Im Mittelpunkt der Arbeit von Christian Jung steht die politische und historische Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands und ihre Folgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der Titel der Arbeit zielt dabei auf eine Seite innerhalb dieser Debatte: mit der Diskussion über die im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und der Erinnerung an die historische Schuld der Deutschen möge es ein Ende haben. Der Autor untersucht in seiner Arbeit, welche Personengruppen dieser so genannten ‚Schlussstrichhypothese’ zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen (und warum). Datengrundlage sind Befragungsdaten, die vom Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2002 bei der Besucherbefragung zur Ausstellung ‚Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944’ erhoben wurden.
Das Befragungsinstrument, welches dieser Untersuchung zugrunde liegt, war ein achtseitiger standardisierter Fragebogen, der den Besuchern unter anderem Fragen zu ihren Eindrücken aus der Ausstellung, ihrer Beurteilung der Ausstellung, ihren Einstellungen zum und Berührungspunkten mit dem Nationalsozialismus stellte.
Jung konzentriert sich auf die theoretische Fragestellung der generationalen Prägung und den damit einhergehenden unterschiedlichen Einstellungen in der Schlussstrich-Debatte.
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
I Einführung
1 Ausgangspunkt und Vorgehensweise der Arbeit
2 Verbrechen der Wehrmacht als Teil der NS-Auseinandersetzung
2.1 Historischer Hintergrund
2.2 Die erste Ausstellung
2.3 Die neue Ausstellung
II Theoretischer Teil
0 Einleitung
1 Zum Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“
2 Öffentliche NS-Auseinandersetzung
2.1 Argumente für eine weitere NS-Auseinandersetzung
2.2 Positionen und Strategien für einen Schlussstrich
2.3 Exkurs 1: Die Walser-Debatte
2.4 Exkurs 2: Literarische Darstellung der Auseinandersetzung
2.5 Erinnern versus Schlussstrich in der vorliegenden Untersuchung
3 Generationen
3.1 Generation versus Kohorte
3.2 Zum Generationen-Konzept
3.3 Generationen-Konzepte mit Bezug zum NS
3.3.1 Potentielle NS-Täter-Generation
3.3.2 NS-Erlebnisgeneration
3.3.3 Nachfolgende Generationen
3.4 Generationeneinteilung dieser Arbeit (Generationszusammenhänge)
3.4.1 Grenzen und Schwächen der Generationeneinteilung
3.4.2 Die Täter-Generation
3.4.3 Die Skeptische Generation
3.4.4 Die 68er- und 78er-Generation
3.4.5 Die 89er-Generation
3.4.6 Die Jüngste Generation
3.5 Generationseinheiten
3.5.1 Bildung
3.5.2 NS-Bezug im eigenen Umfeld
4 Abgeleitete Forschungshypothesen
III Empirischer Teil
1 Planung und Vorbereitung der Erhebung
1.1 Warum eine Besucherbefragung in München?
1.2 Das Forschungsinteresse
1.3 Das Erhebungsinstrument
2 Durchführung der Erhebung
2.1 Feldzugang
2.2 Ausschöpfung
3 Datenüberblick
3.1 Datenqualität, Antwortbereitschaft, Antwortverweigerung
3.2 Soziodemographische Angaben, poltitische Klassifizierung
3.2.1 Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit
3.2.2 Beschäftigung, Bildung
3.2.3 Einstufungen aus dem ALLBUS
3.3 Über die Ausstellung selbst
3.3.1 Allgemeine Beurteilung der Ausstellung
3.3.2 Gefühlslage durch Ausstellungsbesuch
3.4 Einstellungen in der NS-Diskussion
3.4.1 Die Schuldfrage
3.4.2 Schlussfolgerungen aus dem NS
3.4.3 Schlussstrich versus Erinnern
3.5 Berührungspunkte und persönliche Erfahrungen mit dem NS
3.5.1 Sechs Institutionen/Gruppen
3.5.2 Unwissenheit
3.6 Sonstige Ergebnisse
3.6.1 Der Bezug zur ersten Wehrmachtsausstellung
3.6.2 Art und Weise der Beschäftigung mit dem NS
3.7 Zusammenfassung der deskriptiven Auswertung
4. Zusammenhangsanalyse: Beschreibung der Variablen
4.1 Abhängige Variable: Einstellung zum Umgang mit dem NS
4.1.1 Schlussstrich-Index
4.2. Unabhängige Variablen und Varianzanalyse
4.2.1 Generationszugehörigkeit
4.2.2 Formale Bildung
4.2.3 Berührungspunkte
4.2.4 Sonstige Merkmale
4.2.5 Exkurs: Jüngste, Schüler und die Einstellung zur Ausstellung
4.2.6 Zusammenfassung der Ergebnisse der Varianzanalyse
4.3 Regressionsanalyse
4.3.1 Unabhängige Variablen
4.3.2 Modellvoraussetzungen
4.3.3 Ergebnisse der Regressionsanalyse
4.3.4 Zusammenfassung der Ergebnisse der Regressionsanalyse
IV Schluss
1 Fazit
2 Ausblick
Anhang
Fragebogen
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Abbildung III.3-1: Alterskohorten
Abbildung III.3-2: Erwerbsstatus
Abbildung III.3-3: Höchster Bildungsabschluss
Abbildung III.3-4: Subjektive Schichteinstufung
Abbildung III.3-5: Selbsteinstufung auf dem Links-Rechts-Kontinuum
Abbildung III.3-6: Beurteilung der Ausstellung
Abbildung III.3-7: Gefühle durch die Ausstellung
Abbildung III.3-8: Verantwortung für NS
Abbildung III.3-9: Schlussfolgerungen aus NS
Abbildung III.3-10: Heutiger Umgang mit NS
Abbildung III.3-11: Zugehörigkeit zu Organisationen/Gruppen
Abbildung III.3-12: Nicht-Wissen über die Zugehörigkeit zu Organisationen/Gruppen
Abbildung III.3-13: Häufigkeit der Beschäftigung mit dem NS nach Art und Weise
Abbildung III.4-1 Verteilung NS-Schlussstrich-Index
Abbildung III.4-2: Mittelwerte des Schlussstrich-Indizes nach Merkmalen
Abbildung III.4-3: Residuen-Plot der abhängigen Variable: Schlussstrich-Index
Tabellenverzeichnis
Tabelle II.3-1: Überblick über die Generationeneinteilung
Tabelle III.3-1: Anteile der Geschlechter nach Alter
Tabelle III.3-2: Anteile der Geschlechter nach Einstufung auf dem Links-Rechts-Kontinuum
Tabelle III.4.1: Lineare Regression: Einstellung zum NS-Diskurs in Form von
Zustimmung zum Schlussstrich unter die Geschichte
„Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten
Man soll und darf die Vergangenheit nicht ‚auf sich beruhen lassen’,
weil sie sonst aufstehen und zu neuer Gegenwart werden könnte.“ (Jean Améry)
I Einführung
1 Ausgangspunkt und Vorgehensweise der Arbeit
Der Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit ist ein Projekt am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. In dessen Rahmen sollten die Besucher[1] der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944“ zu dieser Ausstellung befragt werden. Mein persönlicher Eintritt in das Projekt im Herbst 2002 – verbunden mit dem konkreten Plan des Verfassens einer wissenschaftlichen Arbeit – erfolgte zwar noch vor der Durchführung der Befragung selbst, aber erst nach der Entwicklung des Erhebungsinstruments. Die Überlegungen, welche Forschungsfrage also überhaupt untersucht werden könne, mussten in Abhängigkeit und vor dem Hintergrund des bereits konstruierten Erhebungsinstruments angestellt werden. Es handelte sich demnach um keine „Primärerhebung“, bei der „Daten entsprechend der Fragestellung zu erheben sind“ (Reinhold 1997, 508). Andererseits war meine Beteiligung an der Organisation der Erhebung so groß, dass auch nicht von einer „Sekundäranalyse“ gesprochen werden kann, die sich durch die „Verwendung von Daten und Datensammlungen (...) wie sie z.B. vom Statistischen Bundesamt regelmäßig vorgelegt werden“ (ebd. 551) auszeichnet. Die tatsächliche Aufgabe lag irgendwo dazwischen.
