In der hier folgenden Seminararbeit werde ich eine Analyse des 1952 verfassten und in
"Gesammelte Gedichte" 1962 erschienenen Gedichts "Worte" von Karl Krolow vorlegen
(Krolow 1962, S. 75). Ein Problem stellt allerdings die Quellenlage dar, denn es gibt bisher keine
umfassende Gedichtanalyse dieses Textes, so dass ich mich nur bei wenigen Einzelelementen
einer Sekundärliteratur bedienen konnte.
1.1. Vorgehensweise der Autorin
Zur der Art der Analyse ist zu sagen, dass ich keinem in der Literatur vorgegebenem System
folge, stattdessen versuche mich mit konkreten Fragen dem Text zu nähern. Um meinen Ansatz
jedoch wissenschaftlich einzuordnen sowie einzugrenzen fußt dieser auf zwei fundamentalen
Annahmen der Literaturwissenschaft, einerseits, dass nicht mehr der Autor sondern der Leser als
der eigentliche Produzent des Textes gilt, der seine individuelle Sinn-Realisation leistet und sich
somit die Unmöglichkeit eines eindeutigen bzw. intersubjektiven Textsinn zeigt (Arnold 2002, S.
218), sowie andererseits, dass die Form und der Inhalt zwei untrennbare Seiten ein und derselben
Medaille sind, die Form folglich nicht nur Oberfläche, sondern der Kern ist, de r beim Deuten und
Erschließen eines Gedichts hilft (Peter Wapnewski in: DIE ZEIT vom 28.01.1977).
Des Weiteren ist es von Nöten kurz und knapp auf die wissenschaftliche Diskussion der
Bildlichkeit in lyrischen Texten einzugehen. Gab es und gibt es noch viele unterschiedliche
Theorien über die verschiedenen Bilder des Gedichts (vergleiche Arnold 1996, S. 257-272) so
werden viele dieser in Anbetracht des modernen Bildes obsolet, denn dieses ist
unanpassungsfähig an irgendeinen realen Gegenstand. Anders gesagt, repräsentiert es keine
Bedeutung im klassischen Sinne mehr, sondern entwirft nur den in ihm aufgehobenen
Bedeutungszusammenhang; das Bild wird zu einer Art literarischer Bildlichkeit, die sich jedes
Vergleichansatzes entledigt und so die Metaphorizität der Sprache ad absurdum führt. Dieser
modernen Art von Bilder bedient sich auch Karl Krolow, was sich im Folgenden noch zeigen
wird. Hier ergibt sich der Schluss, dass es nicht möglich ist, die Bilder dieses Gedichts zu
übersetzen, vielmehr soll über einen assoziativen Ansatz dem in ihnen verborgenen
Bedeutungszusammenhang nachgespürt werden.
Gliederung
1. Einleitung
1.1. Vorgehensweise der Autorin
2. Formanalyse
2.1. Lyrische Klangformen: der Reim, das Versmaß, die Kadenzen und die Silbenanzahl
2.2. Die Verteilung, Kombination und Wirkung der Wortarten
2.3. Der Rezipient und das Lyrische Ich - die Rollen des Gedichts
3. Der Titel - Spiel mit der Erwartungshaltung
4. Der Inhalt
4.1. Die erste Strophe – mystische Gefangenschaft
4.2. Die zweite Strophe – Chiasmus von Transzendenz und Immanenz
4.3. Die dritte Strophe – Entzifferung von Unbekanntem
4.4. Die vierte Strophe – Sprachlosigkeit der Sprache
4.5. Die fünfte Strophe – schwebende Worte
5. Die zentralen Worte: Worte (erste Zeile), Vokabeln (zweite Zeile), Laute (dritte Zeile), Namen (vierte Zeile) und Vokale (fünfte Zeile)
6. Zusammenfassung sowie Interpretation
6.1. Sonderstellung der zweiten Strophe
6.2. „Im Anfang war das Wort“ – Realität und Sprache, Sprache und Realität
6.2.1. Der Kreislauf und die Schwebe
6.2.2. Die Luft
7. Äußere Bezugspunkte- Friedrich Nietzsche und Theodor W. Adorno
8. Das Gedicht
9. Literaturverzeichnis
9.1. Primärliteratur
9.2. Sekundärliteratur
9.3. Internetquellen
1. Einleitung
In der hier folgenden Seminararbeit werde ich eine Analyse des 1952 verfassten und in "Gesammelte Gedichte" 1962 erschienenen Gedichts "Worte" von Karl Krolow vorlegen (Krolow 1962, S. 75). Ein Problem stellt allerdings die Quellenlage dar, denn es gibt bisher keine umfassende Gedichtanalyse dieses Textes, so dass ich mich nur bei wenigen Einzelelementen einer Sekundärliteratur bedienen konnte.
1.1. Vorgehensweise der Autorin
Zur der Art der Analyse ist zu sagen, dass ich keinem in der Literatur vorgegebenem System folge, stattdessen versuche mich mit konkreten Fragen dem Text zu nähern. Um meinen Ansatz jedoch wissenschaftlich einzuordnen sowie einzugrenzen fußt dieser auf zwei fundamentalen Annahmen der Literaturwissenschaft, einerseits, dass nicht mehr der Autor sondern der Leser als der eigentliche Produzent des Textes gilt, der seine individuelle Sinn-Realisation leistet und sich somit die Unmöglichkeit eines eindeutigen bzw. intersubjektiven Textsinn zeigt (Arnold 2002, S. 218), sowie andererseits, dass die Form und der Inhalt zwei untrennbare Seiten ein und derselben Medaille sind, die Form folglich nicht nur Oberfläche, sondern der Kern ist, der beim Deuten und Erschließen eines Gedichts hilft (Peter Wapnewski in: DIE ZEIT vom 28.01.1977).
