Die vorliegende Studie untersucht den Effekt des „Schizophrenie“-Labels auf die Stigmatisierung anhand einer randomisierten Querschnittstichprobe (N = 2044, Alter M = 24 Jahre), innerhalb eines online Fragebogen-Experimentes. Das Konzept der Studie und der Versuchsaufbau sind unter anderem an die Arbeiten von Day et al. (2007) und Demoulin et al. (2004) angelehnt. Die möglichen kognitiven und affektiven Stigmatisierungseinstellungen der Probanden bezüglich eines Schizophrenie-Labels wurden durch eine Label-Freie Kontrollgruppe und eine Schizophrenie-Label Experimentalgruppe, innerhalb zweier randomisierter Patientengeschichten, erhoben. Die Stigmataeinstellung der Teilnehmer wurde durch einen Stigma-Dimensions-Fragebogen, einen affektiven gerichteten Fragebogen der Fremd- und Eigengruppen unterscheidet (Infrahumanisierungskonzept) und Eigenschaftszuschreibungen berücksichtigt, untersucht.
Das Ergebnis unterstützt die bestehende Forschungsmeinung, dass ein Schizophrenie-Label Stigmaeinflüsse bedingt. Die vorliegende Studie konnte vor allem innerhalb der Angst vor den Betroffenen, den negativen Eigenschaftszuschreibungen, der Hygiene, bei der sozialen Distanz und dem Glauben an eine Behandelbarkeit bzw. an eine Vollremision, innerhalb der Schizophrenie-Labelbedingung negativere Gewichtungen entdecken. Als weiteres Ergebnis kristallisierte sich heraus, dass eine geringe soziale Distanz und das Wissen über psychischen Störungen bzw. die Erfahrung mit psychischen Störungen als protektive Faktoren für Stigmatabildung gegenüber Patienten mit psychischen Störungen angesehen werden kann. Es konnte beobachtet werden, dass innerhalb der Probandengruppe die Stigmatisierungseffekte bei der Berufsgruppe der Psychologen/Psychologiestudenten deutlich weniger auftraten als in der Restgruppe.
Effekte des „Schizophrenie“- Labels auf Stigmatisierung
Inhaltsverzeichnis
Abstract
1. Einleitung
2. Theorie
2.1 Psychische Störungen
2.1.2. Klassifikation von psychischen Störungen
2.1.3 Kritik der Klassifikation von psychischen Störungen
2.2 Schizophrenien
2.2.1 Definition
2.2.2 Symptomatik und Verlauf der Schizophrenie
2.3 Stereotype
2.3.1 Definition des Stereotyps
2.3.2 Aufgaben und Konzepte der Stereotypen
2.3.3 Stereotype über psychisch kranke Menschen
2.4 Labeling / Etikettierung
2.4.1 Definition des Etikettierungsansatzes
2.4.2 Etikettierungskonzept im sozialpsychologischen klinischen Bereich
2.4.3 Kritik am Label- Ansatz
2.4.4 Etikettierung und Stigmata
2.5 Stigmatisierung
2.5.1. Definition des Stigmas
2.5.2 Konzept der Stigmatisierung
2.5.3 Stigmata bei psychischen Störungen
2.5.4 Stigmata im Kontext der Schizophrenie
2.6 Infrahumansierung
2.6.1 Definition der Infrahumanisierung
2.6.2 Infrahumanisierungskonzept
3. Hypothesen
4. Methodik und Design
4.1 Stichprobe
4.2 Erhebungen
4.3 Testmaterialien
4.4 Experiment Durchführung
4.5 Untersuchungsdesign
4.6 Methoden der Datenauswertung
4.7 Messmethoden der Hypothesentestungen:
4.8 Reduzierung der Eigenschaftsvariablen mittels Hauptkomponentenanalyse
5. Ergebnisse
5.1 Testung des Gütekriterium Reliabilität
5.2 Testung der Korrelationen
5.3 Deskriptive Darstellungen der Kontrollfrage:
5.4 Inferenz Messung der Hypothesen
5.4.1 Testung: Erste Hypothese
5.4.2 Testung: Zweite Hypothese
5.4.3 Testung: Dritte Hypothese
5.4.4 Testung: vierte Hypothese
6. Diskussion:
6.1 Interpretation der Kontrollfragen
6.2 Hypothesen spezifische Diskussion
6.2.1 Erste Hypothese
6.2.2 Zweite Hypothese
6.2.3 Dritte Hypothese
6.2.4 Vierte Hypothese
6.3 Limitierung bzw. Vorteile der vorliegenden Label Studie
6.4 Ausblick und Hypothesen übergreifende Diskussion
6.5 Vorschläge zum Abbau von Stigmata gegenüber dem schizophrenen Störungsbild
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang A: Altersdimensionen
Anhang B: Bildung / Schulabschluss
Anhang C: Einladungspost/ Nachricht innerhalb sozialer Netzwerke, Foren und Email
Anhang D: Begrüßung und Informationstext
Anhang E: Patientengeschichte mit ICD - 10 und DSM IV Klassifikation
Anhang F: Patientengeschichte mit ohne Schizophrenie-Label
Anhang G: Eigenschaftszuschreibung
Anhang H: Out-Group Infrahumanisierung
Anhang I: In-Group Infrahumanisierung
Anhang J: Demoulin et al. (2004) Primär und Sekundär Infrahumanisierungsemotionen .
Anhang L: Übersetzte Fassung von Day Mental Illnes Stigma Scale
Anhang M: Nähe zu psychischen Störungen (Nähe-Kontinuum)
Anhang N: Kontrollfrage zur Label und Label-Freien Patientengeschichte
Anhang O: Soziodemographie
Anhang P: Abschlusstext
Anhang R: Kontrollfrage mit und ohne Schizophrenie-Label
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Rotierte Hauptkomponentenanalyse zur Reduzierung der Eigenschaftszuschreibungen
Tabelle 2: Mittelwerte, Standartabweichungen, Korrelationen und Reliabilitäten auf der Diagonale
Tabelle 3: Die Haupteffekte der einfaktoriellen Varianzanalyse des Faktors Label über die Stigmadimensionen, Eigenschaftszuschreibungen und Infrahumansierungsemotionen
Tabelle 4: Die Haupteffkete der zweifaktoriellen Varianzanalyse über die Faktoren Label und Berufsgruppe auf die Stigmadimensionen und Infrahumansierungsemotionen
Tabelle 5: Moderierte Regressionen des Labels, des Nähe-Kontinuums und deren Interaktion auf die Eigenschaftszuschreibungen
Tabelle 6: Moderierte Regressionen des Labesl, des Nähe-Kontinuums und deren Interaktion auf die Stigmadimensionen Angst, Beziehungsstörung und Sichtbarkeit
Tabelle 7: Moderierte Regressionen des Labels, der Nähe zu psychischen Störungen und deren Interaktion auf die Stigmadimensionen Behandelbarkeit, Expertenwirksamkeit und Genesung
Tabelle 8: Moderierte Regressionen des Labesl, des Nähe-Kontinuums und deren Interaktion auf die primären und sekundären Infrahumanisierungsvariablen bei Eigen- und Fremdbewertung
Abstract
Die vorliegende Studie untersucht den Effekt des „Schizophrenie“-Labels auf die Stigmatisierung anhand einer randomisierten Querschnittstichprobe (N = 2044, Alter M = 24 Jahre), innerhalb eines online Fragebogen-Experimentes. Das Konzept der Studie und der Versuchsaufbau sind unter anderem an die Arbeiten von Day et al. (2007) und Demoulin et al. (2004) angelehnt. Die möglichen kognitiven und affektiven Stigmatisierungseinstellungen der Probanden bezüglich eines Schizophrenie- Labels wurden durch eine Label-Freie Kontrollgruppe und eine Schizophrenie-Label Experimentalgruppe, innerhalb zweier randomisierter Patientengeschichten, erhoben. Die Stigmataeinstellung der Teilnehmer wurde durch einen Stigma-Dimensions-Fragebogen, einen affektiven gerichteten Fragebogen der Fremd- und Eigengruppen unterscheidet (Infrahumanisierungskonzept) und Eigenschaftszuschreibungen berücksichtigt, untersucht.
