Am 01.01.2004 trat das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Modernisierungsgesetz) in Kraft, das eine neue Form der Selbstbeteiligung von den Versicherten abforderte. Die Praxisgebühr – eine Abgabe, die alle volljährigen Bürger bei jeder ersten beschwerdebedingten Konsultation eines ambulant tätigen Arztes, Zahnarztes oder Psychotherapeuten pro Quartal zu entrichten hatten.
Die Thesis beleuchtet die der Einführung der Praxisgebühr zu Grunde liegenden Erwartungen. Dafür werden zunächst die dem GKV Wettbewerbsstärkungsgesetz 2004 vorangegangenen Reformen mit ihren Maßnahmen erarbeitet als auch die Formen von Selbstbeteiligungen und deren Ausgestaltung im deutschen Gesundheitswesen als auch im internationalen Kontext betrachtet. Schließlich werden zur Bewertung der Auswirkungen der Praxisgebühr auf Versicherte, Ärzte und Krankenkassen Studien, Befragungen und Statistiken ausgewertet und die Wirkung der Praxisgebühr für diese Akteure des Gesundheitswesens dargestellt und kritisch reflektiert.
Inhaltsverzeichnis
I Abkürzungsverzeichnis
II Abbildungsverzeichnis
III Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Ausgangssituation vor dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2004
2.1 Reformentwicklungen seit 1989
2.2 Gründe für die Reform 2004
2.3 Reformvorschläge
3 Selbstbeteiligungen als Steuerungsinstrument
3.1 Formen der Selbstbeteiligung
3.1.1 Nicht-monetäre Selbstbeteiligungen
3.1.2 Monetäre Selbstbeteiligung
3.2 Funktionen von Selbstbeteiligungen
3.2.1 Finanzierungsfunktion
3.2.2 Steuerungsfunktion
3.3 Wirksamkeit von Selbstbeteiligungen
3.4 Selbstbeteiligungen im internationalen Kontext
4 Die Praxisgebühr als direkte Selbstbeteiligung
4.1 Ziel und Funktion der Praxisgebühr
4.2 Erhebungsregelungen und soziale Aspekte
5 Effekte der Praxisgebühr
5.1 Verhalten der Versicherten nach Einführung der Praxisgebühr
5.1.1 Häufigkeit der Arztbesuche
5.1.2 Verhalten nach Sozialstatus
5.1.3 Verhalten nach Gesundheitszustand
5.2 Effekte auf die Ärzte
5.2.1 Der Hausarzt als Lotse
5.2.2 Auswirkungen auf die Fachärzte
5.2.3 Einzug der Praxisgebühr
5.3 Auswirkungen auf die gesetzlichen Krankenkassen
6 Kritische Reflexion
6.1 Effekte der Praxisgebühr
6.2 Finanzierungswirkung
6.3 Kosten- und Bürokratiefaktor
7 Fazit
Literaturverzeichnis
Ehrenwörtliche Erklärung
I Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
II Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Prognose der Bevölkerungsstruktur in Deutschland im Jahr 2040
Abb. 2: Gesundheitsausgaben in ausgewählten Ländern von 2000-2003 in % des BIP
Abb. 3: Gesundheitsausgaben je Einwohner in €
Abb. 4: Überschüsse und Defizite der GKV 2001-2010
Abb. 5: Höhe der unbereinigten Zuzahlungen 2005-2010 in Deutschland in Mio. Euro
Abb. 6: Durchschnittl. jährliche Wachstumsrate der Arztkonsultationen je Einwohner
1990-2005 für aus gewählte Länder
Abb. 7: Anzahl der Arztkontakte im 1. Quartal 2004 und 2005
Abb. 8: Entwicklung der Zahl der Praxiskontakte nach Gesundheitszustand
Abb. 9: Vermeidung von Arztbesuchen auf Grund der Praxisgebühr Gesamt und deren
Unterteilung nach Einkommensschichten 2004 und 2005
Abb. 10: Vermeiden von Arztbesuchen nach Gesundheitszustand 2004/2005
Abb. 11: Veränderung der Praxiskontakte 2003-2005
Abb. 12: Entwicklung der Zahl der Praxiskontakte nach Fachrichtungen
Abb. 13: Genannte Gründe für das Aufsuchen eines Facharztes ohne Überweisung
Abb. 14: Einnahmen und Ausgaben der GKV 1991-2010
Abb. 15: Entwicklung der zuzahlungsbefreiten Versicherten 1 und 2 v. H. der
Belastungsgrenze
Abb. 16: Entwicklung der Erstattung und Vorauszahlung von Zuzahlungen