Des Weiteren ist es von Nöten kurz und knapp auf die wissenschaftliche Diskussion der Bildlichkeit in lyrischen Texten einzugehen. Gab es und gibt es noch viele unterschiedliche Theorien über die verschiedenen Bilder des Gedichts (vergleiche Arnold 1996, S. 257-272) so werden viele dieser in Anbetracht des modernen Bildes obsolet, denn dieses ist unanpassungsfähig an irgendeinen realen Gegenstand. Anders gesagt, repräsentiert es keine Bedeutung im klassischen Sinne mehr, sondern entwirft nur den in ihm aufgehobenen Bedeutungszusammenhang; das Bild wird zu einer Art literarischer Bildlichkeit, die sich jedes Vergleichansatzes entledigt und so die Metaphorizität der Sprache ad absurdum führt. Dieser modernen Art von Bilder bedient sich auch Karl Krolow, was sich im Folgenden noch zeigen wird. Hier ergibt sich der Schluss, dass es nicht möglich ist, die Bilder dieses Gedichts zu übersetzen, vielmehr soll über einen assoziativen Ansatz dem in ihnen verborgenen Bedeutungszusammenhang nachgespürt werden.
2. Formanalyse
In diesem ersten Teil der Arbeit werde ich auf die Form des Gedichtes, also die verwendeten lyrischen Stilmittel eingehen. Die Interpretation dieser erfolgt im zweiten Teil, in dem ich äußere und innere Gliederung zusammenbringen werde; hier jedoch sollen die Mittel der äußeren Formschaffung lediglich genannt und benannt werden.
2.1. Lyrische Klangformen: der Reim, das Versmaß, die Kadenzen und die Silbenanzahl
Der optischen Form nach ist das Gedicht in fünf gleichberechtigt nebeneinander bzw. hintereinander stehende Strophen zu je vier Zeilen unterteilt.
Als lyrische Klangform ist als erstes der Reim zu nennen; dieser weist in diesem Text folgendes Schema auf: xaxa, xbxb, xcxc, xdxd, xexe. Es handelt sich also um einen durch Waise unterbrochenen Kreuzreim. Durch seine durchgängige Verwendung bekommt das Gedicht einen formellen Rahmen und somit einen äußeren Zusammenhalt.
Das Versmaß ist frei alternierend, neben jambischen Elementen weist der Text Trochäen und Daktylen auf. Man kann also sagen, dass die Sprache dieses Textes nicht an ein bestimmtes Metrum gebunden und somit freier als versmaßgebundene Lyrik ist und wirkt.
Die Kadenzen scheinen auf den ersten Blick kein Schema aufzuweisen; in folgender Reihenfolge tauchen sie auf: erste Strophe: W, M,W, M, zweite Strohe: M, M, W, M, dritte Strophe: W, M, M, M, vierte Strophe: W, M,W, M, fünfte Strophe: W, M, M, M. Bei genauerer Beschäftigung erkennt man jedoch eine Auffälligkeit: so folgen die erste und die vierte Strophe demselben Schema, ebenso verhält es sich bei der dritten und der fünften. Lediglich die zweite Strophe lässt sich in kein Schema einordnen und steht so separiert da. Somit kann insgesamt betrachtet gesagt werden, dass auch die Kadenzen eine Art von Zusammenhalt aufweisen und den äußeren Rahmen zu mindest unterstützen.
Die Silbenanzahl ist relativ gleichmäßig über die Zeilen verteilt, folgende Anzahlen sind zu nennen: erste Strophe: 8, 7. 9, 8, zweite Strophe: 8, 9, 10,8, dritte Strophe: 9, 7, 9, 8, vierte Strophe: 7, 7, 8, 6, fünfte Strophe: 9, 7, 7, 6. Auch hier fällt die zweite Strophe, da sie als einzige in der dritten Zeile eine zweistellige Silbenanzahl besitzt, auf. Durch die höhere Silbenanzahl kommt es auch zu einer optischen Auffälligkeit. Ansonsten wird durch die gewisse Gleichmäßigkeit der Silben der äußere (durchaus auch optische) Zusammenhalt verstärkt.
2.2. Die Verteilung, Kombination und Wirkung der Wortarten
Die besondere Wirkung eines Gedichts wird oft durch die Bevorzugung einer oder mehrerer Wortarten und durch die Vermeidung anderer erzielt (Burdorf 1997, S.131).
So stellt sich hier die Frage, inwiefern dies bei diesem Gedicht zutrifft.
Bereits beim ersten Lesen ist erkennbar, dass eine bestimmte Wortart diesen Text dominiert, nämlich die Substantive. Tatsächlich sind von den neunzig Wörtern, aus denen das Gedicht besteht einunddreißig Stück Substantive, also gut ein Drittel des Textes. Diese sind relativ gleichmäßig über die einzelnen Strophen verteilt, keine Strophe tritt durch besondere Anhäufung von Substantiven hervor. Als zweithäufigste Wortart sind die Adjektive zu nennen, von denen jedoch nur acht vorhanden sind. Diese wiederum beziehen sich stets auf die Substantive und nie auf die Verben. Zu ihrer Verteilung ist zu sagen, dass diese ebenso relativ gleichmäßig ist, wobei die vierte Strophe jedoch kein einziges Adjektiv enthält. Da dies das erste mal ist, dass ich auf eine Besonderheit der vierten Strophe stoße, kann diese vorerst unberücksichtigt bleiben und soll hier lediglich der Vollständigkeit halber erwähnt werden.
Als letzte relevante Wortart sind nun die Verben zu nennen; von ihnen existieren sechs in diesem Text. Diese weisen in ihrer Verteilung jedoch folgende Auffälligkeit auf: die zweite Strophe kommt im Gegensatz zu den anderen ganz ohne Verben aus. Wieder mal kommt dieser Strophe eine gewisse Sonderstellung zu.
Durch die Bevorzugung der Wortart der Substantive wirkt das Gedicht sehr statisch. Diese Wirkung wird durch die Wahl der Verben verstärkt. Außer dem Verb „spricht“ (Zeile zwei) handelt es sich um statische Verben („stehen“, „kehren“, „fallen“ sowie „bleiben“), die entweder keine Bewegung ( "stehen" und "bleiben") oder eine geringe ("kehren" und "fallen") implizieren. Die nur kaum stattfindende Bewegung wird durch die doppelte Verwendung des Verbs „bleiben“ (Zeile dreizehn und Zeile zwanzig) relativiert.