Im Mittelpunkt der Arbeit stehen zunächst die beiden Ausstellungen über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg zwischen 1941 und 1944. Um den Leser mit diesem Thema vertraut zu machen, werden – im Rahmen dieser Einführung – einige Erläuterungen zum Ostfeldzug der Wehrmacht und zur Entwicklung der Ausstellungen darüber gegeben. Die öffentliche Kontroverse um die zwei verschiedenen – wenn auch aufeinander bezogenen – Projekte des Hamburger Instituts für Sozialforschung ist ein anschauliches Beispiel, wie in Deutschland mit der Erinnerung an die Taten des „Dritten Reiches“ umgegangen wird, welche kontroversen Standpunkte sich aus der Diskussion über den angemessenen Umgang mit der Geschichte ergeben. Auf der Grundlage dieser öffentlichen Debatte, die um die Jahrtausendwende – neben der Diskussion um das Berliner Holocaust-Denkmahl – die wichtigste NS-Kontroverse darstellte, möchte ich mich dann der Frage nähern, wovon die Einstellung der Menschen in Deutschland zum richtigen oder falschen Umgang mit der Geschichte konkret abhängt. Dabei sollen verschiedene Alters-Generationen eine Rolle spielen und es wird untersucht, welche Unterschiede sozialstruktureller Art es über diese Generationen hinweg sowie innerhalb der einzelnen Generationen in der Einstellung zum Nationalsozialismus gibt. Die Generationen werden dabei alle über ihre unterschiedliche historische Stellung zum finstersten und zugleich wichtigsten Kapitel deutscher Geschichte auf Basis des Generationenkonzepts von Karl Mannheim definiert. Nach der theoretischen Ausarbeitung und der Konstruktion fünf spezifischer NS-Generationen wird zunächst das mit dem sechsseitigen Fragebogen in der Wehrmachtsausstellung erhobene Datenmaterial in aufbereiteter Form präsentiert. Danach wird schließlich die Einstellung zum NS-Diskurs anhand zweier empirischer Verfahren, der Varianz- und der linearen Regressionsanalyse, in ihrer Abhängigkeit von der Generationszugehörigkeit und anderen (sozialstrukturellen) Merkmalen untersucht. Die konkrete Forschungsfrage für diesen Abschnitt lautet: Welche Merkmale beeinflussen den Wunsch von Individuen in Deutschland nach einem Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus beziehungsweise welche Einflussfaktoren lassen Menschen diesen Schlussstrich besonders vehement zurückweisen?
Der Bezug zur neuen Ausstellung über die Wehrmachtsverbrechen ist bestimmend für die Arbeit. Alle empirischen Untersuchungen finden auf der Basis einer Population statt, die im Herbst 2002 freiwillig und aus eigenem Antrieb an der Besucherbefragung im Rahmen der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944“ in München teilgenommen hat. Da die vorliegende Arbeit die erste Präsentation der Ergebnisse der Besucherbefragung darstellt, habe ich für die Deskription der Resultate, die sich aus dem Fragebogen ergeben haben, mehr Raum verwendet, als es bei einer sekundären Verwertung des Datenmaterials der Fall gewesen wäre. Der Aspekt der Evaluation der Ausstellung spielt dabei eine Rolle, wobei darauf geachtet wurde, dass dieser Teil der Arbeit die theoretisch ausgearbeiteten und empirisch getesteten Überlegungen zu den Generationen und ihren Einstellungen nicht überlagert.
Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland in den mittlerweile fast sechzig Jahren danach gibt es ein umfangreiches und vielfältiges Repertoire verschiedenster Literatur. Schon die Beschränkung auf den wissenschaftlichen Teil des vorhandenen Schriftguts lässt den Forscher zahlreiche Disziplinen streifen: Der Nationalsozialismus und seine Folgen waren und sind hinsichtlich einer wissenschaftlichen Beschäftigung ein Thema für Historiker, Pädagogen, (Sozial-)Psychologen, Psychoanalytiker, Philosophen, Politologen und zahlreiche weitere Untergliederungen der aufgeführten Disziplinen. Die Soziologie führt in der Forschung über den NS-Diskurs ein fast stiefmütterliches Dasein, bestenfalls Vertreter der politischen Soziologie haben sich zu diesem Thema vereinzelt zu Wort gemeldet. Dies ist ein Vorwurf, der der Soziologie schon in der Diskussion um den Historikerstreit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gemacht wurde (vgl. Wehler 1988a, 200). Aus diesem Defizit heraus wurde beim Verfassen der vorliegenden Arbeit stark interdisziplinär vorgegangen, vor allem die Literaturrecherche zu Beginn der Arbeit gestaltete sich als schwierig, weil so viele verschiedene Disziplinen gleichzeitig im Blickfeld behalten werden mussten, um nicht lückenhaft zu arbeiten. Schlussendlich konnte ich aber mit dem Generationenkonzept des Soziologen Karl Mannheim ein brauchbares Werkzeug zur Konstruktion verschiedener NS-Generationen anwenden und „meiner“ Disziplin so den angemessenen Platz in dieser Arbeit einräumen.
2 Verbrechen der Wehrmacht als Teil der NS-Auseinandersetzung
Die deutsche Wehrmacht, auch als „gefährlichstes Werkzeug“ (Bartov 2001, 15) des Hitler-Regimes bezeichnet, war – neben der NSDAP – die zweite Säule (Thamer 1999, 420) des nationalsozialistischen Systems. Aufgrund der schon frühzeitig auftretenden Rivalität der Reichswehr[2] mit der SS und der SA um das „Waffenträgermonopol“ musste sich die Reichswehr durch „weltanschauliche Zuverlässigkeit“ in der Gunst der politischen Führung des Reiches behaupten (ebd. 420), weshalb sie sich zu einer stark politisierten Armee, zu einer „Schule des Nationalsozialismus“ (Bartov 2001, 15) entwickelte. Aus diesem Grund gehört die Auseinandersetzung mit der Wehrmacht heute ebenso zwingend zum NS-Diskurs wie die Beschäftigung mit der SS, mit Auschwitz oder mit der NSDAP.
Um den historischen Hintergrund der beiden ab den neunziger Jahren gezeigten Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht in groben Zügen ins Gedächtnis des Lesers zu rufen, sollen nachfolgend einige wenige wichtige Aspekte des deutschen Feldzuges gegen die Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 thematisiert werden, bevor ich mich dem eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit, den beiden Ausstellungen und der Kontroverse um sie, zuwende. Eine umfassende chronologische, erschöpfende Darstellung des Verlaufs der besagten kriegerischen Auseinandersetzung muss dabei – verständlicherweise – unterbleiben.
