Die Lautgesetze der Kindersprache


Elaboration, 2003

13 Pages, Grade: 2


Excerpt


1. Einleitung

Der vorliegende Text ist die schriftliche Ausarbeitung eines Referates aus der Lehrveranstaltung. „Strukturelle Analogien: Von Dependenzsyntax zu Dependenz in Phonologie und Morphologie“. Im Vortrag wurde vor allem die von Roman Jakobson bereits anfangs der vierziger Jahre veröffentlichte Arbeit zu den allgemeinen Lautgesetzen des Spracherwerbs „Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze“ zugrundegelegt. Erläutert wurden dabei in erster Linie die Reihenfolge der Aneignung der einzelnen Sprachlaute und deren lautsubstanzliche Begründung, wie sie von Jabobson gegeben wurde. In der schriftlichen Ausarbeitung wird versucht, den Brückenschlag zur Dependenzphonologie zu finden, wozu insbesondere der Aufsatz John Andersons „English Phonology: Theoretical, Clinical and Medieval“ herangezogen wird. Hierbei danke ich der Sociedad Española de Lengua y Literatura Inglesa Medieval/ SELIM, die mir den Text unkompliziert zur Verfügung stellte, für die freundliche Unterstützung.

2. Die Lautgesetze der Kindersprache

2.1. Vom Principle of Least Effort zum Principle of Maximum Contrast

Eine übliche Annahme über den Spracherwerb beim Kind war, dieser gelinge durch Nachahmung der Umgebungslaute, wobei diejenigen Phoneme zuerst angeeignet würden, die am leichtesten auszusprechen seien (Principle of Least Effort). Andere Ansichten betonten die schöpferische Eigenleistung des Kindes oder gaben psychologische Begründungen (z.B. Lippenlaute als Nachahmung des Saugens). Jakobson versuchte dagegen zu zeigen, daß das Kind zwar das Phonemsystem seiner Sprache im Austausch mit seiner Umwelt erschließt, sich dabei die Laute aber nicht willkürlich nach Maßgabe seines technischen Vermögens, sondern gemäß einem festen Schema aufeinander folgender Lautoppositionen, also systematisch aneignet. „Einerseits ist die kindliche Schöpfung offenkundig keine Urschöpfung, keine Erfindung aus dem Nichts, andererseits ist aber die Nachahmung keine mechanische und ratlose Übernahme.“ (Jakobson 1941, S. 329). So widerspreche der Behauptung, das Kind erschließe sich die Sprachlaute nach dem Schwierigkeitsgrad ihrer Aussprechbarkeit die Beobachtung, daß das Kind in der ersten Phase seiner lautlichen Entäußerung, der babbling period, mühelos in der Lage sei, eine große, über das in der Umgebungssprache vorhandene Lautmaterial hinausgehende Menge an lautlichen Äußerungen zu produzieren, die es dann fast alle beim Übergang zur few-words-period wieder aus seiner Sprache verbanne, darunter auch solche, die in der Sprache der Eltern tatsächlich vorkommen.

Jakobson erklärt dies folgendermaßen: Die erste Stufe des Spracherwerbs, die babbling period, sei dadurch gekennzeichnet, daß das Kind lediglich versucht sich zu äußern, um Kontakt mit seiner Umwelt herzustellen. Es tue dies, indem es versucht, sämtliche Geräusche, die es zu artikulieren imstande ist, zum Ausdruck zu bringen, ohne ihnen Bedeutungen zuzuordnen. Es erzeuge ein umfangreiches Potential an Lauten, weil es nur um den Effekt der Kontaktaufnahme, nicht aber um Inhalte geht. Die zweite Periode dagegen sei gekennzeichnet vom Übergang zur Konversation. Das Kind lerne, lautliche Äußerungen zu identifizieren und ihnen Sinnzusammenhänge zuzuordnen. Aus dem Wunsch sich überhaupt zu äußern werde der Wunsch, etwas Bestimmtes zu äußern. Es nähere sich einem Verständnis von Bedeutung sprachlicher Zeichen: “Seeking to conform to those around him, he learns to recognize the identity of the phonic phenomenon which he hears and which he emits, which he retains in his memory and which he reproduces at will. The child distinguishes this phenomenon from the other phonic phenomena he has heard, retained and repeated, and this distinction, taking on a permanent and intersubjective value, tends toward a meaning. To the desire to communicate is now added the desire to communicate something.“ (Jakobson 1971, S.9). Die große Menge nachahmender Lautäußerungen wird also aufgegeben zugunsten weniger einfacher, deutlich artikulierbarer und leicht zu erinnernder Lautoppositionen, die dem Willen zur bedeutungshaften Artikulation am wirkungsvollsten gerecht werden. Aus phonetischem Reichtum wird phonologische Limitierung[1].