Zu bemerken ist auch, dass das Hilfsverb "sein" in seinen Konjunktionsmöglichkeiten komplett vermieden wird (vgl. Zeile sieben sowie Zeile siebzehn). Dadurch entsteht ein unkonventioneller, der Alltagssprache nicht entsprechender Sprachgebrauch. Der Leser wird so zum aufmerksamen, gar wiederholten Lesen des Textes angehalten.
Wie aber sind die Wortarten miteinander kombiniert; welche Besonderheiten sind hier zu beobachten? Interessant ist hier vor allem die Tatsache, dass der mystische, rätselhafte Charakter des Gedichtes insbesondere durch die Kombination der Wortarten entsteht; so werden auf den ersten Blick nicht zueinander passende Substantive und Adjektive kombiniert und laden so den Rezipient durch ihre alogische Verwendung zu näherer Betrachtung ein. Beispielhaft sind hier die Wortpaare geduldiges Licht (Zeile vier), geschnittene „Wirklichkeit“ (Zeile sieben und Zeile fünf) sowie „geringe Insekten“ (Zeile siebzehn) zu nennen.
2.3. Der Rezipient und das Lyrische Ich - die Rollen des Gedichts
Welche Rolle spielen der Rezipient und das Lyrische Ich bei diesem Text?
Vermessen wäre es zu sagen, dass dem Leser bei diesem Text keine Rolle zukommt, denn nur durch ihn und den Vorgang seines Lesens und Verstehens erwacht ein jeder Text zum Leben (siehe Punkt 1.1.). Jedoch ist hier zu beobachten, dass dem Leser zu mindest keine inhaltliche Rolle zukommt, wie dies bei anderen Gedichten der Fall ist. Dieser Schluss entsteht durch die Feststellung, dass keine rhetorisch-kommunikative Form in diesem Gedicht vorhanden ist.
Auch das Lyrische Ich tritt nicht in Erscheinung. Es fehlen gänzlich Anredeformeln, mit denen die Beziehungen zwischen verschiedenen Personen beziehungsweise redenden und zuhörenden Instanzen ausgedrückt wird. Folglich steht die Beziehung des Textlesenden und des Textschaffenden nicht im Mittelpunkt.
Welche Beziehung wird hier dann zum Thema des Gedichts? Welche Beziehung wird beschrieben? Dies ist nun in dem nächsten Schritt der Arbeit, der Inhaltsanalyse zu klären.
In Anbetracht der Ergebnisse der Wortartenanalyse (siehe Punkt 2.2.) ist jedoch zu erwähnen, dass der Rezipient durch andere Mittel zum aufmerksamen Lesen gebracht wird.
3. Der Titel - Spiel mit der Erwartungshaltung
Dass ein Gedicht einen Titel trägt ist keineswegs selbstverständlich und war Jahrhunderte lang sogar unüblich (Burdorf 1997, S.131). Deshalb werde ich in diesem Schritt meiner Analyse auf den Titel und sein Verhältnis zum Gedichttext, sowie seine Funktion eingehen.
So lautet die Frage an den Text: Welche Assoziation löst der Titel aus, welche Art von Gedicht erwartet der Leser?
Dieser Titel spielt mit der Erwartungshaltung des Lesers, denn bereits bei dem Entschluss ein Gedicht zu lesen (und zwar bei jedem beliebigen) weiß der Leser dass es sich um (irgendwelche) Worte handeln wird. Bei der im vorherigen Satz gewählten Formulierung erkennt man die Doppeldeutigkeit dieses Titels: einerseits handelt es sich bei jedem Gedicht um Worte, da diese Ausdrucksform, die Lyrik stets an die Sprache, die durch Aneinanderreihung von Worten entsteht, gebunden ist; andererseits kann es sich aber auch inhaltlich um Worte drehen, also das Wort/ die Worte thematisieren.
Dass das Gedicht den Titel „Worte“ trägt verheißt also bereits auf eine Auseinandersetzung mit der Sprache, welche auch das Medium ist, welches das Gedicht benutzt um (beliebige) Inhalte zu kommunizieren. Ob hier Inhalt und Titel deckungsgleich sind soll erst später diskutiert werden, festgehalten wird hier erst mal, dass eine gewisse Selbstreflektion des verwendeten Mediums, der Sprache, mit dem gewählten Titel bereits anklingt.
Aber auch andere, weitläufigere Assoziationen sind mit dem Titel „Worte“ verbunden.
"Im Anfang war das Wort" (Johannes 1,1) ist ein Satz der für die Bibel steht wie kaum ein anderer. Inwieweit dieser Satz und somit vielleicht auch die Bibel mit dem Inhalt und der Bedeutung des Gedichts kongruiert oder kongregiert soll zu gegebenen Zeitpunkt besprochen werden. Hier soll lediglich das Thema erwähnt sein, auf welches dieser berühmte Satz, der als Assoziation des Titels nahe liegt, verweist: Sprache, Sprachursprung, aber auch die Entstehung der Realität durch das Wort, durch die Sprache (vergleiche Johannes 1,3; 1,4; 1,14).
Ebenso ist es wichtig zu erwähnen, dass der Titel ohne Artikel oder genauere Bezeichnung (zum Beispiel durch Adjektive) des Substantivs "Worte" verwendet wurde. Dies ist ein Verweis darauf, dass dieses Gedicht nicht von bestimmten, einigen Wörtern handelt, sondern von Worten im Allgemeinen. Das Gedicht scheint einen gewissen Allgemeingültigkeitsanspruch zu erheben.
Nun bleibt zusammenfassend festzuhalten mit welcher Art von Gedicht der Leser nun rechnet, doch gerade hier stößt man an Grenzen. Durch das aufgezeigte Spiel mit der Erwartungshaltung des Leser stellt sich dieser nun alles oder nichts ein, anders gesagt, der Leser wurde einer klaren Erwartungshaltung beraubt und dies umso mehr er über diese reflektiert.
4. Der Inhalt
Hier werde ich nun vorab versuchen Inhaltsangaben der einzelnen Strophen vorzulegen, da dies zum Verständnis, also zur Interpretation beiträgt. In diesen Inhaltsangaben werde ich hauptsächlich Fragen, aber gegebenenfalls auch Hypothesen über mögliche Interpretationsschlüsse aufstellen um diese dann anschließend in der das Gesamtwerk betreffenden Analyse zu beantworten bzw. zu verifizieren oder falsifizieren.
