Zunächst möchte ich in dieser Arbeit die historischen Hintergründe des Phänomens „russlanddeutsch“ erläutern und beschreiben, wie es dazu kam, dass Menschen aus dem deutschsprachigen Raum in unbewohnte Gebiete Russlands umsiedelten, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Weiterhin werde ich die sprachlich-kulturelle Entwicklung der Russlanddeutschen - insbesondere in ihren Hindernissen - beleuchten sowie Besonderheiten in soziolinguistischen Prozessen herausstellen. Dabei wird unter Berücksichtigung relevanter Kategorien zu analysieren sein, welche Faktoren sich günstig, welche sich wiederum hinderlich auf den Erhalt der deutschen Sprache und Kultur der Russen deutscher Abstammung auswirkten und auswirken. In einem sich daran anschließenden Fazit gehe ich auf aktuelle politische Situationen und Bemühungen der Russlanddeutschen um Autonomie ein und beziehe persönlich Stellung darauf.
Gliederung:
1. Einleitung und Zielsetzung
2. Die Historie
2.1. Zur Initiative der russischen Zarin
2.2. Weiterer Verlauf und sprachliche Situation
3. Die Gegenwart - Demographie und Politik
4. Soziolinguistische Betrachtungen
4.1. Sprache und Identität
4.2. Bedingungen des Spracherhaltes – ein Rückblick
4.3. Sprachloyalität
5. Spracherhalt und Sprachverlust
6. Ausblicke und Fazit
7. Literaturnachweis
1. Einleitung und Zielsetzung
Während des Sommersemesters 2003 belegte ich am Lehrstuhl „Historische und Vergleichende Erziehungswissenschaft“ bei Herrn Dr. Daum das Seminar „Integration und Separation von Ausländern Osteuropas“. In diesem Zusammenhang beschäftigte ich mich stärker mit der sprachlichen Situation der russischen Bürger deutscher Nationalität, der sogenannten Russlanddeutschen. Als Germanistik-Student (MA) im Hauptfach hege ich ein besonderes Interesse an sprachlichen Phänomenen. Zudem stellt die Arbeit mit Ausländern für mich ein berufliches Potenzial im Bereich „Deutsch als Fremdsprache“ dar, weshalb ich mich zu diesem Thema entschloss. Die vorliegende Hausarbeit ist eine Ergänzung zum im Seminar von mir gehaltenen Referat. Sie soll wiederholen, daran anknüpfen und vertiefen.
Zunächst möchte ich in dieser Arbeit die historischen Hintergründe des Phänomens „russlanddeutsch“ erläutern und beschreiben, wie es dazu kam, dass Menschen aus dem deutschsprachigen Raum in unbewohnte Gebiete Russlands umsiedelten, um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Weiterhin werde ich die sprachlich-kulturelle Entwicklung der Russlanddeutschen – insbesondere in ihren Hindernissen - beleuchten sowie Besonderheiten in soziolinguistischen Prozessen herausstellen. Dabei wird unter Berücksichtigung relevanter Kategorien zu analysieren sein, welche Faktoren sich günstig, welche sich wiederum hinderlich auf den Erhalt der deutschen Sprache und Kultur der Russen deutscher Abstammung auswirkten und auswirken. In einem sich daran anschließenden Fazit gehe ich auf aktuelle politische Situationen und Bemühungen der Russlanddeutschen um Autonomie ein und beziehe persönlich Stellung darauf.
2. Die Historie
2.1. Zur Initiative der russischen Zarin
In diesem Kapitel möchte ich der Frage nachgehen, wie es in der Geschichte dazu kam, dass sich sehr viele Menschen aus dem deutschsprachigen Raum in die Gebiete des Zarenreiches Russland aufmachten, weshalb sie ihre angestammte Heimat verließen, um in ihnen unbekanntem Terrain ein neues Leben aufzubauen. In Beantwortung dieser Frage müssen wir gedanklich ca. 250 Jahre zurückgehen: in die Zeit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Zeit des alten Goethe und des großen Schiller, in jene Epoche des Aufstieges und des Falls Napoleons Bonaparte und der Französischen Revolution. Es herrschten im zersplitterten deutschen Raum absolutistische Verhältnisse. Der Keim nationalstaatlicher Bewegungen mit großem Expansionsdrang brachte nicht selten Kriege mit sich, in deren Folge Land- sowie Stadtbevölkerung Zerstörung und Hungersnöte erleben mussten. Insbesondere der von Preußen unter Friedrich II. geführte Siebenjährige Krieg um die Provinz Schlesien 1756-1763 gegen Österreich, dem Frankreich und Russland beistanden, brachte eine ungeheure Not mit sich. 1775 erinnerte sich „der große Fritz“ an das Kriegsende: „Um sich einen Begriff von der allgemeinen Zerstörung zu machen ... muß man sich völlig verheerte Landstriche vergegenwärtigen ... Städte, die von Grund auf zerstört ..., 13.000 Häuser, die bis auf die letzte Spur vertilgt waren. Nirgends bestellte Äcker, kein Korn zur Ernährung der Einwohner; 60.000 Pferde fehlten den Landleuten zur Feldarbeit.“ (Berger, 107, Q 2)
Es fehlte an allem Notwendigem, gleichzeitig trieb ständige Kriegsangst die Menschen um. In jener unsicheren Zeit waren, angetrieben durch die Feldzüge Napoleons quer durch Europa, die Familien zudem der ständigen Gefahr ausgesetzt, dass ihre Männer zum langjährigen Kriegsdienst herangezogen worden.