III Tabellenverzeichnis
Tab. 1: internationale Gesundheitssysteme im Vergleich
Tab. 2: ausgewählte Zuzahlungsregelungen im internationalen Vergleich
1 Einleitung
Die Krankenversicherung blickt in Deutschland seit ihrer Einführung durch die Bismarck´sche Gesetzgebung 1883 auf eine über 130 jährige Geschichte zurück, die durch demografische und strukturelle Entwicklungen einem stetem Wandel unterworfen und in Folge dessen von Reformen geprägt war[1]. Die seit der Einführung zugrunde liegende paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde vor allem nach der Wiedervereinigung Deutschlands durch reformbedingte finanzielle Zusatzbelastungen in Form von Zuzahlungen, Selbstbehalten und Eigenanteilen als auch Leistungsausschlüssen für die Versicherten zu deren Ungunsten verschoben[2].
Am 01.01.2004 trat das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Modernisierungsgesetz) in Kraft, das eine neue Form der Selbstbeteiligung von den Versicherten abforderte. Die Praxisgebühr – eine Abgabe, die alle volljährigen Bürger bei jeder ersten beschwerdebedingten Konsultation eines ambulant tätigen Arztes, Zahnarztes oder Psychotherapeuten pro Quartal zu entrichten hatten.
Die Zweckdienlichkeit der Praxisgebühr in ihrer theoretischen als auch praktischen Funktionalität sind dann auch der Kernpunkt dieser Bachelorarbeit, die zunächst die zur Einführung beitragenden Reformentwicklungen in Deutschland, die Formen von Selbstbeteiligungen im nationalen als auch internationalen Kontext betrachtet und schließlich die Auswirkungen der Praxisgebühr nach ihrer Einführung 2004 analysiert.
Insbesondere erarbeitet die Thesis die der Einführung der Praxisgebühr zu Grunde liegenden Erwartungen und vergleicht sie mit den tatsächlich erreichten Effekten bei Versicherten, Ärzten und gesetzlichen Krankenkassen – und stellt sich damit die zentrale Frage, ob die Ziele, die mit der Einführung der Praxisgebühr verfolgt wurden, erreicht werden konnten und welche Bedeutung Selbstbeteiligungen dieser Art in der gesetzlichen Krankenversicherung zukünftig haben werden.
2 Ausgangssituation vor dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2004
Seit der Wiedervereinigung Deutschlands nahm die Häufigkeit der Reformen im Gesundheitswesen stark zu und jede einzelne hatte mindestens eines der Ziele wie Kostendämpfung, Beitragssatzstabilisierung, Erhöhung der Versorgungsqualität und/oder Verbesserung der Versorgungsstruktur zum Ziel. Die dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2004 vorangegangenen Reformen setzten vor allem strukturelle Veränderungen durch, reglementierten die Ressourcengrundlagen und führten Zuzahlungen und Eigenanteile für verschiedene Leistungen ein oder passten diese an. Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte sahen sich dadurch fast jährlich strukturellen und/oder finanziellen Veränderungen ausgesetzt[3].
2.1 Reformentwicklungen seit 1989
Das Gesundheitsreformgesetz 1989 verankerte u.a. die gesetzliche Krankenversicherung im Sozialgesetzbuch, legte Festbeträge für Arzneimittel fest, schloss unwirksame Arzneimittel durch eine Negativliste aus und förderte präventive Leistungen. Sie stellte die Arbeiter den Angestellten bei der Wahlfreiheit der Krankenkasse gleich, wenn diese die Beitragsbemessungsgrenze überschritten und ermöglichte die Erstattung von Krankenkassenbeiträgen, wenn durch den Versicherten keine Leistungen in Anspruch genommen wurden. Die Reform erweiterte die Leistungen der GKV im Bereich der häuslichen Pflege und erhöhte die Zuschüsse zum Zahnersatz, wenn die Vorsorge regelmäßig wahrgenommen wurde[4].
