In dieser Bachelorarbeit wird ein umfassender Überblick zum Stand der wissenschaftlichen Diskussion über die pathologische Internetnutzung bzw. der "Internetsucht" gegeben. Insbesondere wird dabei auf die sensible Phase der Jugend eingegangen.
Im zweiten Teil werden die praktische Durchführung einer empirischen Untersuchung zum Auftreten einer möglicherweise schädlichen Nutzungsweise bei Schülern und Schülerinnen beschrieben sowie die Ergebnisse diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Teil
2.1 Pathologischer Internetgebrauch
2.1.1 Begriffe für den pathologischen Internetgebrauch
2.1.2 Auswirkungen des pathologischen Internetgebrauchs
2.1.3 Einordnung des exzessiven Internetgebrauchs
2.1.4 Erklärungsansätze für den pathologischen Internetgebrauch
2.1.5 Prävalenz des pathologischen Internetgebrauchs
2.1.6 Online-Kommunikation und Online-Spiele
2.1.7 Therapieansätze
2.2 Internet und Jugendalter
2.2.1 Entwicklungsaufgaben nach Hurrelmann
2.2.2 Problematische Verhaltensweisen
2.2.3 Eltern und Peergroup
2.2.4 Entwicklungsaufgaben im Internet
3 Empirischer Teil
3.1 Hypothesen und Fragestellungen
3.2 Methoden
3.2.1 Forschungsdesign und Stichprobe
3.2.2 Erhebungsmethode
3.2.3 Durchführung
3.3 Auswertung
3.4 Ergebnisse
3.4.1 Stichprobenbeschreibung
3.4.2 Ergebnisse deskriptiv
3.4.3 Ergebnisse Forschungsfragen und Hypothesen
3.5 Interpretation der Ergebnisse und Diskussion
4 Schlussteil: Praktische Empfehlungen für die Soziale Arbeit
Anhang
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Seit der Entwicklung des Internets in den 1980er Jahren entwickelte es sich stetig weiter und bietet im Jahr 2013 zahlreiche Möglichkeiten – von einfacheren Anwendungen wie Email bis hin zur interaktiven Gestaltung des sogenannten Web 2.0.
Das Internet ist inzwischen zu etwas Alltäglichem geworden, eine Welt ohne es ist wahrscheinlich für die meisten Deutschen nicht mehr vorstellbar, denn mittlerweile sind knapp 76 % der über 14-Jährigen online (van Eimeren & Frees, 2012). Neben den älteren Angeboten wie Email oder Suchmaschinen bieten sich den Anwendern inzwischen schier unbegrenzte Möglichkeiten, wie die Nutzung von Homebanking, Chatforen, Online-Communities oder Kontaktbörsen, Messengerdiensten, Karten und Navigationsfunktionen, Internet-TV oder -Radio, Online-Einkäufe und -Auktionen, das Erstellen von Blogs, Online-Spiele, etc., etc..
Mit dem Schlagwort Web 2.0 (u.a. Frölich & Lehmkul, 2012 ; Schmidt, Paus-Hasebrink & Hasebrink, 2012) ist die Entwicklung des Internets zu einer interaktiven Plattform gemeint. Im Vergleich zum früheren Internet (auch bezeichnet als Web1.0), das vorrangig nur zum einseitigen Abrufen von Daten konzipiert war, kann der Nutzer zu einem kreativen Mitgestalter und Akteur des Internets werden. Dies kann das Hochladen von Bildern, das Gestalten von Profilseiten in einem Sozialem Netzwerk, oder das Einstellen von eigenen Videos auf entsprechenden Plattformen sein, um nur einige Beispiele zu nennen.
Dass das Internet - wahrscheinlich gerade wegen der Funktionen des Social Web/ Web 2.0 - inzwischen zu einem Alltagsmedium geworden ist, verdeutlichen die Daten der ARD/ZDF-Online-Studie (van Eimeren & Frees, 2012). So stieg die Nutzungsdauer des Internets seit dem Jahr 2000 um knapp 388 Prozent, während das Fernsehen nur einen Zuwachs um weniger als 20 Prozent verzeichnen konnte und der Hörfunk an Wichtigkeit um knapp 7 Prozent abnahm. Besonders für die 14- bis 19-Jährigen ist das Internet fester Bestandteil des Alltags, annähernd 100 % sind online (ebd.).
Neben den unbestreitbar positiven Errungenschaften des neuen Mediums, wie der weltweiten Vernetzung und der freien Zugänglichkeit der Informationen, gibt es jedoch auch bedenkliche Entwicklungen. Die in der Wissenschaft und in den Medien thematisierte Internetsucht gewinnt immer mehr an Präsenz. Als Gegenargument für die Existenz eines solchen Problems wird genannt, dass die jeweils neuen Medien in der Vergangenheit oftmals als Gefahr für die Persönlichkeitsentwicklung der Heranwachsenden verschrien wurden (sogar das Lesen im 18. Jahrhundert!) (Tillmann & Wohne, 2011). Zahlreiche wissenschaftliche Studien scheinen jedoch zu zeigen, dass das Phänomen der pathologischen Internetnutzung - wenn auch für eine Minderheit - ein nicht zu vernachlässigendes Problem darstellt.
Sozialarbeiter können in verschiedensten Arbeitsfeldern mit Klienten in Kontakt kommen, deren realweltliches Leben von dem in virtuellen Welten überlagert wird, was zu massiven sozialen, schulischen und beruflichen oder teilweise auch körperlichen Beeinträchtigungen führen kann. So öffnen Suchteinrichtungen und Beratungsstellen, in denen Sozialarbeiter beschäftigt sind, die Behandlungs- und Beratungsangebote nun zunehmend auch für sog. stoffungebundene Süchte. Da besonders Jugendliche gefährdet zu sein scheinen, der Anziehungskraft des Internets zu verfallen, muss die Problematik und Dynamik der pathologischen Internetnutzung auch in der Jugendarbeit, in Familienberatungsstellen und in Schulen bekannt sein. Insbesondere die Eltern der Betroffenen, die meistens die Hilfen initiieren, müssen über das Störungsbild und Hilfsangebote sowie Präventionsmöglichkeiten informiert werden.
