Angesichts der derzeitigen Diskussion um Wirtschaftlichkeit und Qualität im bundesdeutschen „Gesundheitswesen“ und einer wieder einmal symptomorientierten Interventionen durch den Gesetzgeber, die nicht die Ursachen dieses Dilemmas beseitigen, sondern nur kurzfristige Liquiditätsprobleme der Krankenkassen lösen können, möchte ich anhand einiger Beispiele aufzeigen, dass wir keine neuen Reformen und Reglementierungen bzw. ‚neue‘ (bewiesenermaßen durch die soziale Realität überholte) us-amerikanische Konzepte – als Ausdruck der ‚Kreativität‘ unserer Gesundheitsgurus - benötigen, sondern einen gesunden Pragmatismus in bezug auf die konsequente Durchsetzung gesetzlicher Grundlagen (Qualitätskontrolle) und die Beseitigung professioneller Privilegien.
Inhalt:
Zusammenfassung
0. Einleitung
1. Strukturelle Probleme
2. Gesetzliche Rahmenbedingungen
3. Krankenkassen
4. Standesorganisationen
5. Schnittstellen
6. Standards
7. Qualitätskontrolle
8. Managed Care/Disease Management
9. Dokumentation
10. Die professionellen Akteure
11. Zusammenfassung
Literatur
Jean-Paul Corbie
(copy right 2004)
Zusammenfassung: Angesichts der derzeitigen Diskussion um Wirtschaftlichkeit und Qualität im bundesdeutschen „Gesundheitswesen“ und einer wieder einmal symptomorientierten Interventionen durch den Gesetzgeber, die nicht die Ursachen dieses Dilemmas beseitigen, sondern nur kurzfristige Liquiditätsprobleme der Krankenkassen lösen können, möchte ich anhand einiger Beispiele aufzeigen, dass wir keine neuen Reformen und Reglementierungen bzw. ‚neue‘ (bewiesenermaßen durch die soziale Realität überholte) us-amerikanische Konzepte – als Ausdruck der ‚Kreativität‘ unserer Gesundheitsgurus - benötigen, sondern einen gesunden Pragmatismus in bezug auf die konsequente Durchsetzung gesetzlicher Grundlagen (Qualitätskontrolle) und die Beseitigung professioneller Privilegien.
0. Einleitung
Vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Diskussion und einer permanenten staatlichen Intervention im Rahmen der Ausgabenregulierung, vermißt man eine präzise Definition des Gesundheitssystems. Diskussionen über klare Abgrenzungen zwischen Gesundheits- und Krankheitssystem scheint es nicht zu geben, worüber diskutiert wird, ist ‚Krankheit‘. Gesundheit ist eher ein marginales Problem angesichts der unendlichen Zahl von Krankheiten und der mehr oder weniger erfolgreichen Therapien.
Darüber hinaus unterliegt dieses System – sofern es um reflexive Kritik geht – einer spezifischen Problematik zwischen Experten und Laien, wobei analytisch betrachtet, eine Mythologisierung, Mystifizierung und Tabuisierung im Hinblick auf die professionellen Akteure dieses Systems nicht von der Hand zu weisen sind. Der professionelle Status ‚Arzt‘ – was gleichzusetzen ist mit ‚Heiler‘ und patriarchalisch narzißtischer Omnipotenz – ist unfehlbar, nicht angreifbar, nicht kritisierbar und mit ökonomischen Mitteln nicht faßbar. Kompliziert wird es nur dann, wenn die Stellung der Profession auf ihre faktische Funktion im Hinblick auf die Gesundheit analysiert wird.
Was ist überhaupt Gesundheit, welche Faktoren bestimmen die Gesundheit, und wie kann ein Individuum in einer Gesellschaft seine Gesundheit erhalten? Gemäß der WHO-Definition ist Gesundheit ein vollständiges biopsychosoziales Wohlbefinden in einem gegebenen Gesellschaftssystem und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit (vgl. Kutz 2001). Unser System der Krankenbehandlung hat bislang aber keine präzisen Aussagen über die Gesundheit vermittelt. Es konfrontiert uns mit Risikofaktoren, die zu Krankheiten führen können, aber Faktoren der Gesundheit scheinen nicht zu existieren.
