„‘Wo soll man die Struktur der Erzählungen suchen? In den Erzählungen vermutlich‘“
(Roland Barthes nach Krützen 2006, 5).
Das Leben eines jeden Menschen folgt einer zeitlichen Struktur. Auf A folgt B und auf B
wiederum C. Es handelt sich um eine kausal-chronologische Ereigniskette, die unser
Zeitempfinden prägt. Wir leben in dieser zeitlichen Linearität und haben gelernt, linear
zu denken und zu kommunizieren. Regelmäßige, kontinuierliche Abfolgen beschreiben
das soziale Zeitmuster. Eine Manipulation dieser Zeitabfolge und ein Bewegen in der Zeit
sind für uns undenkbar. In der Denk- und Kommunikationsstruktur der Erzählung kann
man diese stringente kausale Abfolge jedoch auf unterschiedliche Weise durchbrechen.
Medien machen von der Grundtätigkeit des Menschen – dem Erzählen – Gebrauch. So
sind auch audiovisuelle Medien wie der Kinofilm und die Fernsehserie, die in den
kulturellen Alltag der Gesellschaft eingebettet sind, zeitliche Phänomene, indem sie in
einer Zeitspanne stattfinden und darin eine andere vermitteln. Sie bestehen in der Zeit
und sind in ihrer materiellen Entität der Geradlinigkeit verhaftet. Sie bergen ein großes
zeitästhetisches Potential, das immer mehr in experimenteller Weise genutzt und die
dramaturgische Entwicklung damit vorangetrieben wird. In den letzten Jahrzehnten
wurden vermehrt innovative Erzählstrukturen verwendet, wie z.B. das Echtzeit-
Verfahren der Fernsehserie 24 (USA 2001-heute, Jon Cassar et al.). Eine Besonderheit
der Entwicklung audiovisuellen Erzählens stellt jedoch das Durchbrechen der temporalen
Linearität dar. Seit den 1990er Jahren lässt sich eine neue Tendenz in der temporalen
Gestaltung filmischer Narration und damit eine Zunahme an Erzählstrukturen aufzeigen,
die als nonlinear zu charakterisieren ist. Dieses nicht lineare Erzählen wird in
den unterschiedlichsten Medien angewendet – so auch in Kinofilm und Fernsehserie,
deren Gemeinsamkeit die Audiovisualität ist und die in dieser Arbeit gegenübergestellt
werden.
Die These dieser Arbeit besagt, dass medienspezifische Differenzen Einfluss auf das zu
Vermittelnde nehmen, sodass sich spezielle Erzählformen entwickelt haben, die unterschiedliche
dramaturgische Gestaltungen zulassen. Ziel dieser Arbeit ist es, die medienspezifische
Umsetzung von Nonlinearität sowohl im Film, als auch in der TV-Serie
aufzuzeigen und in einem weiteren Schritt die Bedeutung dieser für die Rezeption
deutlich zu machen, da eine veränderte dramaturgische Gestaltung...
Inhaltsverzeichnis
1 Aufblende
2 Die zeitliche Dimension der Narration
2.1 Audiovisualit ä t als narrative Qualit ä t
2.1.1 Die dramaturgische Zeitstruktur
2.1.1.1 Etablierte Zeitwechsel
2.1.1.2 Nonlinearit ä t
2.2 Kognitive Verstehensprozesse
3 Spielfelder des Nonlinearen
3.1 Filmisches Erz ä hlen
3.2 Serielles Erz ä hlen
4 ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND
4.1 Die Story
4.1.1 Main-Story: Joel und Clementine
4.1.2 Nebenhandlung: Lacuna
4.2 Analyse der Zeitverh ä ltnisse
4.2.1 Nonlinearität durch Fragmentierung und Dramaturgiemix
4.2.2 Multiple Ebenen durch Flashbacks
4.2.3 Nonlinearität im Detail
4.2.4 Innerdiegetische Orientierungspunkte
4.3 Die Rezeption als temporale Odyssee
5 Nonlinearität in Serie: LOST
5.1 Der Story-Komplex
5.2 L OST in Narration
5.2.1 Narrative Komplexität
5.2.2 LOST in Zeit und Raum
5.2.2.1 Zeitverschiebungen durch temporale Rückgriffe
5.2.2.2 Verwendung der zukünftigen Zeitebene
5.2.2.3 ‚ Unstuck in time ‘
5.2.2.4 Die alternative Zeitlinie
5.2.2.5 Ebene des Unterbewusstseins
5.2.2.6 Cues der Orientierung
5.3 Vom Beobachter zum Analytiker: die L OST -Rezipienten
6 Vergleichende Analyse
7 Abblende
8 Quellenverzeichnis
8.1 Literatur
8.2 Abbildungen
8.3 Filmografie
8.4 Serienverzeichnis
9 Anhang
1. Aufblende
„‘Wo soll man die Struktur der Erzählungen suchen? In den Erzählungen vermutlich‘“ (Roland Barthes nach Krützen 2006, 5).
Das Leben eines jeden Menschen folgt einer zeitlichen Struktur. Auf A folgt B und auf B wiederum C. Es handelt sich um eine kausal-chronologische Ereigniskette, die unser Zeitempfinden prägt. Wir leben in dieser zeitlichen Linearität und haben gelernt, linear zu denken und zu kommunizieren. Regelmäßige, kontinuierliche Abfolgen beschreiben das soziale Zeitmuster. Eine Manipulation dieser Zeitabfolge und ein Bewegen in der Zeit sind für uns undenkbar. In der Denk- und Kommunikationsstruktur der Erzählung kann man diese stringente kausale Abfolge jedoch auf unterschiedliche Weise durchbrechen.
Medien machen von der Grundtätigkeit des Menschen - dem Erzählen - Gebrauch. So sind auch audiovisuelle Medien wie der Kinofilm1 und die Fernsehserie, die in den kulturellen Alltag der Gesellschaft eingebettet sind, zeitliche Phänomene, indem sie in einer Zeitspanne stattfinden und darin eine andere vermitteln. Sie bestehen in der Zeit und sind in ihrer materiellen Entität der Geradlinigkeit verhaftet. Sie bergen ein großes zeitästhetisches Potential, das immer mehr in experimenteller Weise genutzt und die dramaturgische Entwicklung damit vorangetrieben wird. In den letzten Jahrzehnten wurden vermehrt innovative Erzählstrukturen verwendet, wie z.B. das Echtzeit- Verfahren der Fernsehserie 242 (USA 2001-heute, Jon Cassar et al.). Eine Besonderheit der Entwicklung audiovisuellen Erzählens stellt jedoch das Durchbrechen der tempo- ralen Linearität dar. Seit den 1990er Jahren lässt sich eine neue Tendenz in der tempora- len Gestaltung filmischer Narration und damit eine Zunahme an Erzählstrukturen auf- zeigen, die als nonlinear3 zu charakterisieren ist. Dieses nicht lineare Erzählen wird in den unterschiedlichsten Medien angewendet - so auch in Kinofilm und Fernsehserie, deren Gemeinsamkeit die Audiovisualität ist und die in dieser Arbeit gegenübergestellt werden.
Die These dieser Arbeit besagt, dass medienspezifische Differenzen Einfluss auf das zu Vermittelnde nehmen, sodass sich spezielle Erzählformen entwickelt haben, die unter- schiedliche dramaturgische Gestaltungen zulassen. Ziel dieser Arbeit ist es, die medien- spezifische Umsetzung von Nonlinearität sowohl im Film, als auch in der TV-Serie aufzuzeigen und in einem weiteren Schritt die Bedeutung dieser für die Rezeption deutlich zu machen, da eine veränderte dramaturgische Gestaltung rezeptionsrelevante Auswirkungen mit sich bringt. Thematisch bewegt sich die Arbeit auf dem Feld der Theorie des narrativen filmischen und televisuellen Erzählens. Es sollen unterschiedliche Herangehensweisen dargestellt und Gestaltungsgrenzen kenntlich gemacht werden.
Ihrer Thematik zum Trotz soll die Arbeit eine klare Abfolge darstellen, bei der die einzel- nen Kapitel aufeinander aufbauen. Zunächst wird ein möglichst allgemeingültiges Verständnis von dem Begriff ‚Erzählen‘ entwickelt, sowie eine Definition der Analyse- Begriffe, die der neoformalistischen Filmanalyse entlehnt sind, gegeben (Kapitel 2). Eine Kategorisierung, die weder den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt noch im Sinne einer umfassenden Typologie zu verstehen ist, zeigt unterschiedliche Möglichkeiten auf, mit denen audiovisuelle Produkte nicht linear gestaltet und die Zeitverhältnisse gesteuert werden können (Kapitel 2.1.1). Zudem wird der Zusammenhang von Narration und Rezeption aufgezeigt, indem die kognitiven Verstehensprozesse erläutert werden, die für die Rezeption von audiovisuellen Produktionen relevant sind (Kapitel 2.2). Vor diesem Hintergrund werden die spezifischen Bedingungen der Narration in den Medien Film und Serie anhand exemplarischer Beispiele ermittelt und die allgemeinen Überlegungen durch den vergleichenden Blick auf diese konkretisiert (Kapitel 4 und 5). Als Untersuchungsgegenstände fungieren zu diesem Zweck der fiktive Film ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND sowie die ebenfalls fiktive Fernsehserie LOST, die aufgrund ihrer innovativen Gestaltung als Vorreiter für die televisuelle Nonlinearität angesehen werden kann. Die Auswahl der Untersuchungsgegenstände ist rein subjektiv und stellt doch den Versuch einer objektiven Analyse dar. Im Mittelpunkt steht hierbei stets die narrative Ebene, denn „die temporale Ordnung einer Erzählung zu studieren, heißt die Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente im narrativen Diskurs mit der Abfolge derselben Ereignisse oder zeitlichen Segmente in der Geschichte zu vergleichen“ (Genette 2010, 28). Zunächst werden die grundsätzlichen Differenzen des filmischen und seriellen Erzählens aufgezeigt (Kapitel 3), um darauf aufbauend in die Analyse einzusteigen. Hierbei werden sowohl das Story-Plot-Verhältnis untersucht, das maßgeblich für die zeitliche Struktur ist, als auch die verwendeten Zeitfiguren und die veränderten Rezeptionsanforderungen herausgearbeitet. Eine Gegenüberstellung soll die narrativen Möglichkeiten und Unterschiede der Medienformen aufzeigen, um so auf das nonlineare Potential dieser schließen zu können. In einem abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung reflektiert und Überlegungen zu weiterführender Forschung angestellt (Kapitel 7).