In dieser Abschlussarbeit wird ein Überblick der wissenschaftlichen Diskussion zum Phänomen der pathologischen Internetnutzung gegeben. Anschließend wird die praktische Durchführung einer empirischen Untersuchung zum Auftreten bei Schülern und Schülerinnen der Achten bis Zehnten Klassen in Haupt-/Mittelschulen beschrieben. Die Stichprobe bestand aus 142 Schülern, die mittels eines standardisierten und anonymisierten Fragebogens zu ihren Nutzungsgewohnheiten befragt wurden. Die Prävalenz der Internetabhängigkeit bei den Jugendlichen wurde anhand der Compulsive Internet Use Scale von Meerkerk (2007) erfasst. Die Prävalenzraten lagen in der Stichprobe noch über denen, die anhand desselben Instruments in der PINTA-Studie des Bundesministeriums für Gesundheit ermittelt wurden (Rumpf, Meyer, Kreuzer & John, 2011). Des Weiteren sollten Erkenntnisse über den elterlichen Einfluss auf die Nutzungsweise gewonnen werden.
2 Theoretischer Teil
In der theoretischen Ausführung wird das Phänomen des pathologischen Internetgebrauchs beschrieben sowie auf die Bedeutung des Internets (in seiner pathologischen und unbedenklichen Form) für den Sozialisationsprozess Jugendlicher eingegangen.
2.1 Pathologischer Internetgebrauch
Der Begriff pathologischer Internetgebrauch beschreibt die Internetnutzung in einer krankheitswertigen Form, bei der es zu Beeinträchtigungen körperlicher, psychischer und vor allem sozialer Funktionen kommen kann. Für das Störungsbild gibt es eine Vielzahl an unterschiedlichen Bezeichnungen.
2.1.1 Begriffe für den pathologischen Internetgebrauch
1995 führte der Psychiater Ivan Goldberg eher scherzhaft den Begriff der „Internetaddiction“ ein, indem er via Email die von ihm entwickelten und an das DSM-IV angelehnten diagnostischen Kriterien an Kollegen verschickte, die dann davon ausgingen, an ebendieser Störung zu leiden (zit. nach Kratzer, 2006; Hahn & Jerusalem, 2001) (Goldbergs Kriterien abrufbar unter http://web.urz.uni-heidelberg.de/Netzdienste/ anleitung/wwwtips/8/addict.html [Stand 11.8.2013]). Ernsthafter widmete sich die Forscherin Kimberly Young (1999) der Thematik, die Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete. Inzwischen wird weltweit in wissenschaftlichen Fachkreisen über die pathologische Nutzung des Internets diskutiert.
Die Bezeichnungen für das Phänomen, in denen sich das theoretische Störungsmodell spiegelt (z.B. Verhaltenssucht oder Impulskontrollstörung) und der Gegenstand auf den die exzessive Nutzung bezogen ist (z.B. Medien, PC, Internet, Onlinespiele, Onlinesex, etc.), variieren jedoch sehr stark. Sie reichen von „Problematic Internet Use“ (z.B. Caplan, 2002), über „Pathological Interet Use“ (z.B. Kratzer, 2006; Davis, 2001) bis hin zu „Compulsive Internet Use“ (Meerkerk, 2007) u.v.m. (Übersicht zu den verwendeten Bezeichnungen für die problematische exzessive Internetnutzung siehe Te Wildt, 2009).
Hahn & Jerusalem (2001) schlagen vor, von einer „moderne[n] Verhaltensstörung und eskalierte[n] Normalverhaltensweise im Sinne eines excessiven [sic!] und auf ein Medium ausgerichteten Extremverhaltens [auszugehen]“ (S. 4). Nach wie vor besteht in wissenschaftlichen Forschungskreisen - nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Einordnung in verbindliche Klassifikationssysteme - keine einheitliche Begriffs-definition. Im Folgenden wird der Begriff „pathologischer Internetgebrauch“/ „pathologische Internetnutzung“ verwendet, da dieser zwar einen Krankheitswert beschreibt, aber sich nicht eindeutig auf ein theoretisches Konzept bezieht.
Young (1999) unterschied fünf Störungsformen der Internetabhängigkeit (Internet Addiction), wobei letztere inzwischen in fachlichen Diskursen keine Berücksichtigung mehr findet: Cybersex -Abhängigkeit; Abhängigkeit von virtuellen Gemeinschaften/Freundschaften in Chats und Internetforen; die zwanghafte Nutzung von Netzinhalten in Online-Spielen, Geschäften und Aktionen; Information-Overload im Zusammenhang mit der Nutzung von Datenbanken und Computerabhängigkeit im Hinblick auf Spielen und Programmieren unabhängig vom Internet . Unter Cybersex-Abhängigkeit würden diejenigen Menschen leiden, die sich zwanghaft mit dem Betrachten, Downloaden und Austauschen von Online-Pornografie sowie mit entsprechenden Chatrooms beschäftigen. Mit der Abhängigkeit von virtuellen Gemeinschaften oder Freundschaften ist die Abhängigkeit von Chatrooms, Instant-Messenger-Diensten und Sozialen Netzwerk-Seiten gemeint (die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit Online-Bekanntschaften, bis hin zu „Cyberomanzen“, wodurch diese zunehmend wichtiger werden, als Kontakte im wirklichen Leben). Die zwanghafte Nutzung von Netzinhalten fasst Abhängigkeiten wie von Online-Spielen, Online-Glücksspielen und Internetauktionen wie Ebay zusammen. Das exzessive Surfen im Netz oder das Durchstöbern von Online-Datenbanken auf der Suche nach Informationen aller erdenklichen Art (wobei die dafür aufgewendete Zeit nicht mehr kontrolliert werden kann) wird von ihr als Information-Overload bezeichnet ( http://www.netaddiction.com/index.php?option=com_content&view=article&id=62&Itemid=85 [Stand: 10.8.2013]).
Davis (2001) unterscheidet den spezifischen von dem allgemeinen oder generalisierten pathologischen Internetgebrauch. Ersterer ist auf bestimmte Internetfunktionen wie Online Auktionshäuser, -Glücksspiel oder -Pornografie bezogen. Diese übermäßige Nutzung ist gewissermaßen inhaltsspezifisch und könnte daher auch ohne das Internet bestehen. Im Gegensatz dazu kann der generalisierte pathologische Internetgebrauch erst aufgrund der Existenz des Internets entstehen und bezieht sich auf bestimmte Funktionen wobei dem kommunikativen und sozialen Aspekt des Internets hier eine maßgebliche Bedeutung zukommt (z.B. Chatrooms).
