Obwohl sowohl der Oper als auch dem Schauspiel eine Dramatisierung des dem Werk als Vorlage dienenden Stoffes zugrundeliegt, die Ausgangsbasis für beide Kunstformen folglich das Theater ist, wird in den musikalischen Bühnenwerken die Musik zum Träger der Handlung, sie übernimmt eine zentrale Gestaltungsrolle, wodurch die Oper sich deutlich von dem Schauspiel abgrenzt.
Textgrundlage der Oper bilden die sogenannten ‚Libretti‘, das Phänomen der librettistischen Literatur ist so alt wie die Oper selbst. Und da die Oper stets auf die Literatur angewiesen ist, ist die Untersuchung der Libretti nicht allein der Musikgeschichte, sondern auch der Theater- und sogar der Literaturgeschichte zuzuordnen. Ein Opernlibretto darf jedoch nicht nur im Hinblick auf das Originaldrama beurteilt werden, sondern es muss stets auch ein Bezug zu der musikalischen Darstellung hergestellt werden.
Die meisten Opernlibretti des Belcanto sind nach einer literarischen Vorlage entstanden und greifen auffallend häufig auf die Dramen von Friedrich Schiller zurück.
In der vorliegenden Arbeit wird untersucht, welche Kriterien ein literarisches Werk erfüllen muss, um sich als Grundlage für eine Opernumsetzung zu eignen. Es wird zudem analysiert, worin die spezifischen Reizfaktoren eines Schillerschen Dramas bestehen, die es als Operngrundlage qualifizieren. Außerdem wird gezeigt, mit welchen Mitteln es den Librettisten und Komponisten gelingt, ein Schillerdrama in ein Libretto bzw. eine Oper umzuwandeln. Das Schaffen einer Textgrundlage für eine musikdramatische Literaturvertonung fordert gezwungenermaßen eine Modifizierung der Schauspieldichtung, es sind dramaturgische Eingriffe notwendig, um auch in der musikalischen Darbietung die szenische Verständlichkeit zu gewährleisten.
Sowohl die Opernlibretti als auch die Originaldramen werden auf die eben erwähnten Aspekte hin untersucht, wobei die ‚besonderen Bühnencharaktere‘ den Schwerpunkt darstellen sollen. Ziel der Arbeit ist es u.a. zu zeigen, wie die Librettisten und Komponisten vorgehen, um die Bühnencharaktere auf die von der Oper geforderte Anzahl zu reduzieren, ohne dass die Qualität des Werkes darunter leidet, bzw. die szenische Verständlichkeit verlorengeht. Zu diesem Zweck werden mehrere wesentliche Szenen näher analysiert, aber auch auch allgemeine Merkmale der jeweiligen Figuren werden einander gegenübergestellt.
Inhaltsverzeichnis
I. Friedrich Schiller und die Oper
II. Drama und Oper
1. Das Drama
1.1. Das deutsche Drama des späten 18. Jahrhunderts
2. Die Oper
2.1. Die italienische Oper des 19. Jahrhunderts: Der Belcanto
3. Drama und Oper im Vergleich
3.1. Die Stimme: gesprochenes und gesungenes Wort (Gedankenebene und Emotionsebene)
3.2. Bühnenfiguren
3.3. Darstellungsformen: Dialog und Duett bzw. Ensembleszenen
3.4. Fazit
4. Das Libretto
4.1. Forschungsstand und Kritik
4.2. Die Beziehung zwischen Wort und Musik
4.3. Stoffwahl und Umwandlung: Reduzierung auf das Kernmotiv
4.4. Figuren und Figurenkonstellationen: Schematisierung der Stimmfächer
4.5. Fazit
III. Friedrich Schillers Dramen als Grundlage für die italienischen Opernlibretti der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
1. Schillers Werke in Italien
1.1. Die ersten italienischen Schilleropern
2. Wilhelm Tell
2.1. Friedrich Schillers Wilhelm Tell
2.1.1. Figureninventar und Einstieg
2.1.1.1. Der Antagonist: Hermann Geßler (Reichsvogt in Schwyz und Uri) und seine Männer
2.1.1.2. Die selbstbewusste und kluge Adelige: Bertha von Bruneck (eine reiche Erbin)
2.1.1.3. Der Liebhaber: Ulrich von Rudenz (Neffe des Freiherrn von Attinghausen)
2.1.1.3.1. Die Beziehung zwischen Bertha von Bruneck und Ulrich von Rudenz
2.1.1.4. Die besorgte Ehefrau und Mutter: Hedwig Tell (Walter Fürsts Tochter)
2.1.1.5. Der Protagonist: Wilhelm Tell
2.1.1.6. Der schweizerische Adel
2.1.1.7. Das schweizerische Volk
2.1.2. Fazit
2.2. Gioachino Rossinis Guglielmo Tell: Begründung der Grand Opéra
2.2.1. Figureninventar und Einstieg
2.2.1.1. Der Antagonist und seine Untergebenen: Gessler (Landvogt) (Bass) und Rodolfo (Anführer der Soldaten Gesslers) (Tenor)
2.2.1.2. Die Geliebte: Matilde (Prinzessin v. Habsburg) (Sopran) ..
2.2.1.3. Der Liebhaber: Arnoldo (Melchthals Sohn und Liebhaber von Matilde) (Tenor)
2.2.1.3.1. Die Beziehung zwischen Matilde und Arnoldo
2.2.1.4. Die Familie: Edwige Tell (Tells Ehefrau) (Mezzosopran) und Jemmy (Sohn von Guglielmo und Edwige) (Sopran)
2.2.1.5. Der Protagonist: Guglielmo Tell (Bariton)
2.2.1.6. Die Vaterfiguren: Der alte Melchthal (Arnoldos Vater) (Bass) und Gualtiero Fürst (Bass)
2.2.1.7. Das schweizerische Volk
2.2.2. Fazit
3. Maria Stuart
3.1. Friedrich Schillers Maria Stuart
3.1.1. Figureninventar und Einstieg
3.1.1.1. Die Protagonistin: Maria Stuart (Königin von Schottland, Gefangene in England)
3.1.1.2. Die Antagonistin: Elisabeth (Königin von England)
3.1.1.2.1. Die Begegnung der Königinnen
3.1.1.3. Die Vertrauten: Hanna Kennedy (Marias Amme) und Melvil (Marias Hofmeister)
3.1.1.4. Der Verräter: Robert Dudley (Graf von Leicester)
3.1.1.5. Der Liebhaber: Mortimer (Paulets Neffe)
3.1.1.6. Die Vaterfigur: Georg Talbot (Graf von Shrewsbury)
3.1.1.7. Der Gegenspieler: Wilhelm Cecil (Baron von Burleigh, Großschatzmeister)
3.1.1.8. Die Untergebenen: Amias Paulet (Ritter, Hüter der Maria) und Wilhelm Davison (Staatssekretär)
3.1.1.9. Das Volk
3.1.2. Fazit
3.2. Gaetano Donizettis Maria Stuarda
3.2.1. Figureninventar und Einstieg
3.2.1.1. Die Antagonistin: Elisabetta (Mezzosopran)
3.2.1.2. Die Protagonistin: Maria Stuarda (Sopran)
3.2.1.2.1. Die Begegnung der Königinnen
3.2.1.3. Die Vertraute: Anna Kennedy (Alt) und die Vaterfigur: Giorgio Talbot (Graf v. Shrewsbury) (Bass)
3.2.1.4. Der Liebhaber: Roberto (Earl of Leicester) (Tenor)
3.2.1.5. Der Gegenspieler: Lord Guglielmo Cecil (Bariton)
3.2.1.6. Die Höflinge
3.2.2. Fazit
4. Die Räuber
4.1. Friedrich Schillers Die Räuber
4.1.1. Figureninventar und Einstieg
4.1.1.1. Der Antagonist: Franz Moor
4.1.1.2. Der Protagonist: Karl Moor
4.1.1.2.1. Die Brüder
4.1.1.3. Der gescheiterte Vater: Maximilian (regierender Graf von Moor)
4.1.1.4. Die Geliebte: Amalia von Edelreich
4.1.1.5. Die Räuber
4.1.1.6. Hermann (Bastard von einem Edelmann) und Daniel (Hausknecht des Grafen Moor)
4.1.1.7. Ein Pater und Pastor Moser
4.1.2. Fazit
4.2. Guiseppe Verdis I masnadieri
4.2.1. Figureninventar und Einstieg
4.2.1.1. Der Protagonist: Carlo (Tenor)
4.2.1.2. Der Antagonist: Francesco (Bariton)
4.2.1.3. Die Vaterfigur: Massimiliano (Conte di Moor) (Bass)
4.2.1.4. Die Geliebte: Amalia (Nichte des Conte) (Sopran)
4.2.1.5. Coro di giovani traviati, poi Masnadieri
4.2.1.6. Arminio (Kammerherr der Herrscherfamilie) (Tenor) und Moser (Pastor) (Bass)
4.2.2. Fazit
IV. Fazit
Literaturverzeichnis
Überblick
Sowohl dem Schauspiel als auch der Oper liegt eine Dramatisierung des dem Werk als Vorlage dienenden Stoffes zugrunde, die Ausgangsbasis für beide Kunstformen ist folglich die theatralische Form. In den musikalischen Bühnenwerken wird jedoch die Musik zum Träger der Handlung, der Stimmung und der Gefühle, sie übernimmt eine zentrale Gestaltungsrolle, wodurch die Oper sich deutlich von den Formen des Sprechtheaters bzw. des Schauspiels abgrenzt.
Die Oper ist stets auf die eine oder andere Art und Weise auf die Literatur angewiesen, folglich ist die Untersuchung der Libretti nicht allein der Musikgeschichte, sondern auch der Theater- und sogar der Literaturgeschichte zuzuordnen. Das Opernlibretto spielt eine größtenteils unselbstständige Rolle, da der Text in den meisten Fällen der Musik untergeordnet wird. Dies trifft ganz entschieden auf die Libretti der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Epoche des italienischen Belcanto zu. Demzufolge darf das jeweilige Textbuch nicht nur im Hinblick auf das Originaldrama beurteilt werden, sondern es muss stets auch ein Bezug zu der musikalischen Darstellung hergestellt werden.
Ein Teil der Operntexte wird von den Librettisten selbst geschrieben, die meisten Libretti des Belcanto entstehen jedoch nach einer literarischen Vorlage und greifen vor allem auf französische Dramatiker wie Victor Hugo (Rigoletto) und Alexandre Dumas Sohn (La Traviata) zurück. Auch spanische Dramatiker wie A.G. Gutierrez (Il Trovatore) und die Dramenwerke William Shakespeares (Macbeth) dienen als Vorlagen.
Auffällig ist, dass die Komponisten des Belcanto häufig auf die Dramen von Friedrich Schiller zurückgreifen, so beispielsweise Gioachino Rossini mit seiner Oper Guglielmo Tell und Gaetano Donizetti mit seiner Maria Stuarda. Giuseppe Verdi hat sogar vier Schilleropern komponiert: Giovanna d ’ Arco, I Masnadieri, Luisa Miller und Don Carlo.
Da eine Analyse aller eben erwähnten Werke den Rahmen sprengen würde, konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf drei Opern (Guglielmo Tell, Maria Stuarda, I Masnadieri), welche sich sowohl in der Art der Umsetzung, als auch in Bezug auf ihre Wirkungsgeschichte deutlich unterscheiden.
An diesen Werken wird u.a. untersucht, worin die spezifischen Reizfaktoren eines Schillerschen Dramas bestehen, die es als Operngrundlage qualifizieren. Außerdem wird gezeigt, mit welchen Mitteln es den Librettisten und Komponisten gelingt, ein Schillerdrama in eine Oper umzuwandeln. Neben einer Analyse der notwendigen Reduzierung auf das Kernmotiv der literarischen Vorlage befasst sich die Arbeit hauptsächlich mit den Figuren und deren Konstellationen untereinander. Ziel der Arbeit ist es u.a. zu zeigen, wie die Librettisten und Komponisten vorgehen, um die Figuren auf die von der Oper geforderte Anzahl zu reduzieren, ohne dass die Qualität des Werkes darunter leidet, bzw. die szenische Verständlichkeit verlorengeht. Zu diesem Zweck werden einige wesentliche Szenen näher analysiert, aber auch allgemeine Merkmale der jeweiligen Figuren werden einander gegenübergestellt.
In der vorliegenden Arbeit wird u.a. deutlich, dass es in der Oper hauptsächlich die Musik ist, welche die Charakterisierung und die Interpretation der Figuren bestimmt. Mit ihrer Hilfe ist es möglich, die innersten Gedanken und Gefühle der Charaktere auf die Bühne zu bringen, während sie im Schauspiel oft unausgesprochen bleiben. Zudem sind die Handlungsmotive, Intrigen und Konflikte stets direkt mit den auftretenden Personen verbunden und werden durch sie veranschaulicht. Sowohl Rossini, wie auch Donizetti und Verdi haben in Schillers abstraktem Ideenraum die notwendige gedankliche Entsprechung ihrer dramatischen Tonsprache erblickt. Durch die Höhen und Tiefen der menschlichen Affekte gelingt es ihnen, mithilfe ihrer Musik, die scharfe analytische Welt der Schillerschen Ideendramen zu beleben.