Die dann folgende und erste Gesundheitsreform für das vereinigte Deutschland war das Gesundheitsstrukturgesetz von 1993, das neben dem Risikostrukturausgleich (ab 1994) auch teilweise Fallpauschalen für Krankenhäuser bei ausgewählten Leistungen (ab 1996) und Ausgabenobergrenzen für die Gesundheitssektoren einführte. Die Grenzen zwischen ambulantem und stationärem Sektor wurden aufgeweicht und ambulante Operationen im Krankenhaus möglich. Ferner wurde die Zahl der niedergelassenen Ärzte stärker reglementiert, die Zuzahlungen für Arzneimittel erhöht sowie für Festbetragsprodukte neu eingeführt. Resultat dieser Reform war auch die freie Krankenkassenwahl ab 1996 für fast alle gesetzlich Versicherten. Die Maßnahmen dieses Gesundheitsstrukturgesetzes veränderten die Finanzierungs- und Wettbewerbsstrukturen innerhalb der GKV und zielten damit vorrangig auf die konsequente Kostendämpfung durch Budgetreglementierung und stärkere Beteiligung der Versicherten ab. Die Reglementierungen, teilweise Finanzierungsumstrukturierung des stationären Sektors als auch die Freigabe der Kassenwahl erhöhten die Konkurrenz der Kassen und Leistungserbringer untereinander und förderten damit die Steigerung der Kosteneffizienz[5].
Das Krankenversicherungsbeitragsentlastungsgesetz 1997 war Teil eines komplexen Gesetztes zur Stärkung des Wirtschaftswachstums. Die dem Namen des Gesetzes zu entnehmende zielvorrangige Beitragsentlastung wurde zum großen Teil durch Leistungsausschlüsse und Erhöhung der Zuzahlungen realisiert. Allerdings wurden viele der in diesem Gesetz beschlossenen Leistungsausschlüsse sehr schnell wieder rückgängig gemacht. So wurden operative zahnärztliche Leistungen und Zahnersatz für Versicherte, die nach 1978 geboren wurden ab dem 01.01.1997 vollständig aus der Leistungspflicht der Kassen herausgenommen und ab dem 01.01.1999 wieder eingeführt. Zunächst erhöhte Zuzahlungen für Arzneimittel und nun gekürzte rehabilitative Leistungen wurden schrittweise in 1999 und 2000 wieder reduziert. Auch Gesundheitsförderungsleistungen wurden komplett gestrichen und 2000 teilweise wieder eingeführt. Das Gesetz entlastete aber auch Versicherte und Arbeitgeber durch eine Senkung des Beitragssatzes um 0,4 %.
Mit nur einem halben Jahr Abstand folgten dann das 1. GKV-Neuordnungsgesetz zum 01.07.1997 und das 2. GKV-Neuordnungsgesetz zum 01.01.1998. In beiden Reformen wurden zahlreiche, sich hauptsächlich zu Ungunsten der Versicherten auswirkende Maßnahmen beschlossen, diese aber mit der darauffolgenden Reform wieder abgeschafft. Bleibende Maßnahmen dieser Reformen waren u.a. die erneute Erhöhung der Zuzahlungen für Krankenhausaufenthalte, Arznei- und Hilfsmittel, Krankentransporte und Zahnersatz (für zu dieser Zeit anspruchsberechtigte Jahrgänge). Eine Erweiterung des Leistungskataloges stellte die Bezuschussung der Hospizversorgung dar. Die Kassen konnten individuelle Verträge mit ambulanten und stationären Leistungserbringern schließen und erhielten den Auftrag, die Fallpauschalen-Regelung in der stationären Versorgung weiterzuentwickeln. Insgesamt lag die Grundausrichtung der GKV-Neuordnungsgesetzte nicht mehr nur in der generellen Kostenreduktion, sondern auch in der Konkurrenzverschärfung durch erweiterte individuelle Vertragsmöglichkeiten für die Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern aber auch gegenüber den Versicherten. Die erneute Belastung der Versicherten durch erhöhte Zuzahlungen hatte nicht mehr nur den Hintergrund das Leistungs-inanspruchnahmeverhalten zu steuern, sondern auch vornehmlich den Zweck, Geld in das GKV-System fließen zu lassen[6].