Petry (2010) unterscheidet die Gamer, Surfer und Chatter. Am häufigsten in Behandlungen sind die Gamer, vorwiegend junge Männer; Chatter sind hauptsächlich Frauen mittleren Alters, die sich überwiegend in erotischen Chatrooms aufhalten. Die Surfer stellen eine seltene Patientengruppe dar. Hierbei handelt es sich um die ausufernde Informationssuche für Beruf oder Hobby (ebd.). Er nennt auch Sonderformen der pathologischen Internetnutzung, die sich auf Online-Auktionshäuser wie Ebay beziehen und einer Abgrenzung bezüglich pathologischem Glücksspiel und pathologischem Kaufverhalten erforderlich machen. Das Online-Glücksspiel und die pathologische Nutzung sexueller Online-Inhalte ordnet er den zugrunde liegenden Störungen, dem pathologischen Glücksspiel (F63.0 ICD-10) bzw. der Hypersexualität (F52.7 ICD-10) zu. Er nimmt eine idealtypische Gegenüberstellung von pathologischem und dysfunktionalem PC-/Internetgebrauch vor, die sich als Abgrenzung der verschiedenen Nutzungsmodi gut eignet. Im wesentlichen unterscheidet sich der dysfunktionale Gebrauch, der für die Mehrheit der Betroffenen nur ein Übergangsphänomen darstellt, vom pathologischen Gebrauch dadurch, dass letzterer erst ab dem frühen Erwachsenenalter festgestellt werden kann und als eine chronifizierte Störung bei einer Minderheit auftritt. Der dysfunktionale Internetgebrauch bedarf pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen, wohingegen die manifeste Störung eine umfassende psychotherapeutisch-rehabilitative Behandlung erforderlich macht (ebd.).
2.1.2 Auswirkungen des pathologischen Internetgebrauchs
Problematische bis suchtartige Internetnutzung kann mit vielen negativen Konsequenzen verbunden sein, so nannten die Untersuchungsteilnehmer in einer Studie von Wölfling, Müller, Giralt & Beutel (2011) besonders häufig Probleme im familiären Bereich und mit dem sozialen Netz sowie mit eingeschränkten alternativen Freizeitverhalten. Zwei Drittel der Befragten gaben an, mit beruflichen oder schulischen Problemen konfrontiert zu sein oder gesundheitliche Konsequenzen durch die Internetnutzung zu verspüren. Letztere können beispielsweise Rücken- oder Kopfschmerzen, Unter- oder Übergewicht, sowie Sehnenscheidenentzündungen in Handgelenken sein. Auch von körperlich-hygienischer Vernachlässigung und Verwahrlosung der Wohnung (Schuhler & Vogelgesang, 2011) sowie von einem Verlust des physiologischen Schlaf-Wach-Rhythmus und depressiven Verstimmungen durch den übermäßigen Internetgebrauch (Frölich & Lehmkuhl, 2012) wird berichtet. Trotz der negativen Konsequenzen im privaten und schulischen/beruflichen Bereich hätten Betroffene zumeist ein geringes Problembewusstsein und dementsprechend nur eine geringe Motivation, an ihrem Internetnutzungsverhalten etwas zu ändern. Zwar entwickelten die Betroffenen Leidensdruck, dieser würde aber zumeist erst im Laufe der Therapie zugegeben, weshalb die Hilfegesuche eher von Angehörigen ausgehen (ebd.).
2.1.3 Einordnung des exzessiven Internetgebrauchs
Die Einordnung eines psychischen Störungsbildes in ein gültiges Diagnosesystem ist notwendig, um den Betroffenen zielgerichtete Therapien anbieten zu können und deren Finanzierung zu ermöglichen (Abrechnungsgrundlage der Krankenkassen). Aus diesem Grund wird diskutiert, in welche Krankheitskategorie der pathologische Internetgebrauch einzuordnen sein könnte. Ebenso wie die verschieden verwendeten Begriffe für die pathologische Internetnutzung, ist jedoch auch die nosologische Einordnung je nach Forscher/-gruppe unterschiedlich. Am häufigsten wird der pathologische Internetgebrauch auf theoretischer Ebene als Begleiterscheinung psychischer Störungen, als Impulskontrollstörung oder als Suchterkrankung gesehen.
Die Einordnung des pathologischen Internetgebrauchs in die Kategorie der Impulskontrollstörungen scheint eher pragmatische Gründe zu haben. In der Praxis wird der pathologische Internetgebrauch aufgrund dessen, dass bisher keine eigenständige Diagnose in den gültigen Klassifikationssystemen gestellt werden kann, am häufigsten als Impulskontrollstörung diagnostiziert (Petersen, Thomasius, Schelb, Spieles, Trautmann, Thiel & Weymann, 2010).
Störungen der Impulskontrolle sind Störungen, für die charakteristisch ist, dass die Betroffenen ohne Motivation Handlungen ausführen, die sie selbst oder andere Menschen schädigen. Die Betroffenen berichten von unkontrollierbaren Impulsen und einer zunehmenden Spannung oder Erregung vor der Ausführung der Handlung und Entspannung, Befriedigung oder Vergnügen nach der Ausführung (Dilling, Mombour & Schmidt, 2011). Aufgeführt wird im ICD-10 (ebd.) neben der pathologischen Brandstiftung (Pyromanie, F63.1), dem pathologischen Stehlen (Kleptomanie F63.2) und der Trichotillomanie (Haareausreißen F63.3) auch das pathologische Glücksspiel (F63.0). Die pathologische Internetnutzung könnte innerhalb der Impulskontrollstörungen der Restkategorie zugeordnet werden (F63.8).
Te Wildt (2009) plädiert allerdings dafür, die Kategorie der Impulskontrollstörungen generell zu überdenken, da einerseits hier für sich genommene pathologische bzw. kriminelle Verhaltensweisen mit Verhaltensweisen, die in exzessiver Form auftreten und nicht per se krankhaft seien zusammengefasst werden. Andererseits sei eine Störung der Impulskontrolle symptomatisch für andernorts klassifizierte psychische Krankheiten, wie Zwangserkrankungen und Manien sowie Persönlichkeitsstörungen.
Es gibt auch Stimmen, die den eigenständigen Krankheitswert dieser Störung nicht anerkennen und den exzessiven Gebrauch des Mediums Internet als eine Begleiterscheinung oder ein Symptom einer bereits bestehenden psychischen Störung sehen. Die hohen Komorbiditätsraten psychischer Störungen bei als internetabhängig eingestuften Personen legen es nahe, den pathologischen Internetgebrauch als eine Begleiterscheinung anderer primärer Störungen aufzufassen (Kratzer, 2006). Dabei wiesen paranoides Denken, Depressivität/erhöhte negative Affektivität und Unsicherheiten im Sozialkontakt in Untersuchungen die größten Effektstärken im Zusammenhang mit einer pathologischen Internetnutzung auf (Wölfling u.a., 2011; Kratzer, 2006).
