Der Theaterraum ist per se ein vielgestaltiger. Das zeigt sich an der Vielzahl möglicher
Spielorte genauso wie in der einzelnen Aufführungssituation, wo sich der Ort, den wir
als Zuschauer im Blick haben, an einem Abend mehrfach verwandeln kann. Es zeigt
sich umgekehrt aber auch, indem wir uns gewahr werden, dass sich unser Ort – jener
der Zuschauenden also – gewandelt hat: Sei es, weil wir, der Aufführung folgend,
entweder den Platz gewechselt haben, oder aber vorübergehend selber zu einem andern
geworden sind1. Manchmal bewegt man sich im Geiste irgendwohin. Manchmal wissen
gar nicht alle Beteiligten, dass sie gerade ein Stück aufführen. Und manchmal ist es
ziemlich schwierig zu entscheiden, ob das Wahrgenommene als Teil der Aufführung gedacht
ist, oder ob es sich durch die eigene Vorstellung in die Aufführung hereingeschlichen
hat. Der Ort für das Theater kann ein monumentales Gebäude sein, über dessen
Eingang ein eingemeißelter Vers von küssenden Musen berichtet2 und ist gleichzeitig so
flüchtig, dass er mit dem Ende der Aufführung bereits wieder verschwunden ist.
Über ein Vorhandenes zu schreiben, das doch permanent entwischt, ist nicht einfach.
Ich habe oben versucht, das ‚Haptische’ und das Flüchtige, zwei wesentliche Aspekte
des Theatralen, einander gegenüberzustellen: Das Theater als Begriff hat eine materielle
und eine ideelle Seite: Wir verstehen unter ‚Theater’ den Bau, den Spielort, aber auch
einen theatralen Vorgang, eine Aufführung. Die vorliegende Arbeit fragt nach Bedingungen
der Möglichkeit theatraler Raumkonstitution. Es ist dabei von zentralem Interesse,
zu untersuchen, ob und wie ein ‚wirklicher Ort’3 (um mit Foucault zu sprechen) und
der ‚Möglichkeitsraum’4 (um Winnicott dazuzunehmen) im Zusammenspiel diesen
Raum konstituieren. Das Theater vereint in sich, oder besser: verhandelt konstant die
vielfältigsten raumzeitlichen Grenzziehungsvorgänge und Rahmensetzungen: Zum
einen muss Theater, um wahrgenommen werden zu können, sich in irgendeiner Weise
vom Umraum abheben. Zum anderen gibt es mehr oder weniger stabile Grenzen zwischen
dem Raum für die Zuschauer und jenem für die Akteure. Es gibt individuelle Liminalitätserfahrungen5 und kollektive Transformationsvorgänge, die ebenso mit Grenzen bzw. deren Überschreitung zu tun haben wie der Schritt in den abgedunkelten
Inhalt
Einleitung
1. Potentialität und Liminalität
1.1. D. W. Winnicott: Transitional Space / Potential Space / Intermediate Area
1.2. Grenzziehungen
1.2.1. Rahmung, Grenze, Schwelle, Brücke
1.2.2. Michel Foucault: Die Heterotopie als wirklicher Ort / Michel de Certeau: Räume und Orte
2. Theatrale Raumkonstitution
2.1. Das „theatralische Raumerlebnis“
2.2. Gespielter und bespielter Raum als Orte der Aufführung
2.3. Theater minus Text? Anmerkungen zum Begriff der Theatralität
3. Zusammenfassung
4. Ordnungsraum und Handlungsraum: Black Box, White Cube und Stadtraum als Orte der Aufführung
4.1. Black Box: Der Schwarzraum in der Kunst und als theatraler Raum
4.2. Ivana Müller: While We Are Holding it Together (2006)
4.2.1. Stillstand und Bewegung
4.2.2. „I imagine...“: Die Vor-Stellung im Hier und Jetzt
4.2.3. Entgrenzte Subjekte
4.3. White Cube: Die Idee des neutralen Raumes
4.4. Tino Sehgal: This is so Contemporary (2005)
4.4.1. „This is...“
4.4.2. Archiv und Performativität: Werk ohne Artefakt
4.4.3. Subversive Nutzung der Konvention?
4.5. Stadtraum: Funktion versus Bedeutung
4.6. Rimini Protokoll: Sonde Hannover (2002)
4.6.1. Der öffentliche Raum und die Aufführung
4.6.2. Ko-Präsenz und ‚Theaterpakt’
4.6.3. Aufmerksamkeit: Zur Performativität von Wahrnehmung
5. Schlussbetrachtung
6. Bibliografie
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