Mit der Bundestagswahl 1998 änderten sich die politischen Machtverhältnisse und die bisherigen Regierungsparteien CDU/CSU und FDP gerieten in die Opposition. Die politische Neuordnung wirkte sich durch das Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der GKV ab 1999 aus. Im Wesentlichen wurden die in den GKV-Neuordnungsgesetzen von 1997 und 1998 eingeführten Maßnahmen aufgehoben. Rückgängig gemacht wurden u.a. der geburtenjahrabhängige Leistungsausschluss bei der zahnärztlichen Versorgung, die Koppelung von erhöhten Zuzahlungspflichten für Versicherte bei Beitragserhöhungen ihrer Kasse und die Möglichkeit der Kassen, Kostenerstattungs- und Wahlleistungsoptionen anzubieten. Wieder eingeführt wurden die in den vorherigen Reformen aufgehobenen Budgets im ambulanten Bereich und die Obergrenzen für Arzneimittelausgaben. Die Zuzahlungen für Arzneimittel und Zahnersatz wurden minimiert und Arbeitnehmer und Arbeitgeber wieder gleichmäßiger an der Beitragsleistung beteiligt.
Am 01.01.2000 trat dann die GKV-Gesundheitsreform 2000 in Kraft. Dieses Gesetz war auf die langfristige Umgestaltung der GKV ausgelegt und zeichnete sich hauptsächlich durch strukturelle Ansätze und nicht überwiegend durch Zuzahlungserhöhungen oder Leistungseinschränkungen aus. Markante Eckpunkte dieser Reform waren die Bereinigung des Leistungskataloges der GKV um Arzneimittel und Behandlungsansätze, deren Nutzen oder Wirkung umstritten und Wirtschaftlichkeit fraglich waren. Neue Gremien und Ausschüsse wurden mit der Bewertung der Wirksam- und Wirtschaftlichkeit beauftragt. Ein weiterer Aspekt war die engere Kooperation der Haus-und Fachärzte im ambulanten Bereich und die bessere Verzahnung von stationärem und ambulantem Sektor. Die Dauer von Rehabilitationsleitungen wurde diagnoseabhängig individualisiert, die Soziotherapie in den Leistungskatalog aufgenommen und die Zahnprophylaxe erweitert. Abgeschafft wurde die Kostenerstattung für Versicherte unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze[7].
Die folgenden Reformen von 2002 bis 2003 brachten für die Versicherten keine finanziellen Mehrbelastungen und betrafen die Pflegeversicherung (Pflegeleistungs-Ergänzungs- und Pflege-Qualitätssicherungsgesetz 2002), den Risikostrukturausgleich (Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleiches (RSA) in der GKV 2002), die Begrenzung der Arzneimittelausgaben (Arzneimittelausgaben-Begrenzungsgesetz 2002), die Vergütung der Krankenhäuser (Krankenhaus-Entgeltgesetz 2003) und die Sicherung des Beitragssatzes (Beitragssatzsicherungsgesetz 2003)[8].
2.2 Gründe für die Reform 2004
Die gesetzliche Krankenversicherung ist eines der Puzzleteile im Konstrukt der Sozialsicherungssysteme in Deutschland und auf Grund ihrer Finanzierungsstruktur abhängig von den demografischen und konjunkturellen Entwicklungen.