2. Die zeitliche Dimension der Narration
Geschichten4 handeln per definitionem von der Vergangenheit. Ihre Inhalte beruhen auf Entwicklungen, Handlungen und Ereignisketten, die passiert sind. Ein Geschehen ist demnach die Voraussetzung einer Geschichte, die dadurch entsteht, dass sie sich diesem Geschehen annimmt und es als seinen Inhalt verarbeitet. Schon hier wird deutlich, dass der Zeitaspekt für Geschichten eine bedeutende Rolle einnimmt, denn ihr Dasein beruht darauf, dass sie Zeit reproduzieren. Im Folgenden soll daher im Detail analysiert werden, wie Geschichten mit Zeit umgehen oder aber die Zeit mit Geschichten umgeht. Die Darstellung von Geschichten erfolgt über das Erzählen (lat. narrare= erzählen). Es ist ein gängiges, oft unbewusstes Kommunikationsprinzip, mit dem jemand einem Publikum Ereignisse darstellt und diese dadurch vergegenwärtigt. Hickethier beschreibt das Erzählen als „die Verarbeitung, die Gestaltung, auch die Erfindung eines Geschehens durch den Erzähler“ (Hickethier 2001, 113). Diese Aussage impliziert, dass das Erzählen über eine narrative Instanz erfolgt. Die Personifizierung dieser Instanz als Erzähler geht auf den Ursprung von Erzählungen zurück, da zunächst die Sprache das dominierende Medium für diese Art der kommunikativen Übermittlung war. Mit der Entwicklung von Film und Fernsehen und deren Etablierung in der gesellschaftlichen Kultur im 20. Jahrhundert wurden Medien geschaffen, die auf dem Prinzip der Erzählung beruhen und dieses revolutionierten. ‚Erzählen‘ fand nun nicht mehr nur in mündlicher oder schrift- licher Form statt, sondern auch über bewegte Bilder5. Fundament für diese Ausweitung der Erzählinstanzen ist die Übertragungsfähigkeit der Erzählung in unter-schiedliche mediale Realisationsformen. Chatman spricht in diesem Fall von der „transposabilty of the story“ (Chatman 1978, 20), die jedoch von den spezifischen Struktureigenschaften des gewählten Trägermediums beeinflusst wird.
Dass Geschichten auf etwas Vergangenem beruhen besagt nicht, dass sie stets aus realen Ereignissen hervorgehen müssen. Erzählungen können ebenso gut erdacht, imaginär sein. Bedeutend ist, dass der Akt des Erzählens unabdingbar mit dem Vorhandensein von Material für eine mögliche Geschichte verbunden ist. Dieser Erzählstoff wird im Erzählprozess zu einer Geschichte zusammengestellt, denn das Erzählen stellt Zusammenhänge her, zeigt Strukturen auf und stiftet kausale Beziehungen (vgl. Hickethier 2001, 110). Der Begriff ‚Prozess‘ verweist dabei bereits auf die zeitliche Dimension einer Erzählung. Der Ablauf der Geschichte an sich überdauert eine bestimmte Zeitspanne (nach Bordwell/Thompson auch ‚story duration‘), die man in der Narrativik ‚erzählte Zeit‘ nennt. In Abgrenzung dazu steht die ‚Erzählzeit‘, die die Zeit für den Prozess des Erzählens der jeweiligen Geschichte darstellt (bei Bordwell/ Thompson: ‚screen duration‘). Die Differenzierung dieser Zeitdimensionen weist auf eine Besonderheit hin: Erzählzeit und erzählte Zeit stehen in der Regel in einem unpro- portionalen Verhältnis zueinander, da das zu Erzählende im Normalfall einen größeren Zeitraum überdauert als das Erzählen dieser Geschichte. Metz spricht in diesem Zusammenhang von der Erzählung als zeitliche Sequenz, deren Funktion es ist, „eine Zeit in eine andere zu prägen“ (Metz nach Schweinitz 1999, 78). Es wird eine Zeitraffung vorgenommen, die eine gängige Technik des Erzählens darstellt. Die Geschichte wird auf die wesentlichen Aspekte und Ereignisse begrenzt. Es findet also eine Selektion statt. Die Geschichte, die der Rezipient erfährt, setzt sich demnach aus Erzählsegmenten zusam- men, die im Erzählprozess so miteinander verwoben werden, dass sie eine klare Linie darbieten. Die Zeit innerhalb der Geschichte folgt demnach anderen Prinzipien als die Echtzeit6. Erzählungen modellieren Zeit dennoch als Fortgang (vgl. Volland 2009, 21) und suggerieren so den Eindruck realer Zeitverhältnisse. Zusätzlich erwecken sie aufgrund ihres feststehenden Zeitablaufs den Anschein von Präsenz und erfordern „spezifische Formen der Zeitdramaturgie und des Timing“ (Eder 2009, 28).
Mit Narration ist der Prozess des Erzählens gemeint, während Erzählung für das Produkt dieses Prozesses steht. Die Gestaltung der Erzählung ist die Dramaturgie. Ein traditionel- les Modell der Dramaturgie ist die Drei-Akt-Struktur. Den ersten Akt stellt die Exposition dar, in der Charaktere vorgestellt und Ziele und Wünsche des/r Protagonisten verdeut- licht werden. Der ‚Opener‘, der den Beginn einer Erzählung darstellt, soll die Grundlage für die folgende Erzählung bilden. Durch das Vermitteln der Vorgeschichte (‚set up‘) wird dem Zuschauer Wissen zuteil, das für das Verständnis des weiteren Verlaufs von Bedeutung ist. Im zweiten Akt kommt es zu einer Krise, einem Ereignis, das den Ausgangszustand wesentlich verändert, und dem Versuch, diese zu bewältigen. Der letzte Akt stellt demnach die Auflösung und die Herstellung eines Idealzustandes dar. Diese klare traditionelle Struktur beschreibt einen zielgerichteten kausalen Verlauf, der auf das menschliche Wahrnehmungsvermögen als Grundlage jeden Erzählens zurück- geführt werden kann. Die hier beschriebene ‚Zustandstransformation‘, die der Prota- gonist mit dem Erreichen oder Verfehlen eines Soll-Zustandes erfährt, deklariert Cordes als konstituierendes Element narrativer Vermittlung (vgl. Cordes 1997, 62). Die Abfolge der Geschichte erfolgt in diesem Modell linear. Was dabei auffällt ist, dass Anfang und Ende eine besondere Bedeutung zu teil wird, denn diese Aspekte sind wesentlich für eine Geschichte. Innerhalb dieser Punkte kann sich die Erzählung entfalten. Durch sie kann überhaupt erst ein narrativer Raum geschaffen werden. Eine Erzählung ist demnach strukturell betrachtet etwas in sich Geschlossenes.
Zeit spielt für den Erzählprozess eine prägnante Rolle, da dieser Zeit überdauert. Sie schafft den Rahmen, in dem die Erzählung stattfindet und kann demnach als Ordnungsprinzip angesehen werden. Innerhalb dieses Rahmens wird zudem eine neue Zeit konstruiert, indem vergangene Zeit reproduziert wird. Eine Erzählung ist demnach ein operatives Verfahren, das Ereignisketten in einem bestimmten Zeitverhältnis strukturiert und gestaltet.
2.1 Audiovisualität als narrative Qualität
Erzählungen bedürfen medialer Inszenierungen, um sie für ein weites Publikum zugängig zu machen. Möglichkeiten dafür gibt es zahlreiche und der technische Fortschritt hat immer mehr Medien7 geschaffen, die narrative Funktionen übernehmen und mediale Adaptionen von Geschichten möglich machen. Diese Entwicklung hatte - und wird ihn auch weiterhin haben - Einfluss auf bereits bestehende Medien und deren Erzähltech- niken. Transmedialität8 ist ein Stichwort, um die Erweiterung narrativer Möglichkeiten durch das Fortschreiten der Technik zu beschreiben. Für narrative Medien ist der Akt des Erzählens existentiell, denn das Erzählen ist die Basis ihres Inhalts, der das Produkt des Erzählens ist, und damit ihres Daseins. Das Erzählen ist ihre Hauptfunktion9. Diese Medien - wie Buch, Film, Comic, Radio und Fernsehen - bedienen sich unterschied- licher Erzählformen. Sie verarbeiten das Erzählte - wie es im Folgenden noch näher erläutert wird - aufgrund verschiedener medialer Struktureigenschaften mit unter- schiedlichen medialen Verfahren und entwickeln dabei unterschiedliche Erzählformen. Medien stellen also keine neutralen Träger von Erzählungen dar, sondern üben auch Einfluss auf deren Inhalt und Form aus.
Die „schriftsprachliche Vermittlung [vermag] durch einen Erzähler […] kausale Sinn- zusammenhänge und Kohärenzbezüge explizit zu benennen, wohingegen sich vornehmlich bildlastige Erzählmedien besonders zur konkreten Darstellung von inhaltlichen Konstituenten der erzählten Welt eignen“ (Mahne 2007, 24).