Krankheit wiederum läßt sich durch die Begriffe Impairments, Disabilities (Activities) und Handicaps-Deprivationen-Partizipation spezifizieren, oder allgemein als Störung des Subjektes zu seinem sozialen Interaktionskontext (Oevermann 1982) aufgrund einer intrasubjektiven Kommunikationsstörung zwischen den Systemen Körper und Bewußtsein (Luhmann 1983) oder als subjektive Befindlichkeitsstörung, als objektive Schädigung, als Funktionsstörung von Organen bzw. des somatischen oder psychischen Systems, die durch entsprechende objektive Befunde bzw. subjektive Interpretationen von Symptomen, denen man Befundcharakter unterstellt, mehr oder weniger verifiziert werden können.
Dieses System vermittelt (Ideal), dass jede Krankheit therapiert werden kann und dass objektive Ursachen von Krankheit in der Regel nur in Betracht kommen, sofern genetische Schädigungen, Infektionen, Intoxikationen oder Dispositionen vorliegen. Überwiegend werden Krankheiten – so der systemimmanente Ansatz - jedoch durch primär subjektive Verhaltensdefizite verursacht. Damit erhebt sich das System selbst zum Hüter der Gesundheit, zum gesundheitlichen Verhaltenstherapeuten schlechthin.
Es verschweigt allerdings vermittels spezifischer Instrumente der Intellektualisierung, Verleugnung und Rationalisierung seine eigenen Unzulänglichkeiten, Mängel und Defizite in bezug auf objektive Krankheitsursachen, Diagnostik, Krankheitsverläufe sowie objektive Therapieerfolge, indem Unwirksamkeit von oder Schädigungen durch Eingriffe (welcher Art auch immer) als Noncompliance oder schicksalhaft in einen subjektiven Bereich verwiesen werden.
Als ‚Halbgott in weiß‘ oder ‚Herr über Leben und Tod‘ entziehen sich die Akteure des Systems jeden Ansatzes von Kritik oder Selbstreflexion und verweisen diese in den Bereich von Querulanten und Nörglern, die die - bis zur ‚Selbstaufgabe' reichenden - Leistungen der Profession bzw. die „Ärztliche Kunst“ nicht akzeptieren wollen. Jeder, der dieses System kritisiert, wird apriori als suspekt oder als Tabubrecher etikettiert, und wer ein Tabu bricht, tabuisiert sich quasi selbst und ist für das System nicht mehr kommunikationsfähig.
Dieses selbstreferentielle System entzieht sich aufgrund der Mythologisierung, Tabuisierung und Mystifizierung jeder Art von Kontrolle seines Handelns, obwohl es aufgrund seiner fehlenden theoretischen Basis sowie fehlender objektiver Erfolgsnachweise als Gesundheitssystem versagt hat. Theoretisch und pragmatisch betrachtet, müßte es sehr viel eher als System der Krankenbehandlung (Luhmann 1983) definiert werden und weil Krankenbehandlung ohne Erfolgsnachweis intransparent bleibt, bedarf das System einer kontinuierlichen neutralen Kontrolle. Diese wird aber sowohl von den professionellen Akteure, als auch von den Kostenträgern nicht nur abgelehnt, sondern schlicht verweigert.
1. Strukturelle Probleme
Das Solidaritätsprinzip ist die Basis des gesetzlichen Systems der Krankenbehandlung. In den gesetzlichen Krankenkassen sind ca. 90% der Bundesbürger versichert. Da aber jede Berufsgruppe quasi ihre eigene Krankenkasse etabliert hat und der Gesetzgeber seit Jahren eine Konkurrenz zwischen den gesetzlichen Krankenkassen fordert, ist ein Paradoxon in diesem System entstanden.