Te Wildt (2009) fasst die bisherige Studienlage dahingehend zusammen, dass vorhandene Studien über Komorbiditätsraten lediglich Hinweise liefern können, da zum einen unterschiedliche Methoden bei der Operationalisierung der pathologischen Internetnutzung eingesetzt wurden und zum anderen die psychiatrischen Diagnosen nicht immer in persönlichen Kontakt gestellt worden wären.
Volkow (2001) weist darauf hin, dass Komorbiditäten auch zwischen Substanzmissbrauch und psychischen Erkrankungen keine Seltenheit seien: „It reflects both a high risk for drug use in subjects with mental illness and a high frequency of psychopathology triggered by drug use.“ (S.1181). Der übermäßige Internetgebrauch könnte eine Art Bewältigungs- oder Selbstheilungsversuch einer psychischen Störung sein, was letztendlich jegliche Art von Suchterkrankung ausdrücken kann. „Süchtiges Verhalten steht oft mit anderen psychischen Problemen und Komorbiditäten in enger Verbindung, dabei kann das süchtige Verhalten Ursache oder Folge dieser Probleme sein“ (Grüsser & Thalemann, 2006a, S. 249). Auch für Wölfling u.a. (2011) scheint es plausibel, dass gerade Personen, bei denen negative Gefühlszustände vorherrschend sind, versuchen, durch Substanzkonsum bzw. durch die exzessive Ausübung eines als angenehm empfundenen Verhaltens eben diesen Gefühlszuständen entgegenzuwirken. Die Kausalitätsbeziehungen zwischen suchtartiger Internetnutzung und psychiatrischer Begleitsymptomatik können bisher allerdings nicht klar beantwortet werden: Eine Internetsucht könnte zu mehr depressiven Symptomen oder ADHS-Symptomen führen, aber die Erkrankungen könnten auch bereits vorliegen und einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Internetabhängigkeit darstellen (Fröhlich & Lehmkuhl, 2012). Belastbare Longitudinalstudien, die die Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und einer Internetabhängigkeit klar aufzeigen stünden derzeit noch aus, bidirektionale Einflüsse liegen aber nahe (ebd.).
Über den Begriff der nichtstoffgebundenen Süchte/Abhängigkeiten besteht keineswegs Konsens (Springer, 2009). Inzwischen wird allerdings sehr oft von Verhaltensabhängigkeit bzw. von Verhaltenssüchten gesprochen, wobei man sich in der Argumentation darauf stützt, dass stoffliche und nichtstoffliche Abhängigkeiten ähnliche Merkmale aufweisen (Thalemann, 2009). In Fachkreisen zeige sich eine Rückbesinnung auf frühere Konventionen, bei denen - im Gegensatz zu heute - stoffliche und nichtstoffliche Süchte nicht einer solch starken Trennung unterlagen (ebd.). Insofern wird also eher der psychische Aspekt einer Abhängigkeitserkrankung hervorgehoben. Bei der Auffassung, den pathologischen Internetgebrauch als eine Abhängigkeitserkrankung aufzufassen, kann entsprechend auf das in Kapitel F („Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“) der internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) , unter der Gliederungsziffer F1x.2 aufgeführte Abhängigkeitssyndrom Bezug genommen werden.
„[Bei dem Abhängigkeitssyndrom] handelt es sich um eine Gruppe körperlicher, Verhaltens- und kognitiver Phänomene, bei denen der Konsum einer Substanz oder einer Substanzklasse für die betroffene Person Vorrang hat gegenüber anderen Verhaltensweisen, die von ihr früher höher bewertet wurden. Ein entscheidendes Charakteristikum der Abhängigkeit ist der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch, psychotrope Substanzen oder Medikamente (ärztlich verordnet oder nicht), Alkohol oder Tabak zu konsumieren“ (Dilling u.a., 2011, S. 114f.).
Die Diagnose einer substanzgebundenen Abhängigkeit soll anhand der (im Anh. 1 befindlichen) diagnostischen Leitlinien gestellt werden, von denen während der letzten zwölf Monate drei oder mehr gleichzeitig vorhanden waren.
Die Ansichten darüber, welche Kriterien der substanzgebundenen Abhängigkeiten genau vorliegen müssen, damit eine nichtstoffliche Abhängigkeit vorliegt, differieren jedoch. Dies bedingt wiederum, dass auch das Vorliegen in Testverfahren unterschiedlich operationalisiert wurde.
Kritisch wird von Petry (2010) angemerkt, dass die Konzepte Toleranzentwicklung und Entzugserscheinungen aus der Alkoholismustheorie auf die Verhaltenssucht übertragen würden, obwohl diese eine rein organpathologische Bedeutung hätten.
Wölfling, Jo, Bengesser, Beutel & Müller (2013) illustrieren die Kriterien der stoffungebundenen Internetabhängigkeit anhand von Beispielen aus der praktischen Arbeit mit Betroffenen in der Ambulanz für Spielsucht in Mainz:
„1. Craving: Das unwiderstehliche Verlangen nach Computerspielen bzwOnlineaktivitäten sowie die starke emotionale Eingenommenheit von Computerspielen und InternetangebotenBspwVorzeitige [sic!] Beendigung der Schultage, um möglichst schnell wieder ein Computerspiel beginnen zu können
2. Kontrollverlust: Verminderung der Kontrollfähigkeit bezüglich Beginn, Dauer und Beendigung der Computerspiele bzwOnlineaktivitätenBspwsystematische Unterschätzung der tatsächlich aufgewendeten Zeit für Computerspiele
3. Entzug: Auftreten aversiver Zustände (Nervosität, motorische Unruhe, Schlafstörungen, Reizbarkeit, aggressive Verhaltensweisen, depressive Verstimmung) bei verhinderter Computerspiel- bzwOnlinenutzung
4. Toleranzentwicklung: Steigerung der Häufigkeit und/oder Intensität des Computerspielens bzwder OnlineaktivitätenBspwsukzessiv ansteigende Spielzeiten/ Internetzeiten
5. Vernachlässigung wichtiger Lebensbereiche: Vernachlässigung von früher als angenehm empfundenen Aktivitäten oder Interessen auf Grund von Computerspielen/ Onlineaktivitäten sowie Vernachlässigung sozialer Kontakte (sozialer Rückzug)BspwAustritt aus dem langjährigen Sportverein
6. Negative Konsequenzen: Fortsetzung des Computerspielens bzwder Onlineaktivitäten trotz spürbarer negativer Konsequenzen (Leistungsabfall in der Schule/im Beruf, Übermüdung, Mangelernährung, soziale Konflikte)Bspw. Verfehlung des Klassenziels oder Abmahnung vom Arbeitgeber“ (S. 23 f.).