Der Modus der Präsentation ist vom jeweiligen Medium abhängig, da jedes Medium ein spezifisches narratives Potential und unterschiedliche Darstellungsoptionen aufweist. Dieses Potential ist von der materiellen Temporalität des Mediums als Trägersubstanz abhängig. Man kann daher unterstellen, dass sich die Medien hinsichtlich der Nonlinearität, die im weiteren Verlauf erläutert wird, spezifischer Verfahrensweisen bedienen, die in einem weiteren Schritt Auswirkungen auf die Rezipienten haben. Im analytischen Teil der Arbeit geht es daher darum, dies zu überprüfen.
In den Erzählinstitutionen Film10 und Fernsehen werden mit Hilfe der Montage von Bildern und Tönen komplexe Geschichten konstruiert11. Schon hier wird - wie bereits im 2. Kapitel erwähnt wurde - deutlich, durch welche Qualität sich die narrativen Medien Film und Fernsehen von anderen abheben. Während die Erzählung in Büchern und mündlichen Wiedergaben auf die Sprache beschränkt ist und narrative Formen der Malerei und bildenden Kunst ihre Geschichten verbildlichen, zeichnen sich Film und Fernsehen durch Audiovisualität aus. Bücher und mündlich übertragene Geschichten sind auf das Vorstellungsvermögen der Rezipienten angewiesen. Malerei und bildende Kunst12 auf Interpretation. „Fotos und Literatur sind nur visuell, Radioformate nur akustisch verfasst“ (Eder 2009, 9). Audiovisuelle Medien hingegen verbinden sowohl Sprache als auch Bilder zu einer neuen narrativen Qualität, die Sagen und Zeigen kombiniert (vgl. Scheinitz 2002, 145), wobei in der Regel gilt, dass „der bildepische Faktor dem gesprochenen Wort“ (Hamburger nach Scheffel 2009, 19) übergeordnet ist13. „Darin liegt die Besonderheit des Audiovisuellen, dass es durch die inzwischen schon scheinbar selbstverständliche technische Verbindung von Bild und Ton die Bilder erzählbar macht und damit zugleich das Erzählen visualisiert“ (Hickethier 2001, 25). Bordwell spricht bei dieser Besonderheit von der mimetischen und der diegetischen Narration. Das Mimetische meint das Zeigen und Darstellen als Akt einer darstellenden oder nachahmenden Leistung. Das Diegetische hingegen ist die Erzählung, die nicht visualisiert wird und nur in der Vorstellung der Zuschauer entsteht. Fernsehen und Film verbinden diese zwei Möglichkeiten:
Sie erzählen, indem sie zeigen, und sie erzählen durch Sprechen über etwas, was sie nicht zeigen. […] Im Präsentativen sind >sinnliche< Momente enthalten, die als visuelle und akustische Reize sich nur im Schauen und Hören erfüllen, ohne erzählerische Funktion zu gewinnen, umgekehrt kann durch das Erzählen vermittelt werden, was nicht zeigbar und hörbar ist (Hickethier 2001, 113).
Das Erzählen mit Hilfe von Bildern setzt jedoch voraus, dass sich die bewegten Bilder einem ständigen Wandel unterziehen, um so eine Art Bildsprache entstehen zu lassen. Trotz des Wechsels der Bilder muss jedoch „zwischen allen Teilen ein Zusammenhang hergestellt werden [können], der die Bestandteile […] [als] Einheit erscheinen lässt“ (Hickethier 2001, 119). Erst durch die Kohärenz der Abfolge der Bilder kann das Gezeigte als filmischer oder televisueller Text14 gelesen und ihm von den Zuschauern Sinn zugeschrieben werden. Dieser sinnstiftenden Organisation kommt eine große Bedeu- tung zu, da das Erzählen in Film und Fernsehen über das Vorführen einer Folge von Fragmenten geschieht. Es erfolgt demnach eine Selektion der Momente einer Handlung, die für den kausalen Ablauf von Bedeutung sind, während Momente, bei denen dies eben nicht der Fall ist, übersprungen werden (z.B. Szenen in denen Filmfiguren von einem Ort zu einem anderen fahren). Die Momente lösen sich in filmischen und televisuellen Produktionen ab, finden zeitlich jedoch nicht kontinuierlich statt, sodass es zu einem Zeitsprung kommt. Dieses Aneinanderfügen geschieht über die Schnitttechnik, die an und für sich schon eine diskontinuierliche Praxis ist, da „die meisten Schnitte […] eine augenblickliche Verschiebung von Zeit oder Raum oder beidem“ (Thompson 1997, 60) beinhalten. Um die Diskontinuität des Schnitts abschwächen zu können, wurde das ‚Continuity System‘15 entworfen, worunter man Techniken versteht, die die Anschluss- fähigkeit der Folgeszenen sicherstellen, damit Lücken kaschieren und „den Eindruck eines homogenen Bild- und Handlungsflusses“ vermitteln (Eckel 2008, 19). Diese Konti- nuitätsmontage verstärkt den Eindruck eines raumzeitlichen Ereignisflusses und erleich- tert damit die Orientierung in Raum und Zeit (vgl. Eder 2009, 16). Die Erzählung stellt also via Zeitraffung eine komprimierte Geschichte16 dar, was wiederum zeigt, dass Zeit in der filmischen und televisuellen Erzählung einer Manipulation unterliegt. Die Zeitraf- fung ist dabei ebenso eine grundsätzliche Technik wie die Zeitdehnung. Eine Dehnung der Zeit wird „z.B. durch das Hin- und Herschneiden zwischen verschiedenen Orten mit paralleler Handlung erreicht, wobei derselbe Zeitablauf am anderen Ort teilweise wiederholt wird“ (Schweinitz 2002, 146). Dieses Verfahren wird auch Parallel Editing oder Cross Cutting genannt. Eine andere Möglichkeit zeitlich parallel verlaufende Handlungen darzustellen, ist die Verwendung der Split Screen Einstellung, wobei das Bild geteilt wird und auf den Bildhälften jeweils die Handlungen dargestellt werden, um die räumliche, aber nicht zeitliche Distanz zu verdeutlichen. Mit diesem Verfahren kann daher anders als bei der Parallelmontage „visuelle Gleichzeitigkeit“ (Mahne 2007, 85) erzeugt werden. Weitere Manipulationsmöglichkeiten stellen die Zeitlupe (Slow Motion) und das Standbild (Freeze Motion), das oft von einer weiteren Informationsvergabe über die akustische Ebene begleitet wird, dar. Im Gegensatz dazu steht noch die beschleunig- te Bilderabfolge (Fast Motion), die den Eindruck eines Vor- Oder auch Rückspulens bewirkt.
Die bereits unter Punkt 2 erwähnte Differenz zwischen screen duration und story duration wird demnach durch die Verwendung technischer und filmischer Mittel erreicht. Sie ermöglichen durch ihr manipulatives Potential das Abbilden einer Zeit in einer anderen. Obwohl der Zuschauer sich dieser konstruierenden Aspekte bewusst ist, schafft es die mediale Vergegenwärtigung der Geschichte, den „zeitlichen Zwischen- raum, der den Zeitpunkt der Aufnahme von dem der Betrachtung […] trennt“ (Grossklaus 1994, 37), aufzulösen. Während zum Beispiel der Roman darauf angewiesen ist, Zeitverhältnisse durch Tempusänderungen zu markieren, erscheint das Bildmaterial immer in seiner „gegenwärtigen Unmittelbarkeit“ (Mahne 2007, 78).
Im Verlauf ist deutlich geworden, dass es sich bei filmischen und televisuellen Erzählungen um Konstrukte handelt. Diese Konstrukte durchlaufen einen Entstehungs- prozess. Er beginnt mit den Dreharbeiten und endet mit der Fertigstellung des audiovisuellen Produktes im Schneideraum und durch dessen anschließende Vertonung. Im Schneideraum wird das während der Dreharbeiten erstellte Material selektiert und zum Film, oder Fernsehbeitrag montiert. Innerhalb dieses von einem Produktionsteam durchgeführten Prozesses wird die audiovisuelle Erzählung mit Hilfe filmischer Mittel gestaltet, wodurch die Darstellung der Geschichte beeinflusst werden kann. So haben sich Darstellungskonventionen entwickelt, „die es ermöglichen, die zeitliche Ordnung, Kausalität und Motivierung der Handlungen vor allem über die Bildebene zu vermitteln“ (Schweinitz 2002, 145), aber eben auch Formen, die experimentell verfahren und mit der Zeitlichkeit und ihren Möglichkeiten spielen.
Um dies im weiteren Verlauf untersuchen zu können, bedarf es einiger Begrifflichkeiten, die als Instrumente der Analyse herangezogen werden. Hierfür wird auf die Narrativik Bordwells zurückgegriffen, die dem Ansatz des Neoformalismus entspricht und sich vor allem mit der filmischen Erzählanalyse beschäftigt. Die Normen, die hier zunächst für den Kinofilm entwickelt wurden, lassen sich jedoch auch in der TV-Narration wiederfinden, da sowohl Film, als auch Fernsehproduktionen auf derselben audiovisuellen Verfahrenstechnik basieren. So schreibt Thompson über Filmnarration: “Many of these norms have been adopted or adapted by tv precisely because they have been so suited to telling straightflow entertaining stories” (ebd. 2003, 19).