I. Friedrich Schiller und die Oper
Friedrich Schiller schreibt in einem Brief an Caroline v. Wolzogen:
Es ist etwas Geheimnisvolles in der Wirkung der Musik, dass sie unser Innerstes bewegt, so dass sie ein Verbindungsmittel zwischen zwei Welten wird. […] Die Musik ist eine höhere, feinere Sprache als die Worte. In Momenten, wo der erhöhten Seele jeder Ausdruck zu schwach erscheint, wo sie verzweifelt, die feineren Nuancen ihrer Empfindungen in Worte zu fassen, da beginnt die Tonkunst. Aller erster Gesang hat diesen Grund.1
Diese Worte machen deutlich, wie sehr der Dichter die Musik schätzt. Gleichzeitig aber bezeichnet der Musiker Christian Friedrich Körner seinen Freund als „unmusikalischen“ und „stümpernden Dilettanten“2, so dass sich die Frage stellt, warum Schillers Werke die Komponisten schon zu seinen Lebzeiten immer wieder zu Bearbeitungen und Vertonungen angeregt haben. Inwiefern besteht ein Bezug zwischen Schillers Texten und der Kunstform Musik? Die vorliegende Arbeit versucht, eine (Teil-)Antwort auf diese Frage zu finden, indem sie einige von Schillerschen Dramen hergeleitete Opern in einen direkten Vergleich zu ihrer jeweiligen Vorlage setzt, denn obwohl Schiller sich selbst als „vollkommenen Laien im Musikfache“3 bezeichnet und lediglich einmal den Versuch unternimmt, sich konkret mit der Kunstform Oper bzw. Operette zu befassen, indem er das Libretto zu einer „Lyrischen Operette“ mit dem Titel Semele verfasst, äußert er sich am 29. Dezember 1797 in einem Brief an Goethe wie folgt:
Ich hatte immer ein gewisses Vertrauen zur Oper, dass aus ihr wie aus den Chören des alten Baccusfestes das Trauerspiel in einer edlern Gestalt sich loswickeln sollte. […] Die Oper stimmt durch die Macht der Musik und durch eine freiere harmonische Reizung der Sinnlichkeit das Gemüte zu einer schönern Empfängnis, hier ist wirklich auch im Pathos selbst ein freieres Spiel, weil die Musik es begleitet.4
Folglich ist es nicht verwunderlich, dass Schiller in seinen Dramen opernhafte Strukturen erkennen lässt.
Neben Beaumarchais (Rossini Il Barbiere di Seviglia und Mozart Le nozze di Figaro), Hugo (Verdi Ernani und Rigoletto) und Shakespeare (Verdi Macbeth und Falstaff) ist Friedrich Schiller einer der meistvertonten Dichter überhaupt. Es gibt mindestens 72 Schiller-Opern, u.a. von Verdi, Lalo, Tschaikowsky, Dvorák, Klebe, Donizetti, Puccini und Rossini.
Bisher sind bereits einige Abhandlungen über Schiller und die Vertonung seiner Werke als Opern erschienen, wie beispielsweise Virginia Cisottis Schiller e il Melodramma di Verdi, Leo Karl Gerhartz‘ Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama, Ingeborg Häuslers Die Dramen Schillers als Grundlage für Opernlibretti, Klaus Dieter Links Literarische Perspektiven des Opernlibrettos und Gary Schmidgalls Literature as Opera, sowie Carl Dahlhaus‘ Zur Dramaturgie der Literaturoper. Das Hauptinteresse dieser Abhandlungen gilt zwar den Unterschieden zwischen der Schillerschen Vorlage und dem Opernlibretto, spezielle Fragen der Charaktergestaltung werden jedoch nicht oder kaum berücksichtigt.
Auch die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Einrichtung des Schillerschen Dramas als Libretto und den vorgenommenen Änderungen. Sowohl die Streichungen und Umwandlungen als auch die Integration neuer Handlungselemente werden untersucht. Schwerpunkt ist allerdings ein Aspekt, der in den eben erwähnten Abhandlungen nur wenig, zum Teil auch gar keine Erwähnung findet. Da es in diesem Rahmen unmöglich ist, eine umfassende vergleichende Analyse Schillerscher Dramen und der daraus hervorgegangenen Opern zu liefern, sollen vor allem das Verhältnis der Opernfiguren zu ihren Vorlagen sowie ihre Konstellationen untereinander im Mittelpunkt stehen. In der folgenden Untersuchung werden die Libretti mit den Originaldramen verglichen. Es soll dargelegt werden, wie der Komponist, bzw. der Librettist mit den Charakteren der dramatischen Vorlagen verfährt, was er verändert, weglässt oder völlig umdichtet. Dabei sollen auch die Gründe für die vorgenommenen Veränderungen beleuchtet werden, denn diese sind nicht allein im Geschmack des zeitgenössischen Publikums, sondern auch im aufführungs-technischen Bereich zu suchen. Das Verfahren der Umänderung sowie die Umsetzung in Musik sollen in dieser Arbeit an einzelnen Beispielen untersucht werden. Die Originaldramen und Opernlibretti sollen bezüglich ihrer
Gestaltungsdifferenzen untersucht werden. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen - wie bereits erwähnt - Figuren und ihre Konstellationen untereinander: Welche Veränderungen sind bei der Umarbeitung in ein Libretto bzw. eine Oper in Bezug auf die Personen vorgenommen worden? Welche Veränderungen treten auf der Ebene der Handlung auf? Welche Charaktermerkmale werden breiter ausgeführt bzw. nicht berücksichtigt?
Die inszenierungspraktischen Aspekte sowie die allgemeine Problematik der literarischen Übersetzung sollen hier ausgespart bleiben, der folgende Vergleich von Schauspiel und Oper anhand einzelner Werkanalysen konzentriert sich auf die Textbücher und Libretti bzw. Partituren, d.h. auf die schriftlich fixierten Spielvorlagen sowie auf die Vertonungen einzelner Auszüge. Grundlage für die Untersuchung bilden drei Opern aus der Zeit des italienischen Belcanto5, welche sich aus einer Schillerschen Vorlage herleiten: Gioachino Rossinis Guglielmo Tell (Wilhelm Tell), Gaetano Donizettis Maria Stuarda (Maria Stuart) und Giuseppe Verdis I masnadieri (Die Räuber).
II. Drama und Oper
In der vorliegenden Arbeit werden „Drama“ bzw. „Schauspiel“ und „Oper“ nicht als allgemeine Sammelbegriffe für Sprechtheater und Musiktheater verwendet. Der Begriff „Oper“ bezieht sich auf die italienische Kunstform, die sich aus den selbstständigen Bedürfnissen von Melodie und gesanglichem Ausdruck heraus entwickelt hat, während „Drama“ eine Dichtung bezeichnet, die auf Handlung und Dialog aufgebaut ist.
1. Das Drama
Unter Drama (griech. Handlung) versteht man eine Grundform der Dichtung, in welcher eine knappe und in sich geschlossene Handlung unmittelbar gegenwärtig zur Anschauung gebracht wird. Bereits Aristoteles fordert, dass in dieser Kunstform die Nachahmung einer Handlung stattfinden solle, die Schilderung von Charakteren reicht seiner Ansicht nach nicht aus. Ziel des Dramas ist nicht, etwas Statisches zu berichten, sondern es soll eine Bewegung auf der Bühne dargestellt werden. Folglich ist das dramatische Werk auf die Bühnendarstellung hin angelegt, durch das die Phantasie anregende Wort und die szenische Darstellung wird dem Zuschauer ein direktes äußeres wie auch ein inneres Mitgehen ermöglicht. Dadurch, dass es erst auf der Bühne die ihm zugedachte Gestalt findet, unterscheidet sich das dramatische Werk deutlich von der Lyrik und der Erzählliteratur.6
Das Drama entwickelt sich in allen Kulturvölkern zum einen aus dem allgemeinen menschlichen Spieltrieb, zum andern aus kulturellen Tänzen und Gesängen, die durch Monologe und Dialoge erweitert werden. Während das dramatische Werk des Mittelalters sich vorwiegend der Darstellung des Heilsgeschehens und der Moralität widmet, bringt die Renaissance - als Folge ihrer weltlicheren Einstellung - die Erneuerung des römischen Dramas. Die Renaissance bahnt schließlich den Weg zur Säkularisierung des Schauspiels und prägt die Form des europäischen Dramas bis ins 18. Jahrhundert. In der Aufklärung beeinflusst dann das Vorbild der klassizistischen französischen tragédie classique das deutsche Drama, bis G.E. Lessing, als erster großer deutscher Dramatiker der Neuzeit, sich gegen die Verfechter der tragédie classique wendet und für eine Rückwendung zur aristotelischen Poetik plädiert. Lessing ist zudem der Ansicht, das Drama solle nicht nur für eine Minderheit, sondern für die gesamte Nation zugänglich sein und so versucht er, das deutsche Theater vom Einfluss des ausländischen Theaters loszulösen und Probleme der Nation auf der Bühne zu thematisieren. Diese Idee wird von den Sturm-und-Drang Dichtern weitergeführt und so kommt es im 18. Jahrhundert zu der Gründung mehrerer Nationaltheater in verschiedenen Städten.
1.1. Das deutsche Drama des späten 18. Jahrhunderts
Im 18. Jahrhundert ist das Drama die bevorzugte literarische Form und übernimmt hauptsächlich eine bildende und erzieherische Rolle. Die deutschen Dramendichter dieser Zeit wenden sich nach und nach von dem französischen Klassizismus ab. Sie distanzieren sich zudem von den aristotelischen Einheiten der Handlung, der Zeit und des Ortes, die Regelpoetik verliert immer mehr an Bedeutung und es kommt zu einer Sensualisierung des Theaters.
Die Dramen dieser Zeit bringen Themen wie „Humanität“, „Gerechtigkeit“ und „Toleranz“ sowie „Mitleidsfähigkeit“ auf die Bühne. Das dramatische Werk wird nun geprägt durch sein leidenschaftliches Streben „von Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit zu Natur und Wahrheit“, welches im Drama der deutschen Klassik seinen Höhepunkt erreicht.7
Die Dichter wollen mit ihren Dramen den sittlichen und sozialen Umständen ihrer Zeit entgegenwirken, dargestellt werden häufig der Freiheitskampf gegen die Gesellschaft sowie die freie individuelle Selbstentfaltung. In den Werken dieser Zeit spiegelt sich zudem ein „schrankenloser Individualismus“, es werden bevorzugt tatkräftige „Selbsthelfer“ dargestellt.8 Diese versuchen, sich gegen aktuelle Gesellschaftsprobleme aufzulehnen, scheitern jedoch an den gesellschaftlichen Verhältnissen und können ihre Identität meist nur durch Freitod oder Mord bewahren.
Zudem werden die Figuren immer mehr zu wahren Charakteren, sie sind nicht mehr nur schlichte Handlungsbeteiligte. Die Dramen des späten 18. Jahrhunderts erzielen ihre Wirkung nicht allein durch das Auflösen eines Handlungskonflikts, die Personen haben ihre eigene Geschichte und können durch Empathie, durch das Einfühlen in den Charakter verstanden werden.
2. Die Oper
Als Oper (ital. opera musicale „musikalisches Werk“) bezeichnet man seit Beginn des 17. Jahrhunderts eine komplexe dramatische Kunstgattung, deren Text durch eine von Instrumenten begleitete menschliche Singstimme interpretiert wird.
Ausgang des 16. Jahrhunderts bemüht sich die sogenannte Florentiner Camerata, eine erlesene adelige Gesellschaft von Gelehrten und ausübenden Musikern, um eine authentische Realisierung der antiken Dramen und schafft so die ersten drammae per musica. Die technischen Wurzeln der Oper sind zu dieser Zeit schon vorhanden und die Florentiner Neuerer begeistern sich für die neuaufgefundenen altgriechischen Hymnen. Zudem erkennt man in dieser Zeit auch zum ersten Mal dem „Dichterischen“ den Vorrang zu, die Musik soll als Steigerung des Dichterwortes agieren und die
Florentiner Schule tritt u.a. auch für die Verständlichkeit des gesungenen Wortes ein.9 Obwohl die
Tatsache, dass es den Komponisten in der Renaissance darum geht, die antiken Tragödien zu erneuern, die Stoffauswahl für die neu geschaffene Kunstform stark einschränkt, etabliert sich diese in Italien als herrschende Gattung der dramatischen Kunst. 1594 wird Jacopo Peris‘ Dafne (Libretto von Ottavio Rinuccini) in Florenz uraufgeführt. Als erste komplett überlieferte Oper liegt die 1600 uraufgeführte Euridice derselben Autoren vor und mit Claudio Monteverdi (1567-1643) bringt die Florentiner Schule zudem den ersten Großmeister der Oper hervor.
Die Oper ist zunächst ausschließlich eine höfisch-repräsentative Kunstgattung, ein Mittel für die absolutistischen Fürsten, mit welchem sie ihre Macht dokumentieren. Sie ist fester Bestandteil der Vergnügungen des Hoflebens und darf bei keiner Festlichkeit fehlen. Mitte des 17. Jahrhunderts drängt das Interesse an dieser Kunstform von Jahr zu Jahr in weitere Kreise der Bürgerschaft und ins Volk, was u.a. darauf zurückzuführen ist, dass die Oper dieser Zeit sich von der Renaissance und der Antike löst. Die Komponisten schaffen nun vermehrt die sogenannten accidenti verissimi, d.h. wahrscheinliche Zwischenfälle, mit denen die fatti storici, die geschichtlichen Hergänge, verdeckt werden. Schnell werden dann Intrige und Liebelei zu den unerlässlichen Federn jedes dramatischen Getriebes. 1637 kommt es schließlich zur Eröffnung eines öffentlichen Opernhauses, des Theaters von San Cassiano. Im 17. Jahrhundert entwickelt sich auch die „venezianische Oper“ und obwohl die antiken Stoffe zu dieser Zeit nach wie vor tonangebend sind, erhalten die Solisten eine wichtigere Stellung. Die Blütezeit des dramatischen Sologesanges, d.h. „der Kunst, mit den Mitteln einer einzelnen menschlichen Stimme einem reichen Seelenleben und allen den Leidenschaften und Regungen, aus denen es sich zusammensetzt, Ausdruck zu geben“10, beginnt. In den Opern dieser Zeit finden sich zahlreiche Darstellungen ungebrochener Lebenskraft, hauptsächlich in den Liebesszenen oder auch in den Geisterszenen und den Szenen von religiösem Charakter. Bis zum Ausklang des 17. Jahrhunderts erringt Venedig eine Spitzenstellung im Opernwesen und es entsteht eine erste wirkliche Operntradition mit einem weiten europäischen Publikum. Hauptzweck der barocken Oper ist die Verherrlichung des Fürsten, sie soll den Glanz des Herrschers widerspiegeln. Im 18. Jahrhundert ist die Oper zwar noch immer ein fester Bestandteil des höfisch-aristokratischen Lebensstils, sie wird jedoch zu keiner Zeit ausschließlich an den Höfen gepflegt und ist stets auch als Volksoper vorhanden. Mitte des 18. Jahrhunderts geht die fürstliche Barockoper überall zu Ende und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beginnt dann C.W. Glucks Reform, in welcher der Text, die dramatische Idee, die Grundlage darstellt.