- Demografische Entwicklung
Durch niedrige Geburtenraten und längere Lebenserwartungen wird sich die Bevölkerungspyramide bis 2040 derart verformen, das einem Rentner statt heute noch 4 dann nur noch knapp 2 Menschen im Erwerbsalter gegenüber stehen werden[9]. Die geringeren Beitragszahlungen der Rentenempfänger und der sich erhöhende Leistungsbedarf der größer werdenden und länger lebenden Rentnergeneration stehen den Beitragszahlungen der sich deutlich reduzierenden erwerbstätigen Bevölkerung gegenüber – und bringen das zur ausgewogenen Finanzierung notwendige Wechselspiel zwischen Einnahmen und Ausgaben weiter aus der Waage.
Abb. 1: Prognose der Bevölkerungsstruktur in Deutschland im Jahr 2040
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt 2009.
Zu berücksichtigen war auch, dass nicht alle erwerbsfähigen Menschen tatsächlich immer einer Beschäftigung nachgehen – Arbeitslosenquoten und längerfristige Rezessionen beeinflussen die tatsächliche Zahl der Beschäftigten zusätzlich und mindern die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung. Insgesamt stehen die Finanzierung der Krankenversicherung, die demografische Entwicklung der Bevölkerungsstruktur und die Schwankungen der Arbeits- und Wirtschaftssektoren in starker Interaktion[10].
- steigende Gesundheitsausgaben
Stetig steigende Kosten der Gesundheitsversorgung betreffen nahezu alle Leistungssektoren der Krankenversicherung. Trotz der zuvor durchgeführten Reformen zur Kostendämpfung stiegen die Gesundheitsausgaben auf im internationalen Vergleich bereits hohem Niveau stetig an. Von 1992 bis 2003 stiegen die Ausgaben für medizinische Güter um 41% und für Dienstleistungen um 30%. Die Gesundheitsausgaben insgesamt stiegen um 38,5 %[11]. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt betrug im Jahr 2000 10,3 % und im Jahr 2003 10,8 %[12].
Abb. 2: Gesundheitsausgaben in ausgewählten Ländern von 2000-2003 in % des BIP
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: verkürzte eigene Darstellung nach Beske, Goldbach (2009), S. 31.
Trotz steigender Kosten besteht jedoch auch der Anspruch medizinisch-technisch hochwertige, auf dem Stand der Forschung befindliche Versorgung zu bieten. Die Reform musste also wiederum Wege und Mittel finden, die Steigerung der Gesundheitsausgaben zu dämpfen und auf einem finanzierbarem Niveau zu halten, ohne dadurch Rationierungen zu provozieren, die der fortschrittlichen medizinischen Versorgung der Bevölkerung entgegenstanden und eine Weiterentwicklung in der Forschung und Entwicklung behinderten.
- Versorgungsstruktur
Einen weiteren zentralen Aspekt stellt die Komplexität des Krankenversicherungssystems dar. Durch zahlreiche horizontal und vertikal nebeneinander her agierende Ärzte, Leistungserbringer und Versorger im ambulanten und stationärem Bereich waren derart undurchsichtige Strukturen gewachsen, dass durch die fehlende zielorientierte Koordination der Therapieabläufe schließlich ca. 25% aller Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung durch Unter-, Über- oder Fehlversorgungen verursacht wurden. Die Reform sollte durch Umstrukturierungen im Behandlungsapparat den Patienten zu einem informierten, gleichberechtigten und auch eigenverantwortlichen Teil des Ganzen machen und die Informationsasymmetrien zwischen Patienten und Behandlern reduzieren. Der Über- und Fehlversorgung sollte durch die konsequente Fokussierung auf medizinisch notwendige Leistungen begegnet werden[13].
- Fazit
Die Sicherstellung der Finanzierbarkeit und Leistungsfähigkeit der Krankenversicherung waren demnach die neuen alten Ziele der Reform 2004. Zu berücksichtigen waren dabei sich immer stärker verändernde Rahmenbedingungen in Form demografischer Verformungen, zunehmenden finanziellem Druck auch im Kontext des internationalen Wettbewerbes um den Wirtschaftsstandort Deutschland (Stichwort: Lohnnebenkosten) und der teilweisen Neustrukturierung des Systems zur generellen Kostenreduktion[14].