Bordwell entwickelte ein Konzept, das drei Aspekte der Erzählanalyse differenziert: Fabula bzw. Story, Syuzhet bzw. Plot und Style bzw. Stil. Der Stil beschreibt die Um- setzung der Geschichte anhand filmischer Mittel, worunter sowohl die Ton- und Lichtge- staltung als auch die Mise-en-Scéne zu verstehen sind. Zum Stil gehört auch die Verwen- dung des Schnitts, der für die Konstruktion eines audiovisuellen narrativen Produktes existentiell ist. Die Schnitttechnik ist gerade bei nonlinearen Narrationen von besonder- er Bedeutung. Für die im Analyseteil der Arbeit folgende Plotanalyse von besonderer Re- levanz sind die Begriffe Story und Plot, da sie zur Differenzierung des Erzählvorgangs ver- helfen. Während die Story die wesentliche Geschichte in ihrer chronologischen Abfolge meint, versteht Bordwell unter Plot die Anordnung der Erzählsegmente in der Erzählung, wobei nicht alle Teile der Story audiovisuell präsentiert werden. Der Plot beschreibt demnach alle dem Zuschauer auditiv und visuell präsentierten Informationen, die vom Rezipienten zu einer kohärenten Geschichte zusammengebaut werden können.
The fabula embodies the action as a chronological, cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and spatial field. […] The fabula is thus a pattern which perceivers of narratives create through assumptions and inferences. It is the developing result of picking up narrative cues applying schemata, framing and testing hypotheses. The syuzhet (usually translated as ‘plot’) is the actual arrangement and presentation of the fabula in the film. […] ‘Syuzhet ‘ names the architectonics of the film´s presentation of the fabula (Bordwell 1985, 50).
Der Plot - als zusammengefügte Geschichte - zielt daher „in der Regel auf die Konzep- tion eines Erzählmodells ab, das die Folge- und Ablaufbeziehungen narrativer Sequenzen eines Spielfilms darstellt“ (Krützen 2006, 17). Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem spe- zifische Umgang der narrativen Medien Film und Fernsehen mit nonlinearen Erzähl- strukturen. Da sich diese Form der Narration vor allem auf Grundlage des Verhältnisses von Plot und Story entfaltet, wird der Aspekt des Stils im weiteren Verlauf nur marginal betrachtet. Die Analyse soll zeigen, dass die Darstellungsweise an die Zeitlichkeit film- ischen und televisuellen Erzählens gekoppelt und das Experimentieren mit Erzählstruk- turen erst auf Grundlage dieser Gegebenheiten möglich ist. Das audiovisuelle Erzählen erfreut sich dank des technischen Fortschritts einer enormen Variationsbreite. Eine Un- tersuchung, die dieser Vielfalt gerecht würde, ist im Rahmen einer Masterarbeit nicht durchführbar, daher werden für die in Kapitel 3 folgende Analyse die fiktionalen17 For- mate Kinofilm und Fernsehserie als Untersuchungsgegen-stände herangezogen. Auf- grund ihrer unterschiedlichen Strukturen kann ein differenter Umgang mit der nonline- aren Erzählweise unterstellt werden, weshalb sie sich für eine vergleichende Analyse eignen.
2.1.1 Die dramaturgische Zeitstruktur
Die Ursprünge von Erzählungen sind - wie eingangs erklärt - Handlungen und ihre Folgen; ein Ereignis, das geschehen ist und reproduziert wird. Diese Basis von Geschichten und ihr Reproduktionscharakter lassen darauf schließen, dass das Erzählte in derselben zeitlichen Struktur wiedergegeben wird, wie es geschehen ist. Geschichten müssten demnach demselben Zeitprinzip folgen, das unser Leben bestimmt: Linearität18. Linearität leitet sich vom lateinischen Begriff linearis ab, der für ‚aus Linien bestehend; [gerade] Linie‘ steht und bezeichnet demnach Geradlinigkeit, eine gleichmäßige Abfolge und Regelhaftigkeit. Das zeitliche Vorstellungsvermögen von Menschen ist auf lineare Abläufe beschränkt, da die Zeit im menschlichen Leben nur linear voranschreitet und ein Bewegen in der Zeit nicht möglich ist. Das Zeitempfinden zeichnet sich daher durch ein Höchstmaß an Linearität aus (vgl. Eckel 2008, 8). Gerade aufgrund dieser Tatsache ist es für die Filme des sogenannten Illusionskinos19 ein Novum, das äußerliche Eingreifen einer Erzählinstanz zu verdecken. Diese Illusion kann nur durch das Einhalten linearer Zeitverhältnisse und die „Verschleierung seiner [des Films] Materialität“ (Eckel 2008, 17) erreicht werden. Erzählung und Zeit sind - wie schon zu Beginn angemerkt - sehr eng miteinander verbunden. Die Erzählung erstreckt sich in der Zeit und kreiert mit Hilfe unterschiedlicher Erzählmethoden eine neue. Linearität verlangt dabei die Koinzidenz des zeitlichen Verlaufs von Story und Plot.
Jede audiovisuelle Geschichte unterliegt einem Darstellungsprinzip, einer bestimmten Dramaturgie, die die Erzählung strukturiert. Die Drei-Akt-Struktur, die bereits im 2. Kapitel angesprochen wurde, folgt einer klaren Linie, die aufgrund ihrer Nähe zu realen Zeitverhältnissen für den Zuschauer leicht nachzuempfinden ist. Bordwell und Thompson sprechen hier im Bezug auf den Film vom „classical Hollywood cinema“. „This mode is ‚classical‘ because of its lengthy, stable, and influential history, ‚Hollywood‘ because the mode assumed its definitive shape in American studio films. The same mode, however, governs many narrative films made in other countries” (Bordwell/ Thompson 2001, 76). Diese Art der Erzählung gleicht der Drei-Akt-Struktur. Die Protagonisten verfolgen in den meisten dieser Erzählungen ein Begehren, das es zu erfüllen gilt. Der Ablauf des Erreichens und der Weg dorthin stellen den Ablauf der Erzählung dar, wobei auf das Ursache-Wirkung-Prinzip zurückgegriffen wird. Auch die Geschlossenheit der Geschichte ist ein Merkmal dieser klassischen Narration. Dabei ist jedoch nicht das Vorhandensein eines Erzähl-Endes gemeint. Diese Geschlossenheit resultiert aus dem materiellen Rahmen, den das Trägermedium vorgibt. Geschlossenheit ist hier im Sinne einer „Einheit der Komposition und innere(r) Kohärenz“ (Bunia 2007, 291) gemeint, die bei Abschließen der Geschichte seitens der Rezipienten keine Fragen offen lässt. „Leaving few loose end unresolved, these films seek to complete their causal chains with a final effect. We usually learn the fate of each character, the answer to each mystery, and the outcome of each conflict” (Bordwell/Thompson 2001, 77). Diese Struktur lässt sich auch in Fernsehsendungen wiederfinden, was ihre Bedeutung für die filmische und televisuelle Erzählkultur unterstreicht. Linearität dominiert die temporalen Ordnungsprinzipien der Erzählweisen.
Bereits aufgrund ihrer materiellen Entität handelt es sich bei Film und Fernsehen grundsätzlich um lineare Medien. Sie werden linear produziert und können auch nur linear rezipiert werden. Diese Aspekte ignorieren jedoch den Inhalt von Film und Fernsehen und dieser beruht immer auf einer Konstruktion, die aus Fragmenten zusammengestellt wird (siehe auch Kapitel 2.1). Ebendieses Verfahren ermöglicht die in dieser Arbeit behandelte Nonlinearität. Sie wird durch einen Bruch mit der Geradlinigkeit charakterisiert, die die Linearität ausmacht - eine Definition ex negativo. Julia Eckel vertritt in ihrer Arbeit über nonlineare Narration im Film jedoch die These, dass gerade durch die Abwesenheit von Linearität, die man als Mangel interpretieren könnte, eine eigenständige Qualität dieser Erzählweisen entsteht (vgl. Eckel 2008, 8). Nonlinearität bezeichnet eine weitere Form der Zeitmanipulation der innerdiegetischen Handlung. Die im vorangegangenen Kapitel erläuterten Verfahren des Erzählens sind grundlegend für das audiovisuelle Erzählen und ermöglichen erst die Umsetzung einer Geschichte. Die Nonlinearität hingegen ist eine Erzählmethode, bei der die Zeitmanipu- lation offensichtlich wird. Dieses Verfahren legt es nicht darauf an, die Materialität und damit den Konstruktionscharakter zu verbergen. Nonlinearität zeichnet das offensicht- liche Spielen mit den Möglichkeiten der Geschichtskonstruktion aus. Während die Anordnung der Ereignisse im Plot linear erzählter Geschichten prinzipiell nach ihrer kausal-chronologischen Aufeinanderfolge in der Story erfolgt, weicht die Nonlinearität von diesem Vorgehen ab und gestaltet den Plot nicht der Story-Chronologie entsprechend20. Nonlineare Filme spielen nicht nur mit der Zeitlichkeit der Realität (vgl. Eckel 2008, 6), sondern auch selbstreflexiv mit ihrer eigenen. Zeit wird dadurch vergegenständlicht.
Besonders postmoderne Erzählungen zeichnen sich durch die Verwendung von Nonlinearität aus. Sie brechen mit dem Mainstream und dessen idealtypischen Merk- malen, allem voran mit der Linearität als dominierendem Erzählprinzip. Der Kinofilm galt dabei als Experimentierfeld. Was hier erprobt wurde und sich bewährt hat, hat in Teilen auch Einzug in andere narrative Medien, wie zum Beispiel dem Fernsehen, gehalten.
2.1.1.1 Etablierte Zeitwechsel
Sogenannte Anachronien treten auf, wenn es zu einer Dissonanz zwischen der Reihen- folge der Ereignisse in der Story und ihrer zeitlichen Anordnung im Plot kommt - oder in Syuzhet und Fabula, wie Gérard Genette sie benennt. Diese Verstöße gegen die chronologische Reihenfolge der Geschichte (vgl. Genette 2010, 18) brechen mit der dominierenden linearen Erzählweise. Etablierte Formen der Anachronien bilden Ana- lepse (Rückblende/Flashback) und Prolepse (Vorausblenden/Flashforward).
Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im Voraus zu erzählen oder zu evozieren, und mit Analepse jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat (Genette 2010, 21).