2.1. Die italienische Oper des 19. Jahrhunderts: Der Belcanto
Im 19. Jahrhundert besitzt die Oper zwar nicht die Bedeutsamkeit, die sie im 17. und 18. Jahrhundert besessen hat, sie hat aber dennoch im Kunstleben eine ansehnliche Stellung. Zu dieser Zeit ist sie eine örtlich beschränkte Angelegenheit und sie wandelt sich vom feudalen Festspiel zur Unterhaltungsform für ein überwiegend bürgerliches Publikum, der Stagionebetrieb schiebt sich an die Stelle des Hofopernspektakels. So wird die Oper in der Hand der privaten - meist unter dem Einfluss der „allmächtigen“ SängerInnen stehenden - Impresarios zu einem kommerzialisierten Bestandteil der damaligen Unterhaltungsindustrie. Dem Impresario unterstehen gewöhnlich ein einheimischer Komponist und ein einheimischer Librettist, die für eine - oft sehr kleine - Anzahlung Opern für ihn schaffen. Da in Italien das gesprochene Drama weit weniger populär ist als die Oper und weil das Publikum zwar unersättlich in Bezug auf diese, jedoch konservativ orientiert ist, muss der Impresario versuchen, es mit einer konstanten Auflage von neuen Opern zufrieden zu stellen.
Die Komponisten dieser Zeit streben verstärkt nach einem musikalisch-dramatischen Höhepunkt, was dazu führt, dass die Finalszenen größeres Gewicht erhalten. Damit bricht in Italien eine Blütezeit der Oper an, die mit den Komponisten Gioachino Rossini (1792-1868), Gaetano Donizetti (1797- 1848), Vincenzo Bellini (1801-1845), Saverio Mercadante (1795-1870), Giovanni Pacini (1796-1876) und Giuseppe Verdi (1813-1901) die Epoche des Belcanto genannt wird.
Belcanto („schöner Gesang“) bezeichnet eine italienische Gesangstechnik, bei welcher der „schöne Klang der Stimme“ im Vergleich zur „dramatischen Ausgestaltung“ in den Vordergrund rückt. Diese Gesangstechnik wird für die Entwicklung der Form der Oper in Italien tonangebend. Grundlage der Epoche des Belcanto ist die „Freude am Klang der schönen Stimme, an der gesungenen Melodie“ und so ist es nicht verwunderlich, dass interessante Sängerpersönlichkeiten und deren „schöne Stimmen“ das Operngeschehen dieser Zeit dominieren.11 In dieser Zeit triumphiert der „sinnliche Wohllaut“ über das Drama. Der Belcanto will zu bloßem Genuss überreden, er will verschönern, wodurch seine gesellschaftliche Funktion deutlich wird: Die Oper des Belcanto ist eine Abkehr von der Wirklichkeit. Die Leidenschaft rückt in den Vordergrund und das Publikum lernt, vorwärts drängende göttergleiche Stimmen zu erwarten.
Die Wahl eines Opernsujets wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst. So müssen die jeweiligen Werke auf der einen Seite den Ansprüchen des Impresarios, der Operndirektoren und insbesondere der Sänger genügen und gleichzeitig muss den traditionellen, konventionellen Erwartungen des Publikums Rechnung getragen werden. Hinzu kommt, dass eine gewisse Professionalität der Librettisten vorausgesetzt wird, denn diese müssen nicht nur die oben genannten Gruppen zufriedenstellen, sondern sie müssen auch dem Komponisten einen Text vorlegen, der diesen zur Umsetzung in Musik inspiriert. Die italienische Oper des Belcanto zeigt - im Gegensatz zur deutschen Oper - kein großes Interesse an weltanschaulichen Problemen oder dämonisch-problematischen Charakteren. In der italienischen Oper des frühen 19. Jahrhunderts steht der Mensch im Mittelpunkt, sie stellt bevorzugt den Aufeinanderprall der Charaktere dar.
Während bis Ende des 18. Jahrhunderts fast ausschließlich die Antike als Stoffquelle für die Oper gedient hat, kommt es im Laufe des 19. Jahrhunderts bevorzugt zu einer Adaption von Stoffen der neueren Literatur. Einige Librettisten bzw. Komponisten schreiben ihre Texte zwar selbst, indem sie biblische Themen verarbeiten (Nabucco) und auf historische Ereignisse (Un ballo in Maschera, Anna Bolena) sowie Märchenmotive (La Cenerentola) zurückgreifen, die meisten Libretti entstehen jedoch nach einer literarischen Vorlage. Es gibt mehrere Gründe für diese Hinwendung zur Literatur: Sie bietet den Komponisten beispielsweise künstlerisch und menschlich bedeutende Stoffe und man ist zu dieser Zeit überzeugt, dass der Komponist sich nur an großen Stoffen wirklich bewähren könne. Laut W. Marggraf hat diese Hinwendung zum „literarischen Libretto“ entscheidend zum Fortschritt der italienischen Opernkunst im 19. Jahrhundert beigetragen.12 Die Literaturopern des Belcanto greifen bevorzugt auf französische Dramatiker, wie Gabrielle Soumet und Louis Belmontet (Norma), Pierre-Augustin C. de Beaumarchais (Il Barbiere di Seviglia), Victor Hugo (Rigoletto) oder Alexandre Dumas Sohn (La Traviata) zurück. Als weitere Vorlagen dienen die Werke spanischer Dramatiker wie A.G. Gutierrez (Il Trovatore, Simone Boccanegra) und A. Perez de Saavedra (La forza del Destino), die Romane von Sir Walter Scott (Lucia di Lammermoor) und William Shakespeare (Macbeth). Auch die Dramen Friedrich Schillers dienen vermehrt als Vorlage für die Opern des Belcanto.
Folglich stellt sich die Frage, was alle diese Werke gemeinsam haben und warum gerade sie sich für die Umarbeitung in eine Oper eignen. Welche Verbindungen bestehen zwischen den Kunstformen Drama und Oper? Was macht insbesondere die Dramen so interessant für die Komponisten bzw. Librettisten?
3. Drama und Oper im Vergleich
Sowohl das Schauspiel als auch die Oper haben ihren Ursprung in der Dramatisierung des Stoffes, der dem Werk als Vorlage dient. Folglich haben diese beiden Kunstformen eine gemeinsame Ausgangsbasis: die theatralische Form. Wie das Schauspiel, folgt auch die Oper dem Gesetz der Bühnenwirksamkeit. Obwohl dieses beim gesprochenen Drama in deutlich engerem Zusammenhang mit den literarischen Qualitäten des Textes steht, scheinen zahlreiche Komponisten zu denken, dass ein dramatisches Meisterwerk der Weltliteratur die Garantie für eine erfolgreiche Oper darstellt, was jedoch ein fundamentaler Irrtum ist.13
In der vorliegenden Arbeit sollen Drama und Oper nicht miteinander gemessen, sondern bewusst unterschieden werden. Man darf die Oper keinesfalls mit dem Drama gleichsetzen, es wäre falsch, die Kategorien des gesprochenen Theaters auf die Oper zu übertragen. So besitzt die Oper beispielsweise zahlreiche technische Möglichkeiten, welche dem Schauspiel nicht gegeben sind. Dem mehr oder weniger realistischen Ausdrucksstil des Sprechdramas steht in der Oper eine erhöhte sprachliche Darstellungsweise entgegen, da hier Tempo, Rhythmus und Tonhöhenlage von Melodie und Gesang das musikalische Zentrum bilden.14 Die folgende Untersuchung soll u.a. die Eigengesetzlichkeit der Dramaturgie der Oper im Vergleich zum Drama aufzeigen.
3.1. Die Stimme: gesprochenes und gesungenes Wort (Gedankenebene und Emotionsebene)
Sowohl die Texte der Dramen als auch die der Oper werden mithilfe der menschlichen Stimme auf einer Bühne reproduziert. Sprache ist stets ein Kommunikationsmittel, sie ist Informationsträger und kann sowohl äußerst subjektive als auch höchst sachliche Inhalte übermitteln.15
Im Drama gelingt es den Dichtern, mithilfe des gesprochenen Wortes dem auf der Bühne Gezeigten neue Inhalte hinzuzufügen. In anderen Worten: Zusätzlich zu dem unmittelbar anschaulichen Spiel kann ein geistiger Raum geschaffen werden. Manche Szenen müssen nicht auf der Bühne vorgeführt werden, denn sie erhalten ihre Relevanz durch das, was die Sprache der Szene hinzufügt. So ist es dem Drama möglich, anhand der evokativen Fähigkeiten des gesprochenen Wortes, Personen in das Geschehen zu integrieren, welche nie wirklich sichtbar werden.16 Ein gesprochenes Drama kann beispielsweise eine militärische Auseinandersetzung behandeln, ohne dass ein einziger Soldat auf der Bühne sichtbar wird. Das Geschehen kann von einem hohen Standpunkt aus beobachtet werden und wird aus den Reaktionen der betrachtenden Figur deutlich.
Zudem setzt das Drama meist sofort mit dem eine Lösung fordernden Problem ein, die Vorgeschichte wird nicht gezeigt und die Motive und Voraussetzungen des Problems werden im Nachhinein sprachlich exponiert. Das Bemühen des Dichters gilt der Gestaltung dessen, was nicht auf der Bühne gezeigt wird, die geistig-gedankliche, außertheatralische Welt bietet ihm seine Anregung und dort sucht er seinen Gegenstand. So dienen beispielsweise die Monologe und Zwiegespräche hauptsächlich dazu, das Denken der Personen zu fixieren. Der Schauspieler soll dann aus diesem Denken die Reflexionen eines fühlenden Menschen machen, indem er der Figur Stimmhaftigkeit und emotionale Erfülltheit verleiht.17
Im Drama gibt es folglich zwei Ereignisebenen, eine sichtbare, die durch eine handelnde Person verkörpert wird und eine unsichtbare, die durch einen Bericht mitgeteilt wird. Diese beiden Ereignisebenen stehen oft in einer kunstvoll ausbalancierten Spannung zueinander.
Schon seit jeher steht Musik im Dienst der Bühnendarstellung und die Oper bietet die reichste Verwendung von Musik im Drama. Die Kritik an der Oper, diese Darstellungsform sei unsinnig, weil im gewöhnlichen Leben gesprochen und nicht gesungen werde, wird allein schon dadurch entkräftet, dass die Oper mit dem gewöhnlichen Leben überhaupt nichts zu tun hat, denn sie befasst sich ausschließlich mit Zuständen und Ereignissen, welche das Seelenleben betreffen. So wird die Musik zur natürlichen Sprache des Menschen.18
Da die Verständlichkeit des gesungenen Textes nicht immer gewährleistet ist, kann sich die Oper in viel geringerem Maße auf das Ausdrucksmittel der Sprache verlassen als das gesprochene Drama. Folglich müssen die wichtigsten Elemente des Geschehens auf der Bühne sichtbar werden. Situationen und Ereignisse, die sich außerhalb des unmittelbaren Bühnengeschehens abspielen, sind auf den Bericht oder die Erzählung, d.h. das Wort, angewiesen und deswegen in der Oper nicht erwünscht. Im Gegensatz zum gesprochenen Wort des Dramas greift der gesungene Ton, der sich in der Oper als Melodie entfaltet, in seinem Gegenstand nicht über das optisch Gegenwärtige hinaus. Während das Drama die Vorgeschichte meist im Nachhinein sprachlich herausstellt, wird in der Oper auch die Vorgeschichte zu einem Teil des anschaulichen Bühnenspiels gemacht: Die Ereignisse, die einem Konflikt zugrunde liegen, werden nicht berichtet, sondern die Oper kehrt im Ablauf des Geschehens zu diesen Ereignissen zurück und ermöglicht so deren direkte theatralische Darstellung. Der gesungene Ton kann nur das darstellen, was als sichtbares Theaterbild konkretisiert ist. Er hat keine evokativen Fähigkeiten, folglich ist es in der Oper nicht möglich, ein auf der Bühne versammeltes Ensemble durch eine fiktive Person zu erweitern oder eine dargestellte Situation durch theatralisch nicht gegenwärtige Ereignisse auszudehnen. Die Oper ist auf augen- und ohrenfällige Unmittelbarkeit angewiesen. Die Vorgeschichte - da für das spontane szenische Verständnis irrelevant - wird meist rezitativisch-beiläufig abgetan, lediglich in einigen wenigen Fällen wird sie unmittelbar aufgesucht, d.h. aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholt und auf der Bühne präsentiert. Zudem dürfen die Fäden der Handlung in der Oper nicht zu verwickelt sein, da sie stets szenisch deutlich werden müssen, d.h. jeder Auftritt muss mit dem, was er schaubar macht, wirken. Dennoch sollte man auch bei der Oper die Bedeutung eines sorgfältig aufgebauten Handlungsgerüsts nicht unterschätzen, denn auch in dieser Kunstform muss jeder Auftritt auf irgendeine vernünftige Weise mit dem Ganzen zusammenhängen.