Das Ergebnis unterstützt die bestehende Forschungsmeinung, dass ein Schizophrenie-Label Stigmaeinflüsse bedingt. Die vorliegende Studie konnte vor allem innerhalb der Angst vor den Betroffenen, den negativen Eigenschaftszuschreibungen, der Hygiene, bei der sozialen Distanz und dem Glauben an eine Behandelbarkeit bzw. an eine Vollremision, innerhalb der Schizophrenie-Labelbedingung negativere Gewichtungen entdecken. Als weiteres Ergebnis kristallisierte sich heraus, dass eine geringe soziale Distanz und das Wissen über psychischen Störungen bzw. die Erfahrung mit psychischen Störungen als protektive Faktoren für Stigmatabildung gegenüber Patienten mit psychischen Störungen angesehen werden kann. Es konnte beobachtet werden, dass innerhalb der Probandengruppe die Stigmatisierungseffekte bei der Berufsgruppe der Psychologen/Psychologiestudenten deutlich weniger auftraten als in der Restgruppe.
1. Einleitung
Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit der Thematik des Effekts der Stigmatisierung im Zusammenhang mit dem Störungslabel Schizophrenie. Der Labelbegriff (Etikettierung) tritt gehäuft ab den 1960er Jahren in der Forschungslandschaft der Sozialpsychologie auf. Der Historiker Frank Tannenbaum setzte 1938 mit seinem Ausspruch „The young delinquent becomes bad, because he is defined as bad and because he is not believed if he is good” (Tannenbaum, 1951, c1983, pp. 17-18, zit. nach Baumann, 2009, p. 29), wichtige Weichen für diese neue Richtung der Wissenschaft. Thomas J. Scheff (1966, zit. nach Link, Cullen, Struening, Shrout, & Dohrenwend, 1989) ist einer der Ersten, die den Labelansatz mit psychischen Störungen und den möglichen negativen Stereotypen und stigmatisierendem Verhalten in Verbindung bringen. Nach seiner Ansicht hat die Gesellschaft den größten Anteil an der Entstehung psychischer Störungen. Sie definiert eine psychische Störung mit den abweichenden Faktoren und durch diese Erwartungshaltung passt sich der Patient, im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung, im Laufe der Zeit unbewusst an dieses Etikett an. In der vorliegenden Arbeit liegt das Augenmerk primär auf den möglichen resultierenden stereotypen Zuschreibungseffekten gegenüber einer gelabelten schizophrenen Störung. Die Art und die Stärke der Stereotypen wird auf kognitiver Ebene mit Hilfe eines Stigma-Dimensionsfragebogens ermittelt. Auf affektiver Ebene wird die Bewertung durch die Zuschreibung von Emotionen auf Eigen- und Fremdgruppen (nach dem Infrahumansierungskonzept) sowie allgemeiner Eigenschaften untersucht. Die Forschungsfrage, ob ein stereotypes und stigmatisierendes Antwortverhalten von Personen bei einer fiktiven etikettierten schizophrenen Bedingung (Patientengeschichte) vorhanden ist, und ob es anders ausfällt als bei einer offenen etikettierten unspezifischen Bedingung, wird in dieser Arbeit durch ein Online-Experiment untersucht.
Da der hier bereits behandelte Labeling-Ansatz nun wieder mehr in den Fokus der sozialpsychatrischen Forschung gerät (Wichard Puls, 2003), möchte diese Studie mit ihren Ergebnissen die wiederkommende Forschung weiter unterstützen. Diese Studie stellt insgesamt den Anspruch einer kritischen Auseinandersetzung mit möglichen Effekten des „Schizophrenie“-Labels. Dabei wird verglichen wie die stereotypen Sichtweisen, die aus dem vorliegenden Label resultieren, sich zu bestehenden Effekten innerhalb der sozialpsychologischen Forschungslandschaft verhalten. Abschließend sollen all diese Beobachtungen im Kontext möglicher, zugrunde liegender Stigmata gegenüber schizophrenen Patienten bewertet werden. In diesem Kontext werden mögliche Vorschläge zum Abbauen derselben erörtert. Aus Gründen der Komplexitätsreduzierung wurde in der vorliegenden Studie die männliche Form gewählt.
2. Theorie
2.1 Psychische Störungen
2.1.1 Definition und Epidemiologie psychischer Störungen
Eine genaue einheitliche Definition von psychischen Störungen als eine eindeutig feststehende Entität, die auf Grundlagenforschung basiert, ist hier eigentlich nicht möglich. Die psychische Störung kann vielmehr als ein Konstrukt angesehen werden, dass vom Stand der Forschung und deren Experten für einen gewissen Zeitraum immer wieder neu definiert und überarbeitet werden muss (Wittchen, 2006). Dies bedeutet, dass sich ein Störungsbild oder sogar ganze Abschnitte eines Klassifikationssystems ändern können. Bis dato gibt es keine Definition bzw. Klassifikation, die alle Aspekte einer Störung beinhaltet und die nicht auf irgendeine Art und Weise fehlerhaft wäre (Maddux & Winstead, 2005).
Trotz alledem soll hier eine Definition der Amerikanischen-Psychiatrischen- Vereinigung vorgestellt werden, die den Sachverhalt der psychischen Störung allgemein sehr anschaulich und prägnant definierte: „Psychische Störungen sind ein klinisch bedeutsames Verhaltensmuster oder psychisches Syndrom, das bei einer Person auftritt und das mit momentanen Leiden (z. B. einem schmerzhaften Symptom) oder einer Beeinträchtigung (z. B. Einschränkungen in einem oder in mehreren wichtigen sozialen oder Leistungs- Bereichen) oder mit einem stark erhöhten Risiko einhergeht, zu sterben, Schmerz, Beeinträchtigung oder einen tiefgreifenden Verlust an Freiheit zu erleiden. Das Syndrom oder Muster darf nicht nur eine verständliche und kulturell sanktionierte Reaktion auf ein Ereignis sein, wie z. B. eine normale Trauerreaktion bei Verlust eines geliebten Menschen. Unabhängig vom ursprünglichen Auslöser muss bei der betroffenen Person eine verhältnismäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung zu beobachten sein. Weder normabweichendes Verhalten (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) noch Konflikte des Einzelnen mit der Gesellschaft sind psychische Störungen, solange die Abweichung oder der Konflikt kein Symptom einer oben beschriebenen Funktionsstörung bei der betroffenen Person darstellt.“ (Wittchen, 2006, p. 8).
Anhand solcher Klassifikationsmöglichkeiten schätzt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass in den Industrienationen 20 % aller Erkrankungen psychiatrische Störungen sind, und dass dieser Anteil weiterhin stark steigen wird (Haden & Campanini, 2001). In Deutschland wurde die Anzahl der psychischen Störungen in der Allgemeinbevölkerung anhand einer repräsentativen Stichprobe innerhalb des Bundesgesundheitssurveys 19/89 gemessen. Zu diesem Zeitpunkt litten ca. ein Drittel (31,1%) der erhobenen Teilnehmer an einer psychischen Störung (Jacobi, Klose, & Wittchen, 2004).
Trotz gewisser Mängel der Klassifikationssysteme (s.u. Kap. 2.1.3) folgendes Kapitel), werden psychische Störungsbilder, in dieser Studie primär durch diese beiden Klassifikationssysteme definiert, auch das Studiendesign wird sich nach diesen Systemen richten. Dies bietet den Vorteil, dass die Standardisierung der Definition der psychischen Erkrankungen gewahrt bleibt, was auch einen Vergleich auf internationaler Ebene ermöglicht (Klosterkötter, 2008) .