Der Flashback ist demnach ein “Filmsegment, in dem Ereignisse szenisch repräsentiert werden, die zeitlich vor der Handlungsgegenwart liegen” (Hartmann 2002, 517). Indem er als Erinnerung von Filmfiguren oder Erzählung einer Figur dargestellt wird, reiht er sich als erinnertes Ereignis in die Chronologie der Geschichte ein. Der Zuschauer hat daher nicht den Eindruck, dass die chronologische Abfolge aufgebrochen wird. Auch mit dem Flashforward, der Momente zukünftigen Geschehens in der Handlungsgegenwart darstellt, wird ähnlich verfahren. Er wird als Vorsehung in die Chronologie eingebettet, wobei diese ebenfalls weiterhin als linear angesehen wird.
Jeder Flashback und jeder Flashforward zeichnet sich durch einen bestimmten Umfang aus. Damit ist die Zeit gemeint, die für den Effekt jeweils in Anspruch genommen wird. Zudem können sie unterschiedliche zeitliche Distanzen zum innerdiegetischen ‚Jetzt‘- Zeitpunkt aufweisen, worunter Genette die Reichweite versteht (vgl. Genette 2010, 26f). Beim Flashback kann man zudem zwischen interior und exterior Rückblenden unter- scheiden. Interior Rückblenden wiederholen Ereignisse oder Momente, die innerhalb der Handlung bereits stattgefunden haben. Als exterior werden hingegen Rückblenden bezeichnet, die einen Zeitpunkt darstellen, der bereits vor der erzählten Geschichte stattgefunden hat. „The repetition of actions may also be motivated by the plot´s need to communicate certain key causes very clearly to the spectator” (Bordwell/ Thompson 2001, 67). Die Funktion von Rückblenden ist das Darlegen von Handlungsvoraus- setzungen. Oft wird den Rezipienten so auch der ‚Schlüssel‘ zur Psyche von Figuren vermittelt. Eine Auswirkung dieser Informationsvermittlung ist oft eine veränderte Les- art seitens der Rezipienten. Die vorangegangene Erzählung kann so neu interpretiert werden. Man kann also sagen, dass diese Form der Anachronie in der Regel eine er- und aufklärende Funktion übernimmt.
Eine Besonderheit der filmischen Umsetzung der Anachronien ist die von Bordwell formulierte Differenzierung von recounting und enactment. Ihre audiovisuelle Qualität ermöglicht es, dass Rückblende und Vorschau durch die Filmfiguren mündlich vorge- nommen werden (recounting). Auf der Bildebene besteht gleichzeitig die Möglichkeit, in der innerdiegetischen Gegenwart zu bleiben. Es handelt sich dabei um eine rein sprach- liche Rückblende (vgl. Eckel 2008, 20f). Die Anachronien werden dadurch für den Zu- schauer kaum wahrnehmbar. Anders verhält es sich beim enactment. Hierbei handelt es sich um audiovisuell präsentierte Anachronien. Was beim recounting nur auf der sprachlichen Ebene stattgefunden hat, wird nun durch die visuelle Präsentation er- gänzt: Die innerdiegtische Gegenwärtigkeit wird durch die Visualisierung eines vergan- genen oder zukünftigen Momentes unterbrochen. Für den Zuschauer wird der Zeit- sprung damit eindeutig identifizierbar. Die Bildebene stellt demnach eine besondere Instanz in der Vermittlung von Zeitlichkeit dar.
Die Kennzeichnung der Anachronien als Erinnerung, Vision, imaginäre Zukunftsplanung o.ä. geschieht nicht nur auf der sprachlichen Ebene, sondern auch durch die Verwen- dung bestimmter Stilmittel auf der Bildebene. Deutliche Markierungen stellen Farb- wechsel dar, wenn das anachrone Geschehen z.B. in schwarz-weiß dargestellt wird. Als Beispiel hierfür kann man die Serie CHARMED (USA 1998-2006) heranziehen. Phoebe Halliwell (Alyssa Milano), eine der drei Hauptcharaktere, hat Visionen über kurzfristig eintretende Ereignisse. Die Vision, die sich von der ‚realen‘ Zeit dadurch abhebt, dass sie visuell in Grautönen gehalten ist, wird durch ein schnelles Heranzoomen auf Phoebe bzw. ihr Auge angekündigt. Die Vision endet, indem die Kamera wieder von Phoebe zurückfährt. Ein Beispiel für eben diese Darstellungsweise lässt sich in der 8. Folge der 1. Staffel ‚THE TRUTH IS OUT THERE… AND IT HURTS‘ (TC: 00:02:31-00:02:38) finden.
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Abb. 1: Heranzommen auf Phoebe, die erschrikt, da sie eine Vision hat.
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Abb. 2: Auf der Bildebene ist die Vision durch die Farbgebung von der realen Ebene abgegrenzt.
Dieses Verfahren, die Erinnerung oder Vision durch Nahaufnahmen von der Figur oder ein Heranzoomen und gleichzeitiges Verschwimmen der Figur von der Hauptebene ab- zugrenzen, stellt ein übliches stilistisches Mittel dar. Auch die Verwendung bestimmter Sounds kann einen Ebenenwechsel verdeutlichen. Genauso kann es auch vorkommen, dass eine Verundeutlichung des Übergangs durch Ineinandergreifen der Zeitebenen prä- sentiert wird. Als Beispiel kann eine Szene aus FINAL DESTINATION (USA 2000, James Wong) dienen. Die Handlung beginnt, der Zuschauer bemerkt keinen Ebenenwechsel. Erst bei TC 00:15:03 wird deutlich, dass es sich bei dem Geschehen bis dahin zum Teil um einen Traum vom Protagonisten Alex (Devon Sawa) handelt, indem er die Vorahnung hat, dass das Flugzeug, in dem er und seine Klassenkameraden sitzen, kurz nach dem Start explodieren wird. Klar wird dies erst durch einen abrupten Schnitt auf den panisch erwachenden Alex, der daraufhin mit weiteren Personen des Flugzeugs verwiesen wird. Von der Abflughalle aus werden sie zu Zeugen, wie das Flugzeug tatsächlich explodiert.
Die anschließende Rückführung in die innerdiegetische Gegenwart geschieht in der Regel mit denselben Stilmitteln, die für die Einleitung verwendet wurden, um diese Zeit- ebene unmittelbar einzugrenzen. Eine Besonderheit im televisuellen Bereich stellt die TV-Serie HOW I MET YOUR MOTHER (USA 2005-heute, Pamela Fryman, Rob Greenberg) dar. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie überwiegend aus enactments besteht. Nur ein Bruchteil der einzelnen Folgen findet in der innerdiegetischen Gegenwart statt. Hinzu kommt, dass es selbst innerhalb der enactments zu weiteren enactments kommt, sodass eine komplexe narrative Struktur entsteht. Für den Zuschauer wird der Ebenen-wechsel deutlich, da die Erzählerstimme aus der innerdiegetischen Gegenwart zu diesem über- leitet, auch im enactment selbst teils weiter wahrgenommen werden kann und sich die Szene bzw. die Umgebung von der eigentlichen Ebene erheblich unterscheidet. Die kur- zen Szenen, die in der innerdiegetischen Gegenwart stattfinden, zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie sich vom Setting, der zu sehenden Personen und der Kamera- einstellung her nicht voneinander unterscheiden, sodass diese Ebene für den Zuschauer leicht identifizierbar ist21.
Nonlineare Erzählformen in Film und TV-Serie
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Abb. 3: Die innerdie- getische Gegenwart in HOW I MET YOUR MOTHER besteht stets aus demselben Setting und denselben Charakteren.
Diese Formen der Anachronien sind zwar „konventionelle Techniken zur Veränderung der zeitlichen Sequenz“ (Schweinitz 2002, 146) bei, sie stellen jedoch „lediglich einge- schränkte Anachronien dar, denn die Handlung, bzw. die Figuren motivieren den Zeit- sprung des Plots“ (Eckel 2008, 24). Das Aufbrechen der Linearität wird i.d.R. durch das sorgfältige Einbetten der Anachronien als ‚Jetzt‘-Visionen und ‚Jetzt‘-Erinnerungen rela- tiviert. Obwohl sie zur Komplexität beitragen, kann man diese Anachronien daher nicht als non-linear bezeichnen. Nonlinearität bricht Linearität vollends auf - ohne dass das Vorgehen inhaltlich motiviert sein muss. Es handelt sich vielmehr um ein Darstellungsprinzip, das nicht zur inner-diegetischen Handlung gehört und dadurch die Materialität des Films deutlich macht.
2.1.1.2 Nonlinearität
Die konventionellen Formen der Anachronien sind aufgrund ihrer Geläufigkeit und ihrer Einbindung in die Geschichte als Erinnerungen bzw. hellseherische Fähigkeiten nicht das, was hier unter nonlinearer Narration verstanden wird. Vielmehr zeichnen sich non- lineare audiovisuelle Produkte durch die Besonderheit aus, dass sie die etablierte lineare Erzählweise aushebeln und das konventionelle Zeitkonzept in Frage stellen. Dies tun sie, indem sie Plot-Anordnungen konstruieren, die von Story-Chronologien abweichen und nicht mit der innerdiegetischen Zeit spielen, wie es Analepse und Prolepse tun, sondern mit der Darstellung ebendieser. Im narratologischen Sinne kann man von einer Dekonstruktion der Geschichte sprechen. Es handelt sich demnach um Strategien, die sich von dem, was Bordwell unter klassischer Hollywood Narration versteht, grundle- gend unterscheiden. Mit Hilfe dieser Strategien wird eine Zeitlichkeit konstruiert, die den Sinnen sonst verborgen bleibt (vgl. Volland 2009, 131). Nicht lineare Verfahren machen durch das Spielen mit Zeitstrukturen „Zeit mit allen dem Medium zur Verfügung stehenden Mitteln sichtbar und spürbar“ (Seeßlen 2004, 102), wodurch auch die Kon- struktion ebendieser und dadurch die Materialität des audiovisuellen Gegenstandes deutlich wird. Zeit wird durch Nonlinearität zu einem „eigenständigen Kompositions- element“ (ebd. 2004, 110). Nonlineare Filme zeichnen sich also durch eine Abkehr von der Linearität und damit von konventionellen Formen der Filmsprache aus. Es gibt jedoch unterschiedliche Vorgehensweisen, diese zu überwinden. Julia Eckel hat in ihrer Masterarbeit, die sich auf das Medium Film beschränkt, eine Kategorisierung nonlinearer Narrationsformen erstellt. Ihr Kategoriensystem unterteilt die Filme „im Hinblick auf ein Hauptaugenmerk in Gruppen“ (Eckel 2008, 27), wobei viele Filme auch auf mehrere Verfahren zurückgreifen. Das System beschreibt also unterschiedliche Möglichkeiten der nicht linearen Erzählweise, die hier vorgestellt werden sollen.