2.1 Historischer Hintergrund
Am 22. Juni 1941 startete in den frühen Morgenstunden die Aktion „Barbarossa“, der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Mit diesem Datum begann in Osteuropa ein Feldzug, der sich von allen Kriegen der europäischen Moderne unterscheidet. Zwei Kriegsziele waren elementarer Bestandteil dieses Feldzuges: Zum einen die Vernichtung des „jüdischen Bolschewismus“ in der Sowjetunion, zum anderen die Erweiterung des deutschen Lebensraumes im Osten.[3] Als Gegner wurden hierbei nicht nur die kämpfenden Truppen der Roten Armee, sondern auch die Zivilbevölkerung gesehen, die in einem „rassenideologisch begründeten Vernichtungskrieg“ (Wette 2002, 15) ausgerottet werden sollte. Die spezielle Form der Kriegsführung ergab sich nicht aus einer Eskalation des Kriegsgeschehens im Verlauf der Auseinandersetzung, sondern war schon lange im Voraus zentraler Bestandteil der Pläne für den Ostfeldzug.[4] Beweise für die frühzeitige und gezielte Planung eines „Vernichtungskrieges“ sind unter anderem zwei Anordnungen der Militärführung, die zwar schon vor dem tatsächlichen Einmarsch in die Sowjetunion, jedoch im Hinblick auf diesen Angriff erfolgten:
Im so genannten „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“ vom 13. Mai 1941 wurde festgehalten, dass „für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht gegen feindliche Zivilpersonen begehen (...) kein Verfolgungszwang“ bestehe. „Auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist“ (Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Fall Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppe, zitiert nach Rürup 1991, 45). Bei der Beurteilung solcher Taten sollte „in jeder Verfahrenslage“ die „Leidenszeit des deutschen Volkes und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern der Bewegung“, die „auf bolschewistischen Einfluß zurückzuführen sei“ (ebd. 45) berücksichtigt werden. Dieser Erlass kam einem Freibrief für willkürliche Verbrechen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung durch deutsche Soldaten gleich. Die Motivation des – in Deutschland weit ins 19. Jahrhundert zurückgehenden – „Russenhasses“ (vgl. Rürup 1991, 11ff) wurde ausdrücklich als legitime Begründung für eventuelle Vergehen betont.
16 Tage vor Kriegsbeginn wurde der so genannte „Kommissarbefehl“ unterzeichnet, der die deutschen Soldaten anwies, die „politischen Kommissare“ beim Gegner im Falle einer Gefangennahme „grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen“ (Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare, zitiert nach Rürup 1991, 46). Erkennbar sollten diese zu liquidierenden Personen an „besonderen Abzeichen – roter Stern mit goldenem eingewebten Hammer und Sichel auf den Ärmeln“ sein (ebd. 46). Diese Weisung gibt Zeugnis über die politische Dimension des damals bevorstehenden „Weltanschauungskrieges“, in dem sich zwei feindliche politische Systeme gegenüberstanden, von denen – nach Ansicht der Verantwortlichen – nur das eine oder das andere überleben konnte.
Dass man sich in der Reichsführung durchaus der verbrecherischen Dimension des eigenen Handelns bewusst war, beweist ein Tagebucheintrag des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels vom 16. Juni 1941, den Überfall auf die Sowjetunion betreffend, in dem es heißt: „Der Führer sagt: ob recht oder unrecht, wir müssen siegen. (...) Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode. Wir haben sowieso soviel auf dem Kerbholz, daß wir siegen müssen, weil sonst unser ganzes Volk, wir an der Spitze mit allem, was uns lieb ist, ausradiert werden“ (Goebbels, Joseph zitiert nach Rürup 1991, 48).
Welche Ausmaße der bewaffnete Konflikt zwischen Sowjets und Deutschen im Verlaufe des Krieges angenommen hat, versuchen die abschließenden Zahlen deutlich zu machen: Nach heutigen Erkenntnissen waren an den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee zwischen 1941 und 1945 rund zehn Millionen deutsche und bis zu dreißig Millionen sowjetische Soldaten beteiligt. Die Gesamtzahl der sowjetischen Todesopfer in Folge des deutschen Überfalls ist bis heute nicht genau bekannt. Nach neuesten Berechungen dürften zwischen 27 und 32 Millionen Soldaten und Zivilisten ums Leben gekommen sein – eine fast unvorstellbare Zahl.
2.2 Die erste Ausstellung
„Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“
Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist geprägt von der Legende der „sauberen“ Wehrmacht als kollektives Deutungsmuster (Naumann 1998). Setzte sich spätestens mit dem Ende des 2. Weltkriegs innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung die Erkenntnis durch, dass das Hitler-Regime verbrecherisch gewesen war, galt diese Erkenntnis nicht für den militärischen Arm des Deutschen Reiches, für die Wehrmacht. Die insgesamt über 18 Millionen Soldaten hatten zwar einer schlechten Sache gedient, sich dabei aber stets ritterlich und anständig verhalten, so die Überzeugung in weiten Teilen der Bevölkerung. Wo doch Zweifel auftauchten, wurde das Thema tabuisiert. Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, spricht von einem stillen Vertrag zwischen den heimkehrenden Wehrmachtssoldaten und der übrigen Bevölkerung nach dem Motto: „Schweigt von euren Heldentaten und wir wollen von euren Verbrechen schweigen“ (Reemtsma 1998, 11). Unterstützt wurde der Glaube an die unschuldigen deutschen Soldaten durch den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946, in dem sowohl Generalstab als auch das Oberkommando der Wehrmacht als Organisationen nicht verurteilt wurden. Diese Nicht-Verurteilung geschah jedoch nicht aufgrund des Mangels verurteilungswürdiger Taten oder Beweisen, sondern aufgrund der Tatsache, dass die Wehrmacht im juristischen Sinne keine Gruppe darstellte und somit auch nicht verurteilt werden konnte.[5] In der Öffentlichkeit wurde die Nichtverurteilung der Gesamtorganisation von den Interessenvertretern, also von Soldaten- und Veteranenverbänden, von ehemaligen Offizieren und anderen Wehrmachtsangehörigen als Freispruch von jeglicher Schuld präsentiert. An der so entwickelten Legende von der ‚sauberen Wehrmacht’ konnten auch wissenschaftliche Publikationen oder Beiträge in Tageszeitungen, die von Kriegsverbrechen der Wehrmacht berichteten und die ab den 1960er-Jahren vermehrt erschienen, nichts ändern, da ihnen nur eine geringe Aufmerksamkeit zu Teil wurde (vgl. Senfft 2002, 173).
Die konkrete Idee einer Ausstellung über die tatsächliche Rolle der Wehrmacht innerhalb der Vernichtungs-Maschinerie des NS-Systems entstand im Hamburger Institut für Sozialforschung etwa im Herbst 1991. Sie sollte ein Bestandteil eines umfangreichen Forschungsprojekts unter dem Titel „Angesichts unseres Jahrhunderts. Gewalt und Destruktivität im Zivilisationsprozeß“ (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002b, 10) sein. Als Ziel einer derartigen Ausstellung nannte der Historiker und Journalist Klaus Naumann, Mitarbeiter des Instituts und an der Konzeption der Ausstellung beteiligt: „Die Wirklichkeiten des Kontextes Wehrmacht – NS-System – Vernichtungspolitik sollen veranschaulicht und die Wirkungen dieser Gewalterfahrungen auf die Nachkriegsgesellschaft sollen aufgespürt werden.“ (Naumann, Klaus zitiert nach Greiner & Heer 1999, 9). Die nach dem Krieg erschaffene Legende von der „sauberen Truppe“ sollte einen konzeptionellen Ausgangspunkt der Ausstellung darstellen (vgl. Senfft, 189). Dass man damit an ein Tabuthema herangehen würde, war offensichtlich. Beispielhaft für den Stand der Diskussion Anfang der neunziger Jahre sei die Reaktion auf einen Artikel in der Wochenzeitung „Die Zeit“ genannt, in dem der Autor die Wehrmacht in einem Nebensatz als „größte Mord- und Terrororganisation der deutschen Geschichte“ bezeichnete, woraufhin der Bundestagsabgeordnete Alfred Dregger (CDU) einen empörten offenen Brief an den Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt richtete und sich über die „ungeheuerliche Verleumdung der deutschen Wehrmacht und deren Angehöriger“ beschwerte (Manoschek 2002, 65). Wochenlang wurden die Leserbriefseiten der Zeitung mit Beiträgen zu diesem Vorfall gefüllt.
Nicht eine vollständige, enzyklopädische Darstellung des deutschen Ostkrieges sollte in der geplanten Ausstellung gezeigt werden, sondern es wurde versucht, anhand dreier Fallbeispiele alle Aspekte des Themas zu entwickeln. Der Partisanenkrieg in Serbien, die dreijährige Besatzung Weißrusslands und der Weg der 6. Armee nach Stalingrad standen exemplarisch für „die deutsche Besatzung mit ihren charakteristischen Momenten an Terror und Massenmord, und sie zeigten die Wehrmacht in alleinverantwortlicher Aktion wie im Zusammenspiel mit anderen bewaffneten Formationen“ (Greiner & Heer 1999, 10). Bei der Darstellung konzentrierte man sich stark auf die Verwendung von insgesamt 1433 Fotos (vgl. Senfft 2002, 187, Hamburger Institut für Sozialforschung 1996), was der Ausstellung in dieser Form letztendlich zum Verhängnis wurde.