2.1.2. Klassifikation von psychischen Störungen
Erst Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine selbständige psychiatrische Krankheitslehre. Man war nun gewillt die psychischen/ seelischen Krankheiten in eine natürliche Ordnung zu bringen, dabei lehnte man sich an die botanische Systematik von Linné an (Mensching, 1990). Zum ersten Mal wurde nun von einer einheitlichen Grunderkrankung ausgegangen. Diese wurde nun in Gruppen eingeteilt, die durch ihre gemeinsamen Symptome definiert wurden. Psychische Störungen und deren Symptome bzw. Syndrome werden daher heutzutage hauptsächlich nach dem „International Classification of Deseases“ (ICD- 10) (Dilling, 2011) und in ähnlicher Weise nach dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-IV) (Saß, 2003) klassifiziert.
Trotz gewisser Mängel der Klassifikationssysteme (s. folgendes Kapitel), werden psychische Störungsbilder in dieser Studie primär durch diese beiden Klassifiaktionssysteme definiert, auch das Studiendesign wird sich nach diesen Systemen richten. Dies bietet den Vorteil, dass die Standardisierung der Definition der psychischen Erkrankungen gewahrt bleibt, was auch einen Vergleich auf internationaler Ebene ermöglichen würde (Klosterkötter, 2008) .
2.1.3 Kritik der Klassifikation von psychischen Störungen
Wir müssen festhalten, dass eine reine Krankheitsdiagnose anhand von Klassifikationssystemen wie dem DSM-IV und dem ICD-10 zu kurz greifen würde. Einer der größten Mängel ist wohl, dass diese Systeme keinen absoluten zeitlichen und kulturellen Anspruch erheben dürfen, sondern einer fortlaufenden Entwicklung unterliegen. Auch die Symptome, Syndrome und Störungen ändern sich mit der Zeit und dem Entwicklungsprozess der Sozialisation stetig (Klosterkötter, 2008). Weiterhin handelt es sich bei Klassifikationen immer um Zusammenfassungen und bei diesen entsteht immer ein Informationsverlust (Butcher, Mineka, & Hooley, 2009). Auch sind die Grenzen zu einer psychischen Störung oftmals sehr fließend und sie sind nicht so eindeutig definierbar wie es häufig bei klinischen Klassifikationssystemen scheint (Wittchen, 2006). Zwar stellen diese Klassifikationen im Idealfall nützliche Begriffe für Diagnosekategorien dar, aber sie sollten nicht als einziges und absolut valides Kriterium für Diagnoseeinheiten angesehen werden und ihre Anwendung sollte stets kritisch hinterfragt werden (Stieglitz, 2008).
Ein weiteres Risiko bei der Klassifikation besteht darin, dass eine klinische Diagnosestellung bzw. das Offenlegen einer Störung schnell zu einer negativen Stereotypisierung und Stigmatisierung der betroffenen Person führen kann. Um solchen Einflüssen entgegenzuwirken, sollte festgehalten werden, dass die Klassifikation immer nur die psychische Störung eines Menschen klassifizieren sollte und nicht den Menschen als solchen. Daher ist man heutzutage dazu übergegangen, von „der Person mit Schizophrenie“ zu sprechen und nicht mehr von „dem Schizophrenen“.
2.2 Schizophrenien
2.2.1 Definition
Die Schizophrenie [gr. schizein spalten phren Seele, Gemüt, Zwerchfell] ist eine der kritischsten psychischen Erkrankungen, die hauptsächlich das Denken, das Verhalten und die Emotionen beeinträchtigt (Dorsch & Häcker, 2009).
Zum ersten Mal geprägt wurde der Begriff Schizophrenie von den deutschen Psychiatern Emil Kraeplin und Eugen Bleuler Anfang des 20. Jahrhundert (Fusar-Poli & Politi, 2008). Bei dieser Störung sprach man früher meist von „Verrücktheit“ oder „Wahnsinn“, auch wurde primär von einer Spaltung der psychischen Funktionen und dem daraus resultierenden Verlust der einheitlichen Persönlichkeit ausgegangen (Stotz-Ingenlath, 2000). Heutzutage wird dieses klinische Bild meist als, Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störung definiert (Wittchen, 2006).
Die Krankheit beeinflusst „die Handlungsplanung, die Handlungsausführung, das Denken, die Verarbeitung von Sinnesreizen, die soziale Interaktion, die Auffassung und die Aufmerksamkeit und ihr liegt sehr wahrscheinlich als Hauptursache eine biologische Veränderung im zentralen Nervensystem (ZNS) zugrunde (Förstl, Hautzinger, & Roth, 2006).
Für alle weiteren Erläuterungen ist es wichtig sich klar zu machen, dass die Schizophrenie als homogenes Krankheitsbild mit einem einzelnen, klinischen Erscheinungsbild und einem eindeutigen, vorhersagbaren Krankheitsverlauf mit immer wieder ähnlich vorkommenden Krankheitsabschnitten nicht existiert (Wittchen, 2006). Es wird mittlerweile davon ausgegangen, dass jeder Erkrankte seine eigene Form der Schizophrenie entwickelt (Dörner & Plog, 2002). Die Wahrscheinlichkeit einer Person, im Laufe ihres Lebens an einer Schizophrenie zu erkranken - das sog. Lebenszeitrisiko (life time risk) - liegt bei ca. 1% (Möller, Laux, & Kapfhammer, 2008) und nach der WHO (05.12.2012) leiden Weltweit schätzungsweise 24 Millionen Menschen an diesem Störungsbild.
2.2.2 Symptomatik und Verlauf der Schizophrenie
Das Störungsbild der Schizophrenie hat mittlerweile Eingang in den ICD-10 (Dilling, 2011) und in ähnlicher Weise in das DSM-IV (Saß, 2003) gefunden. Bei der Störung werden meist zwei Hauptsymptomklassen unterschieden: Die sogenannte Typ-I-Schizophrenie mit primär positiven/plus Symptomen und die Typ-II- Schizoprehnie mit primär negativen/minus Symptomen (Birbaumer & Schmidt, 1991; Wittchen, 2006).
„Unter den positiven Symptomen versteht man die Symptome der akuten psychotischen Krankheitsepisode. Es handelt sich hierbei um ein Übermaß bzw. eine Verzerrung von eigentlich normalen psychischen Funktionen. Dem Gesunden wird sozusagen etwas Neues hinzugefügt“ (Wittchen, 2006: 679) Als Beispiel sind hier Halluzinationen, Wahn, Denkzerfahrenheit und bizarres Ausdrucksverhalten zu nennen.
„Negative Symptome hingegen stellen eine Verminderung bzw. einen Verlust normaler Funktionen dar. Es handelt sich hierbei also um ein Defizit von Verhalten und Erleben.“(Wittchen, 2006, p. 680). Als Beispiel sind hier Aktivitätsminderung, Affektverarmung, Apathie und Sprachstörung zu nennen.
Bei dieser Unterscheidung sollte aber beachtet werden, dass es sich bei diesen zwei Klassen nicht um eine ausschließende dichotome Einteilung handelt. Zwar steht für die Diagnosestellung zumeist die Positivsymptomatik im Vordergrund (Saß, 2003), jedoch wird in dieser Studie die Schizophrenie hauptsächlich durch die Negativsymptomatik definiert und vorgestellt, da für die Betroffenen und deren Lebensqualität meist die Negativsymptomatik ein höheres Leiden mit sich bringt (Wittchen, 2006). Desweiteren sind diese Symptome weniger augenscheinlich und in der Bevölkerung werden sie weniger mit der schizophrenen Störung assoziiert (Day, Edgren, & Eshleman, 2007; Mulholland & Cooper, 2000), wodurch erhofft wird, dass der Effekt des Labeling, bei der Bewertung der Patientengeschichte, stärker zum Vorschein treten wird, da sich der Teilnehmer weniger auf seine möglichen früheren Erfahrungen und sein Wissen gegenüber dieser psychischen Störungen berufen kann.