Da sowohl die Deklamation als auch der Gesang dem Expressionsdrang von Emotionen entspringen, kann das gesungene Wort als Steigerung, als expressive Weiterführung des gesprochenen Wortes verstanden werden. Der Gesang, der gesamte musikalische Apparat der Oper, besitzt durch seine besondere Fähigkeit, Affekte, subtilste Emotionen und Leidenschaft zu gestalten, eine selbstständige Ausdruckskompetenz. Die Opernmusik verwirklicht Emotionen im Zusammenwirken mit theaterhaften Gebärden, es geht ihr hauptsächlich darum, die Gefühlswelt der dargestellten Personen auszudrücken. In der musikalischen Realisierung sind Konflikte stets die Auswirkung menschlicher Gefühle, Handlung wird als sichtbare Aktion gestaltet. Hier sollen auch die gedanklichen, inneren Konflikte in Betracht gezogen werden, die Aussage bleibt nicht auf die zwischenmenschlichen Konflikte beschränkt.19 Die Opernkomponisten interessieren sich für die Affekte und Leidenschaften, die hinter bestimmten Überlegungen liegen. Sie finden ihren Gegenstand und ihre Inspiration in der theatralischen Darbietung, in den szenischen Bewegungen und mimischen Gebärden.
Während die Oper also größtenteils Erfahrungen darstellt und sich auf das unmittelbare Erleben konzentriert, findet das Drama seinen Gegenstand in den zwischenmenschlichen Problemen, die nur anhand einer rationalen Auseinandersetzung gelöst werden können. Das Drama befasst sich mit dem, was der sichtbaren Szene anhand des Wortes und dessen intellektuellen und evokativen Qualitäten hinzugefügt wird. Die szenischen Bestandteile gewinnen vom Sinngehalt des Gesagten her eine neue, über ihre theatralische Existenz hinausweisende Bedeutung.20 Da die peripheren Begebenheiten nicht dargestellt, sondern mithilfe der Sprache bewusst gemacht werden, ist das Drama stets darum bemüht, den Zeitraum des eigentlich Dargestellten zu komprimieren.
Die Musik hingegen kennt ein völlig anderes Zeitbewusstsein als die Sprache. Zum einen kann ein Sänger nicht nach Belieben Pausen einlegen, um beispielsweise eine bedeutsame Geste nachwirken zu lassen oder um die Spannung einer Situation zu steigern, der Verlauf der Aufführung ist in viel stärkerem Maße festgelegt. Zum anderen versucht die Oper stets, die für den Ablauf wichtigen Ereignisse unmittelbar szenisch darzustellen, weswegen sie nicht komprimiert, sondern ausbreitet.
Wie der oben angeführte Vergleich gezeigt hat, muss das Opernlibretto noch weit mehr auf Schaubarkeit angelegt sein, als das Schauspiel. Das Drama kann zur Not ohne die Bühne existieren, da sein literarischer Gegenstand sich auf einer außertheatralischen Ebene vollzieht. Außerdem besitzt der dramatische Dichter immer noch die Möglichkeit des Lesedramas. Die Oper hingegen drückt ein szenisches Spiel musikalisch aus und hat nur als realisiertes Bühnenwerk Relevanz, sie steht also in einer starken Abhängigkeit vom Theater.
Hinzu kommt noch, dass die Bühne des Dramas zum Abbild einer einmaligen, realen Welt wird, da hinter den dargestellten Ereignissen bestimmte Hintergründe und soziale Verhältnisse imaginativ spürbar werden. Das Drama greift über die Bühne hinaus und da es darauf bedacht ist, eine „realistische“ Abbildung der „Wirklichkeit“ zu schaffen, muss es stets zu weiteren Informationen und Entscheidungen drängen, es kann den jeweils erreichten Informationsstand nicht festhalten.21 Die Oper hingegen ist allein schon dadurch, dass alle Darsteller singen, keine realistische Abbildung einer historischen Wirklichkeit. Die Bühne und die Kulisse dieser Kunstform bleiben jederzeit eine künstliche Szenerie, die ihre Nicht-Wirklichkeit nie verleugnet, sie sind stets nur das, was sie direkt und sichtbar verkörpern. So hebt Gerhartz hervor:
Nicht in einer über ihre Bühnenexistenz hinausweisenden Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit suchen die Figuren und Situationen der Oper ihre Legitimation, sondern allein in ihrer direkten szenisch-musikalischen Eindrucks- und Überzeugungskraft. Zwar bemüht sich die Oper innerhalb ihrer irrealen und grotesken Bühnenwelt durchaus um eine Organisation, in der alles ‚stimmt‘ und das Gezeigte zum Gezeigten passt. Ihre ‚Logik‘ bleibt jedoch immer theaterimmanent; die Sphäre und die Maßstäbe des Wirklichen tangiert sie dagegen nie.22
Folglich erlaubt die Oper - im Gegensatz zum Schauspiel - einen relativ hohen Grad an Irrealität des Geschehens. Dies lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass in der Oper keine scharfe Trennung von Wort und Tat besteht, sondern die Tat sich oft schon im musikalischen Ausdruck der Stimme bzw. des Orchesters erfüllt.23 Trotz dieser Unterschiede ist die von der Oper ausgehende Verzauberungskraft keineswegs kleiner als die des Dramas, die Illusion, in welche der Zuschauer einer Oper versetzt wird, ist eben eine andere, da die Fiktion in dieser Kunstform naiver bzw. theatralischer ist als im Schauspiel.
3.2. Bühnenfiguren
Bei der Zeichnung einer Bühnenfigur muss der Autor mit einigen wenigen knappen Andeutungen einen Umriss schaffen, welcher erst durch die Maske und Gebärde des Darstellers lebendig wird. Folglich sollen und können keine nebensächlichen Details dargestellt werden, es werden ausschließlich Züge hervorgehoben, welche für die Motive der betreffenden Person und folglich für den Fortgang der Handlung bedeutend sind. Alle Züge, durch die der jeweilige Charakter dramatisch diskreditiert werden würde, fallen weg oder müssen umgedeutet werden.24 Die Gestalt des Dramas bleibt zudem keine irreale Bühnenfigur, sondern wird zum wirklichen Menschen, indem sie rational reflektiert und infolge dieser rationalen Reflexion bewusst handelt. Das Drama muss stets einen Kampf - ernst oder heiter - vorführen, denn das Wesen dieser Kunstform beruht auf Gegensätzlichkeit. So treffen auf der Schauspielbühne möglichst verschiedenartige Persönlichkeiten aufeinander, deren Bestrebungen jedoch auf ein gleiches Ziel gerichtet ist. Diese einzelnen Persönlichkeiten teilen sich stets in zwei Gruppen auf, die gegeneinander streben und so das eigentliche dramatische Leben beherrschen. Hinzu kommt, dass es auf der Schauspielbühne weder absolut perfekte noch durchweg verdorbene Figuren gibt, denn der Reiz der einzelnen Persönlichkeiten entsteht gerade aus der Mischung von Gut und Böse in jedem Menschen. Von extremer Wichtigkeit für die Bühne sind die Sympathie oder die Antipathie, die das Publikum einem Charakter gegenüber empfindet. Antipathie wird dadurch hervorgerufen, dass das Wesen der Figur dem des Betrachters entgegengesetzt ist und Sympathie empfindet das Publikum für die Figuren, in welchen es ein Stück von sich selbst entdeckt. Gleichgültige Persönlichkeiten, die beim Publikum weder Hass noch Liebe hervorrufen, sind für die Bühne unbrauchbar. Folglich muss selbst die kleinste Rolle irgendwie Sympathie oder Antipathie wecken. Hinzu kommt, dass im Drama jeder Charakter und jede Handlungsweise motiviert werden muss.25 So gerät ein sympathischer Mensch beispielsweise nie zufällig in Unheil, sondern durch seine guten Eigenschaften und auch die größte Schurkerei braucht eine ausreichende und vielleicht sogar dem Publikum nicht ganz unsympathische Motivierung.
In der Oper hingegen werden die Figuren nicht in erster Linie zu einem dramatischen Gegenüber in Beziehung gesetzt, was sich dadurch erklären lässt, dass - wie bereits erwähnt - der melodische Ausdruck das bevorzugte Mittel der Darbietung dieser Kunstform darstellt. Aus diesem Grund werden die Personen hier mit ihren jeweiligen persönlichen Affekten vorgestellt. Diese Affekte werden - oft bis ins Extrem - ausgebaut und so gibt es beispielsweise sehr wohl durchweg bösartige Charaktere. Wie dem Drama liegt auch der Oper nichts daran, gleichgültige Personen auf der Bühne darzustellen. Da die Figuren der Oper erst durch ihre Leidenschaften an Farbe und Schattierungen gewinnen, sind passive, emotionslose Charaktere hier fast nicht darstellbar. Zudem ist der in der Oper dargestellte Mensch - im Gegensatz zum Drama - „irreal“ und diese Irrealität entsteht u.a. dadurch, dass die Stimme der Handlungsfaktor ist. Die Opernfigur bewegt sich singend, sie handelt singend und sie spricht singend, wodurch sie der Wirklichkeit entzogen wird.
3.3. Darstellungsformen: Dialog und Duett bzw. Ensembleszenen
Betrachtet man die unterschiedlichen Darbietungsformen von Drama und Oper, so wird die oben angeführte Divergenz deutlich gespiegelt: Im Drama ist der Dialog das einzige Medium der zwischenmenschlichen Welt. Da das Schauspiel vorwiegend aus Auseinandersetzungen sowie Bewertungen von Personen und Handlungen besteht, geht es fast vollständig im Zwiegespräch auf. Ziel des Dialogs ist stets eine Entscheidung, denn die Dialektik einer Dialogsituation verlangt nach Entscheidung. Im Drama werden anhand des Dialogs die einzelnen Perspektiven eines Konflikts, auf Rollen verteilt, dargestellt. So kann der Rezipient die Entscheidung mit vollziehen, wie sie durch das Rollenspiel vorbereitet worden ist.26
Bei den wenigen Dialogen, die man beim Betrachten der Libretti auf den ersten Blick zu erkennen meint, handelt es sich bei näherer Betrachtung meist lediglich um eine einfache Darstellung nebeneinanderstehender Gefühle, denn es ist nicht ergiebig, eine sachliche Auseinandersetzung oder das Suchen nach einer gerechten Beurteilung der Geschehnisse auf der Opernbühne darzustellen. Das Duett ist zweifelsohne die Form, anhand welcher der zwischenmenschliche Bezug in der Oper am deutlichsten dargestellt werden kann. An dieser Stelle muss jedoch hervorgehoben werden, dass es nicht genügt, dass zwei Sänger gleichzeitig auf der Bühne stehen und miteinander kommunizieren, um von einem Duett sprechen zu können. Bei einem Duett muss die eine Stimme die von der anderen vorgetragene Melodie wiederholen, bzw. beide Stimmen müssen sich zu einem Zwiegesang vereinigen oder zumindest ein zweistimmiges Gesangsstück ausführen. Oft kann sogar beides der Fall sein. Ein Duett ist zudem nur dann möglich, wenn es zu einer Übereinstimmung der Partner kommt, wie beispielsweise in der Liebe und zum Teil auch in der Freundschaft.
Ein besonderes Privileg der Oper ist außerdem die Tatsache, dass sich auf ihrer Bühne zwei oder mehrere Personen gleichzeitig äußern können, ohne dass ein unverständliches Durcheinander entsteht. So hebt Link hervor:
Hier [in einer Ensembleszene] findet der entscheidende Übergang vom Schauspiel zur Oper statt: Die Melodieführung der einzelnen Stimmen erlaubt es, ständig andere Teile des Textes herauszuarbeiten und wieder in der Allgemeinheit zu integrieren, wobei der Rezipient an jeder Stelle in der
Lage ist, den Text jeder Figur zu identifizieren. Voraussetzung allerdings ist die Redundanz, die durch die Wiederholung erreicht wird. Dadurch wird die dramaturgisch unnötige Wiederholung zu einem Stilmittel der Sprache, das eine mehrschichtige Rezeption gewährleistet.27
Folglich hat die Oper im Vergleich zum gesprochenen Drama einen bedeutenden Vorteil: Sie kann simultan darstellen, was im Drama nacheinander stehen muss.