Ein auf Solidarität und Strukturausgleich basierendes System wird aufgrund des Konkurrenzdruckes konterkariert und beabsichtigt oder unbeabsichtigt in ein auf ökonomischen Marktmechanismen basierendes Modell gepreßt. Solidarität besagt aber genau das Gegenteil, die Stärke des Versicherungssystems beruht auf einer von allen Versicherten getragenen, mit gesamtgesellschaftlichem Konsens ausgestatteten, Legitimation, die den Schwächeren in der Gesellschaft im Krankheitsfall die gleiche Versorgung garantieren soll wie den ökonomisch Stärkeren.
Die Paradoxie hat dazu geführt, dass gesetzliche Krankenkassen einerseits unter dem Druck der Beitragsstabilität einen bezahlbaren Beitragssatz erhalten müssen, andererseits aber aufgrund der Konkurrenz einen niedrigen Beitragssatz anstreben, um dadurch Versicherte aus anderen Berufsgruppen an sich binden. Dieses Konkurrenzsystem führt dazu, dass die Krankenkassen mit den risikoreichsten Versicherten erhebliche Defizite verbuchen und die Beitragssätze kontinuierlich ansteigen, während Kassen mit risikoarmen Versicherten möglicherweise die Beiträge senken können. Hinzu kommen noch die privaten Krankenkassen, die vor allem junge risikoarme Patienten mit sehr geringen Beitragssätzen, aber einem beschränkten Leistungsangebot, anlocken und dadurch ebenfalls das Solidaritätsprinzip untergraben und den gesellschaftlichen Konsens des sozialen Versicherungssystems konterkarieren. Dies wird z.T. ausgelöst durch jungen Familien. Die gutverdienenden jungen Ehefrauen/Ehemänner versichern sich aus Kostengründen privat, der Ehepartner, der weniger verdient, versichert sich und die Kinder in der gesetzlichen Krankenversicherung (teilweise sogar durch Teilzeitjobs), so dass auf Seiten der gesetzlichen Krankenkassen erhebliche Einnahmeverluste zu verzeichnen sind und zusätzliche Ausgabenbelastungen, wodurch das Solidaritätsprinzip von diesen Familien schamlos ausgenutzt wird.
Betrachtet man vor diesem Hintergrund die unterschiedlichen Organisationen im System der Krankenbehandlung, so stellt man sehr schnell fest, dass die unterstellte Marktsituation – mit der ja immer wieder argumentiert wird - nicht existiert. Die gesetzlichen Krankenkassen – sofern sie sich als Vertreter der Versicherten verstehen – unterliegen dem Einfluß politischer Interventionen und zwar je nach politischer Ideologie der jeweils regierenden Partei, was - wie die letzten 10 Jahre zeigen -, fast ausschließlich zu einer Aushöhlung des Solidaritätsprinzips geführt hat. Darüber hinaus soll eine Marktsituation dadurch entstehen, dass Leistungsanbieter und Kostenträger die Preise für die Dienstleistungen aushandeln. Grundlage derartiger Marktmechanismen wäre, dass die Nachfrage auch den Preis bestimmt, was im System der Krankenbehandlung aber nicht zutrifft. Die Leistungen werden vom Anbieter festgelegt (Monopol), nicht nur die diagnostischen, therapeutischen, rehabilitativen und pflegerischen Maßnahmen, sondern auch die medikamentösen; denn die Pharmaindustrie z.B. ist nicht nur allein für die Entwicklung ihrer Produkte zuständig, sondern sie beeinflußt durch intensive ‚Beratung‘ der Ärzte und Kliniken auch deren Verschreibungsverhalten sehr massiv, so dass über die Schaltstelle Arzt wiederum auch die medikamentösen Leistungen bestimmt werden. Der Nachfrager – in diesem Fall der Patient – hat grundsätzlich keine Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Angeboten und Preisen zu wählen, vielmehr wird er mit dem Begriff der Noncompliance konfrontiert, wenn er die Maßnahmen des Experten auch nur ansatzweise anzweifelt. Die gegenwärtige Argumentation, nur der Patient könne das Verhalten der Ärzte beeinflussen und kontrollieren, muß schon „hochwissenschaftlich“ begründet werden, um