Am 5. März 1995 war in Hamburg die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich und wurde in den folgenden viereinhalb Jahren an 32 weiteren Orten in Deutschland und Österreich gezeigt. Von Anfang an erregte die Ausstellung Aufsehen und war Gegenstand einer scharfen Kontroverse quer durch die ganze Gesellschaft. Obwohl auf einer der Schautafeln am Eingang zur Ausstellung explizit darauf hingewiesen wurde, dass die Ausstellung „kein verspätetes und pauschales Urteil über eine ganze Generation ehemaliger Soldaten“ (Hamburger Institut für Sozialforschung 1996, 7) fällen wolle, fühlten sich zahlreiche Menschen dazu berufen, gegen die in ihren Augen ungerechtfertigte Herabwürdigung deutscher Soldaten einzuschreiten. Dabei waren es nach Ansicht des wissenschaftlichen Mitgestalters der Ausstellung, Dr. Walter Manoschek, nicht „die Inhalte der Ausstellung, (die) polarisieren, sondern an der jeweiligen Positionierung zur Ausstellung wird erkennbar, welche politischen Kräfte (...) nach 50 Jahren zu einer politischen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bereit sind“ (Manoschek, Walter 1996, 4)
Spätestens in München, wo die Ausstellung vom 24. Februar bis zum 6. April 1997 im Rathaus gastierte, eskalierte die Auseinandersetzung. An die Spitze einer Protestbewegung gegen die Ausstellung, der Personen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen angehörten, stellte sich Münchens CSU-Vorsitzender Peter Gauweiler und attackierte sowohl die Ausstellung als auch ihre Macher scharf und öffentlichkeitswirksam.[6] Die täglichen, emotional geführten Diskussionen am Zugang zu den Ausstellungsräumen auf dem Münchner Marienplatz zwischen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt (vgl. Greiner 1999, 31) gipfelten in einem von der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und ihrer Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) angemeldeten Aufmarsch von rund 5000 Rechtsextremisten am 2. März, dem sich rund 10000 Münchner Bürgerinnen und Bürger entgegenstellten (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 692). Obwohl es zu keinen größeren gewalttätigen Auseinandersetzungen kam, sprach Münchens damaliger Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl danach in einem Fernsehinterview von „der höchsten Gefährdung der öffentlichen Sicherheit seit Jahrzehnten“ (Uhl, Hans-Peter zitiert nach Landeshauptstadt München, Kulturreferat 1998, 15).
Die Folge der medienwirksamen Kontroverse war ein breiteres Interesse der Bevölkerung an der Ausstellung als je zuvor. Waren in den zwei Jahren zuvor an 15 Orten insgesamt rund 130.000 Besucher gezählt worden, kamen alleine in München 88.400 Personen in die Ausstellung. Der Verkauf der Kataloge stieg im Vergleich zu den vorangegangenen Veranstaltungsorten um das Zwanzigfache an (vgl. Landeshauptstadt München, Kulturreferat 1998, 304f).
Nach den hitzigen Auseinandersetzungen und großen Demonstrationen um die Ausstellung in München, die unter anderem eine eigens anberaumte Bundestagsdebatte zur Wehrmachtsausstellung zur Folge hatten (vgl. Thiele, 1997, 170ff, Dubiel 1999, 22ff), konnte die Kontroverse ein wenig entschärft werden. Insbesondere der Aufenthalt in Bremen, der übernächsten Station ‚nach München’, war gekennzeichnet durch deeskalative Maßnahmen aller demokratischen Kräfte, die sich zuvor in München noch scheinbar unversöhnlich gegenüber gestanden hatten. Nachdem zunächst auch in der Hansestadt im Halbjahr vor der dortigen Eröffnung am 28. Mai 1997 heftige und sehr emotionale Auseinandersetzungen auf der Tagesordnung gestanden hatten (vgl. Strohmeyer 1997, 31f), suchte Bremens – in einer Großen Koalition regierender – Bürgermeister Henning Scherf (SPD) mit dem Näherrücken des Ausstellungstermins die sachliche Debatte über mögliche Streitpunkte. Zum ersten Mal stimmte auch die CDU der Präsentation der Ausstellung im Rathaus einer Stadt zu (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 699). Unabhängig von diesem positiven Beispiel der Streitkultur ging die Auseinandersetzung zwischen Ausstellungsbefürwortern und -gegnern vor allem in den Printmedien bundesweit weiter. Ein letzter negativer Höhepunkt als Folge der Kontroversen war ein in den Morgenstunden des 9. März 1999 durch – bis heute – unbekannte Täter verübter Bombenanschlag auf das Volkshochschul-Zentrum der Stadt Saarbrücken, wo die Ausstellung im Frühjahr 1999 gezeigt wurde. Menschen kamen dabei keine zu Schaden (vgl. Greiner 1999, 64ff, Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 703).
War die Kritik an der Ausstellung anfangs noch stark von Polemisierung, Unsachlichkeit und von persönlichen Befindlichkeiten gekennzeichnet, so änderte sich das im Laufe der viereinhalb Jahre ihrer Wanderung durch Deutschland und Österreich. Erstmals hinterfragte im Frühjahr 1997 das Nachrichtenmagazin Focus die Glaubwürdigkeit der Ausstellung auf nachvollziehbare Weise: Man hatte ein Foto entdeckt, das in der Ausstellung mit einer Bildunterschrift versehen worden war, an deren Richtigkeit stark gezweifelt werden musste, da der tatsächliche Inhalt auf diesem Bild schon in früheren Publikationen verschieden bezeichnet worden war.[7] Das Foto wurde daraufhin entfernt, die Zeitschrift musste nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung in einer Gegendarstellung ihre pauschal geäußerten Fälschungsvorwürfe gegen die Ausstellung zurücknehmen (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 718).
Die Gegner der Ausstellung aus dem extremen rechten Spektrum, deren Kritik an der Ausstellung ursprünglich auf die vermeintliche Ehrverletzung ihrer Vorfahren abgezielt hatte, griffen derartig geäußerte sachliche Vorwürfe gegen die Ausstellung dankbar auf. Mehrere halbwissenschaftliche Publikationen beschäftigten sich mit der dort als „Anti-Wehrmachtsausstellung“ bezeichneten Schau. Exemplarisch seien hier zwei davon angeführt: Zum einen ein Buch von Rüdiger Proske mit dem Titel „Wider den liderlichen Umgang mit der Wahrheit“, in dem der Jagdflieger aus dem Zweiten Weltkrieg und Journalist die Ausstellung mit der „fürchterlichen Propagandawelt des Joseph Goebbels“ (Proske 1999, I) auf eine Stufe stellt. Zum anderen die 415 Seiten umfassende Veröffentlichung „Die Wahrheit über die Wehrmacht, Reemtsmas Fälschungen widerlegt.“[8] In diesem Buch sind – neben einer polemischen Argumentation gegen „Hintermänner, Hintergründe, Hintersinn“ (Sojka 1998, 17) der Ausstellung – Fotos aus dem Begleitkatalog abgedruckt, die angeblich keine Verbrechen von Wehrmachtsangehörigen zeigen. Was die Bilder wirklich zeigen sollen, wird meist nicht erläutert (vgl. Sojka 1998, 78ff). Wie viele Menschen sich derartiger, angeblich aufklärender Werke bedient haben, ist nicht bekannt, eine Argumentationshilfe für gezielte, bösartige Angriffe gegen die Ausstellung und die Verantwortlichen boten sie unweigerlich.