Das pathologische Glücksspielen ist in der ICD-10 (Dilling u.a., 2011) unter der Kategorie der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen als abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63.0) aufgeführt. Mit der Neueinordnung dieser Störung in der im Mai erschienenen Ausgabe des DSM-V unter der Bezeichnung Sucht und zugehörige Störungen („Addiction and related Disorders“) wird erstmals die Klassifizierung einer substanzungebundene Suchtform vorgenommen und damit die Auffassung von Sucht als rein substanzbezogene Abhängigkeit erweitert (Schmidt, Drosselmeier, Rhode & Fritz, 2011; Rumpf & Kiefer, 2011). Die pathologische Internetnutzung erscheint - aufgrund weiterem Forschungsbedarf - im Appendix des DSM-5 (Rumpf, 2012), wobei sich diese auf den Teilbereich des Computerspielens bezieht (Internet-Gaming-Disorder Fact-Sheet:http://www.dsm5.org/Pages/Default.aspx
[Stand: 10.8.2013]).
2.1.4 Erklärungsansätze für den pathologischen Internetgebrauch
Es besteht eine Vielzahl von parallelen Erklärungsansätzen zur Entstehung des pathologischen Internetgebrauchs, die sich wiedersprechen oder sich auch ergänzen können (oder zumindest könnten). So existieren allgemeinpsychologische, tiefenpsychologische, medienpsychologische, bindungstheoretische, biologische und soziologische Erklärungsmodelle zur Entstehung des pathologischen Internetgebrauchs, die teilweise nicht klar voneinander abgrenzbar sind. Zum prinzipiellen Zugang kommt auch noch die nosologische Einordnung als Persönlichkeitsstörung, Begleiterscheinung einer psychischen Störung oder als Suchtkrankheit. Die Entstehung einer Suchtkrankheit kann wiederum von verschiedenen Zugängen aus betrachtet werden, wobei hierbei psychologische Modelle (vor allem beruhend auf Lern-, Bewältigungs-, konfliktdynamischen, motivationalen oder persönlichkeitsorientierten Aspekten), biologische Modelle (neuronale Prozesse) und soziologische Modelle (makrosoziale Einbettung der Suchtentwicklung) unterschieden werden können (Reis, 2012). Im Rahmen dieser Arbeit können daher nur einige Erklärungsansätze und diese nur überblicksartig herausgegriffen werden.
Da das prinzipielle Krankheitsverständnis Grundlage für Interventionen ist, gibt es für den recht uneinheitlichen Bereich der Impulskontrollstörungen keine Erklärungsansätze für die Entstehung des pathologischen Internetgebrauchs. Für die anderen nosologischen Zuordnungen seien hier beispielhaft zwei Ansätze herausgegriffen: Das Diathese-Stress-Modell nach Davis (2001), wobei hier der pathologische Internetgebrauch als eine Begleiterscheinung einer psychischen Erkrankung aufgefasst wird und das Konzept des pathologischen Internetgebrauchs als eine Form der stoffungebundenen Abhängigkeit.
Das kognitiv-behaviorale Diathese-Stress-Modell des pathologischen Internetgebrauchs geht auf Davis (2001) zurück, der Lernmechanismen berücksichtigt und vor allem den Kognitionen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des pathologischen Internetgebrauchs eine entscheidende Bedeutung beimisst (da diese sowohl den affektiven Symptomen der pathologischen Nutzung, als auch dem Verhalten vorausgehen). Betroffene würden zwei Arten von negativen Denkmustern aufweisen: Erstes sind das maladaptive, auf sich selbst bezogene Gedanken, wie z.B. „nur im Internet bin ich jemand“. Diese gehen mit Selbstzweifeln, geringer Selbstwirksamkeitserwartung und negativem Selbstkonzept einher (das Internet dient als Möglichkeit, um von Anderen positiv verstärkt zu werden). Das zweite negative Denkmuster ist von globalerer Natur, dabei ist die Generalisierung einzelner Ereignisse oder Erfahrungen (wie beispielsweise „das Internet ist der einzige Ort, an dem ich respektiert werde“) typisch. Im Internet könne das Individuum jedoch positive Resonanz bekommen, was das Nutzungsverhalten wiederum verstärkt. Insofern kann das Internet eine Möglichkeit der Flucht vor Alltagsfrustrationen und damit eine Bewältigungsstrategie sein, wodurch die Konzentration auf Online-Identitäten immer mehr verstärkt wird. Spezielle positive Erfahrungen (z.B. Komplimente von Chatpartnern) im Internet werden schließlich verallgemeinert, was zu der inneren Überzeugung führen kann, dass nur durch die Internetanwendung positive Erfahrungen gemacht werden können (dysfunktionale Annahmen). Psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen (auch subklinische Ausprägungen) werden als nötiger aber nicht hinreichender Faktor für die Entstehung eines pathologischen Internetgebrauchs betrachtet. Als Stressoren können negative Lebensereignisse (Tod, Trennung, Krankheit) gesehen werden. Durch klassische und operante Konditionierung werden die Gewohnheitsmuster des Internetgebrauchs gefestigt. „Zusätzlich nimmt Davis an, dass ein Mangel an sozialer Unterstützung dazu führen kann, dass die spezifische Online-Aktivität eine psychosoziale Ersatzfunktion einnimmt, um den Selbstwert zu steigern und Ängste zu bewältigen“ (Petry, 2010, S. 69).
Das nicht-stoffliche Suchtkonzept ist ein sehr häufig vertretener (aber aufgrund möglicher Stigmatisierungsprozesse kontrovers diskutierter) Erklärungsansatz und dominiert derzeit die wissenschaftliche Diskussion um die Entstehung und Aufrechterhaltung der pathologischen Internetnutzung.