Zum Ende des Siebenjährigen Krieges, der für Preußen keine Gebietserweiterung brachte, lud Russlands Zarin Katharina II. (1762-1796), Tochter des Fürsten Christian-August von Anhalt-Zerbst, in einem Manifest Kolonisten aus Mittel- und Südosteuropa ,u.a. Deutsche, dazu ein, in die russischen Gebiete hauptsächlich an der Wolga und auf bzw. an der Krim zu migrieren. Diese Einladung geschah vor dem politischen Hintergrund, Russland in den europäischen Raum zu integrieren und es zur europäischen Großmacht aufsteigen zu lassen. Deutsche Bauern sollten dazu beim Aufbau der russischen Infrastruktur helfen und
unbesiedelte Gebiete nutzbar machen. In Folge dieses Manifestes zogen 1764 die ersten deutschen Kolonisten in die russischen Gebiete und gründeten Siedlungen bei Petersburg, an der Wolga, im Schwarzmeergebiet um die Krim sowie im Kaukasus, später auch in Sibirien und Mittelasien.
In der Ethnologie wird in diesem Zusammenhang oft von Push- und Pull-Faktoren (aus engl.: schieben und drücken) gesprochen. Der Siebenjährige Krieg hatte die Bauern um die Früchte ihrer Arbeit gebracht, die stark zerstörte Infrastruktur bedeutete einen mit großen Anstrengungen verbundenen Neuanfang, bei ständiger Gefahr eines neuen Krieges. Diese Tatsache `schob` eine Vielzahl von Bauern in die unbesiedelten russischen Gebiete weitab europäischer Kriegsschauplätze, in welche sie durch die Hoffnung auf ein ruhigeres und besseres Leben in stabileren Verhältnissen – initiiert durch Katharinas gezieltes Anwerben - nahezu `gezogen` worden.
In den ersten drei Jahren dieser weitreichenden Migration zogen rund 23.000 Siedler vor allem in die Gebiete entlang der Wolga. Diese Menschen kamen aus dem gesamten deutschen Sprachraum, hauptsächlich jedoch aus Hessen, dem Rheinlande, der Pfalz, Württemberg, aus dem Elsaß und Lothringen sowie der Schweiz und den Niederlanden. (Boldt, 35)
2.2. Weiterer Verlauf und sprachliche Situation
Im ersten Jahr wurden bereits 104 Siedlungen an der Wolga gegründet, in denen durchschnittlich ca. 220 Menschen lebten. Die Zusammensetzung der Bewohner eines Dorfes war oft rein zufällig. Eine Trennung erfolgte zwar streng nach der Konfession, nicht jedoch nach der Herkunft [www.russlanddeutsche.de] (26.04.03). Dies führte zu der Situation, dass sich in manchen Orten Kolonisten aus Dutzenden verschiedener Dialektgebiete trafen. Im Dorf Preuß beispielsweise versammelten sich Menschen aus 129 verschiedenen Orten Deutschlands, Österreichs und des Elsaß. Die sich daraus ergebende Vielfalt an Dialekten führte zwangsläufig zu anfänglichen Verständigungsproblemen. Da es in diesen multikulturellen Siedlungen keine Standardsprache gab, verständigten sich die Einwohner mittels eigener Dialekte. (Rosenberg, 593)
Seit 1789 nach dem durch Russland gewonnenen Krieg gegen die Türken kamen weitere Siedler in die Schwarzmeergebiete. Diese waren zumeist ostniederdeutsch sprechende Mennoniten – Anhänger einer evangelischen Freikirche - aus Westpreußen um Danzig.