3.4. Fazit
Obwohl es einige Elemente gibt, in denen sich Drama und Oper mehr oder weniger äußerlich ähneln oder gar berühren, hat der oben dargestellte Vergleich gezeigt, dass die beiden Kunstformen in zahlreichen Formen und Gegenständen entscheidend voneinander abweichen. So gibt es sowohl einen qualitativen als auch einen quantitativen sprachlichen Unterschied zwischen Schauspiel und Oper. Das Drama ist ein in sich abgeschlossenes, abgerundetes Kunstwerk, es bedarf keiner Steigerung seiner Wirkungskraft, um die dichterische Absicht zur Geltung zu bringen. Es bemüht sich darum, die Einzelpersönlichkeit und ihre Besonderheiten hervorzuheben und die äußeren sichtbaren Vorgänge, die durch innere Notwendigkeit bedingt werden, darzustellen. Folglich bleibt hier kein Platz mehr für Musik.28 Die szenisch-musikalische Welt der Oper setzt dort an, wo der eigentlich literarische Bereich des Dramas endet. Während das Drama sich nur in der Sphäre des zwischenmenschlichen Bezugs realisiert, findet die Oper einen ihren Wünschen und Fähigkeiten adäquaten Gegenstand erst in dem Moment, in dem sie diese der sprachlichen Auseinandersetzung bedürftige Sphäre verlässt.29
Es steht außer Zweifel, dass sich lange Expositionen und kompliziertere Bedeutungsebenen, wie zum Beispiel philosophische Probleme, weit weniger zur Vertonung eignen, als - seelische oder körperliche - Handlung bzw. Bewegung. Das Medium Oper drückt das Einfache, Gefühlsmäßige besser aus als beispielsweise intellektuelle Verfeinerung. Das Gedankendrama eignet sich nicht für die Opernbühne, da der Gesang nicht als vornehmlich rationale Tätigkeit betrachtet werden kann. So hat der französische Dichter René Char beispielsweise einmal bemerkt: „Aucun oiseau n’a le coeur de chanter dans un buisson de questions.“30
4. Das Libretto
Mit dem italienischen Diminutiv libretto (= das Büchlein, ital. libro = Buch) wird das Textbuch für Oratorien, Singspiele, Operetten und Opern bezeichnet. Der Begriff bezieht sich zunächst auf das Format des Druckwerks, erst ab dem 18. Jahrhundert werden allgemein Operntexte damit benannt. Zu dieser Zeit enthält das Libretto nicht nur den Text der Oper, sondern auch eine kurze Inhaltsangabe und ein Personenverzeichnis mit Besetzung. Es wird am Abend der jeweiligen Opernaufführung verkauft und soll den Zuschauern helfen, den oft komplizierten Handlungen der jeweiligen Oper zu folgen.
Das Verfassen von Libretti erfordert im 19. Jahrhundert spezifische musiktheatralische Kenntnisse sowie eine innige Vertrautheit mit dem starren Regelsystem der Oper. Dies führt dazu, dass die bedeutenderen Librettisten dieser Zeit vornehmlich aus einem Personenkreis stammen, der ohnehin mit dem Theaterbetrieb verbunden ist und bereits über die praktischen Erfahrungen verfügt. Der Textdichter von Verdis I masnadieri, Andrea Maffei, der sich neben der Lyrik vorwiegend einer Übersetzertätigkeit widmet und sich mit seinen Übertragungen der dramatischen Werke Schillers hohe Anerkennung verschafft, bildet eher eine Ausnahme, denn die Literaten des 19. Jahrhunderts begeben sich - wenn sie bereits in anderen Bereichen zu Erfolg gekommen sind - nur selten auf das Terrain der Librettistik, diese Gattung rangiert im Ansehen nur unter „ poesia minore “.31
Die Librettisten dieser Zeit sind an einem Theater angestellt und müssen eine festgelegte Zahl an Textbüchern verfassen, um ein Einkommen zu erhalten, zusätzlich dazu können sie aber auch freie Aufträge von anderen Opernhäusern oder Komponisten annehmen. Die soziale Stellung des Librettisten im 19. Jahrhundert entspricht der Ansicht, dass er keine eigenen intellektuellen Mittel benötige, um seine nicht sonderlich brauchbare Handwerksarbeit auszuüben. In anderen Worten: Ein italienischer Librettist kann kaum von der Operndichtung leben und geht meistens noch einem anderen Beruf nach. Einige verzichten sogar auf ihre Tätigkeit als Librettist, sobald sich die Gelegenheit bietet.
4.1. Forschungsstand und Kritik
Über lange Zeit hinweg erfolgt die Beschäftigung mit dem Text der Oper vorwiegend aus anekdotisch-biographischem Interesse, weder Musik- noch Literaturwissenschaftler haben sich bisher wirklich mit dem Gegenstand auseinandergesetzt. Es wird zwar viel über die Oper geschrieben, jedoch befassen sich nur wenige Studien mit den Operntexten. Zudem erhält das Verständnis des Librettos dadurch, dass die Diskussion der Oper bisher hauptsächlich von Musikwissenschaftler geführt worden ist, eine gewisse Einseitigkeit. So macht Peter Hacks in seinem Versuchüber das Libretto den Manko der Librettoforschung deutlich, indem er auf die unterentwickelte theoretische Auffassung des Librettos als Literatur und auch auf die Rückständigkeit der Opernkritik hinweist: „Obgleich ihr [der Oper] ästhetisches Gefüge von genau gleichem Schwierigkeitsgrad ist wie das des Dramas, steht seine begriffliche und praktische Erforschung weit hinter der des Dramas zurück. Die Opernwelt ist in erschreckendem Maße eine Welt von gestern. Hieraus ist der Eindruck entstanden, als sei die Oper eine verwirrende oder gar missgeborene Mischform. Aber das ist sie eben nur, solange man ihr gestattet, sich mit ihren unzulänglichen Geistesgaben selbst zu begreifen.“32
Da Libretti und Schauspiele so manche gemeinsame Strukturmerkmale in ihrem formalen Aufbau aufweisen, liegt es nahe anzunehmen, dass sie literaturwissenschaftlich gleich interpretiert werden können. In der bisherigen Forschung wird das Libretto meist denselben dramatischen und dramaturgischen Kriterien unterworfen wie das Sprechdrama. Dies lässt sich durch die Tatsache erklären, dass die primäre Informationsquelle der Literaturwissenschaft stets der Text selbst ist, sie orientiert sich an der textlichen Grundlage eines Dramas, Sprechdramen werden als Lesedramen behandelt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass weder die Kunstform Oper selbst, noch die Gattung Libretto als Grundlage der Oper in den Augen der Literaturwissenschaftler günstig abschneiden. Diese empfinden die Texte oft als ausgesprochen unbefriedigend und heben hervor, dass sich in der Oper „Zufälle und sentimentale Effekte“ häufen würden. Ihrer Ansicht nach wirkt der Operntext kaum qualitätsbestimmend auf die Oper selbst, er wird lediglich als „Grundlage der Komposition“ verstanden.33 Folglich ist es nicht verwunderlich, dass man in der Forschungsliteratur immer wieder liest, die Libretti seien literarisch-ästhetisch unbedeutend. Dieses Urteil setzt jedoch den Vergleich mit hochstilisierten Literaturwerken voraus. Das Libretto sollte aber unbedingt als „dramatische Sonderform“ untersucht werden und solche Spezialuntersuchungen existieren in der Literaturwissenschaft kaum.
Es ist zudem ein Fehler, dramatische Werke ausschließlich als Lesedramen zu sehen. Die Libretti beispielsweise sind Bühnenwerke, das schriftlich Fixierte allein reicht nicht aus, um ihren Inhalt zu interpretieren, sie müssen in dem größeren Zusammenhang des theatralischen Ganzen bewertet werden. Die Integration des Librettos in die Partitur führt automatisch dazu, dass der Text dem Anspruch eines literarischen Kunstwerkes kaum gerecht werden kann, die Kriterien einer von der Literaturwissenschaft vorgeformten Textästhetik können nicht unverändert auf das Opernlibretto übertragen werden.
Im Untersuchungsbereich des Theaters sollte die Oper als Grenzform betrachtet werden, denn der nicht-textliche Teil der Oper, die Musik, darf für eine literaturwissenschaftliche Analyse des Librettos nicht ausgeklammert werden. Nicht die Schauspieldramaturgie soll untersucht werden, sondern man muss sich auf die Operndramaturgie konzentrieren. Nur wenn das Libretto operndramaturgisch analysiert wird, kann es zu einem selbstständigen Forschungsobjekt der Literaturwissenschaft werden. Nur anhand dieser Methode kann herausgefunden werden, ob das Libretto ein „wichtiges, die Musik auslösendes Mittel zum Zweck des Dramas ist“ oder ob es lediglich ein „belangloses Nur- Mittel zum Zweck der - gegebenenfalls bedeutenden - Komponisten“ darstellt.34 Das Libretto darf nicht im Hinblick auf das Originaldrama beurteilt werden, es muss stets ein Bezug zu der Musik hergestellt werden, welcher es dient. Folglich ist die Oper anderen dramaturgischen Gesetzen unterworfen als das Drama. Das Libretto besteht in keiner Hinsicht für sich selbst, sondern es besitzt eine zugeordnete und deswegen unselbstständige Funktion in einer komplexen Kunstform. Man kann dem Text einer Oper demzufolge nur gerecht werden, wenn man seine „dienende“ Funktion nicht außer Acht lässt, der Text muss als funktionales Gebilde verstanden werden.
Die Behauptung, eine geniale Musik vermöge jedes Libretto zu tragen, während eine schwache ohnehin nicht lebensfähig sei und auch nicht durch das beste Buch gerettet werden könne, ist lediglich eine Halbwahrheit, auf die man schnell schließen kann, wenn man sich auf die alte Binsenweisheit stützt, die besagt, dass in der Oper Erfolg und Wirkung allein durch die Musik und nicht durch den Text beeinflusst würden.35 Auch wenn die Opernpartituren den unentbehrlichsten Teil für eine Geschichte der Oper bilden, sind die Libretti nicht minder wichtig. Zwar kann eine geniale Musik möglicherweise über ein schlechtes Libretto hinwegtäuschen, der Text ist dennoch die ausschlaggebende Grundlage der Oper. Folglich impliziert die Geschichte der Oper notwendigerweise auch die Geschichte des Librettos.
Wie bereits oben erwähnt handelt es sich beim Libretto um eine dienende Form, über den Wert des Librettos entscheidet seine Fähigkeit, die Musik zur Entfaltung ihrer Ausdrucksmöglichkeiten anzuregen, der Text soll der Musik die Aussage des Wesentlichen überlassen. So werden dem Librettisten von vorneherein gewisse Grenzen gesetzt, da die Verständlichkeit des Operntextes beispielsweise nicht vorausgesetzt werden kann. Ein Librettist ist nie nur ein Wortschmied, sondern er ist gleichzeitig auch Bühnendichter, Schöpfer von Worten, Versen, Situationen, Szenen und Charakteren. Hinzu kommt, dass der Librettist sich - durch seine professionelle Ausbildung als Dichter und/oder Dramatiker - ein Werk oft besser als Ganzes bildlich vorstellen kann als der
Komponist. Dieses Ganze beinhaltet nicht nur die Handlung, sondern auch, wie diese Handlung am wirksamsten, sowohl organisatorisch als auch szenisch, auf der Bühne dargestellt werden kann. Demzufolge sind auch die wesentlichen Aufgaben des Librettisten weitaus mehr szenischer als literarischer Natur. Der Opernkomponist versucht ein Bühnengeschehen, das sich auf seine theatralische Erscheinung stützt, musikalisch auszudrücken und das Entwerfen eines solchen Bühnengeschehens ist das wichtigste Ziel des Textautors. Bei der Bewertung der Qualitäten eines Librettos muss man sich folglich bewusst sein, dass der Librettist nicht länger zuerst ein Dichter ist, der nach der Musikalität seiner Zeilen und dem Geschick seiner Rhythmen, Reime und Vergleiche beurteilt wird. Betrachtet man ihn lediglich als Dichter, schmälert man seine Funktion bei der Erschaffung einer Oper, da er in den meisten Fällen die ursprüngliche Antriebskraft für die Komposition liefert und den dramatischen Knoten erschafft, um welchen das Werk aufgebaut wird.36
4.2. Die Beziehung zwischen Wort und Musik
Die Beziehung zwischen Wort und Musik und die Veränderungen ihrer jeweiligen Wichtigkeit ist über die Jahre häufig diskutiert worden. Es ist nicht überraschend, dass das Gewicht von Wort und Ton in der Oper seit 1600 in direkter Verbindung zu der Entwicklung der Musik steht. Da die Oper aus dem Wort heraus entstanden ist, haben die frühen Musikwissenschaftler auf dem Vorrang des Wortes gegenüber seiner musikalischen Begleitung bestanden. Die Musik sollte zunächst allein der Ausdeutung des Textes dienen. In der Folge werden die dramatischen Elemente allmählich vernachlässigt. Grund hierfür ist die Dominanz des Virtuosentums und die damit einhergehende ansteigende Popularität der Oper. Erst im 18. Jahrhundert wird die Oper wieder als dramatische Kunstform verstanden, in welcher der Text die führende Qualität darstellt. In Italien dient dann die rasche Übertragung des Interessezentrums der Oper von der literaturorientierten Florentiner Camerata zu dem riesigen Barberini Theater in Rom und schließlich zu den öffentlichen Theatern in Venedig dazu, den Niedergang des Wortes im Vergleich zur Musik und auch zum Spektakel zu akzentuieren.
In der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts sind Textwiederholungen- und variationen noch stark ausgeprägt. Da in diesen Wiederholungen meist keine neue Information gegeben, die Zielrichtung der Handlung folglich nur vorübergehend aufgehoben und nicht unterbrochen wird, es sich also nicht um eine Retardation handelt, sind diese Wiederholungen - dramaturgisch gesehen - Elemente sprachlicher Redundanz. Die Begründung für diesen „Überfluss“ liegt in der Gesamtdramaturgie der Oper: Durch die Wiederholung in musikalischer Variation kommt es zu einer Ausdeutung und Vertiefung des Inhaltes. In der Oper finden sich zudem meist ein konventionelles Vokabular und eine einfache Syntax, kein poetisch ausgestalteter Text, denn nur durch die Wiederholung von Schlüsselwörtern kann die Vermittlung von Information gewährleistet werden. Gedankengänge sind zu kompliziert, um in der Oper dargestellt zu werden, Leidenschaften hingegen eignen sich viel besser für die Opernbühne. Versucht man, einen Operntext mit der Sprechstimme zu rezitieren, wird deutlich, dass dieser sich grundsätzlich nicht zum rednerischen Vortrag eignet.37 Das, was dem Text der Oper in direktem Vergleich zum Schauspiel auf den ersten Blick zu fehlen scheint, wird durch die Musik kompensiert.