Rund zweieinhalb Jahre nachdem zum ersten Mal einzelne Fotos der Ausstellung und deren tatsächliche Herkunft sachlich hinterfragt worden waren, meldete sich im Herbst 1999 der polnische Historiker Bogdan Musial zu Wort und kritisierte eine falsche Zuordnung von Bildern. Der in der Folgezeit vermehrt von Geschichtswissenschaftlern geäußerte Verdacht, Fotos, die Opfer von Massenmorden des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zeigten, würden der Wehrmacht untergeschoben, veranlasste schließlich Jan Philipp Reemtsma, im November 1999 die Ausstellung einem Moratorium zu unterziehen. Reemtsma beauftragte eine Kommission mit der Überprüfung des gesamten Ausstellungsmaterials.[9]
Mitte November 2000 legte die Historikerkommission ihren Bericht vor, der zu dem Ergebnis kam, „dass die öffentlich geäußerte Kritik zumindest in Teilen berechtigt ist. Die Ausstellung enthält 1. sachliche Fehler, 2. Ungenauigkeiten bei der Verwendung des Materials und 3. vor allem durch die Art der Präsentation allzu pauschale und suggestive Aussagen.“ (Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ zitiert nach Hamburger Institut für Sozialforschung 2002b, 11). Vom Vorwurf der Fälschung wurde das Ausstellungsteam entlastet, die Historikerkommission bezeichnete die Grundaussage der Ausstellung der „Sache nach richtig“ (ebd.), empfahl aber gleichzeitig eine gründliche Überarbeitung der Ausstellung.
Das Hamburger Institut für Sozialforschung entschied sich daraufhin für die Konzeption einer zweiten Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht mit einem neuen, unbelasteten Team. Die neue Ausstellung sollte weniger angreifbar sein als ihre Vorgängerin.
2.3 Die neue Ausstellung
„Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944“
Zwei Jahre nach dem Rückzug der ersten Wehrmachtsausstellung und ein Jahr nach der Veröffentlichung des Berichts der Historikerkommission, öffnete die vollkommen neu konzipierte Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht am 28. November 2001 in Berlin erstmals ihre Pforten. Im Unterschied zur alten arbeitet die neue Ausstellung mit weniger Fotos, dafür mit mehr Text, zusätzlich mit audio-visuellen Hilfsmitteln und ist insgesamt um ein Vielfaches umfangreicher als die alte Ausstellung. Am Beispiel verschiedener Kriegsschauplätze werden – ausgehend vom damals geltenden Kriegsvölkerrecht, welches zu Beginn des Rundgangs erläutert wird[10] – sechs unterschiedliche Dimensionen des Vernichtungskrieges aufgezeigt: Der Völkermord an den sowjetischen Juden, das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Ernährungskrieg, die Deportationen und die Zwangsarbeit, der Partisanenkrieg, sowie die Repressalien und die Geiselerschießungen (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 9).
Einer Forderung der zur ersten Ausstellung eingesetzten Historikerkommission, die Wehrmachtsverbrechen weniger „pauschal und unzulässig verallgemeinernd“ (Bericht der Kommission zur Überprüfung der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ zitiert nach Hamburger Institut für Sozialforschung 2002b, 11) darzustellen, wurde mit dem Ausstellungsbereich „Handlungsspielräume“ Rechnung getragen. Er dokumentiert anhand acht verschiedener Einzelschicksale, wie unterschiedlich mit verbrecherischen Befehlen umgegangen werden konnte, inwieweit es dem einzelnen Befehlsempfänger möglich war, sein Handeln in einer spezifischen Situation nach eigenen Maßstäben auszurichten (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 579ff). Dabei geht es allerdings nicht darum, „ein moralisches ‚Merke!’ an den Schluß zu setzen. Wie man sich verhalten sollte – ist ohnehin klar. Die Frage, unter welchen Umständen und Voraussetzungen welches menschliche Verhalten jedem zuzumuten und welches jedenfalls als verwerflich und schuldhaft angesehen werden kann und/oder muß, ist die, um die es geht“ (Reemtsma 2002, 7).
Die neue Ausstellung endet mit einer Darstellung der Kontroverse um die alte Ausstellung, die damit selbst als Teil der Nachkriegsgeschichte betrachtet wird (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 687ff).
Im Gegensatz zu der starken Emotionalisierung der ersten Ausstellung konstatieren Zeithistoriker im Nachfolgeprojekt eine „Versachlichung und Verwissenschaftlichung“ der Auseinandersetzung, verbunden mit dem offensichtlichen Ziel der Ausstellungsmacher, nur die Fakten für sich sprechen zu lassen (Dirk Rupnow zitiert nach Pollak 2002, 58). Dieser Befund wurde in einer – nicht weiter publizierten – Besucherbefragung bei der ersten Station in Berlin bestätigt (Polak 2002, 59).[11]
Obwohl das Medienecho auf die neue Ausstellung bei weitem nicht das Ausmaß wie in den Jahren 1995 bis 1999 erreicht hat, konnten – nach Angaben des Hamburger Instituts für Sozialforschung – die Veranstalter an den ersten vier Ausstellungsorten in Berlin, Bielefeld, Wien und Leipzig fast 180.000 Besucher verzeichnen.
Auch diese neue Ausstellung wird in allen Städten ihrer Präsentation von rechtsextremistisch dominierten Demonstrationen und kritischen, teilweise unsachlichen Äußerungen begleitet. Bei vielen der ehemaligen Ausstellungsgegner aus dem demokratischen Lager erfreut sie sich aber größerer Akzeptanz als ihre Vorgängerin (vgl. Senfft 2002, 190), selbst der vehemente Kritiker von einst, Peter Gauweiler, schlägt mittlerweile andere Töne an: „Jeder der deutsch denkt, muss sich damit auseinandersetzen. Es geht nicht, dass ich mein rechtes Fähnlein schwenke und sage, da schau ich nicht hin, was die Wehrmacht getan hat.“ (Gauweiler, Peter zitiert nach Gebhardt 2002, 44). Worauf ist ein derartiger Meinungsumschwung, sogar bei einem der einst schärfsten Kritiker – aus dem demokratischen Lager – an der Ausstellung zurückzuführen? An der zentralen Aussage, dass die deutsche Wehrmacht in Teilen und als Gesamtorganisation in den Jahren 1941 bis 1944 an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen ist, hat sich mit der Neukonzeption nichts geändert, an einer anderen Botschaft durch das Dargestellte kann es also nicht liegen. Folgende Gründe können – mit unterschiedlicher Gewichtung – für die höhere öffentliche Akzeptanz der Ausstellung angeführt werden: Zum einen dürfte es mit der Entschärfung der Darstellung zu tun haben, dass diesmal also bedeutend weniger beklemmende Fotografien zu sehen sind und dass auch von Mut machenden Vorkommnissen berichtet wird, von Soldaten, die ihre Handlungsspielräume positiv ausgenützt und sich nicht an Verbrechen beteiligt haben. Zum zweiten haben die acht Jahre öffentlicher Auseinandersetzung mit dem Thema die damals hoch schlagenden Wogen der Entrüstung über ein bis dahin kaum behandeltes Thema deutscher NS-Geschichte geglättet und Tatsachen, die damals viele Menschen überraschend und unvorbereitet getroffen haben, sind inzwischen zu einem selbstverständlichen Teil im Diskurs über den Nationalsozialismus geworden. Und drittens war die scharfe Kontroverse über die alte Wehrmachtsausstellung ja selbst einer der Auslöser für die neue Konzeption, was am Ende der Ausstellung quasi als Reflexion über sich selbst thematisiert wird. Dieser Prozess gibt den Kritikern von einst das Gefühl, an dem neuen Kapitel deutscher Vergangenheitsauseinandersetzung selbst mit beteiligt gewesen zu sein.