Die Erkrankung beginnt mit zumeist unauffälligen negativen Symptomen (z.B. Affektverarmung) und erst nach längerer Zeit (ca. nach fünf Jahren) treten positive Symptome zutage (z.B. Halluzinationen) (Wittchen, 2006). Ergänzend kann man hier anmerken, dass der Beginn der Störung oft mit unspezifischen Symptomen einhergeht, wie z.B. mit Unruhe, Depression, sozialem Rückzug, Angst und mangelndem Selbstvertrauen (Häfner, 2001).
2.3 Stereotype
2.3.1 Definition des Stereotyps
Der eigentliche Begriff des Stereotyps wurde erstmals 1922 vom Journalisten Walter Lippmann eingeführt. Er bezeichnete mit diesem Begriff die unterschiedlichen Bilder die Personen mit sich herumtragen, und die die subjektive Wahrnehmung unserer individuellen Umwelt widerspiegeln. D, oder auch eines iese Meinungen sind meist von Affekten, oberflächlichem Merkmalen der Gruppe und von kollektiven Motiven (Vorurteilen) geprägt (Aronson, Wilson, & Akert, 2006; o.A., 1973). In der heutigen Zeit hat sich diese Vorstellung nicht wesentlich verändert. Becker-Carus (2004 zit. nach Aronson et al., 2006) versteht unter einem Stereotyp die vereinfachende schematisierende Vorstellung eines Individuums über das physische Erscheinungsbild und die Persönlichkeitseigenschaften einer ganzen Gruppe, sei es eine ganze Nation oder auch nur eine Berufsgruppen. Jonas & Strobe definieren ein Stereotyp als: „Eine kognitive Struktur, die unser Wissen, unsere Überzeugungen und Erwartungen über eine soziale Gruppe von Menschen enthält“ (Jonas, 2007, p. 607).
Also spiegeln die Art und der Inhalt dieser Verallgemeinerungen die negativen bzw. positiven Sozialstrukturbeziehungen zwischen den einzelnen Gruppen wieder (Fiske, 2002). Das Stereotyp, das eher kognitive Komponenten umfasst (Ansicht oder Gedanken) gehört neben dem Vorurteil, das eher affektiv bzw. emotional gerichtet ist (z. B. Wut. Wärme, Frust) mit zu den wichtigsten Bewertungsmustern bei der Bildung von Einstellungen gegenüber Personen und Gruppen (Aronson et al., 2006, Bierhoff, 2006). Insgesamt lassen sich Stereotype also als ein Endprodukt der Kategorisierung definieren (Bierhoff, 2006; Hewstone, 1996).
2.3.2 Aufgaben und Konzepte der Stereotypen
Stereotype sind wahrscheinlich eine der häufigsten und am besten beobachteten Eigenschaften bei Zwischen-Gruppenbeziehungen (Gilbert, Fiske, & Lindzey, 1998 zit. nach Aronson et al., 2006). Da Stereotypisierungen sich hauptsächlich auf Verhaltensmuster und Eigenschaften beziehen, dienen Stereotype als primäre Basis und Voraussetzung sowohl für den Stigmatisierungs- als auch für den Etikettierungsprozess (Grausgruber & Schöny, 2002; Link & Phelan, 2001). Sie sind daher für das weitere Verständnis dieser Arbeit unabdingbar.
Die primären Forschungsrichtungen innerhalb der Stereotypenforschung sind der kulturelle, der psychodynamische und der kognitive Ansatz (Bierhoff, 2006). Nach Bierhoff (2006) untersucht der kulturelle Forschungsansatz inwieweit Stereotypen einen Teil unseres kulturellen Erbes darstellen. Im psychodynamischen Ansatz wird beobachtet welche Rolle die Stereotypen bei dem Ausleben der Persönlichkeit einnehmen. Im kognitiven Ansatz wird erforscht ob Stereotype bei der Beschleunigung von Informationen helfen, im Rahmen der Bildung von kognitiven Schemata. Schauen wir uns die letzte Definition noch einmal genauer an, da sie wohl bei der Meinungsbildung über Personen eine Basisrolle einnimmt.
Gordon Allport (1954 zit. nach Aronson et al., 2006) beschreibt Stereotype als ein Gesetz das stets dem Weg des geringsten Widerstandes nutzt. Sie sollen dem Individuum wohl primär dazu dienen, die Wahrnehmung der Welt zu vereinfachen (Kunda, 2003). Mit dem Gesetz von Allport ist gemeint, dass uns nur eine begrenzte kognitive Kapazität zur Informationsverarbeitung zur Verfügung stegt. Daher ist es für uns Menschen nur logisch unsere kognitiven Ressourcen sparsam einzusetzen (Fiske & Dépret, 1996; Jones, 1990 zit. nach Aronson et al., 2006). Wir versuchen andere Menschen zu verstehen und deshalb schreiben wir ihnen Stereotypen zu bzw. etikettieren sie. Diese Schemata bilden eine Art Abkürzung, was unweigerlich zu einer Komplexitätsabnahme führt. Durch die Reduzierung ist es uns nun möglich z. B. Personenwahrnehmungen besser zu verarbeiten und zu ordnen. Dieser Vorgang wird im allgemeinem als „kognitive Effizienz“ bezeichnet. (Fiske & Dépret, 1996 zit. nach Aronson 2006; Link & Phelan, 2001; Kunda, 2003). Auch wenn das Verhalten einer Fremdgruppe nicht verstanden wird bzw. nicht umgehend nachvollziehbar ist, kann für eine schnelle Antwortfindung sich den Stereotypen bedient werden (Kunda, Davies, Adams, & Spencer, 2002). Das Stereotyp kann also unter bestimmten Umständen als ökonomisch sinnvolle und als vereinfachte Form der Wahrnehmung angesehen werden (Macrae & Bodenhausen, 2001). In diesem Kontext werden Stereotype auch verwendet, um Unterschiede zwischen Gruppen zu rechtfertigen (Hegarty & Pratto, 2001). Wenn uns jedoch ein Stereotyp blind macht für individuelle Unterschiede innerhalb einer Klasse von Menschen, dann kann dies ungerecht, unpassend und gefährlich sein, daraus kann schlussendlich ein Vorurteil erwachsen. Es kann also zwischen negativen und positiven Stereotypen unterschieden werden (Angermeyer & Matschinger, 2003). Ein negatives Stereotyp ist aber nicht gleichzusetzen mit einem negativen Vorurteil. Vorurteile werden überwiegend als eine negative Einstellung verstanden, die ein starkes, änderungsresistentes Urteil über Person oder Personengruppen darstellt. Ihnen liegen überwiegend die affektiven (emotionalen) Komponenten zugrunde (Aronson et al., 2006).
Stereotype sind hingegen Generalisierungen oder Merkmalsmuster von Eigenschaften und/oder Verhaltensmuster und sie basieren größtenteils aus kognitiven Erfahrungen und Wissen (Aronson et al., 2006). Ganz trennen kann man diese beiden Denkstrukturen jedoch nicht, denn es gibt auch die Theorie, dass ein Stereotyp eine kognitive Komponente einer Vorurteil belasteten Einstellung ist (Secord & Backman, 1974 zit. nach Devine, 1989).
Beide Varianten haben unter anderem auch gemein, dass sie dem Schutz vor Selbstkritik (Stabilisierung des Selbstwertgefühls), der Aufwertung der Eigengruppe gegenüber einer Fremdgruppe, der Aggressionsabfuhr und dem Schutz vor kognitivem Chaos, d.h. Erleichterung der Informationsaufnahme bzw. -verarbeitung dienen (Güttler, 2003). Für diese Studie sind Stereotypen wichtig zu erfassen, weil sie eng mit den Überzeugung und der Einstellung von Personen verknüpft sind (Devine, 1989) und somit könnte man aus den Stereotypen auf die Stigmata der Probanden schließen.