2.3 Reformvorschläge
Der Einführung des GKV-Modernisierungsgesetzes ging die Berufung der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ im November 2002 voran (Rürup-Kommission), die im Auftrag der Bundesregierung unter dem Vorsitz von Bert Rürup Reformvorschläge für die nachhaltige Finanzierung der sozialen Systeme in Deutschland erarbeiten sollte und ihren Bericht im August 2003 vorlegte[15].
Die Kommission erarbeitete nicht nur für die Krankenversicherung sondern auch für die Renten- und Pflegeversicherung Reformvorschläge. Die Autorin geht in diesem Abschnitt auf die Reformvorschläge zur Krankenversicherung ein, da diese für das zentrale Thema dieser Arbeit relevant sind.
Innerhalb der Kommission wurde auf die Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung eine Arbeitsgruppe „Krankenversicherung“ gebildet, die insbesondere Vorschläge zur Senkung des Beitragssatzes und zur nachhaltigen Restrukturierung der Ausgabenvolumina erarbeiten sollte.
Resultat der Arbeitsgruppe war der „Zwei-Stufen-Plan zur Förderung der Nachhaltigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung“, dessen 2. Stufe eine grundlegende Reformierung der Finanzierungsbasis vorschlug, Finanzierungsmodelle erläuterte und notwendige Maßnahmen zur Umsetzung benannte[16].
Die Kommission stellte in ihrem Bericht u.a. fest, dass die Höhe des Lohnnebenkostenfaktors Krankenversicherung für die Entwicklung und Stabilisierung der Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Deutschland kontraproduktiv war und plädierte für eine deutliche Beitragssatzsenkung. Die Arbeitsgruppe Krankenversicherung machte dann in der 1. Stufe des o.g. Planes folgende Maßnahmenvorschläge[17]:
- die Finanzierung des Krankengeldes sollte aus der Parität herausgenommen und allein den Arbeitnehmern auferlegt werden – dadurch ließen sich bis zu 0,8 Prozentpunkte im Beitragssatz generieren
- bisher durch die GKV finanzierte Leistungen mit gesellschaftsbezogenen Hintergrund, s.g. versicherungsfremde Leistungen – hierzu zählen u.a. Schwangerschafts-und Mutterschaftsleistungen inkl. Beitragsfreiheit während des Bezuges von Mutterschafts- und Erziehungsgeld, Leistungen für Verhütung, künstliche Befruchtung und Schwangerschaftsabbrüche/Sterilisationen sowie Kinderkrankengeld – sollten durch Steuermittel gedeckt werden – dies würde eine Senkung des Beitragssatzes um 0,4 bis 0,5 Prozentpunkte zulassen
- die in Deutschland überdurchschnittlich hohen Preise für Generikapräparate sollten durch Wegfall der Preisbindung ein niedrigeres Niveau erreichen – und eine Senkung des Beitragssatzes um 0,2 Prozentpunkte
- die bestehenden Zuzahlungsregelungen sollten systematisch ausgeweitet werden – dies sollte zunächst den hohen Finanzierungsdruck mindern und die Versicherten zu einem eigenverantwortlichen und rationalen Ressourcenabruf auffordern
Die Kommission stellte in ihrem Bericht auch fest, dass dem System der lohnabhängigen Beitragszahlung in der Krankenversicherung Anreize für ein kostenbewusstes Anspruchsverhalten seitens der Verbraucher fehlten. Der Versicherte zahlte monatlich einen festen - durch geringe Leistungsinanspruchnahme oder gesundheitsbewusstes Verhalten nicht reduzierbaren - Beitrag zur Krankenversicherung. Dementsprechend schöpfte er im für ihn nach eigenem Ermessen eingetretenen Leistungsfall das verfügbare Leistungsangebot größtmöglich und mit nur wenig Kostenbewusstsein aus[18].
Dieser Effekt wird auch als „ex post Moral Hazard“ beschrieben – der durch die Informationsasymmetrien zwischen Patient und Arzt bedingt wird und in der Konsequenz zur überproportionalen Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen durch den Patienten führt, da dieser die Qualität der Versorgung mit deren Quantität verknüpft und damit an der größtmöglichen Ausschöpfung interessiert ist[19].