4.3. Stoffwahl und Umwandlung: Reduzierung auf das Kernmotiv
Um eine Oper erschaffen zu können, müssen der Komponist und sein Librettist nach Momenten suchen - ob man sie nun lyrisch, explosiv oder hyperbolisch nennt - welche es ihnen erlauben, eine opernhafte Situation zu schaffen. Sie müssen in erster Linie als Künstler denken, die sowohl auf prosaische und rhetorische Feinheiten als auch auf realistische Aussagekraft verzichten, um nach Momenten mit einer aussagekräftigen Krise zu suchen, Kernmomente, in welchen mögliche musikalische und dramatische Energie zusammengeschlossen ist.38 Damit eine Oper erfolgreich sein kann, braucht sie eine abwechslungsreiche, spannende, vielleicht sogar provozierende Handlung. Das Werk mag noch so viele Schönheiten im Einzelnen enthalten, ein Bühnenerfolg wird es nur, wenn es auch eine lebendige Wirkung auf ein - höheres oder niederes - Publikum besitzt. Der sogenannte Text einer Oper muss stets interessant sein, folglich gehört die Erlangung eines „guten“ Buches seit jeher zu den Bemühungen der Komponisten. In ihrem Bemühen, ein Opernideal zu erreichen, bei dem Musik und Text von gleichrangiger Qualität sind, schlagen sie ihren Textdichtern immer häufiger anspruchsvolle literarische Werke vor oder die Librettisten bzw. Impresarios legen ihnen solche Werke zur Anregung vor. So soll die Umarbeitung eines literarischen Meisterwerks in ein Opernlibretto zu einer Aufwertung des Gesamtkunstwerks führen: Die Inspirationskraft des Komponisten soll durch die dramatische Qualität der Vorlage gefördert werden, diese Art der Vorlage soll dem Musiker zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten und beste Bedingungen bieten. Als besonders ergiebig erweisen sich Werke mit Momenten, in denen die Theatralik stärker als die Dramatik ist, wohingegen analytische Dramen und solche, die größtenteils aus Argumentations- und Rededuellen bestehen oder in denen die Handlung von einer Vorgeschichte bestimmt wird, sich nicht als Vorlage für eine Oper eignen.
Dramen besitzen zwar nicht unbedingt eine herausgehobene Stellung unter den Opernvorlagen, nichtsdestotrotz eignen sie sich in besonderer Weise als Vergleichsobjekt, da auch sie auf einer Bühne realisiert werden. Folglich stellt sich natürlich die Frage, welche charakteristische Veränderung eine literarisch-dramatische Vorlage erlebt, wenn sie zu einem Libretto überführt wird. Die Konventionen der Oper bedeuten für den Librettisten eine größere Einschränkung als der Wortdramatiker sie erlebt. Ein Libretto zu verfassen bedeutet konkret, ein Werk neu zu konzipieren und dieses wird dann mit ganz spezifischen musikalischen Mitteln vertont.
Die Opern- und Schauspieltexte des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich schon äußerlich durch ihren Umfang: Der musikalische Text beträgt oft nur ein Drittel des Sprechstücks. Die Oper verlangt im Vergleich zum Drama einschneidende Textkürzungen, u.a. wegen der langsameren „Sprechgeschwindigkeit“ der singenden Darsteller. Komponisten und Librettisten sind nicht nur oft verpflichtet, Einschnitte zu machen, die zentrale Absichten oder Schwerpunkte des literarischen Werkes betreffen, sondern sie müssen auch oft irrelevantes, vieldeutiges oder kompliziertes Material eliminieren. Bei der Umarbeitung in ein Libretto wird die Vorlage auf die wesentlichen Situationen gekürzt, Rand- und Nebenmotive fallen weg. Eine erste Bedingung ist hier „Klarheit und Deutlichkeit“, da die Verständlichkeit des Textes - wie bereits erwähnt - durch den Gesang nicht vollständig gewährleistet werden kann. So muss es dem Publikum möglich sein, die Bühnenereignisse anhand der Anordnung der Szenen und der an bestimmte Stimmgattungen gebundenen Figuren zu verstehen.39 Zudem dürfen die Opern dieser Zeit eine bestimmte Dauer nicht überschreiten, denn das Publikum hat eine festgefügte Erwartungshaltung bezüglich der Länge. So konzentriert sich die Oper stets auf eine geringe Zahl von Auftritten, Szenen, Bühnenbildern und Personen.
Man kann zwar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Arien und Monologen sehen, jedoch lassen Arien oft die Handlung zum Stillstand kommen, was bei Monologen nicht der Fall ist. In ihrem sängerisch- musikalischen Ausdruck kann sich eine Schreckenssekunde beispielsweise über mehrere Minuten erstrecken. So pendelt das Zeitgerüst der Oper ständig zwischen starker Zeitraffung und extremer Zeitdehnung, bis hin zum dramatischen „Standfoto“. Zudem bietet die Opernarie dem singenden Ich - insbesondere bei den eben erwähnten stillstehenden Aktionen - Gelegenheit zu lyrischer Selbstaussprache. Im Gegensatz zum Monolog im Drama ist die Arie ein „potentiell selbstständiges Gedicht“, das dem Komponisten die Möglichkeit gibt, innerhalb der musikalischen Materialentwicklung variierende Wiederholungen einzusetzen.40 So dienen die Solo-Gesangsstücke nicht nur der Reflexion sondern auch zur Demonstration der Virtuosität der Sänger. Außerdem kann die Oper eine zwiespältige Stimmung besser vermitteln, da sie die Möglichkeit hat, in Ensembleszenen mehrere Personen nebeneinander singen zu lassen, was durch die lineare Abfolge im Drama nicht möglich ist. Die Oper besitzt - wie bereits erwähnt - die Möglichkeit, mehrere Akteure auf der Bühne ihre übereinstimmenden und auch kontrastierenden Stimmungen in verbal-emotionaler Simultaneität zum Ausdruck bringen zu lassen. So kann sie mehrere unterschiedliche Gedanken oder Gefühle in einer „Engführung“ bündeln und sie so gleichzeitig ausdrücken. Folglich müssen im Libretto Ensembles gebildet werden, Handlungsstränge werden zusammengeführt und übereinander gelagert. Der Librettist arrangiert das Textmaterial, das sich zum gleichzeitigen Singen eignet und borgt hierbei oft von anderen Stellen der literarischen Vorlage oder auch von außerhalb.
Eine weitere Besonderheit der Oper ist die Tatsache, dass die Musik in dieser Kunstform als unabhängige Ausdrucksebene neben diejenige der Sprache tritt.41 So kann die Musik in der Oper sogar etwas ganz anderes sagen als der Wortlaut des Textbuches, wodurch beispielsweise Lügen oder Hinterhältigkeiten veranschaulicht werden können.
Die oben genannten Aspekte machen zweifelsohne deutlich, dass die Schauspieldichtung modifiziert werden muss, um sich als Textgrundlage für die musikdramatische Literaturvertonung zu eignen. So eignet sich beispielsweise eine „vollkommene“ Dichtung nicht unbedingt zur Komposition, da sie durch ihre Vollkommenheit und ihre daraus hervorgehende Selbstständigkeit bereits ein abgerundetes Kunstwerk darstellt.
Das Libretto ist also bewusst unselbstständig strukturiert, das Melodramma der Oper muss sich stets der musikalischen Struktur unterwerfen. Die dichterische Form des Dramas wird beim Schaffen eines Librettos in gewisser Hinsicht aufgebrochen, die dramatische Idee, der Kern des Stückes wird freigelegt. Diese „Essenz“ wird dann sozusagen neugedichtet, sie wird operndramaturgisch verarbeitet.42 Die scharfen Konturen der Handlung und der Individualitäten müssen vom Textdichter in eine Reihe breiter Gefühlsbilder aufgelöst werden, nur so kann eine lebensfähige Oper entstehen. Der durch die Reduzierung auf das Kernmotiv des Dramas geschaffene Freiraum kann mit optischen und musikalischen Elementen des Theaters angereichert werden. Zudem wird die Handlung nicht - wie beim Schauspiel - intellektuell-dialogisch geführt, das Drama wird in emotionalen Gründen angelegt.
In der italienischen Oper dominiert ein einziges Motiv: die Liebe. Die politische Intrige und die Staatsaktion der Barockoper sind im 19. Jahrhundert vollkommen verdrängt worden und der entscheidende Teil der Oper ist nun die Liebesintrige, welche nur dadurch entstehen kann, dass die dargestellte Liebesbeziehung durch eine gleichstarke oder sogar stärkere Konkurrenz gestört wird. So kommen beispielsweise Elterninteresse oder NebenbuhlerInnen einer bestehenden Beziehung in die Quere. Dieses Motiv ist die Antriebskraft für jede dramatische Handlung. In anderen Worten: Die italienische Oper gewinnt ihre dramatische Energie aus den elementaren Beziehungen der handelnden Figuren, aus den grundlegenden Figurenkonstellationen, wodurch es zu einer vorgegebenen Figurenkonstellation kommt, denn die Gestaltung der eben erwähnten Liebesintrige benötigt stets eine ähnliche Anzahl von Protagonisten. Alle anderen Figuren haben nur noch akzidentiellen Charakter.
4.4. Figuren und Figurenkonstellationen: Schematisierung der Stimmfächer
In der Oper haben nur wenige Protagonisten den Charakter von Handlungstypen, sie tragen die Handlung voran, während alle anderen Solisten lediglich einen zweckmäßigen Charakter haben. Ihre Funktion liegt darin, die Handlung voranzutreiben und die Entfaltung des Konfliktes zu ermöglichen.43 Allein schon die Einführung eines Charakters ist von fundamentaler Wichtigkeit, denn der Eindruck, den das Publikum durch eine sympathische oder antipathische Handlung gewinnt, kann später nicht umgewandelt werden. Während einer der Haupteffekte des Dramatikers darin besteht, die Handlung plötzlich in eine vom Zuschauer nicht erwartete Richtung zu lenken, darf dies bei der Charakterzeichnung der Oper nicht vorkommen. Die Rollengrößen und Rollentypen sind hier genau festgelegt, so dass das Personeninventar der Dramenvorlage angepasst werden muss.
Die Komponisten müssen sich bei der Anlage der einzelnen Rollen oft nach den Sängern richten, die in dem Theater, das den Auftrag erteilt hat, besonders hervorgehoben werden sollen. So kommt es, dass man sich auf eine feste Grundlage einigt, eine Schematisierung, welche eine Übereinkunft zwischen den Komponisten, den Librettisten, den Theaterpraktikern und dem Publikum darstellt. Diese Schematisierung soll es dem Komponisten erlauben, innerhalb eines gesicherten Rahmens beliebig zu variieren.
Die Zuordnung der Protagonisten in der italienischen Oper erfolgt - wie oben kurz erwähnt - nach einem bestimmten Muster: Eine dritte Einflussgröße stört eine bereits bestehende oder sich entwickelnde Liebesbeziehung. Diese Größe ist stets so mächtig, dass der tragische Ausgang unabwendbar bleibt. Hinzu kommt, dass die dramaturgischen Funktionen der einzelnen Figuren in bestimmte Stimmlagen eingeordnet werden. In der italienischen Oper ist die Stimmlage Teil einer Konvention, einer Typisierung. Die Beziehung der Liebenden betrifft stets ausnahmslos die Sopran- und Tenorpartien, während die dritte Kraft, die „Störgröße“, nur ein Bariton oder eine tiefe Frauenstimme sein kann. So werden die einzelnen Figuren auch musikalisch charakterisiert, indem eine Rückkoppelung zur dramatisch-inhaltlichen Funktion stattfindet.44 Schon in der Oper des 18. Jahrhunderts sind die Rollen durch die Bindung an bestimmte Stimmlagen und an Stimmcharaktere (Zwischenfach, Koloraturfach, Buffofach, usw.) sehr stark typisiert. Diese Schematisierung besitzt auch im 19. Jahrhundert durchweg Gültigkeit. Sopran, Tenor und Bariton bilden eine - manchmal etwas modifizierte - Dreiecksbasis, wobei die Charaktere wie folgt fixiert sind: Der Tenor ist stets der edle Held bzw. der glückliche Liebhaber, der von einem Gegenspieler, in der Regel ein Bariton, aufs schwerste bedroht wird. Der Tenor strahlt zwar äußerlich, ist innerlich aber schwächlich und wird so zum Spielball der Gegenkräfte. Der Bariton ist meist mit beträchtlicher Macht ausgestattet, finster, kalt, intrigant und versucht, die Liebenden zu trennen. Er ist stets aktiv, führend, wird heroisch, zum Teil herrisch und dämonisch dargestellt und ist nicht Liebhaber, sondern - viel wichtiger - Erzeuger der Handlung. Die Baritongestalten des 19. Jahrhunderts sind meist Urbilder des Männlichen, durch welche der männliche Sänger wieder zum Geschehens-Mittelpunkt wird, um welchen sich alle anderen Kräfte bewegen. Der Sopran, opferbereit, rein, engelsgleich, steht zwischen zwei Männern und ist hin und hergerissen zwischen Pflicht und Neigung bzw. Zwang und Liebe. Die Liebe zwischen Tenor und Sopran endet in der Oper oft mit dem Tod der Beteiligten, denn da der schlimme Ausgang meist durch äußere Umstände herbeigeführt wird, können die Liebenden nur im Tod vereint werden.45 Um das oben erwähnte Dreieck herum können dann noch weitere Hauptrollen gruppiert werden, wie beispielsweise ein eifersüchtiger, intriganter Mezzosopran, ein wilder, unheimlicher Alt (Zigeunerin oder Wahrsagerin) oder ein würdiger, väterlich gütiger Bass.