In Fachkreisen besteht Uneinigkeit bezüglich der verschiedenen Theorien zur Entstehung und zur Definition von Abhängigkeit, jedoch hat sich die Sichtweise durchgesetzt, dass diese multifaktoriell bedingt ist und nicht auf einfache Ursache-Wirkungszusammenhänge reduziert werden kann (Modell des Suchtdreiecks nach Gross (2003) siehe Anh. 2). „In diesem multifaktoriellen Bedingungsgefüge einer Suchtentwicklung spielen neben der Substanz gleichermaßen die Person und das Umfeld bzw. die Umwelt eine Rolle. Die verschiedenen Einflüsse, die im Laufe seiner Entwicklung auf den Menschen einwirken, haben somit einen entscheidenden Anteil an der Entstehung oder Verhinderung einer Suchterkrankung“ (Hallmann, 2008, S. 300).
In gängigen soziologischen Ansätzen der Suchtentstehung stehen entwicklungsdynamische Aspekte im Fokus. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben kann als Schnittstelle zwischen Soziologie und Psychologie betrachtet werden (Reis, 2012). Für die Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung spielt die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben im Kindes- und Jugendalter (auf die in Kapitel 1.2.1 näher eingegangen wird) eine entscheidende Rolle.
Nach der klassischen Konditionierung können ehemals neutrale Reize nach wiederholten Lernvorgängen zu konditionierten, also auslösenden Reizen werden. Dieser Lernmechanismus kann auf den Bereich des Internetgebrauchs übertragen werden: „ursprünglich neutrale Reize (z.B. Anblick der Computertastatur) [können] über viele Lernwiederholungen hinweg die Eigenschaft konditionierter Reize erlangen. Diese konditionierten Reize sollen wiederum das Verlangen nach erneuter Nutzung des Internets- bzw. Computerspiels auslösen und somit [..] bedeutsam für die Aufrechterhaltung des Problemverhaltens sein“ (Peukert, Wölfling, Bilke & Spitczok von Brinski, 2012, S.223).
Operante Konditionierungsprozesse basieren auf Verstärkungslernen. Im Bereich des pathologischen Internetgebrauchs treten sowohl positive Verstärkung (z.B. Spaß im Chat oder Punkte im Computerspiel), als auch negative Verstärkung auf (z.B. wenn durch das Verhalten Anspannungszustände beseitigt werden). Der Internetgebrauch wird nach der Theorie des operanten Lernens also umso wahrscheinlicher wieder eingesetzt, umso mehr er sich positiver auf die Befindlichkeit auswirkt (insbesondere positiver als andere alternative Verhaltensweisen). Zudem sind die möglichen negativen Konsequenzen einer exzessiven Nutzung (wie sinkende Schulleistungen, Arbeitsplatzverlust, Verlust des Freundeskreises etc.) meist langfristiger Natur, wohingegen kurzfristige Konsequenzen das Verhalten steuern und das Problemverhalten aufrechterhalten bleibt.
Schon Young (1999) verstand die problematische Internetnutzung als eine Form von substanzungebundener Abhängigkeit und betone dabei auch den psychischen Aspekt:
„Bei [..] verhaltensorientierten Süchten geraten die betreffenden Personen durch ihr Tun und die Gefühle, die sie dabei erleben, in Abhängigkeit. Genauso ist es bei Internetsüchtigen“ (S. 29).
Somit können auch Gefühlszustände (z.B. negative Stimmung), die nach wiederholter positiver Erfahrung mit dem Problemverhalten verknüpft werden (Konditionierungsprozesse), ebenfalls verhaltensauslösenden Charakter annehmen (Thalemann, 2009; Wölfling u.a., 2011). Passend zu dieser Theorie der Aufrechterhaltung eines süchtigen Verhaltens scheint das Ergebnis der Studie von Batthyány, Müller, Benker & Wölfling (2009): die als problematisch bis suchtartig eingestuften Internetnutzer zeigten signifikant häufiger dysfunktionale Copingstrategien. Die Autoren folgern daher, medienfokussiertes Coping (also die Ablenkung durch die Nutzung von multimedialen Unterhaltungsangeboten) als passiv-vermeidende Reaktion auf Stressoren zu verstehen, was durch operante Konditionierungsprozesse zur Aufrechterhaltung der Sucht beitragen könnte. Die Ergebnisse, dass computerspielabhängige Personen ein wesentlich geringeres Repertoire an funktionalen Copingsstrategien aufweisen, konnten auf den pathologischen Internetgebrauch generalisiert werden (ebd.). Auch nach Thalemann (2009) kommt dem Verhalten im Laufe der Suchtentwicklung immer mehr die Bedeutung zu, Stresssituationen zu bewältigen, letztendlich geht es um den durch das Verhalten ausgelösten angenehmen psychischen Effekt, der durch das Abschalten oder das Eintauchen in eine virtuelle heile und selbstwertstärkende Welt entstehen kann. „Der Betroffene hat gelernt, dass er durch sein exzessives belohnendes Verhalten schnell und effektiv Gefühle in Zusammenhang mit Frustrationen, Ängsten und Unsicherheiten regulieren bzw. verdrängen und Stress bewältigen kann“ (Thalemann & Grüsser, 2006, S. 72). In diesem Sinne besteht die Gefahr, dass ein angemessener Umgang und die Bewältigung von Anforderungen verlernt werden, bzw. gerade bei Jugendlichen erst gar nicht gelernt werden (ebd.).
Auch die sozial-kognitive Lerntheorie dürfte in Zusammenhang mit der Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens eine entscheidende Rolle spielen. Bandura (1979) postuliert, dass die Ausführung eines Verhaltens sowohl von den an das Verhalten geknüpften Konsequenzen (Erfolgserwartungen) als auch von der Einschätzung des eigenen Vermögens zur Bewältigung (Kompetenz-/Selbstwirksamkeitserwartungen) abhängt. Hahn & Jerusalem (2001) folgern, dass Internetsucht vermehrt bei Personen zu finden sein müsste, die sowohl eine hohe positive Erwartung an die Nutzung des Internets haben, als auch eine geringe internetbezogene Verhaltensregulationskompetenz - beides konnten sie in ihrer Studie nachweisen: hohe positive Erwartungen an die Internetnutzung gingen mit höheren Internetsuchtwerten einher. Befragungsteilnehmer mit geringer internetbezogener Verhaltensregulationskompetenz wiesen deutlich höhere Abhängigkeitswerte auf, als Teilnehmer, die angesichts anderer zu erledigender Aufgaben die Internetnutzung zurück stellen konnten. Die hohe Rate der als internetsüchtig eingestuften Jugendlichen führen die Autoren auf die „hohe subjektive Funktionalität des Internet[s] [...]aufgrund der unausgereiften Verhaltensregulationskompetenz im Umgang mit dem Internet“ (ebd., S. 13) zurück.