Verschiedene Umfragen ermittelten für die Zeit von 1999 bis 2002 dann auch durchschnittlich zwischen 8 bis 12 Arztkontakte. Die tatsächliche durchschnittliche Zahl der Arztbesuche dürfte noch höher gelegen haben, da die Statistiken nur jeweils den ersten Kontakt pro Quartal erfassten, die Folgekontakte hingegen wurden nicht als neue Konsultation gewertet[20]. Die Versicherten waren bis dato in keiner Weise daran gehindert, Allgemein- und Fachärzte auch bei (eigentherapierbaren) Bagatellerkrankungen aufzusuchen, Zweit- und Drittmeinungen einzuholen oder sich gar für dieselbe Erkrankung bei mehreren (Fach)Ärzten gleichzeitig in Behandlung zu begeben[21].
Die Arbeitsgruppe Krankenversicherung empfahl sodann, die Zuzahlungsregelungen so zu verändern und auszuweiten, dass „ …sie in erster Linie ein rationales Verhalten der Patienten bei der Nutzung des Gesundheitssystems belohnen, …“[22], und schlägt vor, für das Aufsuchen einer ambulanten Praxis eine Gebühr von 15 € zu erheben. Davon ausgenommen sollten nur Kinder, unfallbedingte Konsultationen und Präventionsmaßnahmen sowie Besuche im Rahmen von Chroniker-Programmen sein. Die Sozialverträglichkeit dieser neuen Selbstbeteiligung im ambulanten Bereich sollte nach der Empfehlung der Arbeitsgruppe durch eine Begrenzung der Gebühr pro Kopf und Jahr sichergestellt werden[23].
3 Selbstbeteiligungen als Steuerungsinstrument
Das Fünfte Buch Sozialgesetzbuch stellt bereits in seinem 1. Paragraphen fest, dass Versicherte „… für ihre Gesundheit mitverantwortlich …“ und „ … durch aktive Mitwirkung …“ zu deren Erhaltung und Wiederherstellung aufgefordert sind[24].
Die Problematik der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung führt in Verbindung mit den Effekten der Inanspruchnahme (Morald Harzard) und der im Gesetz verankerten Eigenverantwortung dazu, dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht als Vollversicherung eintritt und ein Teil der Leistungen durch die Versicherten selbst zu finanzieren ist. Selbstbeteiligungen werden allgemein als versorgungsbezogene, über die grundsätzliche Beitragszahlung hinausgehende finanzielle Beteiligung der Versicherten an Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung definiert.
3.1 Formen der Selbstbeteiligung
Selbstbeteiligungen lassen sich in monetäre und abweichend von der allgemeinen Definition auch in nicht-monetäre Formen gliedern. Nicht monetäre Selbstbeteiligungen bezeichnen dabei im Wesentlichen die Zeit- und Wegekosten die dem Erkrankten für die Diagnostik und Behandlung seiner Gesundheitsstörung entstehen. Diese indirekten Kosten werden in den Fachkreisen auf Grund des in der allgemeinen Definition enthaltenen, grundsätzlich monetären Charakters von Selbstbeteiligungen, nicht ganz unumstritten zu diesen gezählt[25].
3.1.1 Nicht-monetäre Selbstbeteiligungen
- Patientenquittung
Unter die nicht-monetäre Selbstbeteiligung wird die ebenfalls mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2004 eingeführte Patientenquittung gezählt. Diese ist nicht mit einer direkten Zahlung verbunden, soll jedoch dem Versicherten in Form einer Einzelquittung bzw. eines Quartalsauszuges die tatsächlich entstandenen Kosten seiner Behandlung visualisieren. Die Patientenquittung wird nur auf Anforderung des Patienten erstellt und in der Regel gegen Entrichtung einer Verwaltungsgebühr zugestellt. Damit hat diese Selbstbeteiligung keine Vorfeldsteuerungswirkung soll aber für nachfolgende Konsultationsentscheidungen sensibilisieren[26].