2.3.3 Stereotype über psychisch kranke Menschen
Gegenüber psychisch kranken Menschen existieren sowohl negative als auch positive Stereotype. Ein positives Stereotyp wäre hierbei beispielsweise, dass Menschen dieser Kategorie mit Genialität assoziiert werden (Genie und Wahnsinn).
Zentrale negative Stereotype bezüglich psychisch kranker Menschen wären, dass diese Erkrankten für ihre Störung selbst verantwortlich sind, sie als gefährlich eingestuft werden, ihre Erkrankung immer einen chronischen Verlauf nimmt und somit einer schlechteren Prognose unterliegt, sowie dass sie sich nicht in für sie vorgesehene soziale Rollen eingliedern können und somit unberechenbarer sind (Angemeyer & Schulze, 2002a; Angermeyer & Matschinger, 2003; Hayward, 1997; Penn & Nowlin-Drummond, 2001). Das öffentliche Bild gegenüber Menschen mit psychischen Störungen und der Psychiatrie im Allgemeinen ist meist von negativen Stereotypen geprägt (Hinshaw & Stier, 2008).
Aus der allgemeinen Forschung ist ersichtlich, dass das Wissen über psychische Erkrankungen gering und oft verzerrt ist und dass die Menschen mit psychischen Problemen häufig abgelehnt werden (Corrigan, 2004; Jorm, 2000).
Durch diese Unkenntnis über Ursachen, Symptomatik und Behandlungsmöglichkeiten, sowie durch einen Mangel an Kontakt mit Betroffenen, werden die negativen Einstellungen und Stereotypen gegenüber psychisch Erkrankten in der Bevölkerung genährt (Rüsch, Berger, Finzen, & Angermeyer, 2009). Auf längere Sicht betrachtet führt dies schnell zur Stigmatisierung und Diskriminierung der Betroffenen und somit zu einem erhöhten Leiden derselben (Crisp, 2000; Hinshaw & Stier, 2008; Rüsch et al., 2009).
2.4 Labeling / Etikettierung
2.4.1 Definition des Etikettierungsansatzes
Der Anfang der „Etikettierung“ und ihres englischen Pendants, des „LabelingKonzepts“, ist wohl bei F. Tannenbaum (1938), E. M. Lemert (1951) und T. H. Scheff (1966) zu finden (Stiksrud, 1992).
Der Labeling-Ansatz wird als sozialwissenschaftlicher Ansatz übergreifend in der Soziologie, Kriminologie und Psychologie als ätiologisches Erklärungsmodell für abweichendes Verhalten angesehen (Trojan, 1978). Unter einer etikettierten Person wird in diesem Kontext ein Individuum verstanden, dass nicht normkonform bzw. deviant (abweichenden) handelt und daraufhin von der Umwelt (Gesellschaft, Sozialisation) negativ beschrieben, etikettiert und sanktioniert wird (Lamnek, 1991).
In diesem Sinne stellt Labeling eine wichtige Reaktion auf abweichendes Verhalten dar (Trojan, 1978).
Bei der Etikettierungstheorie wird unter anderem oft vom Definitionsansatz (Labeling Approach), Reaktionsansatz, Sozial-Reaktions-Ansatz (Social-Reaction- Approach) oder symbolischem Interaktionismus (Interactionist Orientation) gesprochen (Trojan, 1978). Um aber Verwirrungen entgegenzuwirken, wird in dieser Studie nur vom Label-Effekt oder Label-Ansatz gesprochen.
2.4.2 Etikettierungskonzept im sozialpsychologischen klinischen Bereich
Wenn wir den Etikettierungsansatz auf Störungen beziehen, dann ist hiermit unter anderem die Frage gemeint, ob der Betroffene rein internal eine psychische Störung entwickelt hat oder ob er zunächst nur die Gesellschaft/Umwelt gestört hat, und zwar so stark, dass wir ihn so lange etikettiert haben, bis er die Störung die wir ihm zugeschrieben haben auch wirklich bekommen hat (Trojan, 1978).
Zwar ist der Labelingansatz nach Scheff (1966 zit. nach Trojan, 1978) im Bezug auf psychische Störungen wohl eine der ersten prominenten Theorien, jedoch bindet er in seiner Theorie die Stigmatisierungs- und Stereotypfaktoren nicht ausreichend ein (Link et al., 1989). Daher bedient sich die vorliegende Studie dem modifizierten Etikettierungsansatzes (Modified Labeling Approach) für psychische Störungen nach Link et al. (1989).
Laut Link et al. (1989) bringt die Etikettierung, selbst wenn sie nicht eine psychische Störung nach sich zieht, negative Folgen für die Betroffenen mit. Die meisten Personen gelangen im Weiteren durch die Sozialisation zu bestimmten Überzeugungen darüber, wie die Störung von Erkrankten behandelt werden müsse. Wenn sich nun Personen mit einem Leiden in Behandlung begeben, ändert sich damit auch automatisch die Meinung über sie. Falls nun die Patienten glauben, eine möglicherweise existierende Ablehnung durch die Gesellschaft zu spüren, hierbei ist es unerheblich ob eine tatsächliche Diskriminierung besteht, so können sie sich in der Interaktion mit Anderen bedroht fühlen (Link et al., 1989). Die Folgen für die Patienten sind vielseitig: Sie können versuchen ihre Behandlung geheim zu halten, sie ziehen sich aus sozialen Situationen und Ausbildung zurück. Solche Strategien können negative Folgen für das Selbstwertgefühl, den Beruf und für den sozialen Umgang mit sich bringen (ebd.). Vor allem durch die Diagnose der Schizophrenie, kann eine starke Identitätsverschiebung stattfinden, die ein Ausmaß annimmt, welches bei keiner anderen Störung in dieser Form zu beobachten ist (Wichard Puls, 2003).
Der übliche Labeling-Ansatz richtet sich hierbei hauptsächlich nach vier Komponenten. Erstens: Die Umwelt (gesellschaftliche Gruppen, Sozialisation, Kontaktgruppe) bedingt das abweichende Verhalten (Devianz) dadurch, dass sie überhaupt Regeln/Normen aufstellt. Zweitens: Die Verletzung dieser Regeln/Normen definiert deviantes Verhalten. Drittens: Diese Regeln werden auf bestimmte Personen angewandt, wodurch die Betroffenen zu Außenseitern abgestempelt werden. Viertens: Deviantes Verhalten ist nicht definiert durch die Qualität der Handlung die eine Person ausführt, sondern sie ist eine Konsequenz der Regeln und der Sanktionen durch Andere gegenüber dem „Abweichler“ (Link et al., 1989).
Wenn ein Label diese vier Schritte durchlaufen hat und einmal an der Zielgruppe/ Person angewendet wird, kann dies im Endeffekt unter anderem die Vulnerabilität für zukünftige Störungen durch die Verringerung des Selbst erhöhen (ebd.). Das bedeutet, dass die Etikettierung eines Verhaltens als „abweichend“ eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Abweichung in unserer Gesellschaft überhaupt auftreten kann. D.h. überspitzt dargestellt, das ein Verhalten ohne das Etikett „abweichend“ gar nicht als Abweichung wahrgenommen würde.
Dieses Konzept wird nun anhand der klinischen Psychiatrie / Psychologie erläutert. Die Sozialisation/Gesellschaft/Umwelt benennt bzw. etikettiert die psychische Gesundheit bzw. psychische Störungen durch abweichendes Verhalten anhand von Regeln und Normen. Diese werden durch festgelegte Kriterien und Expertenurteile definiert bzw. überprüft (z. B. anhand des Leidens der Betroffenen, der Bewertung durch die Umwelt, durch Expertenurteile, des DSM-IV und des ICD - 10 u.v.m.). Wer der Überprüfung durch die Regeln nicht standhält bzw. sie verletzt (weil z. B. Symptome und Syndrome auftreten), der entspricht nicht dem psychischen Gesundheitsideal und ist psychisch krank. Wenn diese Regelverletzung / Normüberschreitung von der Allgemeinheit wahrgenommen wird, erhält die betreffende Person das Label des Abweichlers bzw. des psychisch Gestörten. Diese Regeln werden nun auf Personen angewandt die jeweils eine bestimmte Art/Muster von Symptomen und Syndromen aufweisen. Dann werden sie in Gruppen von abweichendem Verhalten unterteilt (verschiedene Label von Störungsbildern). Durch die Diagnose einer wie auch immer gearteten Störung wird der Betroffene zum Außenseiter erklärt (etikettiert) und unterliegt Sanktionen (negative Stereotype, Stigmata, soziale Benachteiligung u.vm).