diskutabel zu sein, zeigt aber bei näherer Hinsicht nicht nur Unwissenheit, sondern diese Argumentation muß in den Bereich der Illusion eingeordnet werden. Wie soll ein Laie die fachlich notwendigen oder nicht notwendigen Leistungen beurteilen können, wie soll er das Verschreibungsverhalten der Ärzte kontrollieren können, wenn keine Standards existieren? (Es gibt kaum einen Arztbesuch, der nicht mit der Ausschreibung eines Rezeptes endet, unabhängig davon, ob notwendig oder nicht, was natürlich durch die Gebührenordnung forciert wird; denn die Ausschreibung eines Rezeptes wird honoriert, also geht kein Patient ohne Rezept nach Hause). Insofern sind die Nachfrager dieses Systems reine Empfänger von Leistungen (angebotsinduzierte Nachfrage), die dann, wenn es um die Wirkungsweise oder Nebenwirkungen von Maßnahmen geht, mit dem Slogan „Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ auf ein Expertensystem verwiesen werden, dass – wenn überhaupt - oftmals nur durch die Werbeintervention der Pharmaindustrie die Verschreibung bzw. Wirkungsweise eines Medikamentes begründen kann.
Die Preise für einzelne Leistungen werden prinzipiell ohne den direkten Einfluß der Nachfrager, sondern unter Verbände, Organisationen und Institutionen ausgehandelt. Problematisch dabei ist nur, dass der durch staatliche Interventionen aufgezwungene Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen bereits aufgrund eines gesetzlichen fixierten Leistungskatalogs paradox ist, während auf der Anbieterseite eine eindeutige Tendenz zur Monopolisierung beobachtet werden kann (Krankenhausgesellschaft, KV, Ärztekammer, ärztliche Kreisverbände usw.), was insbesondere durch die in den letzten Jahren zu verzeichnenden Fusionen im Pharmabereich (Novartis, Aventis/Sanofi, Pharmacia/Upjohn, usw.) noch unzweifelhafter wird. Man muß sich diese Konzept einmal bildlich vorstellen, da zwingt der Gesetzgeber den gesetzlichen Krankenkassen einen Wettbewerb auf, um Beiträge zu senken, obwohl der Leistungskatalog der GKV wiederum durch den Gesetzgeber festgelegt ist, und wenn eine Kasse gut organisiert ist, effektiv und effizient arbeitet, dann wird sie über den sogenannten Risikostrukturausgleich dazu gezwungen, weniger effektive und effiziente Kassen finanziell zu konsolidieren. Der Spielraum für einen Wettbewerb unter den gesetzlichen KK ist – wenn überhaupt – äußerst gering und zeigt bei genauer Hinsicht nicht den geringsten Ansatz, die Kosten im ‚Gesundheitssystem‘ zu senken.
Was den Kassen generell vorzuwerfen ist, besteht in ihrer Unfähigkeit zur Kontrolle der Leistungsanbieter, die in Kliniken (Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Pflegeeinrichtungen) ohne Probleme durchführbar wären, aber die Durchsetzung einer Qualitätskontrolle wird wiederum durch eigene - vorwiegend fachliche Inkompetenz - der Kassen verspielt, weil eine adäquate ökonomische und fachliche Verhandlungskompetenz, die durch Verwaltungsangestellte repräsentiert wird, bei den Kassen nicht existiert oder das QM dem MDK übertragen wird, der von den personellen und fachlichen Ressourcen gar nicht über die Kompetenzen verfügt , Qualitätskontrollen und Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchzuführen.
2. Gesetzliche Rahmenbedingungen (explizite Normen)
Gesetzliche Rahmenbedingungen haben generell die Funktion, Regeln für einen spezifischen gesellschaftlichen Funktionsbereich zu bestimmen, sowohl unter Berücksichtigung von Handlungsintentionen und Zielen als auch unter Berücksichtigung der Interaktionen. Interventionen werden immer dann interessant, wenn Konflikte oder ökonomische Expansionsbestrebungen nicht durch systemimmanente Regulationsprinzipien eine Stabilisierung bzw. ein Gleichgewicht im Systems gewährleisten können.