Diesem phonologischen Reduktionismus des Kindes infolge seiner „Entdeckung“ der Sinnhaftigkeit sprachlicher Zeichen stehe der Bereich Onomatopoetik gegenüber, wo eine solche Limitierung nicht stattfinde. Hier blieben gerade solche stark markierten Laute, wie die gerundeten Frontvokale, erhalten, da sie durch die Tatsache, daß sie sonst nicht mehr verwandt würden, besonders hohen expressiven Gehalt haben.

Vergleiche man nun den Spracherwerb bei Kindern ganz unterschiedlicher Muttersprachen, so lasse sich feststellen, daß die relative Chronologie der Wiederaneignung der verschiedenen Laute der Muttersprache in der zweiten Periode immer in etwa dieselbe ist[2]: Die ersten Laute, die das Kind systematisch verwendet, sind zeitgleich bei den Vokalen ein breiter Vokal, namentlich A, bei den Konsonanten ein labialer Plosiv (P). Die ersten konsonantischen Oppositionen, die es dann bildet, sind erstens oral - nasal (P - M), zweitens labial - dental (P - T, M – N). Dies sei das minimale Konsonantensystem aller Sprachen der Welt, entstanden aus zwei Gegensatzpaaren, die sich jeweils in einem Merkmal unterscheiden. Hiernach entstehe dann das minimale Vokalsystem der Sprachen der Welt, wiederum infolge zweier Differenzierungen: Dem Ausgangsvokal A wird ein enger Vokal entgegengestellt (I). „Die folgende Etappe des kindlichen Vokalismus bringt entweder eine Spaltung des engen Vokals in einen palatalen und velaren, also beispielsweise papa-pipi-pupu, oder einen dritten, mittleren Öffnungsgrad, z.B. papa-pipi-pepe.“ (Jakobson 1941, S. 358). Dies ist, so Jakobson, das minimale Lautsystem aller Sprachen; alles darüber Hinausgehende könne es, aber müsse es nicht geben.

Dennoch folge auch die weitere Entwicklung der Laute Gesetzmäßigkeiten. Die Reihenfolge ihrer Aneignung entspreche den Implikationsgesetzen, wie sie für die synchronen Lautsysteme aller Sprachen gelten (Laws Of Irreversible Solidarity), die besagen, daß das Auftreten bestimmter Laute an das Vorhandensein anderer Laute gebunden sei.

Velare und palatale Konsonanten setzen Labiale und Dentale voraus, Frikative können nur enstehen, wo es schon Plosive gibt. So gebe es Sprachen, die keine Frikative und/oder keine Velare, aber keine Sprachen, die keine Plosive haben[3]. Ähnlich nachgeordnet sei das Kriterium der Stimmhaftigkeit, da diese auch nur dort als distinktives Merkmal erscheinen kann, wo die korrespondierenden stimmlosen Konsonanten bereits vorhanden sind. Eine Affrikate könne nur auftreten, wo bereits ein korrespondierender Plosiv und Frikativ vorhanden sei. Die Unterscheidung vorne – hinten bei offenen Vokalen könne es nur geben, wenn es bereits eine Unterscheidung vorne – hinten bei geschlossenen Vokalen gebe. Vordere gerundete Vokale könnten nur auftauchen, wenn bereits hintere gerundete und vordere ungerundete Vokale existierten. Im Verhältnis zu allem Zuvorgenannten sind weitere mögliche Oppositionen im Spracherwerb seltener und werden auch immer erst sehr spät erworben: „Oppositions which are relatively rare among the languages of the world are among the last acquired by children.“ (Jakobson 1971, S. 12)