Eine Variante nonlinearen Erzählens ist die der entgegengesetzten Plot-Anordnung. Der Plot gibt die Story hierbei in einer rückwärts-laufenden Chronologie wieder, beginnt also mit dem Ende und erzählt die Geschichte bis hin zum Anfang der eigentlichen Story. Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Art der Nonlinearität ist der Film MEMENTO (USA 2000, Christopher Nolan). Zwei Handlungsstränge - die im Nachhinein einen erge- ben - bewegen „sich in zeitlich entgegengesetzte Richtungen“ (ebd. 2008, 30), wobei sie sich regelmäßig abwechseln. Einer der Handlungsstränge wird durch Schwarz-Weiß- Sequenzen dargestellt. Er ist chronologisch aufgebaut, während der andere Handlungs- strang, der farbig ist, achronologisch abläuft. Die einzelnen Sequenzen verlaufen dabei in sich linear22. Neben diesen Zeitlichkeiten stellt Elsaesser eine dritte hervor, die sich durch die Verwendung von Rückblenden im Sinne des enactment ergibt, da sie sich als eine „plötzlich in die Handlung einbrechende Zeit“ (Elsaesser 2004, 117) charakterisieren lassen. Eckel entwarf für ihre Arbeit eine Illustration, die die raffinierte Doppelstrang- Struktur des Films verdeutlichen soll. Den Schwarz-Weiß-Sequenzen wies sie die Kleinbuchstaben a bis v zu, während die Farbigen durch die Großbuchstaben A bis W dargestellt werden sollen (vgl. Eckel 2008, 30).
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Abb. 4: Verhältnis von Plot- und Story-Chronologie in MEMENTO (Eckel 2008, 30).
Eine weitere Möglichkeit, die audiovisuelle Filme und Fernsehbeiträge bieten, ist „die Vervielfältigung des linearen Zeit-Kontinuums“ (ebd. 2008, 34). Bei diesem Verfahren wird nicht ein Zeit- und Handlungsverlauf dargestellt sondern verschiedene, weswegen Eckel hier von der multilinearen Zeit spricht (vgl. ebd. 2008, 34). Als Beispiel führt sie den Film LOLA RENNT (D 1998, Tom Tykwer) an. Nachdem ein Ausgangszustand präsentiert wird, werden verschiedene Varianten eines möglichen Verlaufs vorgeführt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. „Man spricht auch von ‚Was wäre wenn‘- oder ‚Gabel-Plots‘“ (ebd. 2008, 35). In LOLA RENNT geschieht dies durch zwei Zeitsprünge, die die Protagonistin jeweils an den Ausgangspunkt zurückbefördern und die das Darstellen von drei Handlungsversionen ermöglichen. Der Film „stellt durch seine Multi- linearität das Konzept der Eindimensionalität, der Gerichtetheit und der Irreversibilität der Zeit in Frage. Er nutzt die Möglichkeit des Films zur variablen Reproduktion von Zeit aus […] und verweist implizit selbstreflexiv auf das Medium Film und seine Optionen zur Gestaltung von Zeitlichkeit“ (ebd. 2008, 37). Tykwer verwendet zudem eine weitere Zeit- manipulierende Technik. In jeder Variante des Handlungsverlaufs fasst er durch kurze aneinandergereihte Einstellungen immer derselben Nebenfiguren deren Schicksals- verläufe zusammen.
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Abb. 5: Verhältnis von Plot- und Story-Chronologie in LOLA RENNT (Eckel 2008, 35).
Während der Protagonistin die Zeitsprünge im vorangegangenen Beispiel nicht bewusst sind, sind sie es den Protagonisten in The BUTTERFLY EFFECT (USA 2004, Eric Bress/ J. Mackye Gruber), GROUNDHOG DAY (USA 1993, Harold Ramis) und DÉJÁ-VU (USA 2006, Tony Scott) durchaus. In diesen Beispielen ist die Nonlinearität also inhaltlich motiviert. Der Zeitsprung wird durch Zeitschleifen und die Fähigkeit zur Zeitreise zum Thema des Films gemacht. Linearität bleibt insofern erhalten, als dass die Protagonisten selbst den Zeitsprung miterleben (vgl. ebd. 2008, 40) und ihre Zeitwahrnehmung nicht unter- brochen wird. Bei der achronologischen Plot-Anordnung wird die Linearität erst auf der Plot-Ebene gebrochen. Bei diesem Beispiel liegt die Story bereits nonlinear vor und wird mit Hilfe der filmischen Mittel auf der Plot-Ebene nonlinear gestaltet. Bei dieser Variante der nicht linearen Verfahren wird die lineare Zeitlichkeit „bereits auf der Ebene der Story gebrochen“ (Eckel 2008, 41), da das Verfahren der Erzählung immanent ist. Beispiele inhaltlich motivierter multilinearer Zeit im televisuellen Bereich stellen die Folgen ‚ANTHOLOGY OF INTEREST‘ I und II (Episoden 2.16 sowie 4.03) der TV-Serie FUTURAMA (USA, Südkorea 1999-2002, 2007-, David X. Cohen et al.) dar. Mit Hilfe einer ‚Was-wäre-wenn‘- Maschine erfahren die Protagonisten, wie ihre Leben abgelaufen wären, wenn ein von ihnen genannter Aspekt anders gewesen wäre. Hierfür zeigt die Maschine den Beteiligten eine komprimierte fiktive Realität. Auch in der US-amerikanischen Serie SCRUBS (USA 2001-2010, Michael Spiller) wird das lineare Zeit-Kontinuum oftmals in Gestalt von Tagträumen des Protagonisten J.D. (Zach Braff) vervielfältig. Die Verviel- fältigung überdauert dabei jeweils nur eine kurze Zeitspanne. Es gibt sowohl Tagträume, deren Übergang deutlich gemacht wird, als auch Tagträume, bei denen dies nicht der Fall ist. In der Folge ‘MY OLD LADY’ (1.04) betätigt J.D. bei TC 00:00:41 einen Rewind (Rückspul)- Hebel, um einen begangenen Fehler in einem vorangegangenen Gespräch zu tilgen. Bis TC 00:00:53 sieht man die besagte Szene im Rückwärtslauf, bis J.D. den Hebel wieder umlegt. Er hat so die Möglichkeit, den Fehler ungeschehen zu machen. Das Verfahren des Zurückspulens mit Hilfe des Hebels dient zudem als zusätzlicher Hinweis auf die Materialität des audiovisuellen Produktes.
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Abb. 6: J.D. beim Betätigen des Rewind-Hebels in der 4. Folge der 1. Staffel von Scrubs. TC 00:00:53
Eine komplexere Form der Nonlinearität stellt die von Eckel definierte Kategorie der verschachtelten Zeit dar. In Filmen, die sich dieser Technik bedienen, gibt es mehrere Zeitebenen, die miteinander verwoben sind, „sodass die Zeitlichkeit einer Ebene innerhalb der Zeitlichkeit einer anderen Ebene stattfinden kann“ (ebd. 2008, 41). Als Beispiel wählt Eckel den Film EXISTENZ (CAN/UK 1999, David Cronenberg), in dem eine Verschachtelung von vier Zeitebenen stattfindet. Obwohl diese Form der Nonlinearität bereits in der Story angelegt ist, hilft „die Plot-Anordnung aber nicht […], diese Dimensionen zu erkennen, sondern im Gegenteil [trägt sie dazu bei], den Zugang zu ihnen noch zu erschweren, bzw. komplett zu verhindern“ (ebd. 2008, 44).
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Abb. 7: Verhältnis von Plot- und Story-Chronologie in EXISTENZ (Eckel 2008, 42).