Die diesbezüglichen gesetzlichen Grundlagen im SGB V sind so allgemein gehalten, dass die Durchsetzbarkeit in Form sanktionierbarer Kontrollen nicht möglich ist und Durchführungsbestimmungen häufig den Vertragspartnern überlassen bleiben (s. Punkt 3.).
”Die Unsystematik in der Qualitätssicherung beginnt bereits bei den gesetzlichen Regelungen. Weder sind Sozial- und Berufsrecht noch die Vorgaben für die Bundes- und Landesebene und erst recht nicht die Vorschriften für die einzelnen Leistungsbereiche (ambulant/stationär) sind aufeinander abgestimmt. Die von Kassenseite seit Jahren geforderte Harmonisierung und Abhandlung der kompletten Qualitätssicherung in einem eigenen Kapitel des SGB V wird nicht realisiert. ...” (Riegel 1997).
Die Vereinbarungen im ambulanten und stationären Gesundheitssektor enthalten zwar Regelungen zur Qualitätssicherung, sind aber zweifellos unwirksam, solange neutralen Institutionen bzw. Kostenträgern eine direkte Prüfung der Ergebnisqualität versagt bleibt. Eine Qualitätskontrolle, die nur durch professionsimmanente Institutionen (im ambulanten Versorgungsbereich die KV, § 75 SGB V) erfolgt, kann letztendlich keine objektive Qualitätskontrolle gewährleisten.
Die Vergangenheit hat auch hier gezeigt, dass Defizite solange dementiert werden, bis öffentliche Medien eindeutige Beweise für Qualitätsdefizite nachweisen (vgl. Herzklappenskandal 1994, Laborärzteskandal 1997, oder die Hamburger Krankenhausskandale usw.) (vgl. hierzu Kiefer, Schüller, Schrinner 1999).
Das Problem in diesem Kontext ist nicht, dass Defizite oder Fehler beobachtbar sind, sondern dass die Öffentlichkeit oder die Betroffenen Defizite nachweisen müssen und die Folgekosten defizitärer Diagnostik, Behandlungen, Rehabilitation und Pflege wiederum zu Lasten der Krankenversicherung gehen. Eine Intensivierung der Qualitätssicherung und -kontrolle sowie Handlungsrichtlinien in Form von Standards, eine rationale und rationelle Dokumentation sowie interne und externe Qualitätskontrolle und Wirtschaftlichkeitsprüfungen hätten diese Skandale bereits im Keim erstickt.
Qualitätssicherung ist erst seit Beginn 2000 verpflichtend, aber den Krankenhäusern wurde eine Latenzzeit von 2 Jahren gewährt, interne Qualitätsprogramme einzuführen, obwohl sie 20 Jahre Zeit hatten, diesbezügliche Programme einzurichten. Nur, wer kontrolliert denn gegenwärtig, ob die Krankenhäuser die gesetzlich verbindlichen QM-Programme eingeführt haben – in der Praxis ist davon wenig zu bemerken (Standards und veröffentlichte Qualitätsberichte muß man suchen, sie existieren kaum.)
Gleichwohl haben die Kostenträgern es in der Vergangenheit versäumt, ihre gesetzlichen Kontrollmöglichkeiten durch entsprechende Vertragsmodalitäten voll auszuschöpfen, so dass bis heute eine wenig effektive, vielweniger noch effiziente Struktur im System der Krankenbehandlung zu beobachten ist.
Die von sozialpolitischer Seite immer wieder präferierten Selbstregulationsmechanismen und Appelle an freiwillige Implementation haben in bezug auf Effektivität und Effizienz versagt. Es können nur permanente Fortschreibungen der Kostenspirale, Beitragserhöhungen und für den Patienten permanente Selbstbeteiligungsauflagen konstatiert werden. An diesem Zustand werden auch die Modifikationen im SGB V nichts ändern, da sie grundsätzlich immer noch die Selbstregulationsmechanismen präferieren, anstatt insbesondere Qualitätskontrolle zwingend festzuschreiben und bei Verstoß den Kostenträgern adäquate Sanktionsmöglichkeiten an die Hand zu geben (vgl. Kutz 2001). Es sollte dem Gesetzgeber und auch den Kassen doch bekannt sein, dass die Durchsetzung von gesetzlichen Maßnahmen und Kontrollen nur durch erheblich restriktive Sanktionen gewährleistet werden kann.