II Theoretischer Teil
0 Einleitung
Im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit sollen nach einer Klärung der verwendeten zentralen Begrifflichkeiten zunächst die beiden gegenüberliegenden Positionen im deutschen NS-Diskurs vorgestellt und typisierend herausgearbeitet werden. Anschließend geht es um das soziologische Generationen-Konzept von Karl Mannheim, welches allgemein vorgestellt wird und dem dann spezielle Generationsdefinitionen vor dem Hintergrund ihres Bezuges zum Nationalsozialismus folgen.
1 Zum Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“
Wo und wann immer es in Deutschland[12] um die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit geht, ist die Rede von der „Vergangenheitsbewältigung“ oder – seltener – auch von der „Aufarbeitung der Vergangenheit“. Im Kern ist damit die „politisch-justitielle Auseinandersetzung mit den Folgen der Hitler-Diktatur und ihren Verbrechen (...) gemeint“ (Reichel 2001, 9). Obwohl sich diese Begriffe als gebräuchlich durchgesetzt haben oder vielleicht gerade deshalb, sind sie durch „vielfältige Assoziationen und politische Ritualisierungen belastet. Sie verdecken, dass der Terminus (..) eine Vergangenheit meint, die sich angemessen überhaupt nicht bewältigen lässt“ (Dudek 1992, 44). Theodor W. Adorno bemängelte schon vor über dreißig Jahren, dass die Verwendung dieser Begriffe im öffentlichen Sprachgebrauch eine Bedeutung angenommen habe, die mit dem Wunsch nach einem Schlussstrich in Verbindung gebracht werden könne (vgl. Adorno 1970, 10).
Für den wissenschaftlichen Diskurs kann „Vergangenheitsbewältigung“ zwar als formal-deskriptive Bezeichnung gelten, die – ungeachtet einer anderen, moralischen Zielsetzung – nur die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen und daraus gezogenen Konsequenzen bezeichnet (Kohlstruck 1997, 16), die Verwendung der mehrdeutigen Begrifflichkeit kann dennoch – ob gewollt oder nicht – implizieren, es ginge beim NS-Diskurs darum, ein (wo und wie auch immer gelagertes) Ende zu finden. Dies wirft jedoch die hier nicht zu beantwortende Frage auf, ob es überhaupt möglich wäre, einen Teil deutscher Geschichte zu bewältigen oder aufzuarbeiten und danach damit abzuschließen. Da die Kontroverse über die Frage nach dem Schlussstrich auch Teil des in der vorliegenden Arbeit dargestellten Diskurses ist, bei dem sich die Befürworter und die Gegner eines endgültigen Schlussstrichs unversöhnlich gegenüberstehen, habe ich mich der Verwendung neutralerer Begriffe wie „NS-Auseinandersetzung“ oder „-Beschäftigung“ bedient. Wo die Verwendung der problematisierten Formulierungen unumgänglich war, tauchen sie dennoch vereinzelt auf.
2 Öffentliche NS-Auseinandersetzung
In den nachfolgenden Kapiteln sollen einige beispielhafte, in der Öffentlichkeit artikulierte Standpunkte in der deutschen NS-Auseinandersetzung dargestellt werden. Dabei erfolgt eine Konzentration auf den Zeitraum nach 1990, also auf das vereinigte Deutschland. Vereinzelt – falls dies für das Verständnis der differenzierten Standpunkte notwendig erscheint – wird auch auf den öffentlichen Diskurs in der früheren Bundesrepublik verwiesen. Um die Darstellung dieses Themenkomplexes in angemessenem Umfang behandeln zu können und da als Ausgangspunkt für die spätere empirische Untersuchung der Unterschied zwischen der NS-Beschäftigung in den beiden deutschen Staaten bis 1990 keine besondere Rolle spielt, wird auf diese Differenzierung verzichtet.[13]
Zunächst wird von einigen der unzähligen Beiträge zum NS-Diskurs berichtet, die neben der „materiellen Haftungsverantwortung“ Deutschlands auch eine „moralische Auseinandersetzung“ mit den NS-Verbrechen (Kohlstruck 1997, 71) nach wie vor für erforderlich halten. Diese von mir unter dem Titel „Argumente für eine weitere NS-Auseinandersetzung“ zusammengefassten Positionen beinhalten meist auch die scharfe Kritik an den vom mir so genannten „Positionen und Strategien für einen Schlussstrich“, deren schärfstes Ziel wiederum „die Vermeidung einer sittlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und die Einschränkung der Haftung“ Deutschlands ist (ebd. 71).[14]
Nach zwei Exkursen zu diesen entgegengesetzten Standpunkten in der Auseinandersetzung um die nationalsozialistische Vergangenheit wird zum Abschluss dieses Kapitels eine Einordnung der Standpunkte in die vorliegende Arbeit vorgenommen.
2.1 Argumente für eine weitere NS-Auseinandersetzung
Zwischen den Jahren 1983 und 1995 jährten sich Ereignisse des „Dritten Reiches“, von dessen Beginn am 30. Januar 1933 bis zum Ende am 8. Mai 1945, jeweils zum 50. Mal. In der Öffentlichkeit war in diesen Jahren eine Zunahme der Thematisierung des Nationalsozialismus zu bemerken (vgl. Kohlstruck 1997, 8). Nicht nur im Rahmen von Gedenkveranstaltungen sondern auch in der alltäglichen medialen Darstellung kamen dabei verschiedenste Personen des öffentlichen, insbesondere des politischen Lebens zu Wort, die sich mit der Frage des richtigen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit beschäftigten. Beispielhaft sei der damalige Bundspräsident als wichtigster Repräsentant Deutschlands, Roman Herzog. genannt, der bei einem Besuch in Israel 1994 Forderungen nach einem Ende der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit eine deutliche Absage erteilte: „Wir Deutsche sind uns darüber im klaren, dass kein Mantel des Vergessens über den Holocaust gebreitet werden kann und jegliche Forderung nach einem ‚Schlußstrich’ unter das Geschehen sich angesichts der historischen Dimension dieses Verbrechens verbietet. Im Gegenteil: uns Deutschen obliegt die Aufgabe, die Erinnerung an das düsterste Kapitel unsere Geschichte wachzuhalten“ (Herzog 1994, 2). Auch seine Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten hatten sich für ein unbedingtes Wachhalten der Erinnerung ausgesprochen. „Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren“ (Weizsäcker 1985, 6) warnte Richard von Weizsäcker anlässlich des vierzigsten Jahrestages des Kriegsendes.
Aber nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch im (sozial-)wissenschaftlichen, kulturellen oder medialen Diskurs findet sich eine Vielzahl von Positionen, die die Forderung nach einem Ende der NS-Auseinandersetzung entschieden zurückweist und auf sehr unterschiedliche Weise begründet, wie und warum eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus stattfinden soll und muss. Hubert Ivo (1986, 237) zufolge ist die am häufigsten genannte Begründung für eine ausführliche Beschäftigung mit der Nazi-Zeit, dadurch eine Wiederholung der Ereignisse von damals verhindern zu können. Es geht dabei um die Verknüpfung von zukünftigem Handeln mit erinnerter Vergangenheit.