Die Symptome und Syndrome (Qualität der Handlung) an sich wären keine psychische Krankheit (Abweichendes Verhalten), erst durch die bewusste Wahrnehmung der Abweichung und durch die Konsequenz der Zuschreibung der Gesellschaft (Regel/ Normen) und deren Definitionen von psychischen Störungen, ist die daraus resultierende Diagnose (deviantes Verhalten) möglich.
Also kann ein Label synonym mit dem Begriff Diagnose gleichgesetzt werden, lediglich in der Bewertung unterschieden sich diese Begriffe , erstere ist klar negativ besetzt und daher sollte das Labeling-Konzept nicht als Diagnoseinstrument eingesetzt werden. Vielmehr sollte dieser Ansatz eine Sensibilisierungsfunktion im Umgang mit psychischen Störungen bereit halten (Scheff, 1974; Trojan, 1978). Diese Denkweise greift die vorliegende Studie auf, hier geht es also in erster Linie um den stigmatisierenden Einfluss des Labels auf die Patienten, aber dementsprechend auch um den Effekt des Labels auf die Wahrnehmung und Einstellungen des „Labelverteilers“ (die Gesellschaft).
2.4.3 Kritik am Label- Ansatz
Ein Kernproblem des Label-Ansatzes ist wohl, dass er als Begriff an sich nicht absolut klar definiert ist. Der Ausdruck der Etikettierung wird in mehreren Kontexten verwendet und ist durch die Vorstellung des Benutzers verzerrt. Schon Gibbs (1972 zit. nach Scheff, 1974) kritisierte, dass für den Begriff keine denotative freie Definition existiere. Jedoch kann diese Kritik auf einen Großteil aller psychiatrischen Theorien angewandt werden. Selbst Störungen wie Depression oder Schizophrenie müssten sich dann ebenfalls dieser Kritik stellen (Scheff, 1974).
Im Weiteren wird das Label oft benutzt um eine scharfe Trennung von „gesunden“ und „kranken“ Personen vorzunehmen, dies ist aber eigentlich unzulässig, weil „…die Unterscheidung und entsprechenden Etikettierung einer „psychisch normalen“ oder „gesunden“ Mehrheit von einer „psychisch kranken“ Minderheit eine klare Trennlinie suggeriert, die de facto nicht existiert, da es sich um fließende Übergänge handelt“ (Rüsch et al., 2009, p. 4)
Besonders beachten müssen wir, dass wir das Leiden der Betroffenen und der Umwelt, das durch die psychische Krankheit ausgelöst wird, nicht aus dem Auge verlieren. Die Problematik und die Ernsthaftigkeit der Störungen darf durch diesen Ansatz nicht relativiert werden. Auch besteht die Gefahr, dass das Individuum nur noch als ein „Reaktions-“ oder „Zuschreibungswesen“ gesehen wird, dass für es, außerhalb dieses Bewertungsprozesses, keine Realität mehr existiert und es quasi nur noch als das angesehen wird, was die Gesellschaft aus ihm macht (Trojan, 1978). Auch besteht die Gefahr, dass die Identität des Individuums sich nur noch nach der regelhaften Bewertungsreaktion der anderen richtet, woraus dann die Verkümmerung des eigenen Selbstbildes folgen würde und dementsprechend wäre die Wahrscheinlichkeit für ein Selbststigmatisierung stark erhöht (ebd.). Es kann sogar zur Bildung einer Übernahme von „zugeschriebenen abweichenden“ Rollen und zu einer Entwicklung einer devianten Identität kommen (ebd.).
Wie Trojan im folgenden Satz sehr gut zum Ausdruck bringt, sollte der Ansatz vielmehr mit anderen Sichtweisen verknüpft werden: „Aus diesen Überlegungen lässt sich entnehmen, dass der Labeling-Ansatz andere theoretische Perspektiven keinesfalls überflüssig macht, sondern als eine Vervollständigung verschiedener anderer, miteinander konkurrierender oder sich ergänzender Sichtweisen angesehen werden kann.“ (Trojan, 1978, p. 161).
2.4.4 Etikettierung und Stigmata
Im Kontext einer Etikettierung ist als Synonym oft von einem Stigmatisierungsprozess die Rede, weil z. B. die Etikettierung aus der Vielfalt der Personeneigenschaften eine Teilmenge hervorhebt und sie dann häufig einer verallgemeinerten Wertung unterzieht (z. B. „Verrückter, Fachidiot“) (Upmeyer, 1985). Auch fußt der Labeling-Ansatz weitgehend auf Stereotypen und dies kann wiederum schnell zu stereotypen Denkweisen führen oder sogar zu einer regelrechten Stigmatisierung der betroffenen Person (Trojan, 1978). Das Etikett entwickelt hierbei oft eine Art „Eigenleben“, d. h. der Bewertete wurde zum „Opfer“ und ist nun Mitglied einer Kaste/Gruppe mit bestimmten Merkmalen. Diese Einteilung muss ihn jedoch nicht zwangsläufig negativ von der Allgemeinheit trennen, denn diese Attribute können den Betroffenen auch positiv von der Masse abheben (Link et al., 1989).
Beim Labeling-Ansatz werden die negativen Stereotype über psychische Störungen erst aktiviert, wenn das untypische Verhalten einer Person als psychische Erkrankung erkannt/benannt wird und in diesem Sinne nimmt er starken Bezug auf Stigmata (Rössler & Lauber, 2004) (z. B. unterliegt das Symptom der Halluzination erst im Kontext einer Schizophrenie negativen Stereotypen). Erst nach der Aktivierung des Labels und der negativen Stereotypen kann ein Stigmatisierungsprozess einsetzen (Link & Phelan, 2001).
Penn und Nowlin-Drummond (2001) zeigen innerhalb des klinischen Kontextes wie negative Einflüsse sich in Abhängigkeit des Labels, trotz einer gleichbleibenden schizophrenen Symptomkonstellation, verändern konnten. Bei vier verschieden Labels (Verbraucher des psychischen Gesundheitssystems, Personen mit einer psychischen Störung, Personen mit Schizophrenie und Schizophrene) löst das Label „Verbraucher des psychischen Gesundheitssystem“, im Vergleich zu den anderen Begriffen, die geringsten negativen emotionalen Reaktionen aus und der Gesundheitszustand wird als am leichtesten änderbar angesehen.
Die Aktivierung des psychischen Labels kann von anderen Personen unter gewissen Umständen sogar als implizites „kriminelles“ Label wahrgenommen werden (Page, 1977). In Pages (1977) Untersuchung waren psychisch Etikettierte, die kurz vor der Enthospitalisierung standen, bei der Wahl als Mieter genauso benachteiligt wie gelabelte Kriminelle, die angeblich kurz vor der Haftentlassung standen. Selbst Personen die endhospitalisiert sind und offiziell nicht mehr als psychisch krank gelten, leiden immer noch am negativen Stigma des Labels und behalten einen sogenannten „Master Status“ als psychisch Kranker (Scheff, 1974).