Gesetzlich festgeschrieben werden müßten PQM, mit einheitlichen Standards (nicht Leitlinien) für die Zulassungsmodalitäten von Ärzte, Krankenhäuser, Reha- und Pflegeeinrichtungen. Kostenträger dürften wegen der Monopolisierungstendenzen keine eigenen Kliniken besitzen - wie dies derzeit vor allem im Reha-Bereich der Fall ist. Im Rahmen des Zulassungsverfahrens bzw. der Zertifizierungen müßten interne Qualitätssicherungsprogramme bereits etabliert sein. Verfahren der Qualitätskontrolle müssen durch den Gesetzgeber genauso zwingend vorgeschrieben werden wie erhebliche Sanktionsmöglichkeiten. Vorstellbar ist ein System der Qualitätskontrolle, dass nicht von Standesorganisationen und berufsinternen Institutionen gelenkt wird, sondern von Kostenträgern und neutralen Sachverständigen, aber selbst die kassen lehnen neutrale Sachverständige rigiros ab.
Die sozialrechtliche Struktur im Gesundheitswesen mutet - zusammenfassend - problematisch an. Institutionen werden zu Maßnahmen der Qualitätssicherung verpflichtet, aber adäquate Implementationsmodalitäten und Kontrollinstitutionen existieren nicht bzw. die inhaltlichen Ausgestaltung der Qualitätssicherung wird den Vertragspartnern (KK, KV, ÄK, DKG usw.) überlassen oder aber eindeutig systemimmanenten Institutionen zugeschrieben (KV für den ambulanten Versorgungsbereich) (vgl. auch § 136 Abs. 1; SGB V), ohne diese aber zu verpflichten, sich – minimalistisch formuliert - durch jährliche Qualitätssicherungsberichte zu legitimieren. Weder die KV’en noch die Ärztekammern, Krankenhausgesellschaften oder der MDK sind von ihren fachlichen und personellen Ressourcen her in Lage, Qualitätssicherung, insbesondere aber Qualitätskontrolle zu gewährleisten.
Vor dem Hintergrund dieser sozialrechtlichen Strukturdefizite und den Versäumnissen in den letzten 10 Jahren muß stark bezweifelt werden, dass sich – trotz der gesetzlich fixierten Verpflichtung zum Qualitätsmanagement - in nächster Zukunft grundlegende Veränderungen in bezug auf objektive Versorgungsqualität von Patienten (wie evidenz based medicine, Effektivität, Effizienz, Standards, Dokumentation, Qualitätskontrolle und Sanktionen) im System der Krankenbehandlung durchsetzen lassen.
3. Krankenkassen
Die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen verfolgt prinzipiell das Ziel, die Pflichtversicherten im politischen und ökonomischen Wechselspiel zu vertreten und die verfügbaren Mittel unter dem Prinzip der ökonomischen Rationalität und einer qualitativ guten Versorgung zu verwalten sowie die Kostenspirale bzw. die ökonomischen Expansionsbestrebungen des Systems der Krankenbehandlung durch Beitragsstabilität auf einem vertretbaren ökonomischen Niveau zu halten.
Diese Zielvorstellungen konnten die Krankenkassen bislang nie umsetzen bzw. sie haben die Patientenvertretung nie als eine genuine Aufgabe angesehen. Permanente Expansionen und steigende Kostenspirale verbunden mit einer Interventionsbegrenzung durch den Gesetzgeber (etwa Qualitätssicherung in der ambulanten Versorgung ist Aufgabe der KV- einer Standesorganisation der Ärzte) bzw. die Unfähigkeit bestehende gesetzliche Interventionen (vgl. Sachverständigenrat: Kieferorthopädische Behandlung oder QM) voll auszuschöpfen, führten letztendlich zu stetigen Leistungsbegrenzungen und kontinuierlichen Beitragserhöhungen für die Kunden des Systems, was sich selbstverständlich auch auf die Lohnnebenkosten auswirkte, da der Arbeitgeber mit 50% an der Beitragsfinanzierung beteiligt ist.