Auch der Film VANILLA SKY (USA 2001, Cameron Crowe), der ein Remake von ABRE LOS OJOS (S/F/I 1997, Alejandro Aménabar) ist, spielt mit Zeitebenen. Sie sind „in Form von Flashbacks und virtuellen Halluzinationen so miteinander vermischt, dass die zeitliche Chronologie erst mit dem Wissen des Endes wieder hergestellt werden kann“ (Eckel 2008, 43). Als aktuellstes Beispiel für verschachtelte Zeitstrukturen dient der Film INCEPTION (USA 2010, Christopher Nolan). Die Figuren können die innerdiegetische reale Zeitebene verlassen und sich auf eine Traumebene begeben, von der aus sie auf eine Traum-in-Traum-Ebene gelangen können usw. Der Zeitverlauf der einzelnen Ebenen ist nicht identisch, so ergeben fünf Minuten realer Zeit eine Stunde auf der ersten Traumebene, aber schon zwanzig Stunden in der nächsten. Auch hier ist die Zeitmanipulation inhaltlich motiviert. Ein televisuelles Beispiel für das Vorgehen ver- schachtelter Zeitebenen stellt die Folge ‚THE PERFECT WEEK‘ der US-amerikanischen Fernsehserie HOW I MET YOUR MOTHER (USA 2005 - heute, Pamela Fryman) dar. Die Serie beginnt mit einer Anfangssequenz, in der eingeblendet wird, in welcher Zeit wir uns befinden, nämlich ‚Im Jahr 2030‘. Die Anfangssequenz macht deutlich, dass eine Geschichte erzählt wird (Halbtotale: Zwei Kinder sitzen auf der Couch [siehe auch Abbildung 3, Seite 19]; Eine Off-Stimme beginnt zu erzählen. Dabei wird deutlich, dass es sich um den Vater, Ted Mosby (Josh Radnor) handelt). Bei TC 00:01:15 wechselt die Szene und damit der Schauplatz. Die Geschichte wird nun visuell dargestellt, die
Erzählerstimme aus dem Off leitet nur zur neuen Szenerie über, in der der eindeutig identifizierbare Protagonist dieser Geschichte, Barney Stinson (Neil Patrick Harris), das weitere Erzählen übernimmt. Nach kurzer Zeit beginnt auch er eine zurückliegende Geschichte zu erzählen. Während die Zeitspanne, die die 1. Geschichte zurückliegt, nicht definiert wird, handelt es sich bei dieser um die vergangene Woche. Die Szenerie wechselt ein weiteres Mal und damit die Zeit, in der wir uns befinden. Barney erzählt der Reihe nach, was an den Abenden der vergangenen Woche geschah, wobei die Szenerie zwischendurch ab und an wieder auf die 1. Erzählebene wechselt. Barneys Stimme ist in den Rückblicken zu seiner Geschichte selten als Erzählerstimme zu hören. Stattdessen herrscht hier der dem Geschehen entsprechende Originalton vor. Innerhalb von Barneys Geschichte, erzählen sich seine Freunde ebenfalls Ereignisse, die geschehen sind, wobei es sich dabei um kurz zurück-liegende Geschehnisse handelt. In diesen Fällen werden weitere Ebenen eröffnet, die durch Bemerkungen der Zuhörer auf der 1. und 2. Ebenen miteinander verbunden sind. Die Zeitmanipulation ist auch hier inhaltlich motiviert. Diese komplexe Struktur hat zur Folge, dass der Zuschauer die Tatsache vergisst, dass es sich bereits bei der 1. Ebene um eine Geschichte handelt. Dies wird erst wieder durch einen abschließenden Schnitt auf die Anfangsszenerie deutlich.
Eine weitere besondere Form des Zeitspiels stellt die multiperspektivische Zeit dar. Hierbei wird ein Geschehen aus verschiedenen figurengebundenen Perspektiven gezeigt. Der Zeitraum, in dem das Ereignis stattfindet, wird dadurch mehrmals wiederholt und die parallel ablaufenden Handlungen dargestellt. Als Beispiel führt Eckel den Film 11:14 (USA 2003, Greg Marcks) an. Das Geschehen eines Handlungszeitraumes wird hier aus fünf verschiedenen Perspektiven präsentiert (vgl. Eckel 2008, 45), wobei die Übergänge durch eine schnelle Abfolge von Standbildern dargestellt werden und sich der Beginn des folgenden Stranges immer ein paar Minuten zurück verschiebt. „Die Vervielfältigung der Perspektiven geht also mit Rückschritten in der Zeit einher“ (ebd. 2008, 45). Erst am Ende des Films ist erkennbar, wodurch das Geschehen ausgelöst wird.
Some films use multiple narrators, each of whom describes the same event; again, we see it occur several times. This may allow us to see the same action in several ways. The plot may also provide us with more information, so that we understand the event in a new context when it reappears (Bordwell/Thompson 2001, 67).
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Abb. 8: Verhältnis von Plot- und Story-Chronologie in 11:14 (Eckel 2008, 47).
Ein weiteres Beispiel für diese Art der Multiperspektivität stellt Pete Travis‘ VINTAGE POINT dar. Das multiperspektivische Verfahren wird ebenso dafür verwendet, um die Gründe für ein Geschehen im Nachhinein aufzudecken, wie z.B. in RESERVOIR DOGS (USA 1992, Quentin Tarantino) oder RASHOMON (JP 1950, Akira Kurosawa). Auch im Fernsehen lassen sich viele Episoden von verschiedenen Serien finden, die mit dieser Technik verfahren. Oft geht die Multiperspektivität mit dem enactment -Flashback einher. In Episode 6 (‚I SAW WHAT I SAW‘) der 6. Staffel der US-amerikanischen Arztserie GREY‘S ANATOMY (USA 2005, Peter Horton et al.) soll herausgefunden werden, wer die Schuld an einem tödlichen Behandlungsfehler trägt. Es kommt zur Aufarbeitung eines hektischen Arbeitstages, wofür die diensthabenden Ärzte das Geschehen jeweils aus ihrer Perspek- tive wiedergeben. Die jeweilige Figur schöpft dafür aus ihren Erinnerungen. Es wird das Verfahren der Flashbacks verwendet, wobei vom recounting zum enactment übergeleitet wird. Auch wenn man sagen kann, dass die Flashbacks in die linear ablaufende Geschichte eingebettet sind, bewirkt die Vielzahl der Rückblenden eine „chronologische Umsortierung von Zeit“ (Eckel 2008, 49).
Eine Darstellungsweise, die ebenfalls nonlinear ist, obwohl sie zunächst linear wirkt, ist die subjektive Zeit. Was dieses Verfahren nonlinear macht, ist die Manipulation des Verstreichens der Zeit durch die „Visualisierung individuellen Zeitempfindens“ (Eckel 2008, 52), wie es in STAY (USA 2005, Marc Forster) der Fall ist. Der Film bricht mit kon- ventionellen filmischen Darstellungsmitteln, z.B. dem Nicht-Einhalten des Continuity Editing, um das Geschehen durch eine einer Figur zugeschriebenen subjektiven Wahrnehmung und ihrem zeitlichen Empfinden zu präsentieren. Hier wird die Möglichkeit audiovisueller Medien, Zeit in einer anderen zu prägen, so verwendet, dass das Einschätzen der Dauer der Geschichte erschwert wird (siehe Abb. 5).
In solchen Filmen „wird die Subjektivität der Zeiterfahrung betont. Die Linearität und Gleichmäßigkeit von Zeit stellt sich in ihnen als Konvention und logisches Hilfskonstrukt dar, dessen Existenz durch Uhren und sonstige Zeitmessgeräte zwar physikalisch belegt wird, dessen Empfindung und Einschätzung aber äußerst subjektiv ist“ (Eckel 2008, 55f).
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Abb. 9: Verhältnis von Plot- und Story-Chronologie in STAY (Eckel 2008, 54).
Unter den Begriff der Puzzle-Zeit fasst Eckel Filme zusammen, die mit der Linearität auf der Plot-Ebene brechen, indem sie Abläufe in der Chronologie vertauschen. Als Beispiel führt Eckel unter anderem BABEL (F/USA/MX 2006, Alejandro González Iñárritu) an. „Der Film ist in vier deutlich unterscheidbare Handlungsstränge teilbar, die aber jeweils über Umwege miteinander verbunden sind. Aus diesem Grund entwickeln Ereignisse im einen Handlungsstrang auch Konsequenzen in einem anderen“ (Eckel 2008, 57). Die einzelnen Sequenzen sind in sich linear, der Zuschauer muss sie jedoch im Nachhinein zu einem Ganzen zusammenfügen. Als Folge der vertauschten Plot-Struktur kommt es zu einer „Einschränkung des Informationsstandes beim Zuschauer“ (ebd. 2008, 60). Ein weiteres populäres Exempel für eine solche Art von nicht linearen Filmen ist PULP FICTION (USA 1994, Quentin Tarantino).
[...]
1 Mit Film ist in dieser Arbeit der Kino-, bzw. Spielfilm gemeint, der in Abgrenzung zu anderen Filmgattungen, wie dem Werbe-, Dokumentar- und Fernsehfilm, steht. Im weiteren Verlauf werden die Begriffe „Kinofilm“ und „Film“ synonym verwendet.
2 In der US-amerikanischen TV-Serie 24 findet die Handlung in Echtzeit statt. Der Titel der Serie verweist dabei auf die Episodenzahl einer Staffel. 24 Episoden entsprechen einem Tag. Sogar die durch Werbeblöcke entstehenden Pausen wurden bei der Dramaturgie beachtet und mit einkalkuliert.
3 Die Bezeichnungen „nicht linear“ und „nonlinear“ werden im weiteren Verlauf synonym verwendet.
4 Gemeint ist hier die Geschichte als Erzählung. Davon zu unterscheiden ist die Geschichte als Werdegang und Entwicklung der Menschheit oder Natur und Geschichte als Begriff für die wissenschaftliche Lehre der Vergangenheit.
5 Die Position der Erzählerin/ des Erzählers erfuhr hier eine besondere Entwicklung, da er/sie in Film und Fernsehen nicht mehr eindeutig zu definieren ist. Film und Fernsehformate als narrative Konstruktionen werden arbeitsteilig von einem ganzen Produktionsteam erstellt. Meist wird die Rolle der erzählenden Instanz dem Regisseur zugesprochen. Andererseits wird in diesen narrativen Formen auch oft ein/e intradiegetische/r Erzähler/in konstruiert, der/die eine unmittelbare Instanz darstellen soll. Diese Filmfiguren, Kommentare und Erzählerstimmen sind dabei jedoch lediglich Funktionen des Erzählens (vgl. Schweinitz 2002, S. 146). Filmische oder televisuelle Erzählungen scheinen demnach ihren Inhalt objektiv von außen zu präsentieren. Da die Rolle des Erzählers im Bezug auf die medienspezifische Zeitlichkeit irrelevant ist, wird in dieser Arbeit darauf verzichtet, diese ausführlicher zu diskutieren. Auch die Fokalisierung, die nach Genette die interne Erzählperspektive darstellt und damit „für den Wahrnehmungsinhalt verantwortlich ist“ (Mahne 2007, 98), wird in dieser Arbeit nicht behandelt.