4.1. Die erste Strophe – mystische Gefangenschaft
Dadurch dass die Worte "hinter Türen" gesprochen werden, zwar "aus Fenstern" dringen, dann aber wieder "gegen die Mauern" stoßen impliziert eine Gefangenschaft der Worte. Durch die Tätigkeit des Sprechens ("die man (...) spricht") findet eine Bewegung von innen nach außen statt, welche letztendlich an Grenzen ("Mauern") stößt. Interessant ist nun, um welche Art von Gefangenschaft es sich handelt. Da Worte ein abstraktes, geistiges Gut darstellen, lässt sich vermuten, dass es sich auch um eine abstrakte, geistige Gefangenschaft handelt. Des Weiteren ist die "Einfalt" der erfundenen "Worte" gekalkt mit geduldigem Licht. Diese Formulierung gibt einem weit mehr Rätsel auf wie das bereits Gesagte. Was ist die Einfalt erfundener Worte? Warum und wie ist diese Einfalt gekalkt? Wie und in wiefern kann Licht geduldig sein? Eindeutig beantworten lassen sich diese Fragen nicht, einige assoziative Denkansätze sollen aber nicht ungenannt bleiben:
1.Einfalt stellt das Gegensatzpaar zu Vielfalt dar, folglich gibt es erfundene Worte nur in einer Erscheinungsform, sie sind einfaltig. Das Adjektiv einfaltig wiederum verweist auf Dummheit und wenig gedankliche Vielfalt,
2. Der Ausdruck „erfundene Worte“ könnte auf den arbiträren Charakter der signifiant-signifie-Beziehung (Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, S.33) hinweisen. Bezogen auf die Einfalt dieser erfundenen Worte wird hier eine kritische (und linguistische) Auseinandersetzung mit der Sprache angedeutet,
3. Das Licht wird mit der Zuordnung einer menschlichen Eigenschaft (Geduld) personifiziert,
4. Die Einfalt der erfundenen Worte wird durch die Kalkung mit geduldigem Licht mystifiziert und dieses Licht wirkt am Schluss dieser Strophe wie ein Hoffnungsschimmer, wie das bekannte Licht am Ende des Tunnels.
4.2. Die zweite Strophe – Chiasmus von Transzendenz und Immanenz
In dieser Strophe wird auf die „Wirklichkeit von Vokabeln“ eingegangen. Es ist nicht wichtig, ob diese Vokabeln aus zwei oder aus drei Silben bestehen, beide Arten sind „aus den Rätseln des Himmels geschnitten“ und „aus einer Ader im Stein“. Warum wird hier die Zwei- bzw. Dreisilbigkeit der Vokabeln betont? Für was steht das Wort Vokabeln ? Nun zuerst zur zweiten Frage: Vokabel kommt aus dem Lateinischen und bedeutet (Einzel)Wort, kann also hier als Synonym für Wort gesehen werden. So lässt sich auch die betonte Zwei- oder Dreisilbigkeit erklären: so weist das Wort Worte zwei Silben auf, das Wort Vokabeln hingegen drei.
Nun zu den „Rätseln des Himmels“ sowie der „Ader im Stein“. Hier ist zu erwähnen, dass ein Chiasmus diese letzten beiden Zeilen miteinander verbindet: so stehen sich einerseits Rätsel „des Himmels“ als etwas Ungreifbares, Imaginäres sowie Übernatürliches und der „Stein“ als etwas Greifbares, Manifestes sowie Natürliches und andererseits die „Ader“ als etwas amorph Geformtes und „geschnitten“ als eine gradlinige das amorph Geformte zerstörende Bewegung in einer Überkreuzstellung gegenüber. So entsteht ein inhaltlicher Widerspruch, der jedoch formell zusammengehalten wird.
4.3. Die dritte Strophe – Entzifferung von Unbekanntem
„Durch einen geflüsterten Laut“ werden in dieser Strophe fremde „Gesichter“ entziffert. Es wird also ein Vorgang, der der Entzifferung beschrieben. Die fremden Gesichter haben Blitze „unter der Haut“ und Bärte, „in denen der Wind steht“. Auch hier wird ein Überkreuzstellung der Textelemente verwendet: so stehen sich inhaltlich „Haut“ und Bärte sowie „Wind“ und geflüsterter „Laut“ nahe; das erste Wortpaar verweist auf den Menschen, das zweite auf die Luft. Interessant ist in dieser Strophe die Anfangsformulierung „Entzifferung fremder Gesichter“, denn hier wird der Leser vor folgende Frage gestellt: Kann man fremde Gesichter tatsächlich entziffern, ist der Vorgang der Entzifferung nicht nur bei etwas bereits Bekannten möglich?
4.4. Die vierte Strophe – Sprachlosigkeit der Sprache
Hier "bleiben" "die Namen" - der Dinge, deren Bezeichnungen (also die Worte)- "im Ohre nur ein Gesumm", also nichts Verständliches, nichts Sinnhaftes. Dass sie nur bis zum Ohre reichen, deutet darauf hin, dass sie nicht das Gehirn, das Bewusstsein, das wahrhaft Innere erreichen können. Das entstandene Gesumm wird mit dem Gesumm von Insekten ("Zikaden und Bienen") verglichen, letztendlich bleibt es nichtssagend. Dieses nichtssagende "Gesumm" wandelt sich in der letzten Zeile "ins Schweigen". Wenn aus Worten Schweigen wurde, bleibt nichts mehr übrig, ist nichts mehr übrig außer der Sprachlosigkeit. Das Gedicht scheint über Sprachlosigkeit zu sprechen; es bedient sich dem Mittel, dem es eigentlich das Vertrauen entzieht. Was will der Text dem Leser mit diesem Paradox verdeutlichen?