Die Krankenkassen haben sich zwischenzeitlich zu einer relativ autonomen Institution entwickelt, die die Bindung an ihr Klientel – Versicherten – verloren zu haben scheint. Nicht die aktive Politik für den Kunden steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern die Einflußbestrebungen im Hinblick auf politische Entscheidungen, ökonomische Interventionen und dubiose Versorgungsmodelle (Tumorzentren, Ärztenetze, Einführung der australischen DRG‘s, disease management, KTQ, BQS, neue Modelle im Rahmen der Versorgung, Prävention, Bonus-Modelle, managed care usw.).
Geht es aber um simple Leistungsbewilligungen wie etwa eine kieferorthopädische Behandlung, dann werden Gutachten von niedergelassenen Kieferorthopäden akzeptiert, die nicht einmal Minimalkriterien entsprechen. Obwohl Grundlagen für die formale und inhaltliche Ausgestaltung eines Gutachtens existieren (vgl, Rebscher et. al. 1990), werden sie in diesem Versorgungsbereich nicht angewendet. Kaum einem dieser Gutachten ist zu entnehmen, aufgrund welcher Befundkonstellation eine gutachterliche Empfehlung zustande kommt. Teilweise wird nur der Gesetzestext zitiert oder es werden Entscheidungen präjudiziert, obwohl nur die Krankenkassen entscheiden dürfen. Dies geht sogar soweit, das von Krankenkassenvertretern telefonische Absprachen zwischen behandelndem Arzt und Gutachter akzeptiert werden, obwohl die Richtlinien eindeutig die Neutralität des Gutachters vorschreiben. Dass ein Gutachter nur beratende Funktion hat, scheint weder die Kasse, die KV noch die Gutachter selbst zu interessieren. Das problematischste an dieser Situation sind die Vereinbarungen auf Bundesebene. Da werden für die Durchführung der kieferorthopädischen Begutachtung auf Bundesebene ganz offensichtlich Defizite und eklatante Verstöße gegen den Datenschutz und die Neutralität von Gutachtern nicht nur ignoriert, sondern vielmehr offiziell legitimiert. In Abschnitt II der diesbezüglichen Vereinbarungen auf Bundesebene (Bestimmungen für die Tätigkeit der Gutachter) heißt es in Absatz 1, Satz 3: „Meinungsverschiedenheiten über die Beurteilung des Behandlungsfalles sind in kollegialer Aussprache zu klären.“ Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen Datenschutzvorschriften, denn ohne Einwilligung des Patienten dürfen Gutachter und behandelnder Arzt überhaupt keine persönlichen Daten des Patienten besprechen. Darüber hinaus widerspricht diese Vereinbarung dem Grundsatz der Neutralität von Gutachtern, der in dem Buch von Rebscher/ Müller-Held/Schüttgens (MDK) bereits 1990 ausdrücklich fixiert wurde. Damit widersprechen die Krankenkassen ihren eigenen festgeschriebenen Standards zur Begutachtung.
Die Arzneimittelzulassung ist in die Hände einer Bundesbehörde gelegt, obwohl gerade hier die Krankenkassen weit mehr Verantwortung übernehmen müßten, denn die Pharmastudien werden vorwiegend in Krankenhäusern durchgeführt. Die Verantwortung der gesetzlichen Krankenkassen beschränkt sich derzeit primär auf Reaktionen sich verändernder Versorgungsbedingungen, anstatt aktiv die Belange ihrer Versicherten zu vertreten.
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- Arbeit zitieren
- Jean-Paul Corbie (Autor:in), 2004, Defizite im Gesundheitswesen - Die Soziale Regression, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27693
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