Zwar muss der Anteil, den das Publikum am Haupthelden nimmt immer der größere sein, jedoch ist es wichtig, dass die Helden des Gegenspiels so kräftig charakterisiert sind, dass sie nicht schon von vorneherein durch die Wucht der Hauptpersonen erdrückt werden.46 Hinzu kommt, dass der Sieg oder Fall des Helden die letzte Konsequenz aus einem Kampf mit ebenbürtigen Gegnern sein muss, es darf ihm also nichts leicht gemacht werden. Sind die Gegner kraftvoll und eigenartig, ist die Katastrophe des Helden umso furchtbarer und sein Sieg umso glänzender.
4.5. Fazit
Abschließend kann festgehalten werden, dass es sich beim Libretto um eine Art „konzentrierte Textform einer Handlung“ handelt, in welcher das Drama fast bis zum Kern herausgeschält wird. Zudem erfüllt diese Textform im Wesentlichen eine Funktion. In den Text des Librettos fließen - durch die individuelle Verarbeitung und Interpretation des Komponisten - zahlreiche veränderte bzw. neue Elemente ein. Je weiter Drama und Musik in ihrer Entwicklung vorrücken, desto deutlicher wird, dass ein für die musikalische Gefühls- wie Formenwelt passendes Bühnenspiel sich immer weiter vom Ideal eines guten Dramas entfernen muss.47 Grundsätzlich gilt, dass die Umformung eines Dramas zum Libretto nur dann sinnvoll bzw. gerechtfertigt ist, wenn durch die Musik eine zusätzliche Dimension zu Wort und Handlung eingebracht oder zumindest ein bereits vorhandenes Moment vertieft wird.48
III. Friedrich Schillers Dramen als Grundlage für die italienischen Opernlibretti der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
1. Schillers Werke in Italien
Als erstes Schauspiel mit einer Schillerschen Vorlage wird 1798 in Mailand und Venedig Robert et Maurice (eine Adaptation der Räuber) in italienischer Übersetzung gespielt, mit dem Titel Robert Moldar capo d ’ assassini in Franconia. Der Name des Dichters bleibt allerdings anonym. Die Aufführung dieses Werks verzeichnet einen großen Erfolg, weswegen sich in der Folge auch andere Dichter dazu ermutigt fühlen, sich mit den Anregungen aus Frankreich zu Schillers Werk zu befassen. So dichtet beispielsweise Gaetano Barbieri die 1820 in Paris aufgeführte Marie Stuart von Pierre- Antoine Lebrun nach und 1821 erfährt diese Maria Stuarda eine enthusiastische Aufnahme bei der Erstaufführung in Florenz. 1830 werden dann in Mailand sogenannte Riduzioni von Wallenstein und der Jungfrau von Orleans aufgeführt und die Popularität des deutschen Dichters in Italien ist nicht mehr aufzuhalten. Auch wenn die Schillersche Sprache und Ideen bei diesen Werken nicht wirklich vermittelt werden können, so erleben sie dennoch eine unvergleichliche Popularisierung, was auf die Leidenschaftlichkeit der Stoffe, Situationen und insbesondere der Figuren zurückzuführen ist.
1819 verfasst Pompeo Ferrario die ersten Übersetzungen Schillerscher Werke aus dem Deutschen, es ist aber erst Andrea Maffei, der durch eine originalgetreue Übersetzung der Werke dem „Schillerismo“ die Türen öffnet. Die ersten originalen Aufführungen der Schillerdramen finden in der Übersetzung Andrea Maffeis am Teatro di San Luca in Venedig statt. Laut Inasaridse ist Maffei in dieser Zeit der einzige Schiller-Übersetzer Italiens gewesen, der eine originale Rezeption des Dramatikers Schiller ermöglicht hat, wenn auch mit den notwendigen Einschränkungen einer Literatur-Übersetzung.49 Maffei hat so den Grundstein für Schillers eigentliches Bekanntwerden in Italien gelegt. Die Rezeption ist jedoch hauptsächlich auf die Stoffe der Dramen reduziert und das starke Interesse der italienischen Komponisten an dem deutschen Dichter lässt sich auf die große Wirkung der leidenschaftlichen, expressiven Schillerschen Dramatik zurückführen.
1.1. Die ersten italienischen Schilleropern
Friedrich Schiller spielt eine eminente Rolle für die Opernbühne: Im Vergleich zur deutschen - von welcher kein einziger Versuch einer schöpferischen Auseinandersetzung bekannt ist - hat sich die italienische Oper im 19. Jahrhundert verhältnismäßig intensiv um Schiller bemüht, denn zwischen 1813 und 1876 erscheinen nicht weniger als 19 Opern nach Schiller-Stoffen auf den italienischen Bühnen. Neben Die Braut von Messina, Wilhelm Tell, Die Verschw ö rung des Fiesco zu Genua und
Kabale und Liebe, welche ein Mal zur Oper umgearbeitet werden, werden Die Räuber und Die
Jungfrau von Orleans drei Mal zur Vorlage eines Librettos, Maria Stuart wird fünf Mal und Don Carlos sogar sechs Mal in eine Oper umgearbeitet. Auch Schillers Turandot -Bearbeitung dient mehrmals als Vorlage für eine Oper.
Demzufolge stellt sich die Frage, ob Schillers Dramen von ihrem Wesen her die Umformung zur Oper begünstigen. Wieso übt gerade das Bühnenwerk Friedrich Schillers eine so magnetische Anziehungskraft auf Opernkomponisten aus? Worin bestehen die spezifischen Reizfaktoren eines Schillerdramas, die es zum Opernsujet qualifizieren?
Manche Szenen in Schillers Werken zeigen zweifelsohne einen opernhaften Aufbau und manche seiner großen Monologe muten arienhaft an, doch man darf nicht außer Acht lassen, dass einige Wesenszüge der Schillerschen Dramatik nur schwer operngerecht umgesetzt werden können. So beispielsweise die hohe Gedanklichkeit und die Neigung zur philosophischen Reflexion.50 Folglich widersetzen sich die Schillerschen Dramen einer Umformung nicht direkt, sie kommen ihr jedoch auch nicht unbedingt entgegen.
Für die Italiener ist Schillers Werk das Beispiel einer Kunst, die sich von den Schemen des Klassizismus befreit und sich den verschiedensten aktuellen Themen öffnet. Insbesondere den aus allen Dichtungen Schillers sprechenden Freiheitssinn, mit all seinen politischen Implikationen, nehmen die Italiener begeistert auf. Demzufolge überrascht es kaum, dass auch die Oper sich Schillerscher Stoffe bemächtigt. Im 19. Jahrhundert erfahren hauptsächlich die „großen Themen“ der Schillerschen Dramen eine ausgeprägte Rezeption. Das Interesse der italienischen Librettisten und Komponisten gilt weniger dem „Dichter“ Schiller als vielmehr dem „Dramatiker“ Schiller. Dies lässt sich u.a. dadurch erklären, dass die notwendige Übersetzung eine tiefere Auseinandersetzung mit den Originalversen erschwert. Das Interesse der italienischen Komponisten des 19. Jahrhunderts an den Schillerschen Dramen ist also rein stofflicher Natur. In den Dramen des deutschen Dichters finden die Komponisten des Belcanto so beispielsweise einen „revolutionären Impetus“ (Wilhelm Tell, Die Räuber) oder einen Widerstreit von Leidenschaft und Intrige (Maria Stuart). Schillers Werke lassen den Zuschauer Furcht und Mitleid empfinden, sie wecken Jubel und Verzweiflung, wodurch der Musik zahlreiche Möglichkeiten eröffnet werden.51 Wichtig scheint mir auch, dass Schillers Dramen zahlreiche Kontraste aufweisen, in den politischen Themen, der Charakterisierung, der Gesamtstruktur und sogar in der Ausdrucksweise bzw. der Wortwahl. Schillers größter theatralische Beitrag zur europäischen Romantik sind jedoch seine leidenschaftlichen Helden und Heldinnen, Charaktere mit extremen Selbstbewusstsein und großer Eloquenz.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf drei der oben angeführten Schillerschen Dramen und ihre jeweilige Vertonung. Als erstes wird Schillers letztes fertiggestelltes Freiheitsdrama Wilhelm Tell in einen direkten Vergleich zu Gioachino Rossinis letzter Oper Guglielmo Tell gesetzt, ein Werk, das heute hauptsächlich konzertant aufgeführt wird. Im Anschluss werden Schillers Maria Stuart und Gaetano Donizettis Maria Stuarda, die bis heute noch zum gängigen Repertoire der Opernhäuser gehört und große Erfolge verzeichnet, untersucht. Abschließend befasst sich die Arbeit dann mit Schillers Drama Die Räuber und Verdis Oper I masnadieri, einer Oper, die heute nur noch sehr selten gespielt wird.
Die folgende Untersuchung setzt sich hauptsächlich mit den Charakterisierungen der Bühnenfiguren auseinander. Welche Figuren des Personeninventars werden übernommen bzw. verändert und welche Folgen hat diese Umarbeitung für das Gesamtwerk? In welcher Verbindung stehen diese Umformungen zu dem späteren Erfolg bzw. Misserfolg des jeweiligen Werkes?
2. Wilhelm Tell
2.1. Friedrich Schillers Wilhelm Tell
Schiller beendet seine Arbeit an dem Drama Wilhelm Tell am 18. Februar 1804, sechzehn Monate vor seinem Tod. Am 17. März wird das Stück in Weimar uraufgeführt, mit einem durchschlagenden Erfolg. Wilhelm Tell ist in seiner Grundidee auf Bühnenwirksamkeit hin angelegt, wird aber in der Folge eher wegen seiner ideologischen Positionen rezipiert. Alles in allem ist Schillers Werk zweifellos die berühmteste literarische Bearbeitung des Tell-Stoffes.
2.1.1. Figureninventar und Einstieg
Schillers Wilhelm Tell weist neben dem großen Angebot an völkischen Gruppen (Landsleute, Reiter, Ausrufer, Mönche, Gesellen, Handlanger) insgesamt fünfundvierzig Figuren auf.
Das Drama setzt mit einer idyllischen Szene ein. Vor dem Publikum öffnet sich eine Alpenlandschaft und der Zuschauer erhält einen Blick auf „die grünen Matten, Dörfer und Höfe von Schwyz im hellen Sonnenschein.“ (Regieanweisung S. 5)52 Folglich erweckt der Beginn des Dramas zunächst einen Eindruck von Offenheit und Geborgenheit, denn in dieser Welt voller Harmonie singen Fischer, Jäger und Hirte verschiedene Variationen der Melodie des Kuhreihens. Das Drama stellt hier ein friedliches Volk vor, das in völliger Übereinstimmung mit der es umgebenden Natur lebt. Es handelt sich bei dieser ersten Szene um eine statische Exposition, denn die anonymen Vertreter der drei
Berufsstände sind an ihrem Ort einfach da. Bewegung kommt erst im Übergang zum zweiten Teil auf und die Szene erreicht mit Baumgartens Ankunft den Höhepunkt der Spannung.
Im Anschluss werden dann die zentralen Probleme auf die Bühne gebracht: die Freiheit der Schweizer, die Unterdrückung durch die Habsburger, der große starke Held Tell.
2.1.1.1. Der Antagonist: Hermann Geßler (Reichsvogt in Schwyz und Uri) und seine Männer
In Schillers Drama führen die Landenbergischen Reiter sich auf wie „Wütriche“ (V. 180): Da der von ihnen verfolgte Baumgarten entkommen ist, nehmen sie mit den Zurückgebliebenen vorlieb. So ruft der erste unter ihnen aus: „Ihr habt ihm fortgeholfen, / Ihr sollt uns büßen - Fallt in ihre Herde! / Die Hütte reißet ein, brennt und schlagt nieder!“ (V. 176-178) Folglich wird die Willkürherrschaft der Besatzer schon zu Beginn des Stückes deutlich: Die Fremdherrscher verüben zahlreiche Gewalttaten in den Kantonen um den Waldstättersee. Dieses blinde Wüten ist nicht nur ein Zeichen grenzenloser Willkür, sondern auch ein Zeichen der Ohnmacht, denn die Bürger wollen sich den Besatzern nicht beugen. Die Landvögte nehmen sich zahlreiche Rechte heraus, sie brechen den häuslichen Frieden der Bürger und vergewaltigen deren Frauen. Die Österreicher drangsalieren die Schweizer, berauben sie ihrer Freiheit, bringen Gewalt ins „friedgewohnte Tal“ (V. 303) und planen weitere Untaten. Die schweizerischen Bürger werden von den fremden Herrschern gefoltert, ein arbeitsunfähiger alter Mann wird beispielsweise zur Zwangsarbeit gezwungen und unbarmherzig misshandelt (vgl. V. 364- 369). Weil Melchtal sich gegen den Raub seiner besten Ochsen durch den Vogtsknecht gewehrt und sich durch Flucht seiner unverdienten Strafe entzogen hat, hat der Landberger seinem Vater das gesamte Eigentum geraubt und ihm die Augen herausgepresst. Außerdem werden die Schweizer durch Frondienste ausgebeutet: „Das ist doch hart, dass wir die Steine selbst / Zu unserm Twing und Kerker sollen fahren!“ (V. 359-360). Die Unterdrückten werden gezwungen, selbst das Mittel der Unterdrückung herzurichten. Das Regiment der Habsburger wird während des gesamten Stückes als brutal charakterisiert, durch die mehrfache Schilderung des Terrorregimes erscheint der gesamte erste Akt sehr düster. Auch Frießhardt, einer der Wächter des Hutes, ist hart und griesgrämig, es gefällt ihm, wackeren Männern zu schaden und er wird als „dienstfertger Schurke“ (V. 1761) bezeichnet.