4.5. Die fünfte Strophe – schwebende Worte
" Vokale" sind "geringe Insekten", die "unsichtbar über die Luft" schweben, schließlich "als Asche" nieder"fallen" und "als Quittenduft" bleiben. Hier wird wieder ein Umwandlungsprozess beschrieben, von dem Vokal zum Quittenduft. Wie kann man nun verstehen, dass ein Wort als Asche niederfällt und sich dann in den Duft einer Frucht verwandelt? Es kann hier festgehalten werden, dass Asche als ein Düngungsmittel für Obstbäume verwendet wurde/wird, folglich könnte auf einen realen biologischen Kreislauf (die Wurzeln des Baumes bedienen sich der Mineralien der Asche und führen die darin enthaltene Energie den Teilen des Baumes, also auch den Blüten zu) zurückgegriffen werden. Dieses reale Bild ist jedoch in Anbetracht der geheimnisvollen Umgebung des Gedichts aufzugeben. Obwohl es in dieser Strophe sehr gut passt, verliert es im Gesamtkontext seine Daseinsberechtigung, nicht die reale Tätigkeit des Düngens steht also im Zentrum, sondern ein Kreislauf an sich, unpräzise und ohne reale Entsprechung.
Man kann nach diesen Inhaltsangaben festhalten, dass das Gedicht zwar durch die Wortartwahl auf den ersten Blick statisch wirkt, auf den zweiten Blick, inhaltlich jedoch viele Bewegungsabläufe in sich trägt. Interessant ist hier, dass die inhaltliche Auseinandersetzung durch die Wortwahl und deren Kombination vom Leser geradezu gefordert wird.
Meistens handelt es sich um die Bewegung der Worte oder eine Bewegung, die durch die Worte, durch das Aussprechen dieser („spricht“- Zeile zwei) entsteht.
5. Die zentralen Worte: Worte (erste Zeile), Vokabeln (zweite Zeile), Laut (dritte Zeile), Namen (vierte Zeile) und Vokale (fünfte Zeile)
Jedes dieser fünf Worte stellt in einer Strophe ein zentrales Element dar und diese Worte sind in ihrer Bedeutung eng miteinander verwandt. Dass sie in diesem Gedicht durchaus als Synonym bzw. als Ausprägung des Wort „Worte“ gelesen werden können soll hier veranschaulicht werden. Als erstes werde ich auf den sprachlichen Ursprung von „Wort“ eingehen. Das gemeingermanische Substantiv Wort ist z.B. verwandt mit lateinisch verbum (=Wort) und litauisch vardas (=Name) und gehört mit diesen zu der indogermanischen Wurzel uer- (=feierlich sprechen, sagen) (Duden 2001, S. 934). Nun zu dem sprachlichen Ursprung des Wortes Vokabel, in Punkt 4.2. bin ich bereits kurz darauf eingegangen, dieses Fremdwort ist eine Entlehnung frühneuhochdeutscher Zeit aus lateinisch vocabulum (=Benennung, Bezeichnung; Nomen, Substantiv) und bedeutet (Einzel-)Wort (Duden 2001, S.902). Das Substantiv Laut (von mittelhochdeutsch lut) bezeichnet zunächst das mit dem Gehör Wahrnehmbare, eine hörbare Äußerung, dann auch den Inhalt eines (vorgelesenen) Schriftstücks, außerdem bezeichnet in der Grammatiksprache Laut das nicht mehr zerlegbare Element eines Wortes (Duden 2001, S.474). Somit bildet der Laut die unterste Ebene der Sprache, aus ihm entstehen Wörter, aus Wörtern Sätze und aus Sätzen Texte (Linke/Nussbaumer/Portmann 1996, S.8).
Das gemeingermanische Wort mittelhochdeutsch name beruht mit verwandten Wörtern in anderen indogermanischen Sprachen auf indogermanisch (e)numn, z.B. sind hier lateinisch nomen (=Name, Benennung, Wort und griechisch onoma (=Name, Benennung, Wort) zu nennen (Duden 2001, S.550). Vokal bedeutet Selbstlaut und der grammatische Ausdruck ist eine gelehrte Entlehnung frühneuhochdeutscher Zeit aus gleichbedeutend lateinisch vocalis (= stimmreich, tönend) und ist von lateinisch vox (=Laut, Ton, schall, Stimme, Wort, Rede) abgeleitet. Das abgeleitete Verb lateinisch vocare steht für nennen, rufen, anrufen (Duden 2001, S.902).
Die Ausdrücke befinden sich alle auf demselben semantischen Wortfeld, sie drehen sich um die Sprache und sind Teilelemente dieser.
Wenn nun klar ist, dass es sich bei den unterschiedlichen Bezeichnungen um dasselbe Thema, nämlich die Sprache handelt, ist nun zu klären, was mit diesen im Laufe des Gedichts geschieht bzw. was über diese geäußert wird. Hilfreich hierbei sind die Inhaltsangaben. Hier wurde bereits festgestellt, dass viele Bewegungsabläufe dargestellt werden, die sich auf das Wort und die artverwandten Bezeichnungen beziehen.
6. Zusammenfassung sowie Interpretation
Diesen Gliederungspunkt der Arbeit werde ich mit einer Zusammenfassung der bis zu diesem Punkt erarbeiteten Auffälligkeiten des Textes beginnen. Diese Zusammenfassung soll dem Leser beim Verstehensprozess behilflich sein.
In der Formanalyse habe ich herausgefunden, dass das Gedicht einen formalen Rahmen besitzt, der einerseits durch die Einteilung in gleichförmige Verse und Strophen und andererseits durch das Reimschema entsteht. Dieser Rahmen wird durch die Abfolge der Kadenzen, die Silbenanzahlen der Verse sowie durch die Verteilung der Wortarten unterstützt. Wie es für die Nachkriegsliteratur kennzeichnend ist (Arnold 2001, S.283) wird nur ein Mindestmass an formalen Merkmalen benutzt um dem Text einen Rahmen zu verleihen.
Als auffällig ist die zweite Strophe zu bezeichnen, da sie erstens durch das bei ihr gebrochene Kadenzenschema, zweitens durch das Vorhandensein einer zweistelligen Silbenanzahl in ihrer dritten Zeile und drittens durch ihre Verblosigkeit eine Sonderstellung einnimmt.
