbild für den Himmel. Das Feuer kommt von der Sonne, die uns alle wärmt - Menschen, Tiere und Bäume. Das Fleisch erinnert mich an die vierbeinigen Geschöpfe, unsere Brüder, die Tiere, die uns Nahrung geben, damit wir leben können.
Der Dampf ist Sinnbild für den Lebensatem. Er war Wasser; jetzt steigt er zum Himmel auf, wird wieder zur Wolke. All das ist heilig. Wenn ich diesen Topf voll guter Suppe betrachte, denke ich daran, wie Wakan Tanka, das große Geheimnis, auf diese einfache Art und Weise für mich sorgt“ (2).
Während wir ein statisches Bild – den Kochtopf – vor uns sehen, sieht ein Indianer „darüber hinaus“. Er sieht einen zyklischen Vorgang: den Dampf, der zum Himmel steigt, zur Wolke wird und als Regenwasser wieder auf die Erde zurück kommt, das Pflanzen wachsen lässt, die Tiere ernähren, deren Fleisch wiederum uns mit Nahrung versorgt.
An diesem Beispiel wird deutlich, dass Wahrnehmungen von Vertretern verschiedener Kulturen nichts mit der Beschaffenheit ihrer Augen, sondern ihres kulturellen Hintergrundes zu tun haben. Bei einem Indianer ist dieser Hintergrund durch sein zyklisches Denken im Gegensatz zu unserem linearen geprägt. Dies ist, wie im Beispiel mit dem Kochtopf und dem damit verbundenen Kreislauf des Lebens angedeutet, ein Denken in kosmischen und – ganz modern – globalen Zusammenhängen. Dieses Denken ist es, das bei Indianern eine kulturspezifische Sicht der Landschaft bedingt.
Folglich werden wir auch, wenn wir die Landschaftsbetrachtungen von Indianern untersuchen, einen Ansatzpunkt oder Schlüssel zum besseren Verständnis ihres Weltbildes finden. Gleichzeitig müssen wir jedoch diesen kulturellen Hintergrund, der sich uns durch die Betrachtung ihres Landschaftsbildes auf tut, auch als hilfreiche Erklärung ihrer Sicht der Landschaft mit einbeziehen. Deshalb wollen wir ausgehend von beispielhaften Landschaftsbeschreibungen einen großen Bogen über die Teilbereiche indianischer Kultur – wie Sprache, Religion, Stammesordnung und Lebensform sowie Raum- und Zeiteinteilung – schlagen, um dann zu unserem Ausgangspunkt „Landschaft“ zurückzukehren.
Dieser kleine Rundgang durch das Denken der Indianer soll verdeutlichen, dass diese Landschaft anders betrachten als wir, aber auch, dass diese andere Sicht von der Landschaft selbst mitbestimmt wird. Einerseits ist das Landschaftserlebnis ein prägendes Element indianischer Kultur, andererseits beeinflusst aber ihre Kultur auch rückwirkend die Art und Weise der Landsbetrachtung. Wir haben es also bei der Untersuchung indianischer Landschaftsbeschreibungen mit einem Fragenkomplex zu tun, bei dem Ursache und Wirkung ineinander fließen, da derartige Betrachtungen sowohl Ausdruck als auch Grundlage ihres Denkens darstellen.
Diese These finden wir auch in einer indianischen Selbstäußerung wieder: „Unser Volk ist das Ergebnis dieses Landes“ (3), sowie in dem Satz, dass indianische Sprachen und Lebensweisen „die tatsächlichen Manifestation einer Lebensweise in Harmonie mit einer bestimmten Region des Landes“ (4) darstellen.
Anhand von Landschaftsbeschreibungen wollen wir einen Einblick in Denken und Weltbild, der Indianer versuchen und durch darüber hinausgehende literarische Selbstzeugnisse erläutern – in der Hoffnung am Ende eine Art indianisches Selbstbildnis zu erhalten.
Dabei müssen wir uns im Klaren sein, dass jedes Selbstbildnis eine Idealisierung des eigenen Denkens und Handelns darstellt. Dieses Denken allerdings an wirklichem Handeln bzw. dieses Ideal an der Realität indianischen Zusammenlebens zu messen, soll und kann auch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein. Es soll lediglich darauf hingewiesen werden, in welchem existentiellen Konflikt Indianer-Stämme durch diese von der modernen Zivilisation vertieften Diskrepanz zwischen ihren geistigen Vorstellungen und Idealen und ihrer heutigen Lebensweise stehen.
Diese Arbeit erwähnt auch die Unterschiede zwischen unserer Art und der Indianer, Landschaft zu betrachten. Trotzdem wird die Untersuchung indianischer Landschaftsbeschreibungen zwangsläufig auch ein Licht auf unsere eigene Kultur werfen, da sich uns selbst, sobald wir andere Sehweisen kennen lernen, sobald wir „mit anderen Augen sehen“ lernen, auch neue Perspektiven auftun.
„Die zentrale Bedeutung des Eintretens in Welten, die sich von unserer eigenen unterscheiden, (...) liegt in der Tatsache, dass dieses Erlebnis uns vor Augen führt, dass unsere eigene Welt auch ein kulturelles Gebilde ist. Durch die Erfahrung anderer Welten sehen wir unsere eigene so, wie sie ist. Dadurch wird es uns auch möglich, flüchtig zu sehen, wie die wirkliche Welt – die Welt zwischen unserem eigenen kulturellen Gebilde und jenen anderen Welten – tatsächlich sein muss“ (5).
Dieser Denkanstoß wird uns vielleicht ermöglichen, in Zukunft nicht nur „mit offeneren Augen“ durch die Welt zu gehen, sondern zu versuchen, unsere Augen auch „weiter“ zu öffnen.
2. DAS LANDSCHAFTSERLEBNIS DER INDIANER
2.1. Landschaft als Sakral-Erlebnis
Wie bereits erwähnt, ist das Landschaftserlebnis eines bestimmten Volkes entsprechend seines jeweiligen Weltbilds kulturspezifisch. Betrachten wir nun Landschaftsbeschreibungen von Indianern – und dies ist ein Phänomen, das sich durch eine Vielzahl von Stämmen zieht – so wird uns zuerst die Ehrfurcht auffallen, mit der ein Indianer der Landschaft entgegentritt. Im Gegensatz zu uns, die wir einer anderen Kultur-Tradition verhaftet sind und Landschaft in der Regel „neutraler“ begegnen.
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- Gerd Wilser (Author), 1999, MIT INDIANERAUGEN SEHEN - Landschaft als Schlüssel zum Verstehen des Weltbildes der Indianer, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27946
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