Beck, Wright, Newman & Liese (1997) entwickelten mit dem kognitiven Modell der Sucht einen kognitiven Erklärungsansatz für die Entstehung und Aufrechterhaltung stoffgebundener Anhängigkeiten. Süchtiges Verhalten hängt demnach mit sog. Grundannahmen (relativ feste, überdauernde kognitive Strukturen, die kaum durch Erfahrung beeinflusst werden können und einen starken Einfluss auf Gefühle und Verhalten haben) zusammen, die wiederum durch Stressoren aktiviert werden können. Drei Annahmen sind für die Autoren typisch für Suchtpatienten: antizipatorische Annahmen, die Erwartung einer Belohnung beinhalten (Wirkungserwartung), auf Spannungsreduktion ausgerichtete Annahmen (Erwartung, dass unangenehme Gefühle durch den Suchtmittelkonsum verschwinden) und erlaubniserteilende Annahmen, die den Konsum trotz negativer Konsequenzen akzeptabel erscheinen lassen. Diese Annahmen sind für Thalemann (2009) auch für die Verhaltenssucht relevant.
Grüsser & Thalemann (2006a) gehen in ihrem „Homöostasemodell der Verhaltenssucht“ davon aus, dass stark belohnendes Verhalten durch die Aktivierung des Belohnungssystems (das in verschiedenen Gehirnarealen lokalisiert ist) ein bestehendes Ungleichgewicht biochemischer Botenstoffe ebenso ausgleichen kann wie das bei Substanzabhängigkeiten der Fall ist. Es werden keine psychotropen Substanzen von außen zugeführt, der psychotrope Effekt wird durch körpereigene biochemische Veränderungen erklärt, die durch bestimmte, exzessiv ausgeführte belohnende Verhaltensweisen (positive oder negative Verstärkung) ausgelöst werden. „Der Begriff der Verhaltenssucht impliziert [...] [also], dass eine Reaktion im dopaminergen Belohnungssystem auch durch Verhaltensweisen ausgelöst werden kann“ (Thalemann, 2009, S.8). Neurologische Befunde konnten erste Hinweise liefern, dass Verhaltens- und stoffgebundenen Süchten ähnliche Wirkungsmechanismen zugrunde liegen. So zeigten computerspielsüchtige Personen im Vergleich zu Gelegenheitsspielern bei der Wahrnehmung von computerspiel-assoziierten Reizen eine tiefere emotional-motivationale Reaktion (Thalemann, Wölfling & Grüsser 2007), analog zu Alkoholsüchtigen beim Anblick eines alkoholischen Getränks.
Die Entwicklung eines pathologischen Internetgebrauchs wird häufig als ein „Teufelskreis beschrieben (s. Abb.1 und Anh. 3) „indem letztendlich nur noch das Internet eine Möglichkeit bietet, Positives zu erleben, da alternatives Verhalten/realweltliche Beziehungen zugunsten des Internets immer mehr vernachlässigt werden, was wiederum zu einer verstärkten Hinwendung auf das Internet führt (wodurch auf subjektiver Ebene zugleich den negativen Konsequenzen entgangen wird).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb.1: Teufelskreis-Modell des suchartigen Internetgebrauchs modifiziert nach Kratzer 2006, S.23
Bei der Entwicklung einer pathologischen Nutzung des Internets spielt die Art des exzessiven Umgangs mit dem Medium und die individuelle Motivlage eine entscheidende Rolle (Frölich & Lehmkuhl, 2012). Bei der Beurteilung über einen Krankheitswert der Nutzungsweise sind daher die Vernachlässigung sozialer, schulischer oder beruflicher Aktivitäten aufgrund des Konsums, sowie die Absicht, durch die Nutzung realweltlichen Problemen zu entkommen ausschlaggebend (ebd.). Doch was macht das Internet so reizvoll, dass es für einige Menschen (wenn auch für eine Minderheit) zur Gefährdung wird?
Leistungsstarke Computer, eine flächendeckende Internetanbindung und günstige Internetzugänge mit „Flatrates“ zeigen die fast überall gegebene Verfügbarkeit des Internets. Ein Grund, der das Internet (im Vergleich zu anderen Beschäftigungen attraktiv macht) ist der, dass man das Haus nicht mehr verlassen muss, um etwas zu erleben. Andererseits sind die Zugangsmöglichkeiten nahezu immer und überall vorhanden, denn man kann das Internet ja inzwischen auch in seiner mobilen Form nutzen.
Die Interaktivität, die das Internet (im Vergleich zu rezeptiven Medien) bietet, hat gerade in den letzten Jahren zu vielen neuen Unterhaltungs- und Kommunikationsmöglichkeiten geführt und „vermittelt ein intensiv erlebtes Gefühl der Anwesenheit, Kontrolle und Einflussnahme im System.“ (Wölfling u.a., 2013, S. 13). Die Kontakte im Internet können aus einem „sicheren sozialen Abstand“ (ebd., S. 13) heraus geknüpft und ebenso schnell wieder abgebrochen werden - gerade weil man im Internet anonym auftreten kann. Es bietet die Möglichkeit, sich eine alternative Webpräsenz zu erschaffen: Der Selbstdarstellung sind keinerlei Grenzen gesetzt und diese kann beliebig geschönt oder perfektioniert werden (was mit Sicherheit für einige User einen nicht unwesentlichen Reiz des Netzes darstellt). Zum anderen kann man mit weniger Hürden und schneller etwas finden: Seien es Informationen, Güter, ein offenes Ohr, Anerkennung oder Selbstbestätigung. Insofern kann das Internet dazu dienen, zahlreiche Interessen günstig, unmittelbar und das auch noch auf relativ einfachem Weg zu befriedigen.
„Schließlich führen eine gegenüber den alten Neuen Medien verstärkte sinnesphysiologische Ansprache und die interaktive Beteiligung [...] zu einer erhöhten gesamtphysiologischen Stimulation, bei der auch endogene Belohnungssysteme eine Rolle spielen dürften. Dies spielt gerade für das im Wachstum befindliche Gehirn eine besondere Rolle.“ Te Wildt (2009, S. 267). Da also die Erlebnisse durch den technischen Fortschritt immer intensiver werden, könnte dies zu Immersionsprozessen führen, in Folge derer die reale Welt immer mehr in den Hintergrund rückt (Petry, 2010).