Der Reichsvogt Hermann Geßler charakterisiert sich in Schillers Drama durch seinen Stolz und seine Grausamkeit. So bestätigt sich seine despotische Haltung bereits vor seinem ersten Auftritt, denn Geßler vergönnt den Bauern die Freiheit des Handelns nicht, sie dürfen keine Häuser mehr nach ihrem eigenen Geschmack bauen:
Ich bin Regent im Land an Kaisers Statt, Und will nicht, dass der Bauer Häuser baue Auf seine eigne Hand, und also frei Hinleb‘, als ob er Herr wär in dem Lande, Ich werd mich unterstehn, euch das zu wehren. (V. 230-234) Von dem Vogt werden zahlreiche Schikanen und Quälereien ausgeübt, denn er will den Bauern ihre Unfreiheit fühlbar werden lassen.
Bei seinem ersten Auftritt sitzt er hoch zu Ross, einen Falken auf der Faust. Geßler sieht sich selbst als Herrscher und vertritt die Interessen des Adels: „[…] der Streit ist, ob der Bauer / Soll Herr sein in dem Lande oder der Kaiser.“ (V. 2714-2715) In seiner Arroganz ist er davon überzeugt, dass ihm als Diener des Kaisers der Respekt aller Untertanen gebühre, er will den Stolz der Schweizer beugen: „Ich hab‘ ihn [den Hut] aufgesteckt, dass sie den Nacken / Mir lernen beugen, den sie aufrecht tragen.“ (V. 2720-2721)
Die Gründe für Geßlers Verhalten werden von Stauffachers Frau aufgedeckt:
Er ist dir [Stauffacher] neidisch, weil du glücklich wohnst,
Ein freier Mann auf deinem eignen Erb / - Denn Er hat keins. […] Er ist ein jüngrer Sohn nur seines Hauses,
Nichts nennt er sein als seinen Rittermantel, Drum sieht er jedes Biedermanns Glück
Mit scheelen Augen gift’ger Missgunst an. (V. 260-270)
Geßler ist also ein Zweitgeborener, sein tyrannisches Wesen entsteht aus der Wut des Unterprivilegierten.53
In der Apfelschuss-Szene charakterisiert der Landvogt sich hauptsächlich durch seine Grausamkeit, denn er rechnet zu keinem Moment wirklich damit, dass Tell schießen wird. So ruft er nach dem Schuss „ erstaunt “ aus: „Er hat geschossen? Wie? Der Rasende!“ (V. 2032) Er selbst hält das, was er von Tell fordert, nicht für menschenmöglich. Im Verlauf dieser Szene erhält man einen guten Einblick in den Charakter Geßlers, denn dieser genießt Tells anfängliche Verunsicherung. Mit seiner Forderung des Apfelschusses will er weder die Unerschrockenheit noch die Treffsicherheit des Schützen auf die Probe stellen, denn dieser ist er sich durchaus bewusst, es geht ihm allein um die Herausforderung des Vaters. So nennen Geßlers Kommentare zunächst den oberflächlichen Anlass für das Geschehen: Tells Stolz und Gehorsamsverweigerung. Dann jedoch weist der Landvogt dunkel auf den tieferen Sinn der ganzen Veranstaltung hin: „Gewaffnet sei niemand, als wer gebietet“ (V. 1977). Geßlers Forderung ist willkürlich, sie könnte zwar durch die ihm zu Ohr gekommene Rütli- Verschwörung oder die Rettung des Landvogtmörders Baumgarten begründet werden, dies ist jedoch nicht der Fall, denn er sagt selbst: „Ich begehr‘s und will‘s“ (V. 1896) und „Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuss.“ (V. 1986) Dem Bösewicht ist durchaus bewusst, dass er mit seiner willkürlichen Forderung den Vater zwingt, auf seinen eigenen Sohn zu schießen. Geßler will, dass Tell ihm vor den Urnern, die sich dem habsburgischen Herrschaftsanspruch widersetzen möchten, ohnmächtig ausgeliefert ist und er will sehen, wie der stolze Schütze in dieser Situation schwach wird. Indem er auf das Unvermögen zu schießen die Todesstrafe ansetzt, sorgt Geßler vor, denn Tells Demütigung soll endgültig sein. Der Landvogt hat es auf Tells Herzensgrund abgesehen, er tritt als maßloser Bösewicht auf, der ohne Schranken oder Bindungen, d.h. mit monströser Willkür schalten und walten kann. Dadurch, dass der Vogt Tells Angebot ablehnt, sein eigenes Leben für die Befreiung vom Schuss auf das eigene Kind zu geben, wird deutlich, dass es ihm nur darum geht, den Augenblick der tiefsten Demütigung Tells auszukosten. Er genießt es, dass dieser sich so demütig benimmt, wie man es von ihm nicht erwartet hätte.
Es stellt sich die Frage, ob Tell Geßler wirklich nicht gereizt hat. Das Problem ist, dass er den Landvogt in völliger Ohnmacht gesehen hat. Geßler hat Tell nicht verziehen, dass dieser gesehen hat, wie feige und verängstigt er angesichts der eigenen Gefährdung reagiert hat. Wie Hedwig hervorhebt, will Geßler die Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse rächen: „Er hat vor dir gezittert - Wehe dir! / Dass du ihn schwach gesehn, vergibt er nie.“ (V.1571-1572)
In Schillers Wilhelm Tell zeigen jedoch auch einige Mitglieder der habsburgischen Partei ihre Sympathie mit dem schweizerischen Volk und ihre Unzufriedenheit mit den Gewalttaten der Vögte. So bezeichnet Leuthold, der gutmütigere der beiden Wächter des Hutes, Geßlers Befehl, dem Hut Reverenz zu erweisen, beispielsweise als „närrische[n] Befehl“ (V. 1758). Er drückt gerne ein Auge zu und hat Mitleid, als er Tell fesseln muss.
2.1.1.2. Die selbstbewusste und kluge Adelige: Bertha von Bruneck (eine reiche Erbin)
Bertha von Bruneck scheint zunächst zwischen den Parteien zu stehen. Sie ist eine wohlhabende, entfernte Verwandte von Geßler und gehört dem habsburgischen Adelsstand an. Sie soll mit dem Landvogt vermählt werden, damit der Herzog ihr reiches Erbe an die habsburgischen Besitzungen ziehen und so die Macht Österreichs vergrößern kann.
Die junge Frau ist schön und übt eine große Wirkung auf die männlichen Gemüter aus. So versucht der Kaiser, über ihr Herz zu bestimmen und sie gegen ihren Willen mit Geßler zu verheiraten, während Rudenz sehr darum bemüht ist, ihre Gunst zu gewinnen. Rudenz ist so von ihrer Schönheit angezogen, dass er glühende Leidenschaft für sie empfindet und sogar seine vaterländischen Pflichten vernachlässigt.
[...]
1 Zit. n.: Fähnrich, Hermann: Schillers Musikalität und Musikanschauung. Gerstenberg Verlag, Hildesheim: 1977. S. 9
2 Vgl. Internationales Symposium „Schiller und die Musik“ an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar. http://www.thueringen.de/th2/tmbwk/aktuell/reden/19585 (12.11.2012)
3 Brief an Johann Gottfried Herder vom 3. Oktober 1795. In: Oellers, Norbert (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe Bd. 28. Briefwechsel. Schillers Briefe. 1.7.1795 bis 31.10.1796. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar: 1969. S. 66
4 Brief an Goethe vom 29. Dezember 1979. In: Oellers, Norbert (Hrsg.): Schillers Werke. Nationalausgabe Bd.
29. Briefwechsel. Schillers Briefe 1.11.1776 bis 31.10.1778. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar: 1977. S. 179
5 Zum Begriff „Belcanto“ siehe S. 6-7
6 Vgl. Hinck, Walter (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas. A. Bagel Verlag, Düsseldorf: 1980. S. 7-8
7 Vgl. Wilpert, Gero von (Hrsg.): Sachwörterbuch der Literatur. 8. Verbesserte und erweiterte Auflage. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart: 2001. S. 187-189
8 Vgl. Zenke, Jürgen: Das Drama des Sturm und Drang. In: Hinck: Handbuch des deutschen Dramas. S. 120
9 Vgl. Matzke, Hermann: Musikgeschichte der Welt im Überblick. Athenäum Verlag, Bonn: 1949. S. 75-7610 Kretzschmar, Hermann: Geschichte der Oper. Breitkopf und Härtel, Leipzig: 1919. S. 87
11 Vgl. Inasaridse, Ethery: Schiller und die italienische Oper. Das Schillerdrama als Libretto des Belcanto. Peter Lang Verlag, Frankfurt/Main, Bern u.a.: 1989. S. 59
12 Vgl. Marggraf, Wolfgang: Giuseppe Verdi. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig: 1982. S. 75
13 Vgl. Müller, Ralph: Das Opernlibretto im 19. Jahrhundert. Verlag Hans Schellenberg Winterthur: 1966. S. 2
14 Vgl. Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. S. 17
15 Vgl. Link, Klaus-Dieter: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos. Studien zur italienischen Oper von 1850 bis 1920. Bouvier Verlag Herbert Grundmann, Bonn: 1975. S. 93
16 Vgl. Gerhartz, Leo Karl: Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama. Ein Beitrag zur szenischen Strukturbestimmung der Oper. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie der Philosophischen Fakultät der Freien Universität Berlin. Berliner Studien zur Musikwissenschaft. Verlag Merseburger, Berlin: 1968. S. 302-303
17 Vgl. ebd. S. 313
18 Vgl. Kretzschmar: Geschichte der Oper. S. 10
19 Vgl. Pauels, Claudia: Die Frauengestalten in der Oper „Luisa Miller“ von Giuseppe Verdi im Vergleich zu ihrer literarischen Vorlage, dem Drama „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller, unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung der Frau. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. Potsdam: 1997. S. 73.
20 Vgl. Gerhartz: Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama. S. 304
21 Vgl. Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos . S. 92
22 Gerhartz: Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama. S. 306
23 Vgl. Müller: Das Opernlibretto im 19. Jahrhundert. S. 8
24 Vgl. Istel, Edgar: Das Libretto. Wesen, Aufbau und Wirkung des Opernbuchs. Nebst einer dramaturgischen Analyse des Libretto von ‚Figaros Hochzeit’. Schuster & Loeffler, Berlin und Leipzig: 1914. S. 116
25 Vgl. Istel: Das Libretto. S. 107
26 Vgl. Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos. S. 93
27 Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos. S. 114
28 Vgl. Kraussold, Max: Geist und Stoff der Operndichtung. Ed. Strache Verlag, Wien, Prag, Leipzig: 1931. S. 18
29 Vgl. Gerhartz: Die Auseinandersetzungen des jungen Giuseppe Verdi mit dem literarischen Drama. S. 301
30 Zit. n. Schmidgall, Gary: Literature as Opera. Oxford University Press, New York: 1977. S. 365 („Kein Vogel hat das Herz, in einem Dickicht von Fragen zu singen.“)
31 Vgl. Ross, Peter: Der Dichter als Librettist - Andrea Maffeis Textbuch zu Verdis I masnadieri. In: Folena, Daniela Goldin; Osthoff, Wolfgang: Verdi und die deutsche Literatur. Tagung im Centro tedesco di studi veneziani. Venedig 20.-21. November 1997. Laaber Verlag, Laaber: 2002. S. 117-118
32 Hacks, Peter: Oper. Aufbau-Verlag, Berlin: 1975. S. 136
33 Vgl. Arnold, Heinz Ludwig: Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1 Literaturwissenschaft. Deutscher Taschenbuch Verlag, München: 1974. S. 319
34 Vgl. Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. S. 57
35 Vgl. Honolka, Kurt: Kulturgeschichte des Librettos. Opern - Dichter - Operndichter. Heinrichhofen’s Verlag, Wilhelmshafen, Locarno, Amsterdam: 1979. S. 119
36 Vgl. Smith Patrick j.: The Tenth Muse. A Historical Study of the Opera Libretto. Schirmer Books. A Division of Macmillan Publishing Co., Inc. New York 1970. S. X
37 Vgl. Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos. S. 91
38 Vgl. Schmidgall: Literature as Opera. S. 11
39 Vgl. Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. S. 61
40 Vgl. Fricke, Harald: Schiller und Verdi. Das Libretto als Textgattung zwischen Schauspiel und Literaturoper. In: Fischer, Jens Malte: Oper und Operntext. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg: 1985. S. 95-116. S. 96
41 Vgl. ebd. S. 96-97
42 Vgl. Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. S. 55
43 Vgl. Link: Literarische Perspektiven des Opernlibrettos. S. 77
44 Vgl. ebd. S. 75
45 Vgl. Müller: Das Opernlibretto im 19. Jahrhundert. S. 4
46 Vgl. Istel: Das Libretto. S. 110
47 Vgl. Kraussold: Geist und Stoff der Operndichtung. S. 23
48 Vgl. Marggraf, Wolfgang: Schiller auf der italienischen Opernbühne. In: Huschke, Wolfram: SchillerVertonungen im frühen 19. Jahrhundert. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar: 1993. S. 16
49 Vgl. Inasaridse: Schiller und die italienische Oper. S. 54
50 Vgl. Marggraf: Schiller auf der italienischen Opernbühne. S. 16-17
51 Vgl. Müller: Das Opernlibretto im 19. Jahrhundert. S. 23
52 Die Zitate stammen aus folgender Ausgabe: Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell. Philipp Reclam jun., Stuttgart: 2000.
53 Vgl. Leibfried, Erwin: Schiller. Notizen zum heutigen Verständnis seiner Dramen. Aus Anlass des 225. Geburtstages gedruckt. Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, Bern, New York: 1985. S. 379
- Quote paper
- Sylvie Langehegermann (Author), 2013, Schiller und der italienische Belcanto, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273184
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