Würde die Auseinandersetzung mit dem Holocaust beendet werden, so machten sich die Deutschen schuldig. „Wenn wir die Erinnerung nicht wach halten, dann beginnt dort eine Schuld für uns. Es wäre die Schuld eines Volkes, das völlig ausnahmsartige eigene Verbrechen der Vergessenheit überantworten wollte“ (Meier 1990, 97). Dabei würde es sich um eine ähnlich definierte Schuld handeln, wie sie unter dem Begriff der „Zweiten Schuld“ nach Ansicht von Ralph Giordano (1998) schon einmal, in der frühen Nachkriegszeit, Realität geworden ist. Er kritisiert die Kontinuität zwischen Nazi-Deutschland und der Bundesrepublik nach 1945 und bezeichnet die erfolgte „nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung“ der alten NS-Eliten in das neue demokratische System als „großen Frieden mit den Tätern“ (ebd. 17) und sieht darin das Versäumnis einer gründlicheren Auseinandersetzung. Und trotz der von ihm angeprangerten Verdrängung der NS-Realitäten im Nachkriegs-Deutschland prognostiziert er, dass sich die nationalsozialistische Terminologie vom „Tausendjährigen Reich“ insofern bewahrheiten wird, als dass sich die Menschheit noch in fernster Zukunft mit dem Grauen und den Verbrechen dieses Reiches beschäftigen wird (ebd. 33).[15]
Eine weniger kritisch-pessimistische Analyse des für notwendig erachteten Umgangs mit der NS-Geschichte im Rückblick auf die Nachkriegsjahre als bei Giordano zeigt sich bei Martin und Sylvia Greiffenhagen (1980). Ihrer Ansicht nach kommt der Erinnerung an den Nationalsozialismus eine konstitutive Rolle in der Entwicklung eines politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik zu. Für mindestens drei Generationen war der Nationalsozialismus im biographischen Sinne konstitutiv: Für die „Weimarer Jugendgeneration“, die „Hitlerjugend-Generation“ (Rosenthal 1997, 64) und auch noch für die Generation(en), die nach 1945 geboren wurde(n). Nachfolgende Generationen sind dem Thema inzwischen zwar „weit entrückt“, um das politische Selbstverständnis ihres Landes zu verstehen, ist jedoch die Erinnerung an den Nationalsozialismus auch heute unabdingbar. (Greiffenhagen 1980, 49).
Alphons Silbermann und Manfred Stoffers (2000) bezeichnen die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit Auschwitz und dem Nationalsozialismus als einen „zivilisatorischen Imperativ“ (ebd. 192), da für sie das Gewissen eine Grundvoraussetzung für die friedfertige Koexistenz von Menschen darstellt. Ein solches Gewissen entwickelt sich – sozialpsychologisch gesprochen – aus informeller oder formeller Sozialkontrolle, in diesem beispielhaft genannten Fall aus einer Aufklärung über die Geschehnisse des Nationalsozialismus. Hinsichtlich dieser Aufklärung der Generationen, die keinen direkten, persönlichen Bezug mehr zu Zeitzeugen, Opfern wie Tätern haben, fordern die beiden Autoren die Einbeziehung „kommunikationsstrategischer Überlegungen oder (...) die Indienstnahme des vielgestaltigen Instrumentariums des modernen Marketings“ (ebd. 193), um ein verstehendes Wissen zu entwickeln, welches letztendlich die Anfälligkeit für Extremismus reduzieren helfen soll. In die gleiche Kerbe schlagen insbesondere junge Menschen bei der Frage der richtigen NS-Auseinandersetzung. So tat dies zum Beispiel im Rahmen einer Podiumsdiskussion[16] im Begleitprogramm der Wehrmachtsausstellung in München im November 2002 der gegen Rechtsextremismus aktive afro-deutsche Musiker Adé Odukoya, der die einfallslose Art des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Deutschland kritisierte und eine kreativere Erinnerungskultur forderte.
Vor dem Hintergrund der in nachfolgenden Kapiteln noch zu thematisierenden unterschiedlichen Generationen im Hinblick auf ihre Stellung zum Nationalsozialismus ist die Feststellung von Peter Dudek (1992) hervorzuheben, die Aufarbeitung der Vergangenheit sei ein „infiniter Prozess in der jeweiligen Neugestaltung der Generationsverhältnisse“ (ebd. 53). Die Vergangenheit ist also weder zu bewältigen noch abzuschließen, sondern muss zwischen den Generationen immer wieder neu verhandelt und thematisiert werden. Dies vor allem vor dem Hintergrund einer sich immer mehr vergrößernden zeitlichen Distanz zu den Geschehnissen.
Eine Schlussfolgerung aus der Beobachtung des zurückliegenden NS-Diskurses ist die unzweifelhafte Position, die besagt, es stünde „gar nicht in unserer Wahl, ob wir uns immer wieder daran erinnern und erinnern lassen wollen. Das einzige, was wir – in Grenzen – beeinflussen können, ist der Modus dieser Erinnerung“ (Meier 1990, 7). Die gesellschaftliche Debatte selbst zeigt demnach immer wieder, dass eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit notwendig ist und dass ein Schlussstrich – mag er auch erwünscht und vermeintlich plausibel begründet werden – gar nicht möglich ist. Der Nationalsozialismus ist in der Bundesrepublik „normativ internalisiert“ (Lepsius 1989, 251).
2.2 Positionen und Strategien für einen Schlussstrich
Im Bereich der Publizistik können unterschiedliche Strategien ausgemacht werden, mit denen intellektuell begründet werden soll, warum ein weiteres (intensives) Thematisieren der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit nicht sinnvoll oder nicht wünschenswert, auf alle Fälle nicht angebracht erscheint. Vier dieser variier- und kombinierbaren Argumente und ihre Vertreter werden nachfolgend beispielhaft vorgestellt. Eine klare Strukturierung und Abgrenzung der Positionen voneinander in der Darstellung, die den Überblick erleichtert, ist im Gegensatz zu den zuvor vorgestellten Standpunkten für eine weitere NS-Auseinandersetzung möglich.
Darstellung der NS-Auseinandersetzung als „Krieg gegen Deutschland“
Der Historiker Hans Wahls (1989) sieht Deutschland seit dem Beginn des 1. Weltkriegs in einer permanenten kriegerischen Auseinandersetzung, die seit 1945 allerdings nicht mehr mit direkter Waffengewalt, sondern mit politischen Mitteln ausgetragen wird. Als „Gefechtsfeld“ bezeichnet er dabei unter anderem die „Vergangenheitsbewältigung“, die innenpolitisch von bestimmten Interessensgruppen eingesetzt wird, um „den politischen Gegner immer wieder mit der ‚braunen Keule’, einer Art von propagandistischer Allzweckwaffe zu bedrohen“ (ebd. 1989, 97). Der Politikwissenschaftler und politische Philosoph, Bernhard Willms schließt sich Wahls Ansicht an, wenn er sagt, die Beurteilung der Geschehnisse des Nationalsozialismus „nach scheinbar übergeordneten Kategorien wie Humanität, Freiheit, Liberalität und Demokratie“ sei „nichts anderes, als die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (Willms, Bernhard zitiert nach Klönne 1984, 146).
Die Terminologie von einer fortgesetzten kriegerischen Auseinandersetzung verwendet auch der Historiker und Publizist Caspar von Schrenck-Notzing (1981) sehr ähnlich, der schon Mitte der sechziger Jahre konstatierte, „der Einmarsch [der Amerikaner] in Deutschland hätte eigentlich das Ende der psychologischen Kriegsführung bringen müssen, denn wenn der militärische Krieg beendet war, dann mußte auch der psychologische aufhören. Doch die Psycho-Krieger waren der Ansicht, daß der psychologische Krieg nie zuende geht“ (ebd. 131). Da sie einen solchen Umstand niemals akzeptieren wollen, fordern Vertreter dieser Position in logischer Schlussfolgerung das Ende des Krieges gegen Deutschland und insofern auch ein Ende der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands im In- und Ausland.
Forderung nach Konzentration auf das NS-Alltagsgeschehen
Die Art und Weise der derzeitigen öffentlichen Beschäftigung mit der deutschen Vergangenheit wird dahingehend kritisiert, dass stets eine Konzentration auf die schlimmsten Beispiele des nationalsozialistischen Terrors erfolgt, die mittlerweile ja „hinreichend erforscht und bekannt sind“ (Martini 1991, 14). Dagegen legt der Schriftsteller Winfried Martini in seinen „Anmerkungen zur Zeitgeschichte“ seine Konzentration auf den – in seinen Augen – eher harmlosen und normalen Alltag im „Dritten Reich“. „Es geht um die ganze Vergangenheit, nicht nur um einige selektierte Greuel, die ohne den historischen Kontext offeriert werden“ (ebd. 10). Eine Vergangenheit, in der Massenverbrechen nur als besonders spektakuläre, aber seltene Einzelereignisse aufgetreten sind, muss auf Dauer nicht in dem Ausmaß Teil der alltäglichen Auseinandersetzung sein, wie es heute der Fall ist – so die Vertreter dieser Argumentation.