Bei der Betrachtung der Wortarten kam ich zu dem Schluss, dass das Gedicht durch die gehäufte Anzahl von Substantiven statisch wirkt. Allerdings ergab sich aus den Inhaltsangaben, dass trotz der statischen Wirkung des Textes inhaltliche (Umwandlungs-) Prozesse und somit Bewegungen vorzufinden sind. Des Weiteren erschafft die unkonventionelle Kombination von bestimmten Adjektiven und Substantiven den mystischen Charakter dieses Textes.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Titel war erkennbar, dass dieser mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und dass bei ihm eine Selbstreflektion des Textes mitschwingt. Als auffällig habe ich ebenso die assoziative Nähe zu dem bekannten Bibelzitat „Im Anfang war das Wort“ charakterisiert.
In den Inhaltsanalysen blieben viele Bilder des Gedichts unerklärt, wie zum Beispiel die Geduldigkeit des Lichts oder die Entzifferung fremder Gesichter. Wenn diese auch nicht eindeutig in konventionelle Bilder übersetzt werden können, soll diesen Bildern, die den Text dominieren, nachgespürt werden. Außerdem wurde eine linguistische Auseinandersetzung mit der Sprache angedeutet.
6.1. Sonderstellung der zweiten Strophe
Nun als erstes zur Sonderstellung der zweiten Strophe. Diese bisher rein formale Sonderstellung verweist auf eine auch inhaltliche Sonderstellung. Worum es in dieser Strophe geht habe ich in Punkt 4.2. skizziert, darauf soll nun zurückgegriffen werden. Hier soll nun die Interpretation des Gedichtes anfangen, aufgrund der Besonderheit dieser Strophe soll sie, entgegen der chronologischen Ordnung, den Anfang dieser Gesamtinterpretation liefern.
In dieser Strophe geht es also um die „Wirklichkeit von Vokabeln“, hier treffen wir auf das in Punkt 3 bereits erwähnte (auch biblische) Thema der Entstehung der Realität durch das Wort, durch die Sprache (vergleiche Johannes 1,3; 1,4; 1,14). Die Wirklichkeit ist aus „den Rätseln des Himmels geschnitten“ und aus „einer Ader im Stein“. Die chiastische Stellung der Textelemente und der inhaltliche Widerspruch dieser habe ich bereits benannt, hier soll dieser Widerspruch aufgelöst werden.
Vorab soll noch mal auf die Zwei- oder Dreisilbigkeit eingegangen werden. So bestehen die Worte Worte und Namen aus zwei Silben und die Worte Vokabeln sowie Vokale aus zwei Silben. Da der Laut als Grundbaustein dieser Worte, der Worte im Allgemeinen zu betrachten ist, kann dieses Wort trotz seiner Einsilbigkeit hier mitgedacht werden. Folglich sollen all diese Bezeichnungen für Teile der Sprache ebenso auf die „Wirklichkeit“ bezogen werden. Durch die Formulierung der zweiten Zeile wird auf die anderen Strophen des Gedichts verwiesen. Dieser Umstand schafft bezogen auf den gesamten Text einen inhaltlichen Zusammenhang.
Nun zurück zu den „Rätseln des Himmels“ und der „Ader im Stein“. Beide Bilder können nicht eins zu eins übersetzt werden (siehe Punkt 1.1.) sondern entwerfen lediglich einen Bedeutungszusammenhang. Dieser ist wie folgt beschaffen: so verweisen die Worte geschnitten sowie Ader auf den Menschen und die Worte Himmel und Stein auf die Natur, die Umwelt. Das Wort Rätsel steht in dieser Aufteilung zwischen den beiden, zwischen der Natur und zwischen dem Mensch, denn es lässt sich auf beides beziehen. So gibt es einerseits die Rätsel des Menschen, der Menschheit und die Rätsel der Natur, der Umwelt. Dass diese beiden nicht separiert voneinander betrachtet werden können, wird schnell klar: so lebt der Mensch in der Natur, der Umwelt und ist gleichzeitig ein Teil von ihr. Betrachtet man das Thema der Strophe, die Realitätsschaffung durch Sprache, verdeutlicht sich das Bild im Kopf des Rezipienten. So wird hier auf ein hoch philosophisches Thema verwiesen: entsteht die Realität in der Natur, ist sie also t naturgegeben und somit objektiv oder entsteht sie durch den Menschen und ist somit subjektiv? Auf die Klärung dieses Sachverhalts muss jedoch verzichtet werden, da dies nicht nur den Rahmen einer Seminararbeit sprengen würde. Da hier beides gleichwertig nebeneinander und (durch die Verwendung des Chiasmus) miteinander steht, geht der Text einen Mittelweg. Es gibt eine Wirklichkeit, die durch die Sprache entsteht, diese Wirklichkeit ist gekennzeichnet durch ein Wechselspiel von Mensch und Natur. Dieses Wechselspiel ist aber nicht klar benennbar und bleibt geheimnisvoll, ein Rätsel des Himmels, etwas Unerreichbares, etwas Unsagbares, gar etwas Transzendentes (hier dient vor allem die Metapher des Himmels als Verweis). Hier treffen wir auf das Motiv der Sprachlosigkeit. Das Gedicht selbst wirkt hier sprachlos, da es etwas Unsagbares versucht zu sagen.
6.2. „Im Anfang war das Wort“ – Realität und Sprache, Sprache und Realität
Festgehalten werden kann, dass das (auch biblische) Thema der Realitätsschaffung durch die Sprache das Zentrum der zweiten Strophe darstellt. Ist dieses Thema in den anderen Strophen ebenso enthalten? Wenn ja, inwiefern?