6 Mit dem Begriff der Echtzeit ist hier das soziale Konstrukt ‚Zeit' gemeint, dass die Menschen erschaffen haben, um ihr Leben zu strukturieren. Zeit stellt demnach eine Ordnungsinstanz dar, die ermöglicht, dass Menschen untereinander Absprachen treffen und sich arrangieren können. Die Zeit selbst ist nicht fass- und beeinflussbar. Sie ist die Wahrnehmung von Abfolgen, von Ereignissen und Veränderungen. Zeit ist daher etwas, was kontinuierlich und unwiderruflich abläuft. Aus diesem Grund empfinden Menschen Zeit als wertvolle Ressource und versuchen, die Zeit ihres Lebens möglichst effektiv zu nutzen. Um eben diesen Nutzen daraus zu ziehen und das gesellschaftliche Zusammenleben - vor allem Arbeitsabläufe - zu ermöglichen, wurde die soziale Zeit konstruiert.
7 Da der Medienbegriff sich durch eine sehr heterogene Definitionsvielfalt auszeichnet, erscheint es mir wichtig, ihn für das Untersuchungsvorhaben in seinem Bedeutungsumfang einzugrenzen: Der hier verwendete Medienbegriff bezieht sich auf institutionalisierte Systeme der Vermittlung. Mit Hilfe dieser Kommunikationskanäle werden Inhalte an ein breites Publikum übermittelt. Medien werden hier also als Trägermedien für narrative Inhalte, Zeichensysteme, Bedeutungs- und Sinnzusammenhänge gedacht. Die Nutzung seitens des Publikums erfolgt auf freiwilliger Basis. Folgt man dem Medienbegriff nach Pross (vgl. Mahne 2007, 22), so ist hier hauptsächlich von sekundären und tertiären Medien die Rede, wobei sich die weitere Untersuchung auf tertiäre Medien beschränkt. Den Ursprung von Erzählungen kann man dabei im Bereich der primären körpergebundenen Medien verorten.
8 Der Begriff der Transmedialität meint die Kopplung und das Zusammenwirken unterschiedlicher Medien. So kann ein narrativer Stoff nicht nur in einem Medium verwendet, sondern über dieses hinaus auch von anderen Medien aufgegriffen und weiter entwickelt werden. Das Zusammen- spiel der Medien erweitert damit nicht nur den narrativen Raum, sondern bietet zudem dem primären Medium der Narration mehr Spielraum für experimentelles Erzählen. Mit den Worten von Irina O. Rajewski gesagt, handelt es sich bei Transmedialität um „[m]edienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“ (Rajewski nach Mahne 2007, 9).
9 Im Erzählen begründet sich der Sinn narrativer Medien. Mit diesem Prinzip werden in der Regel strategische Ziele, wie belehren, informieren oder unterhalten, verfolgt. Das Erreichen dieser Ziele erfordert unterschiedliche Aufbereitungen der Erzählungen, sodass sich unterschiedliche Erzählstrategien entwickelt haben, die im größeren Zusammenhang unter Formaten zu verstehen sind. Die in dieser Arbeit verhandelten Untersuchungsgegenstände sind darauf ausgelegt, ihr Publikum zu unterhalten. Dieser Aspekt muss bei der weiteren Analyse stets mit bedacht werden.
10 Film und Fernsehen werden hier als Medien vertreten, wobei der Film als Produktform sich längst von seiner ursprünglichen Institution, dem Kino, gelöst hat. Filme werden auch für das Fernsehen produziert. Was diese Arbeit betrifft, meint die Gegenüberstellung von Film und Fernsehen eben den Unterschied zwischen dem seriellen Erzählen, welches ein typisches Merkmal des Fernsehens ist, und dem filmischen Erzählen.
11 In der Regel besteht der Inhalt eines Films oder einer Fernsehsendung aus einer Geschichte. Diese Geschichte (Plot), die den Sinn einer Erzählung ausmacht, ist der Hauptbestandteil der Erzählung. Sie beinhaltet die hauptsächliche Handlung der Geschichte und bildet damit einen Rahmen, der durch weitere Nebenhandlungen (Subplots) ergänzt werden kann. Die Darstellung von Plot und Subplots erfolgt über unterschiedliche dramaturgische Verfahren. Im Film sind die Handlungsstränge von Plot und Subplots meist so verwoben, dass die Zuschauer die Übergänge nicht wahrnehmen und sie als eine Geschichte interpretieren. In Fernsehserien wird meist auf die Zopfdramaturgie zurückgegriffen, die sich dadurch auszeichnet, dass die Handlungsstränge „wie die Stränge eines Zopfes miteinander verknüpft“ werden (Stutterheim/Kaiser 2009, 204).
12 Man kann bei Kommunikationsobjekten zwischen textuellen und nicht-textuellen unter- scheiden. "By "text" I shall mean any communication that temporally controls its reception by the audience" (Chatman 1990, 7). Im Gegensatz dazu stehen eben statische Medien, wie Skulpturen und Gemälde.
13 Dies gilt insbesondere für fiktive Produktionen. Im Fernsehen lassen sich zudem Erzählformate finden, in denen die Sprache eine größere Bedeutung einnimmt, wie z. B. bei Nachrichten.
14 Unter den Begriff Text fällt in der Semiotik nicht nur Geschriebenes, sondern auch Gesprochenes und nicht-sprachliche Kommunikation, wie filmisches oder televisuelles Erzählen. Die Abfolge der bewegten Bilder bildet einen Text, der Bedeutung produziert. Diese Sinnzuschreibung geschieht über Codes, die sich unter anderem aus filmästhetischen Kon- ventionen ergeben.
15 Das Continuity-System, das sich in den 1920er Jahren als Filmtechnik etabliert hat, besteht aus Montage-Regeln, die die Kontinuität zwischen den einzelnen Szenen sichern soll, z.B. eyeline matches und cut-ins. Der „ continuity -Filmschnitt gehört zum narrativen klassischen HollywoodKino“ (Thompson 1997, 60) und ist für narrative Handlungen unabdingbar. Die verwendeten Stilmittel ordnen sich dabei jedoch „dem Handlungsverlauf unter, ohne Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken“ (Thompson 1997, 61), denn obwohl es sich um eine konstruierte Erzählung handelt, soll der Eindruck erweckt werden, die Erzählung erzähle sich selbst und es liege kein Erzählvorgang vor, der kalkuliert und durchgeplant ist.
16 Auch hier gibt es Ausnahmen. So bestehen die Staffeln der Echtzeitserie 24 (USA 2001-2010, Jon Cassar u.a.) jeweils aus 24 Folgen, die wiederrum jeweils eine Stunde im Leben von Jack Bauer (gespielt von Kiefer Sutherland) darstellen. Die Serienhandlung läuft in Echtzeit ab und selbst während der Werbepausen läuft die innerdiegetische Zeit weiter. Auch der Film NICK OF TIME (USA 1995, John Badham) verfolgt bis auf wenige Ausnahmen das Prinzip der Echtzeit.
17 Der Begriff Fiktion leitet sich vom lateinischen ‚fingere‘ ab, was für erdichten, bilden, vortäuschen steht. Fiktion bezeichnet demnach ausgedachte Geschichten, die nicht der Wirklichkeit entstammen. Fiktive Produkte werden primär zu Zwecken der Unterhaltung genutzt. Die Zuschauer gehen während der Rezeption einen ‚Fiktionsvertrag‘ ein, der „die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ (Keller 2008, 211) beinhaltet.
18 Da die vorliegende Arbeit auf die zeitliche Organisation von Film und Fernsehen abzielt, ist hier stets die temporale Dimension von Linearität, bzw. Nonlinearität gemeint.
19 Dem Illusionskino liegt die Annäherung der fiktionalen Kinofilme an die Realität zugrunde. Obwohl die Zuschauer sich der fiktionalen Welt bewusst sind, sind sie bereit, sich der Illusion des Films hinzugeben.
20 Den Möglichkeiten, via nicht linearen Erzählens mit Plot-Elementen zu spielen, wird in dieser Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet.
21 Schauplatzwechsel werden als Signale für den Wechsel von Handlungssträngen verwendet. Handelt es sich dabei um einen Wechsel, dem zugleich eine Zeitverschiebung inhärent ist, muss diese durch Orientierungspunkte kenntlich gemacht werden. Bei HOW I MET YOUR MOTHER (USA 2005-heute, Pamela Fryman, Rob Greenberg) ist die innerdiegtische Gegenwart für den Zuschauer leicht wieder zu erkennen, da die entsprechende Szene im Bezug auf die Misé-en- Scene stets identisch gestaltet ist.
22 Die Dominanz der Linearität in den einzelnen Sequenzen, deutlicher aber noch in den einzelnen Einstellungen, ist damit zu begründen, dass die Kamera „an die Kontinuität von Raum und Zeit“ (Mahne 2007, 82) gebunden ist. „Eine Besonderheit filmischen [und damit auch televisuellen] Erzählens stellt die Rückwärtsprojektion (reverse motion) dar. Bei diesem Zeitumkehrtrick läuft der Film entgegen der chronologischen Zeitachse“ (Mahne 2007, 82). Dieses Verfahren kennt man als ‚Zurückspulen‘ und ist damit auch ein Verfahren, um Handlungsstränge multilinearen Erzählens miteinander zu verknüpfen.
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- Sandra Garthaus (Author), 2011, Nonlineare Erzählweisen in Film und TV-Serie. "Eternal Sunshine of the spotless mind" und "Lost", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276161
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