Die angegebenen phonologischen Implikationen bilden also eine Schichtungsstruktur: Das Auftreten bestimmter Phonemklassen setzt immer die Existenz bestimmter anderer voraus. Und diese Schichtungsstruktur finde sich nicht nur im Spracherwerb bei allen Sprachen, sondern in umgekehrter Reihenfolge auch beim Sprachverlust, hier gingen diejenigen Laute zuerst verloren, die zuletzt erworben wurden, und es könnten zum Beispiel Frikative zu Plosiven werden, aber nicht umgekehrt. „This ordering is to be found in any existing phonological system, and it governs all its mutations; the same ordering determines, as we have just observed, the acquisition of language, a system in the process of build up; and – let us now add – it reappears in language disorders, where we have to do with a system in the process of regression and disintegration.“ (Jakobson, S.13). Es handelt sich laut Jakobson um eine Schichtungshierarchie, in der die einzelnen Schichten nacheinander aufgebaut und die zuletzt entstandenen höheren Schichten bei Aphasien auch zuerst wieder abgebaut würden. Auch diachroner Ausbau und Abbau von Phonemen in einer Sprache gehorchten diesem Prinzip. Die Abfolge der Schichten sei dabei absolut konsistent, denn sie folge den zwei Prinzipien «maximum contrast» und «simple > complex», das heißt, es würden möglichst maximale Kontrastpaare entwickelt, wobei die Reihenfolge, in der diese Kontrastpaare entstehen, von den einfachen zu den komplexen Differenzierungen gehe. „Erst im Lichte eines immanent linguistischen und ganzheitlichen Verfahrens erweist sich die Stufenfolge des Phonemsystems als sinnvoll und streng folgerichtig: sie gehorcht dem Grundsatz des maximalen Kontrastes und schreitet vom Einfachen und Ungegliederten zum Abgestuften und Differenzierten vor.“ (Jakobson 1941, S. 374).

2.2. Artikulatorische und akustische Oppositionen

Verfolgt man nun die empirisch zu beobachtende Reihenfolge der Aneignung der Phoneme anhand dieser Prinzipien ergebe sich folgendes: Die erste Unterscheidung, die das Kind gewahrt, ist die Unterscheidung zwischen Vokalen und Konsonanten. Motorisch betrachtet sei der prinzipielle Unterschied zwischen beiden Kategorien der Grad der Engebildung bei ihrer Artikulation, Vokale stünden für Offenheit, Konsonanten für Geschlossenheit. Nun sei es der Vokal A, der maximale Offenheit verlange, während Plosive völlige Geschlossenheit beinhalten, und unter ihnen verschlössen labiale Laute den Mundraum vollständig, für Geschlossenheit stehe also am optimalsten der labiale Plosiv P[4]. Damit wäre die erste Opposition geschaffen. Sie ist eine Opposition auf der syntagmatischen Achse (axis of successivity), da Konsonant und Vokal das Grundmuster der Silbe bilden. Mit ihr ist darum das Grundschema der Silbe eingeführt, aber noch nicht die distinktive Funktion von Phonemen, denn hierzu ist die Existenz von unterschiedlichen Phonemen an gleicher Stelle im Syntagma erforderlich, also eine Opposition auf paradigmatischer Ebene (axis of simultaneity). Die erste dieser Oppositionen sei die zwischen oralen und nasalen Verschlußlauten. Sie ist eine Synthese aus der Distinktion von Konsonant und Vokal, in der eine Phonemklasse eingeführt wird, die offen und geschlossen zugleich ist. Mit dem Nasenraum werde ein weiterer Raum eingeführt, bei dem sich das Kriterium aus der Unterscheidung zwischen Konsonanten und Vokalen (offen versus geschlossen) wiederholt. Während sich Nasal und Plosiv (M-P) im oralen Bereich, in dem die erste Distinktion stattfand, nicht unterscheiden, differenzieren sie sich im nasalen Bereich nach dem Kriterium geschlossen (P) versus offen (M). Die Unterscheidung zwischen oralen und nasalen Konsonaten „tends to be the first opposition with a distinctive value in child language“. (Jakobson 1971, S. 15). Sie ergebe sich folgerichtig aus der Differenzierung Konsonant – Vokal, da sie das Kriterium derselben übernimmt.