- Opportunitätskosten
In die gleiche Kategorie zählen s.g. Opportunitätskosten, die den zeitlichen Aufwand, die zurückzulegenden Wege und ggf. zu ertragenen Schmerzen während einer Behandlung beschreiben. Versicherte müssen für Diagnostik und Behandlung Zeit aufwenden und Wege zu den Behandlern zurücklegen, die ohne Erkrankung nicht anfallen würden – sie müssen Ressourcen aufwenden, deren Verwendung häufig nicht oder nur in begründeten Einzelfällen teilweise ersetzt werden[27]. Ein Ausgleich der durch Schmerzen und/oder Nebenwirkungen der Behandlung eingeschränkten Lebensqualität erfolgt nicht[28].
3.1.2 Monetäre Selbstbeteiligung
Eine grundsätzliche Unterscheidung bei den monetären Selbstbeteiligungen erfolgt durch die Übernahme oder den Ausschluss einer Leistung durch die gesetzliche Krankenversicherung.
- Selektiver Leistungsausschluss
Der Ausschluss einer Leistung aus der Solidarpflicht der Gemeinschaft bedeutet für den Einzelnen eine Selbstbeteiligung von 100%[29]. Dieser selektive Leistungsausschluss – also bestimmte Leistungen betreffend – ist unter anderem bei Erkältungsmedikamenten, homöopathisch wirkenden Mitteln oder s.g. Lifestyle-Präparaten wie Appetitzüglern oder Nahrungsergänzungsmitteln zu beobachten[30]. Außerdem trifft man den selektiven Leistungsausschluss überall dort an, wo das medizinisch notwendige Maß unter Berücksichtigung der ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung überschritten wird. Beispielhaft sind im ambulanten Bereich die zahlreichen IGEL-Leistungen[31] und im stationären Bereich die Chefarztbehandlung oder Ein-Bett-Zimmer-Unterbringung zu nennen.
[...]
[1] Vgl. Castelli, Dieckmann (2009), S. 11 ff.
[2] Vgl. Götze, Salomon (2009), S. 71.
[3] Vgl. Busse, Riesberg (2005), S. 224 ff.
[4] Vgl. ebd.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. ebd.
[7] Vgl. Busse, Riesberg (2005), S. 230 f.; AOK Bundesverband (2013a).
[8] Vgl. AOK Bundesverband (2013a).
[9] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003 a), S. 54 ff.
[10] Vgl. ebd., S. 143 f.
[11] Vgl. Busse, Riesberg (2005), S. 102 f.
[12] Vgl. Beske, Goldbach (2009), S. 31.
[13] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003 b), S. 06 f.
[14] Vgl. Rau (2009), S. 178 f.
[15] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung (2003 c).
[16] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003 d), S. 1 ff.
[17] Vgl. ebd., S. 3 ff.
[18] Vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003 a), S. 143.
[19] Vgl. Götze (2006), S. 26 ff.
[20] Vgl. Busse, Riesberg (2005), S. 113.
[21] Vgl. Götze (2006), S. 72 f.
[22] Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2003 d), S. 4.
[23] Vgl. ebd., S. 4.
[24] §1 SGB V.
[25] Vgl. Götze (2006), S. 28 f.
[26] Vgl. Götze (2006), S. 29 f.
[27] Vgl. hierzu: § 60 SGB V – Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung werden unter Abzug einer Selbstbeteiligung in definierten Einzelfällen auf ärztliche Verordnung erstattet; § 46 SGB V – der Anspruch auf Krankengeld entsteht in der Regel erst einen Tag nach ärztlicher Feststellung.
[28] Vgl. Götze (2006), S. 28 f.
[29] Vgl. Rothgang, Staber (2010), S. 116.
[30] Vgl. § 34 SGB V.
[31] IGEL-Leistungen sind Individuelle Gesundheitsleistungen, die als Zusatz zur kassenfinanzierten Vorsorgeuntersuchung angeboten werden, deren diagnostischer und medizinischer Nutzen jedoch nicht ausreichend belegt ist.
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