2.1.5 Prävalenz des pathologischen Internetgebrauchs
Ebenso wenig wie der Begriff, das Krankheitsverständnis oder die Nomenklatur der pathologischen Internetnutzung in der Fachwelt klar umrissen ist, sind auch die genaue Diagnostik und die Kriterien der prinzipiell selben Störung von Studie zu Studie verschieden (allerdings wurden in den bisherigen Forschungsarbeiten - trotz der unterschiedlichen Einordnungen der Störungsform - hauptsächlich die Kriterien für stoffgebundene Abhängigkeit berücksichtigt).
Bezüglich der Diagnoseinstrumente wird kritisch angemerkt, dass diese nicht immer wissenschaftlich überprüft und dass die angelegten Kriterien oft willkürlich seien (Petry, 2010; Petersen u.a., 2010). Auch hinsichtlich der Repräsentativität der Ergebnisse wird bemängelt, dass Online-Rekrutierungen zu einer überproportionalen Beteiligung Betroffener führen (Hahn & Jerusalem, 2001).
Die ermittelten Prävalenzraten differieren daher stark und sind kaum miteinander vergleichbar. Eine gelungene Übersicht zu den verschiedenen Frageinstrumenten und deren jeweiligen (Kern-)Kriterien (wie Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen, Konsequenzen, Gefühlsregulation, etc.) geben Thalemann & Grüsser (2006).
Entsprechend der unterschiedlichen Frageinstrumente die zur Anwendung kommen, sind auch die ermittelten Prävalenzraten breit gestreut. Te Wildt (2009) nennt Prävalenzen, die im deutschsprachigen Raum von 3,2 % (Studie von Hahn & Jerusalem (2001), bezogen auf Internetsucht) bis 9,3 % (Pfeiffer, Mößle, Kleinmann, Rehbein (2007), allerdings bezogen auf exzessives Computerspielverhalten bei Kindern und Jugendlichen) reichen.
Die Exzessivität, also die Zeit, die im Internet verbracht wird ist zwar ein wichtiger Hinweis auf eine pathologische Nutzungsweise, ist für sich allein betrachtet jedoch diagnostisch nicht ausschlaggebend (z.B. Petry, 2010)
Eine repräsentative Studie zum Auftreten der pathologischen Internetnutzung in Deutschland ist die Studie zur Prävalenz der Internetabhängigkeit (PINTA) (Rumpf u.a., 2011), die vom Bundesministerium für Gesundheit in Auftrag gegeben wurde. Es galt herauszufinden, ob die Internetabhängigkeit in der Bevölkerung ein Problem darstellt, das bundespolitisches Handeln erforderlich macht. Die Prävalenz der Internetabhängigkeit in der Bevölkerung (14- bis 64-Jährige Internetnutzer) liegt demnach bei 1,5 % (Bericht abrufbar unter: http://www.drogenbeauftragte.de/presse/ pressemitteilungen/2011-03/pinta-studie.html [Stand:11.8.2013]).
2.1.6 Online-Kommunikation und Online-Spiele
Auf welches „Substrat“ sich die pathologische Nutzungsweise des Einzelnen bezieht, muss individuell betrachtet werden und lässt sich nicht verallgemeinern. Da das Glücksspiel im Internet nur auf dieses Medium verlagert ist und auch die „Sexsucht“ oder „Kaufsucht“ im Internet ihr Pendant findet, beschränken sich weitere theoretische Überlegungen auf die Bereiche Online-Kommunikation und Online-Spiele, da beide online andere Qualitäten aufweisen, als in ihrer nicht-medialen Offline -Form.
Die Kommunikation im Internet kann über Email, Chats, in nach Themengebieten spezialisierten Foren, in Blogs, via Instant-Messenger (ICQ, MSN, Skype) und Mobile Messenger-Programme (Kurznachrichten, die in Chatform auf ein mobiles Endgerät empfangen werden können) erfolgen. Auch mittels Sozialen Netzwerkplattformen, wie Facebook kann man miteinander Kontakt halten. Diese gehören zu den zentralen Elementen der Internetnutzung Jugendlicher. So zeigt die JIM-Studie 2012 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2012), dass dieses Angebot zu den beliebtesten Internetanwendungen gehört (79 % loggen sich mindestens mehrmals pro Woche auf einer Sozialen Netzwerkseite ein). Der Grund könnte in der Vielfalt der Möglichkeiten bestehen, die dieser Service bietet: man kann sein persönliches Profil erstellen und dies beliebig mit Fotos oder Videos gestalten, Nachrichten verschicken, sich in Chats unterhalten, Beiträge und Kommentare verfassen, nach neuen Freunden suchen und alte wiederfinden, verfolgen was im Freundeskreis passiert, etc..
Durch Online-Kommunikation kann Zeit gespart werden. Erstens, da eine große Anzahl an Leuten schnell und gleichzeitig erreicht werden kann und zweitens, weil man sie aber auch ganz „nebenbei“ betreiben kann, wenn man sowieso im Internet ist.
Ein wichtiger Motivator kann auch sein, dass kein persönlicher Kontakt von Angesicht zu Angesicht stattfinden muss. So kann man leichter miteinander reden (bzw. schreiben), auch über persönliche Schamgrenzen hinweg, die im persönlichen Umgang möglicherweise hemmend wirken würden. Bei asynchroner Online-Kommunikation erfolgt die Reaktion zudem zeitverzögert, man hat also länger Zeit, sich zu überlegen, was man mitteilen möchte und muss nicht spontan sein (verringerter Handlungsdruck).
Das Internet bietet auch die Möglichkeit, anonym
aufzutreten, man kann sich also beispielsweise in Chats ganz anders geben, als man das im realen Leben tun würde oder könnte. „Kontaktstiftende Kommunikationssysteme ermöglichen dem Benutzer virtuelle Grenzüberschreitungen, die in seinem realen Leben bislang nicht möglich oder tabuisiert waren“ (Te Wildt, 2009, S. 267) und auch die erlebte Kontrolle über Nähe und Distanz zu Onlinekontakten macht diese Kommunikationsformen möglicherweise attraktiv. „Diese Anreize beinhalten jedoch auch die Gefahr, sich in den leicht verfügbaren und als besonders intensiv und intim erlebten virtuellen Beziehungen zu verlieren. Dies ist der Fall, wenn keine ausreichende Selbstdisziplin vorhanden ist, um sich von virtuellen Beziehungen zwischenzeitlich zu distanzieren und diese Erlebnisse nicht ins Alltagsleben integriert werden“ (Petry, 2010, S. 83). Werden reale Beziehungen wegen des Internets vernachlässigt, „hat der Betroffene noch mehr Anlass, sich völlig in die virtuelle Gegenwelt sinken zu lassen“ (Gross, 2003, S. 248).
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