Jedoch wird diese Ansicht auch kritisch gesehen. Gove (1980 zit. nach Link et al., 1989) zum Beispiel spricht den Betroffenen die stigmatisierende Wirkung von psychischen Störungen keineswegs ab, jedoch bezweifelt er die tatsächliche Beständigkeit und die Stärke der daraus resultierenden Probleme. Im Weiteren hält er den negativen Effekt, den das Label auf Patienten ausübt für relativ gering (Gove, 1980 zit. nach Link et al., 1989).
Es besteht trotzdem das Risiko, dass durch eine klinische Diagnose bzw. ein klinisches Label, häufiger negative Stereotypen bzw. Stigmata auftreten und dies auch negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept der Patienten hat (Butcher et al., 2009; Trojan, 1978). Das eigentliche Label der psychischen Störung für sich genommen, unterliegt hierbei meist sogar mehr negativen Bewertungen als die einzelnen Symptome der Störung (Link, Struening, Rahav, Phelan, & Nuttbrock, 1997; Martinez, Piff, Mendoza-Denton, & Hinshaw, 2011).
2.5 Stigmatisierung
2.5.1. Definition des Stigmas
Der Begriff Stigma [grch. Brandmahl] taucht das erste Mal in der Antike, innerhalb der griechischen und römischen Kultur auf, dies bezeichnete das Vorgehen, Sklaven oder Täter von schweren Vergehen durch ein Brandzeichen zu kennzeichnen (o.A., Brockhaus 1973). Hier ist schon der negative Tonus ersichtlich, der dem Begriff zugrunde liegt. Daher wird in der heutigen Kultur der Begriff Stigma als eine negative Verallgemeinerung von spezifischen Verhaltensweisen oder Eigenschaften einer Person auf ihren Gesamtcharakter definiert (Wittchen, 2006).
Der bekannte Sozialpsychologe Goffman beschreibt das Stigma als: „attribute that is deeply discreditin“ (Goffman, 1963, p. 3 zit.nach Link & Phelan, 2001, p. 364) ein Attribut, das eine Person stark diskreditiere. Dieses Attribut bezieht sich hierbei immer auf die Wahrnehmung Anderer. Aus dem Stigma folgen meist Intergruppen- Diskriminierung, Stereotype und Vorurteile (Bierhoff, 2006). Da ein Stigma keine klaren Grundmerkmale hat, unterliegt es einer großen Variationsbreite. Stigmata sind außerdem vom soziokulturellen Wandel betroffen (ebd.). Die abwertende Verwendung und der schambehaftete Begriff des Stigmas existiert jedoch wahrscheinlich erst seit dem 16. und frühen 17. Jahrhundert (Stuart, 2008).
Abschließend beschreibt Sartorius das Stigma recht prägnant: „Grundsätzlich durchdringt das Stigma alles und wirkt schädigend“(Sartorius, 2002, p. 7).
2.5.2 Konzept der Stigmatisierung
Es gibt zahlreiche prominente Stigma-Konzepte (Rüsch, 2010), jedoch wird in dieser Arbeit hauptsächlich auf eine Stigma Definition von Bruce Link und Jo Phelan (2001) eingegangen, da diese Theorie zahlreiche sozialpsychologische Ansätze aufgreift, die in der vorliegenden Studie behandelt werden. Unter anderem binden sie auch den kürzlich besprochenen modifizierten Labelansatz mit ein.
Nach Link und Phelan (2001) müssen für einen Stigma-Prozess vier Komponenten vorliegen, die miteinander konvergent in Verbindung stehen. Erstens wird die stigmatisierte Person von anderen als menschenunähnlich wahrgenommen bzw. als solche etikettiert. Es werden also Kategorien erstellt wie z.B. jung und alt, psychisch krank und gesund, die jedoch von Zeit und Ort abhängen. Zweitens liegt die dominante kulturelle Überzeugung vor, dass diese etikettierte Person unerwünschte Eigenschaften bzw. negative Stereotype besitzt. Drittens wird diese markierte Person in unterschiedliche Kategorien eingeordnet. Dadurch wird quasi eine Trennung von „Eigengruppen“ und „Fremdgruppen“ vorgenommen. Dies kann im Extremfall unter anderem darin münden, dass man der Fremdgruppe ihre emotionale Menschlichkeit abspricht, was als Infrahumanisierung bezeichnet wird (Boccato, Cortes, Demoulin, & Leyens, 2007). Weiterhin kann dies schnell zu einer Personifizierung des Etiketts führen, es würde also z.B. von dem Depressiven oder dem Schizophrenen gesprochen und nicht von Menschen, die an einer Störung leiden (Trojan, 1978). Viertens und schlussendlich erfährt die etikettierte Person nun eine Diskriminierung die zum Statusverlust führt und somit ein ungleiches Ergebnis zur „Norm-“ Gruppe darstellt.
Zur Benachteiligung kann es in vielen verschiedenen Lebensbereichen kommen, wie beispielsweise im Beruf, in der medizinischen Versorgung, in der Partnerschaft, bei der Wohnungssuche u.v.m. (s.u. Kapitel 2.5.3) Diese Diskriminierung kann auf drei unterschiedlichen Ebenen stattfinden: Als individuelle Stigmatisierung, strukturelle Stigmatisierung und als Selbststigmatisierung (Link & Phelan, 2001; Pincus, 1996).
Link & Phelan (2001) erklären diese drei Arten der Stigmatisierung wie folgt. Selbststigmatisierung tritt auf, wenn die Personen der Minorität die negativen Einstellungen, die ihnen durch die Gesellschaft etikettiert werden, verinnerlichen, und wenn sie diese abwertenden Eigenschaften übernehmen. Es wird von struktureller Diskriminierung gesprochen, wenn die Verhaltensweisen, Regeln oder Gesetze der dominierenden Gesellschaft permanent zu Nachteilen der Minderheit führen. Individuelle Diskriminierung (öffentliche Stigmatisierung) findet nur zwischen einzelnen Mitgliedern von Gruppen statt, wenn nämlich Person A von Person B mit Stereotypen und Etiketten gekennzeichnet wird, und wenn daraufhin Person B offene Formen von diskriminierendem Verhalten gegenüber Person A an den Tag legt (z.B. Ablehnung einer Bewerbung oder eines Mietverhältnisses). Diese Form drückt sich neben den ungerechtfertigten Verhaltensweisen und den negative Einstellungen/ Stereotypen auch oft in einer starken sozialen Distanz aus d.h., die Personen meiden vor allem den physischen Kontakt der stigmatisierten Gruppe. Die individuelle Stigmatisierung mit ihren negativen Einstellungen und der erhöhten sozialen Distanz wird in der vorliegenden Studie primär untersucht.
Entscheidend für alle Diskriminierungsformen ist hierbei vor allem, dass ein Machtgefälle zwischen den beiden Gruppen existieren sollte, lediglich die Gruppe/Person mit mehr Macht (sozial, finanziell, und politisch) kann die Diskriminierung konsequent durchsetzen (Link & Phelan, 2001).
Das eben erläuterte Stigmakonzept lehnt sich an die Diskriminationsdefintionen von Jones (1984 zit. nach Link & Phelan, 2001) an, dies scheint erwähnenswert, da in der vorliegenden Studie unteranderem ein Stigma Fragebogen von Day et al.(2007) genutzt wird, der sich auch zum Teil an die selbige Definitionen anlehnt.
2.5.3 Stigmata bei psychischen Störungen
Im Gegenzug zur ethnischen Zugehörigkeit und Geschlechterverteilung gab es vergleichsweise wenig Forschung auf Basis der Stigmatisierung von psychisch Kranken (Hinshaw & Stier, 2008; Quinn, 2009). Es konnte jedoch seit den 1990er Jahren sowohl national als auch international ein reger Zuwachs auf dem Forschungsgebiet der Stigmatisierung psychischer Störungen verzeichnet werden, und die Tendenz ist weiter steigend. (Angermeyer & Holzinger, 2005).