Zur Klärung dieser Fragen wird auf die Inhaltsangaben aus Punkt 4 zurückgegriffen. Die erste Strophe handelt von einer gewissen Gefangenschaft der Worte. Hier wird der Rezipient implizit darauf hingewiesen, dass wenn man fragt ob Realität durch Sprache entsteht, man auch fragen muss, ob Sprache überhaupt in der Lage ist eine Realität zu schaffen. Hier erweitern die Eigenschaften und Fähigkeiten der Sprache das Thema des Textes, denn die Sprache ist durch ihre „Einfalt“, durch ihr Erfundensein, ihre arbiträre Wesensart eingeschränkt. Dies lässt daran zweifeln, dass Realität aus Sprache entstehen kann. Die mystische, geheimnisvolle Formulierung der zweiten Strophe verstärkt diese Zweifel. In der dritten Strophe werden fremde Gesichter durch einen geflüsterten Laut entziffert, dieser Prozess verweist auf eine durch Sprache geschaffene Realität. Allerdings muss man sagen, dass die Gesichter vorher nicht unwirklich sondern nur fremd waren und sie somit durch die Sprache nur zuordbar, nur fassbar und nicht existent werden. Auch dieser Prozess verbleibt in der mystischen, unerklärbaren, wunderlichen Umgebung der Blitze „unter der Haut“ und der Bärte, „in denen der Wind steht.“ Letztendlich bleiben die „Namen“ „im Ohre nur ein Gesumm“ (vierte Strophe) und somit nichts Verständliches, nichts Sinnhaftes. Der Prozess der Entzifferung wird relativiert und dessen Sinn angezweifelt („Aber...“ Zeile eins). Denn am Schluss bleibt das Schweigen, die bereits erwähnte und erläuterte Sprachlosigkeit (siehe Punkt 4.4.). In der fünften und letzten Strophe „fallen“ die „Vokale“ „als Asche nieder“ und „bleiben als Quittenduft“. Hier bleibt zwar etwas Schönes (der Duft einer Frucht), aber nichts Fassbares, nichts Greifbares, eigentlich nur riechende Luft, auch als duftendes Nichts zu bezeichnen. Somit löst sich am Schluss die Bewegung der Worte in einen ewigen Kreislauf auf, dessen Ende und Anfang nicht bestimmbar sind.
6.2.1. Der Kreislauf und die Schwebe
Das Gedicht selbst trägt in sich diesen Kreislauf, denn auch hier ist kein Erkenntnisprozess zu enthalten, keine Erkenntnis wird dem Leser präsentiert, vielmehr endet das Gedicht wieder mit dem Problem an sich: das Worte nichts oder besser wenig sagen können über die Wirklichkeit (vergleiche Paulus 1983, S.25). Es findet also tatsächlich eine Selbstreflektion statt: es geht um das dichterische Schaffen und ob Lyrik fähig ist, die Wirklichkeit sprachlich zu fassen und zu erfassen. Lyrik kann die Wirklichkeit fassen, sie also berühren, sie darstellen, ob sie die Realität aber erfassen im Sinne von Verständnis in ihrem Innerstes kann bleibt fraglich.
Diesen Umstand macht sich der Text also zum Thema. So kann als zentrales Thema die Wechselbeziehung von Sprache und Realität festgehalten werden. Der Genauigkeit und Klarheit wird hier eine Absage erteilt, da das Gedicht sich dem Medium der Sprache bedient, welcher genau diese Eigenschaften zu scheinen fehlen. Die vorsichtigen, nur vermutenden Formulierungen der Interpretation entstehen durch das Nichtvorhandensein einer direkten Aussage des Textes. Würde diese jedoch formuliert werden, wäre der Zauber dieses Gedichts dahin, denn dieser entsteht dadurch dass der Rezipient in der Schwebe gelassen wird.
6.2.2. Die Luft
Beim Lesen des Gedichts entstehen im Kopf des Lesers Bilder von Wörtern, die durch die Luft schweben. Diese entstehen durch die Materielosigkeit der Worte, welche dem Leser bewusst ist und durch die Bewegungen der Worte, die in dem Text geschildert werden. Außerdem meinen die Worte Himmel und Wind Luft mit und in Zeile achtzehn wird die Luft, das Schweben der Worte direkt an- und somit ausgesprochen. Implizit kann auch das Wort „Insekten“, mit welchem die Worte gleich gesetzt werden (Zeile siebzehn) als Hinweis auf die Luft, auf das Fliegen gelesen werden. Die Luft stellt ein wichtiges Element dieses Gedichtes dar und ist ebenso das Element in dem man sich befindet, wenn man in der Schwebe gelassen wird. Die Luft wird so zum Element des Gedichts und des Lesers, im Gegensatz zur klassischen Rollentheorie der Lyrik (siehe Punkt 2.3. sowie Burdorf 1997, S.182-214) findet hier eine Verbindung des Textes und des Textlesenden durch ein nur inhaltliches, nicht auf den ersten Blick erkennbares Mittel statt.
Des Weiteren handelt es sich bei der Luft um einerseits ein geheimnisvolles Element, das nicht fassbar (hier ist ein Verweis auf die nicht fassbare Wirklichkeit enthalten), unsichtbar (wie die Worte, siehe auch Zeile achtzehn) und lebensnotwendig für den Menschen (als ebenso lebensnotwendig kann die Sprache gesehen werden) ist. Wie man sieht schwingen schon in der Wahl dieses Elements einige Verweise auf das Thema des Gedichtes mit.
7. Äußere Bezugspunkte- Friedrich Nietzsche und Theodor Wiesengrund Adorno
Hier soll abschließend nur kurz auf die nicht direkt enthaltenen Bezugspunkte dieses Werkes eingegangen werden. Diese erschließen sich auf der einen Seite durch die zeitliche Einordnung des Werks und auf der anderen Seite durch die Thematik, die dieser Text anspricht. Zu der zeitlichen Einordnung ist zusagen, dass es sich um ein Gedicht der Nachkriegszeit handelt und somit der berühmt-berüchtigte Ausspruch Adornos nach Auschwitz sei es barbarisch ein Gedicht zu schreiben (http://www.sandammeer.at/misanthrop/M 14.htm, 23.06.04) auf dieses Gedicht bezogen werden muss.