[...]


[1] „Und nun, wie alle Beobachter mit lebhafter Überraschung bezeugen, verliert das Kind beim Übergang vom Vorsprachstadium zum ersten Worterwerbe, also zur ersten wirklichen Sprachstufe, beinahe sein ganzes Lautvermögen. Es ist ohne weiteres erklärbar, daß diejenigen Artikulationen, welche in der Sprache der Umgebung fehlen, aus dem Vorrate des Kindes leicht verschwinden, aber auffallend ist es, daß auch viele andere Laute, die dem kindlichen Lallen und der Umgebungssprache gemeinsam sind, trotz dieses stützenden Vorbilds gleichfalls beseitigt werden,...“ (Jakobson 1941, S. 335). Gleichzeitig bleibt das Kind weiterhin in der Lage, die Laute, die es selber nicht mehr spricht, in der Umgebungssprache zu unterscheiden. „Das Lallen einerseits und die sog. <Hörstummheit> des Kindes (Verstehen ohne Sprechen) andererseits beweisen, daß es weder am motorischen, noch am akustischen Bilde mangelt, und trotzdem gehen die meisten Laute plötzlich verloren.“ (Jakobson 1941, S. 336f)

[2] Jakobson betont, daß viele Zweifel an der Systematik der Aneignung darauf zurückzuführen seien, daß keine saubere Trennung zwischen den endgültig angeeigneten Phonemen, den eigentlichen Sprachlauten, und solchen Lauten gezogen werde, die 1. noch ein Überbleibsel der Lallperiode sind, 2. bloße Lautgebärden darstellen oder 3. vom Kind als Allophone verwandt werden.

[3] „Erst nach dem Erwerb der Minimalphoneme beginnt sich der Einfluß der Phonemsysteme der Einzelsprachen geltend zu machen. Dabei lassen sich allgemeine Gesetzmäßigkeiten feststellen. So werden z.B. die Reibelaute (Spiranten, Frikative) immer erst nach den Verschlußlauten erworben. Da die Explosive zum Minimalkonsonantismus gehören, gibt es zwar Sprachen ohne Frikative, aber es existiert keine Sprache, die Frikative hätte, ohne zugleich auch Explosive zu besitzen. () Eine weitere Regelmäßigkeit ist, daß die hinteren Konsonanten den Erwerb der vorderen Konsonanten voraussetzen. Entsprechend gilt: Wenn eine Sprache hintere Konsonanten in ihrem Phonemsystem hat, muß sie auch vordere Konsonanten haben.“ (Ramge 1973, S. 56)

[4] Insgesamt repräsentiert A den optimalen Vokal, P den optimalen Konsonanten, wie sich dies auch noch an den später einzuführenden Kriterien der Färbung und des Kontrastes erweisen wird. Auch für andere Merkmalspaare, wie stimmhaft versus stimmlos, steht diese erste Opposition paradigmatisch.

Excerpt out of 13 pages

Details

Title
Die Lautgesetze der Kindersprache
College
University of Bremen
Grade
2
Author
Year
2003
Pages
13
Catalog Number
V277862
ISBN (eBook)
9783656705758
ISBN (Book)
9783656712282
File size
460 KB
Language
German
Keywords
lautgesetze, kindersprache
Quote paper
Dieter Stubbemann (Author), 2003, Die Lautgesetze der Kindersprache, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/277862

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