In der Chortitzer Altkolonie wurden 18 Dörfer gegründet, die Molotschnaer Kolonie umfasste weitere 55 Dörfer. Fünfzehn Jahre später im Jahr 1804 übte sich Zar Alexander I., der Enkel von Katharina der Großen, in Fortführung europäischer Integration und lud Siedler aus Württemberg, Baden, Elsaß, Bayern in die Gebiete des Schwarzmeeres, der Krim und des Kaukasus ein. Diese Migrationsbewegung hielt in der ganzen ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an und betraf in dieser Zeit vor allem Siedler aus Schlesien und Polen, das 1795 durch `die Teilungen` völlig von der politischen Landkarte verschwunden war. Gegen Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten sich aus den Mutterkolonien der ersten Einwanderergeneration Tochterkolonien im Orenburger Gebiet, Baschkirien, Sibirien u. Mittelasien.
Die Koexistenz mehrerer Dialekte einerseits und die Abgeschiedenheit von der sprachlichen Heimat sowie die relative soziale, ökonomische und kulturelle Abgeschlossenheit dieser Siedlungen gegenüber ihren russischen Nachbarn andererseits führte rasch zur Herausbildung von Ortsmundarten, die sich in einem raschen sprachlichen Ausgleichsprozess etablierten.
Ein dialektischer Ausgleichsprozess in diesen Sprachinseln vollzog sich innerhalb der ersten 100 Jahre nach Gründung der Siedlungen, er wurde beschleunigt durch eine flächendeckende Ausbreitung der Schulen, die von den Einwanderern für ihre Kinder gebaut worden waren. Peter Rosenberg (Rosenberg, 596) spricht in diesem Zusammenhang von einem „atemberaubenden Prozess der Dialektmischung“, in deren Ergebnis die Vielzahl unterschiedlichster Dialekte zugunsten einer „immer noch stattlichen Anzahl von Hauptvarietäten“ reduziert wurde. (ebd.) In den Kolonien entlang der Wolga bildeten sich hauptsächlich hessische und rheinfränkische Mundarten heraus, da die dort lebenden Kolonisten hauptsächlich aus dem west- und südwestdeutschen Sprachraum stammten.
Wie sich die sprachlichen Ausgleichsprozesse der Russlanddeutschen im Wolgagebiet genau vollzogen, untersuchte der Dialektforscher Prof. Georg Dinges (* 1891 - † 1931). In den Jahren 1925 bis 1929 wanderte er zusammen mit seiner Ehefrau alle Mutterkolonien ab, um sich mit dem Einfluss der russischen Sprache auf die deutschen Wolgadialekte zu befassen. Dazu bediente er sich der „Wenker-Sätze“ (Anm.: Georg Wenker – Begründer des Deutschen Sprachatlas), nach denen er Testsätze unter Beachtung linguistischer Kriterien erstellte, um `versteckte` sprachliche Merkmale zu sammeln, zu klassifizieren und zu kartieren. Anhand seiner Ergebnisse konnte Dinges Rückschlüsse ziehen auf die Mechanismen eines Sprach- bzw. Dialektausgleiches, wie er bei den Russlanddeutschen durch das enge Zusammenleben in den `Sprachinseln` stattfand. Leider erfuhr der Dialektforscher das gleiche Schicksal wie viele der Russlanddeutschen in der Zeit ab der Oktoberrevolution, als sich der politisch-ideologische Geist zu ihren Ungunsten wandelte und zahlreiche bereits auf russischem Boden geborenen Siedler deportiert und inhaftiert oder sogar umgebracht wurden. Aufgrund des Vorwurfes von Hochverrat war er zunächst zwei Jahre in Untersuchungshaft gewesen, woraufhin er nach Westsibirien verbracht worden war, um dort in einem Krankenhaus als Sanitäter zu arbeiten. Dinges starb dort an den Folgen einer Typhus-Erkrankung. Einige seiner Arbeiten konnten gerettet werden, Vieles blieb jedoch verschollen.
Der Dialektforscher Viktor Schirmunski beschrieb 1930 in der Germanisch Romanischen Monatsschrift GRM 18 „Sprachinseln als sprachgeschichtliches Laboratorium. In dem wir an der Hand geschichtlicher Zeugnisse in einer kurzen Zeitspanne von 100-150 Jahren Entwicklungen verfolgen können, die sich im Mutterlande in mehreren Jahrhunderten abgespielt haben müssen...“
Der Nachfolger von Prof. Georg Dinges war Andreas Dulson, welcher Beispiele für gemeinsame Merkmale wolgadeutscher Dialekte analysierte. Demnach hätten alle westmitteldeutschen wolgadeutschen Mundarten eine gemeinsame Erscheinung:
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- Dennis Hippler (Author), 2003, Zu Fragen des Sprachverhaltens russischer Bürger deutscher Nationalität. Eine historische Entwicklung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26670
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