Aber auch inhaltlich findet sich in diesem Ausspruch die zentrale Frage des Gedichtes wieder: ist es Sprache möglich die unfassbare Realität, das Unfassbare darzustellen? Sicher bezieht sich diese Frage in diesem Kontext mehr auf die schlimmen, unmenschlichen Kriegserfahrungen, den Holocaust (als dessen Synekdoche der verwendete Ausdruck „Auschwitz“ gesehen werden kann) als auf die Realität an sich, doch liegt ihr derselbe Tenor zugrunde: Die Problematik der Darstellung des Undarstellbaren. Dies sieht man insbesondere an dem Schluss dieses Zitats
„..., und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zuschreiben“ (http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/thies/kulturkritik.html, 23.06.04). Der Ausspruch Adornos löste Diskussionen nicht nur in den Feuilletons aus und bis heute bleibt ungeklärt, ob Adorno tatsächlich jegliche Form von Lyrik zu diesem Zeitpunkt (denn später revidierte er diese Aussage selbst) ablehnte oder dieser Satz als provokanter Ansporn verstanden werden sollte eine neue Art der Lyrik zu erschaffen. Tatsache ist auf jeden Fall, dass es auch nach Auschwitz noch Gedichte gibt, denn Lyrik ist jene sprachliche Form, die der Auseinandersetzung mit der Sprachlosigkeit dieser Zeit (und auch der heutigen) am angemessensten schien (und scheint). Dies da die Lyrik in ihrer Sprache nicht eindeutig ist und somit ein Verstehen ermöglicht und erzwingt, in dem das Nichtverstehen mitschwingt und vice versa. Die Lyrik erlöst uns also nicht von der inneren Zerrissenheit, sondern hat die Fähigkeit diese auf andere Weise noch einmal sichtbar und in gewisser Weise auch erfahrbar zu machen.
Zur folge hatten diese Erfahrungen und Überlegungen für die Nachkriegslyriker die Erkenntnis, dass man sich von überlieferten Formen und sprachlichen Bildern löste, um in einer neuen paradoxen Sprache neue Beziehungen zu setzen und die Welt so zu erfassen versuchte. Für diese neue Art von Lyrik ist das Gedicht „Worte“ von Karl Krolow sehr exemplarisch.
Nicht nur, aber auch als berühmter Kulturkritiker hat sich ebenso Friedrich Nietzsche einen Namen gemacht. Zu seinem berühmten Essay „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (http://gutenberg.spiegel.de/nietzsch/essays/wahrheit.htm, 23.06.04) gibt es mehr Verbindungen zu Karl Krolows „Worte“, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Erst mal wurde auf diesen Text lediglich aufgrund des behandelten Stoffs zugegriffen, bei genauer Betrachtung ergaben sich jedoch weitere hier folgende Gemeinsamkeiten: so bedient sich Nietzsche in seinem Essay ebenso Naturbildern (die bei ihm jedoch noch in der klassischen Form auftauchen) um die Sprache-Realität-Beziehung zu erklären und ebenso wie Krolow verwendet er die Metapher der Insekten, im Speziellen der Biene. Dies lässt nun einen Rückschluss auf das Gedicht zu: die Anlehnung an Nietzsche ist nicht zufällig entstanden, sondern vom Autor selbst initiiert und somit ist Hypertextualität, also der Verweis auf einen andern Text zu finden (und somit auch eine Verweis auf die Bedeutung). Zu der durch Sprache geschaffene „Wirklichkeit“ äußert sich Nietzsche folgendermaßen: diese Realität ist sinnleer, denn wenn der Mensch denkt etwas von den Dingen an sich zu erfassen, dieser nur über ein Heer von Metaphern verfügt, die dem Wesen des Bezeichneten in keiner Weise entsprechen.
Da auch ich mich bei dieser Seminararbeit logischerweise dem Medium der Sprache bedient habe, kann man nach Nietzsche sagen, dass auch ich mich einem Heer von Metaphern bedient habe. So habe ich versucht unbekannte, geheimnisvolle Metaphern in konventionellere Metaphern zu übersetzen um so dem Textsinn näher zu kommen. Letztendlich kann ich nur, indem ich mich der Worte Bertold Brechts bediene mit diesen die Arbeit beenden: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen/ den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ (Brecht 1967, S.1607).
8. Das Gedicht
Worte
Einfalt erfundener Worte,
Die man hinter Türen spricht,
Aus Fenstern und gegen die Mauern,
Gekalkt mit geduldigem Licht.
Wirklichkeit von Vokabeln,
Von zwei Silben oder von drein:
Aus den Rätseln des Himmels geschnitten,
Aus einer Ader im Stein.
Entzifferung fremder Gesichter
Mit Blitzen unter der Haut,
Mit Bärten, in denen der Wind steht,
Durch einen geflüsterten Laut.
Aber die Namen bleiben
Im Ohre nur ein Gesumm
Wie von Zikaden und Bienen,
Kehren ins Schweigen um.
Vokale- geringe Insekten
Unsichtbar über die Luft,
Fallen als Asche nieder,
Bleiben als Quittenduft.
-Karl Krolow-
9. Literaturverzeichnis
9.1.Primärliteratur
B ischöfe Deutschlands, Österreichs, der Schweiz, der Bischof von Luxemburg, von Lüttich und von Bozen-Brixen (Hg) 1980: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Stuttgart.
B recht, Bertold 1967: Gesammelte Werke, Band vier. Der gute Mensch von Sezuan, Frankfurt am Main.
K rolow, Karl 1965: Gesammelte Gedichte; Frankfurt am Main.
9.2. Sekundärliteratur
A rnold, Heinz Ludwig/ Detering, Heinrich (Hg) 1996: Grundzüge der Literaturwissenschaft, München.
B urdorf, Dieter 1997: Einführung in die Gedichtanalyse, 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar.
D uden 2001: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 3. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim.
L inke, Angelika; Nussbaumer, Markus; Portmann, Paul R. 1996: Studienbuch Linguistik, Tübingen.
P aulus, Rolf 1983: Die Lyrik Karl Krolows in: Arnold, Heinz Ludwig (Hg):Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, Heft 77, München.
W apneswski, Peter 1997 in: DIE ZEIT vom 28.1.1977.
9.3. Internetquellen:
http://www.bdb.de /popup_ druckvresion.html?guid= 2Z5HV6, 23.06.04,
http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/thies/kulturkritik.html, 23.06.04,
http://www.sandammeer.at/misanthrop/M 14.htm, 23.06.04,
http://gutenberg.spiegel.de/nietzsch/essays/wahrheit.htm, 23.06.04.
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- Arbeit zitieren
- Gwendolyn Schrott (Autor:in), 2004, Fragen an ein Gedicht. Sprache und Sprachlosigkeit bei Karl Krolows Gedicht "Worte", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26407
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