Das Stigmatisieren gegenüber psychischen Erkrankungen ist ein soziokulturell tief verwurzeltes Phänomen (Fabrega, 1990) und somit ist es eine tiefsitzende und ernsthafte Problematik. Das Stigma kann einen Teufelskreis erzeugen, der das psychische Leiden der Patienten weiter verstärkt und zu einer Spirale von Benachteiligungen führen kann (Sartorius, 2002). Die psychischen Störungen werden oft mit folgenden negativen Eigenschaften assoziiert: Unberechenbarkeit, Asozialität, Gefährlichkeit, Faulheit oder Kriminalität (Arboleda-Flórez, 2005). Diese Einschätzung resultiert meist aus dem fehlenden und falschen Wissen der Öffentlichkeit gegenüber psychischen Störungen (Jorm, 2000).
Die Betroffenen erhalten z. B. nur bedingt Wohn- und Beschäftigungsmöglichkeiten, die medizinische Versorgung leidet und sie werden häufiger verhaftet (Corrigan, 2004). Des Weiteren werden sie oft mit Ablehnung durch Gleichaltrige, Familienmitglieder und Betreuern innerhalb der psychosozialen Intervention konfrontiert (Christian Horvath, 2002; Corrigan, 2004). Das Stigma hat somit einen negativen Einfluss auf die Qualität der Behandlung, den Krankheitsverlauf, die Lebensqualität der Betroffenen und deren Integration in die Gesellschaft (Rüsch, Angermeyer, & Corrigan, 2005; Thornicroft, Rose, Kassam, & Sartorius, 2007). Im Weiteren kann das Stigma aufgrund erhöhter Stressoren die Vulnerabilität (Verletzlichkeit) für weitere psychische Krankheiten oder einen Rückfall bestehender Störungen erhöhen (Link et al., 1989; Wittchen, 2006)
Durch die bedingte Internalisierung der negativen gesellschaftlichen Reaktionen kann dies zur Minderung des Selbstwertgefühls und der Lebenszufriedenheit führen und die psychischen Gesundheitsdienstleistungen werden weniger in Anspruch genommen oder abgesetzt und als letzte Konsequenz kann dadurch sogar die Suizidalität und die Gefahr eines Substanzmissbrauchs der Betroffenen erhöht werden (Corrigan, 2004; Hinshaw & Stier, 2008). Einige Patienten berichten, dass die Stigmatisierung die ihnen entgegengebracht wird, oft schwieriger zu überwinden ist, als die psychische Krankheit selbst (Corrigan, 1998; Corrigan und Penn, 1999; Wahl, 1999), und auch deutlich belastender ist (Rüsch et al., 2005 zit. nach Rüsch, 2010).
Finzen (2001 zit. nach Kardorff, 2010) postuliert gar, dass das Stigma im klinischem Bereich als eine „zweite Krankheit“ betrachtet werden sollte: „Die sozialen Folgen der Stigmatisierung müssen als zweite Krankheit verstanden werden, die Folgen der Schuldzuweisung und die unmittelbaren Stigmatisierungsfolgen für die Angehörigen gleichsam als Dritte.“ (Finzen, 2001, p. 178 zit. nach Kardorff, 2010, p. 286).
Es gibt aber Grund zur Hoffnung, da Beobachtungen existieren, dass die Stigmatisierung von psychischen Kranken rückläufig ist (Angermeyer, Matschinger, & Corrigan, 2004) und zahlreiche effektive Anti-Stigma Kampagnen versuchen ebenfalls ihr entgegenzuwirken (S.u. Kap. 6.5).
2.5.4 Stigmata im Kontext der Schizophrenie
Im Vorfeld sollte wir beachten, dass der Begriff „Schizophrenie“ in Deutschland ein Eigenleben entwickelt hat, welches die wahre Realität dieser Krankheit meist nicht wiederspiegelt (Gaebel, Baumann, Witte, & Zaeske, 2002). Das Problem ist, dass bei dem Begriff Schizophrenie häufig von „Wahnideen“, „Missachtung von sozialen Gesetzen“, „gespaltener Persönlichkeit“ und/oder „Verrücktheit“ gesprochen wird (De Col et al., 2002; Finzen, Benz, & Hoffmann- Richter, 2001). Diese nicht klar definierten Erörterungen bieten viel Platz für Stereotypen und Mythen, durch die dann wiederum unsere Fantasie stark angeregt wird und ein absolut verzerrtes Bild der Störung entstehen kann (Katschnig, 2002). Selbst in medizinischen Fachkreisen existieren Mythen und falsche Vorstellungen über das schizophrene Störungsbild (Harding & Zahniser, 1994). Die Medien schüren die Fantasie und die falschen Vorstellungen weiter, indem sie einseitige, negative und unwahre Berichterstattungen über diese Störung verbreiten (Baumann, 2003; Finzen et al., 2001; Gaebel et al., 2002; Sartorius, 2010). Hierbei besteht die Problematik darin, dass die Allgemeinheit ihr Wissen über psychische Störungen primär aus den Medien bezieht und nur geringen echten Kontakt mit Betroffenen hat (Gaebel et al., 2002; Grausgruber & Schöny, 2002).
Sobald eine Person die Diagnose bzw. das Label erhält, dass sie schizophren ist, beginnt die Abgrenzung zur „Norm-“ Bevölkerung und der Patient kann mit negativen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden (Trojan, 1978). Das Stigma (oder das Etikett) wird von der Allgemeinheit oft auch als eine Art Trennungsinstrument zwischen psychisch Kranken (die Anderen) und der restlichen Bevölkerung (uns) genutzt (Heather Stuart, 2005).
Zum Beispiel werden die meisten Menschen mit einer schizophrenen Störung als weniger intelligent als die Allgemeinheit der Bevölkerung angesehen, sie werden als gefährlich, unvernünftig oder aggressiv wahrgenommen. Die Störung wird oft als ein Ausdruck für ihre geringe Disziplin und Selbstkontrolle angesehen (Angemeyer & Schulze, 2002a; Angermeyer & Matschinger, 2003; Angermeyer et al., 2004). Auch werden die Erkrankten oft als verantwortungslos, als weniger kompetent und unberechenbarer eingeschätzt (Watson, 2004). Es konnte nachgewiesen werden, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen und hierunter vor allem an Schizophrenie Erkrankte, oftmals abgewertet werden und der soziale Kontakt mit ihnen vermieden wird (Angermeyer & Matschinger, 2003; Day et al., 2007).
Dies würde sich mit den internationalen Beobachtungen von Thornicroft (Thornicroft, Brohan, Rose, Sartorius, & Leese, 2009) decken. Sie untersuchten in über 27 Nationen, die soziale Wahrnehmung aus Sicht von Schizophreniepatienten. Innerhalb der Interaktion mit der Familie, während der Arbeitssuche, beim Knüpfen und Erhalten von Freundschaften und beim Erhalt der Partnerschaft, stießen die Erkrankten seitens der Bevölkerung auf negative Diskriminierung. In einer aktuellen Folgeuntersuchung der bestehenden Daten von Üçok, Brohan, Rose et al. (2012) wurde weiterhin herausgefunden, dass nicht nur die tatsächlich erlebte Diskriminierung einen negativen Effekt auf das Sozialverhalten der Betroffenen hat, sondern schon die Furcht vor erwarteter Diskriminierung ein Grund für viele Betroffene darstellt, sich aus ihrer Arbeitswelt, ihren Ausbildungen oder der Erziehung zurückzuziehen. Im Weiteren reduzieren viele Patienten die Suche nach engen Partnerschaften und die Mehrheit hat das Bedürfnis ihre Diagnose zu verheimlichen.
Wie an diesem kleinen Abriss der Forschung veranschaulicht wird und auch aus der allgemeinen Literatur ableitbar ist, kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Stigmatisierung für die Lebensqualität von Personen die an einer Schizophrenie erkrankt sind, ein ernsthaftes und starkes Hindernis darstellt.
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- Quote paper
- Gregory Heuser (Author), 2012, Effekte des Schizophrenie-Labels auf Stigmatisierung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/270061
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