Relativierung des NS im globalen und historischen Kontext
Sobald die nationalsozialistischen Verbrechen auf eine Ebene mit ähnlichen Ereignissen der Weltgeschichte befördert werden, erübrigt sich nach Ansicht der NS-Auseinandersetzungs-Gegner die Notwendigkeit für ein kontinuierliches Erinnern an die Untaten zwischen 1933 und 1945, da sie lediglich ein singuläres Ereignis im gesamten Kontext menschheitsgeschichtlicher Massenverbrechen darstellen. Oder – was auf ein ähnliches Ergebnis hinausläuft – es wird die Forderung ausgesprochen, alle Völker der Erde sollten aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Menschheit Scham für alle begangenen Verbrechen zeigen. „Wenn von deutscher Seite die Kollektivscham der gesamten Menschheit (..) gefordert wird, so wird man sich möglicherweise dem Einwand aussetzen, man wolle die Verbrechen ‚der Deutschen’ allen anderen Völkern mit anlasten und sich dadurch aus jeder Verantwortung stehlen. Richtig ist jedoch, dass die Schuld an jedem Vergehen nur die Täter trifft, während die Scham hierüber sowie die Verantwortung für die Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen über die nationalen Grenzen hinaus erweitert werden müssen“ (Rinsche 1988, 123). Da nachfolgende Generationen Deutschlands nicht mehr als NS-Täter in Frage kommen, muss die NS-Auseinandersetzung – dieser Argumentation zu Folge – international gerecht verteilt werden. Oder man möge weltweit einen Schlussstrich unter diesen Teil der Geschichte setzen und die Auseinandersetzung für beendet erklären.
Verantwortlichmachen der NS-Auseinandersetzung für aktuellen Rechtsextremismus
Dass in Deutschland Anschläge auf Asylbewerberheime verübt werden, dass sich Menschen fremder Herkunft einer rechtsextremistischen Bedrohung ausgesetzt sehen, führen einige der Schlussstrich-Argumentationsführer auf die – in ihren Augen – übertriebene Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zurück. „Ohne ‚Vergangenheitsbewältigung’ gäbe es möglicherweise keine jungen Neonazis und Rechtsextremisten, zumindest sehr viel weniger“ (Martini 1991, 8). Folgt man dieser Argumentation, so ließe sich das gesellschaftliche Problem des Rechtsextremismus ganz einfach lösen – man muss nur den öffentlichen Diskurs über das „Dritte Reich“ beenden und würde damit die Zahl der Opfer rechtsextremistischer Gewalttaten sprunghaft senken. Dass diese sehr pragmatisch orientierte Argumentation für einen Schlussstrich stark vereinfacht ist und eine differenziertere Betrachtungsweise der Gründe für rechtsextremistische Tendenzen von Nöten ist, steht außer Frage.[17]
Die hier dargestellten Positionen sind – in unterschiedlicher Ausprägung – fast überall in der Debatte über den NS-Umgang wieder zu finden. Nicht unähnlich gelagert war auch die Position des Schriftstellers Martin Walser in der nach ihm benannten Debatte, die in einem folgenden Exkurs kurz dargestellt werden soll. Ein weiterer Exkurs beschäftigt sich anschließend mit einem typischen literarischen Beispiel für die Standpunkte in der NS-Diskussion.
2.3 Exkurs 1: Die Walser-Debatte
Einen interessanten Beitrag zum öffentlichen Diskurs über die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im Deutschland an der Schwelle zum neuen Jahrhundert stellte die Kontroverse infolge der „Paulskirchen-Rede“ von Martin Walser im Rahmen der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 dar. Einer der Kernpunkte seiner „Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede“ stellte die Kritik an der Art und der Menge des Umgangs der deutschen Öffentlichkeit – insbesondere der Medien – mit der NS-Vergangenheit dar. Unter Bezugnahme auf die damals aktuelle Debatte um das geplante Holocaustdenkmal[18] in Berlin, sagte er: „Wenn mir aber jeden Tag (...) diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt“ (Walser 1998, 18). Walser unterstellte, es würde den Akteuren der Erinnerungsarbeit bei ihrem Tun gar nicht um das Gedenken an die Millionen Opfer gehen, sondern um die „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ und gab zu, bei derartigen Anlässen inzwischen selbst wegzuschauen (ebd. 18).
Wohl wissend, dass er in der Folgezeit scharfen Angriffen ausgesetzt sein würde, richtete Walser innerhalb seiner Rede die rhetorische Frage an das Auditorium: „In welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?“ (ebd. 20). Walser geriet in den Verdacht, unterschwellig oder ganz offen – je nach Interpretation seiner Worte – nach einem endgültigen Schlussstrich unter die NS-Geschichte zu rufen. Zwar wurden diesem Ruf keine nationalistischen oder ähnlich gelagerten Gründe unterstellt, sondern lediglich die moralische Motivation, Walser wolle eine Abstumpfung der Menschen im NS-Diskurs durch die aufgedrängte Auseinandersetzung in den Massenmedien verhindern. Dennoch reagierten Teile der Öffentlichkeit mit deutlicher Kritik: Bundespräsident Roman Herzog hielt Walser entgegen, dass der Verzicht auf öffentliche Erinnerung eine moralische Verfehlung darstelle (Assheuer 1998, 37). Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, antwortete in seiner Rede zum sechzigsten Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938 auf Walsers Einlassungen mit dem Vorwurf, Walser wolle die „Geschichte verdrängen bzw. die Erinnerung auslöschen“ und bezeichnete die Friedenspreis-Rede als „geistige Brandstiftung“ (Bubis 1998, 5). Er warnte außerdem vor der „Kultur des Wegschauens“, der sich Walser – nach eigenem Bekunden – bediene, da genau diese im Nationalsozialismus üblich gewesen sei und erst zum Ausmaß dieser Katastrophe geführt habe (ebd. 5).
Die genannten Akteure waren nicht die einzigen, die sich engagiert am öffentlichen Streitgespräch über Walsers Frankfurter Rede beteiligten. Auch andere Vertreter aus Politik und Kultur, Kommentatoren in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen kritisierten oder lobten die offenen Worte von Walser jeweils gleichermaßen.
Ein finales Ergebnis hatte die Debatte – erwartungsgemäß – nicht. Aufgrund ihrer öffentlichen Wirkung und Heftigkeit gehört sie jedoch – wie der Historikerstreit gut zwölf Jahre zuvor – zu den prägenden Diskussionen innerhalb der deutschen NS-Auseinandersetzung, deren tatsächliche Wirkung man möglicherweise erst mit dem Abstand einiger Jahrzehnte abschließend beurteilen kann.[19]
2.4 Exkurs 2: Literarische Darstellung der Auseinandersetzung
Ein sehr anschauliches, wenn auch fiktives, literarisches Beispiel für die Kontroverse um den angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit stellen einige der 103 Dialoge „Über Deutschland“ dar (Müller 1965). In Form einer zugespitzten Wechselrede zwischen einem Vater und seinem Sohn werden die divergierenden politischen Meinungen großer Gesellschaftsgruppen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten auf ein innerfamiliäres Zwiegespräch reduziert und dem Leser dadurch klar und eindeutig vor Augen geführt. Auf der einen Seite findet sich zum Beispiel die dargelegte Meinung, dass es „das Beste wäre, die Vergangenheit endlich zu begraben“ und „einen Schlussstrich zu ziehen“ (ebd. 1965, 16), auf der anderen dagegen beispielsweise die Forderung, den 8. Mai zum Nationalfeiertag zu machen, weil er das Ende des Hitlerregimes markiere und so die Erinnerung an den Nationalsozialismus für immer wach gehalten werde (ebd. 10ff).
Dass in dieser Darstellung in den Fragen der NS-Auseinandersetzung – im Jahr 1965 – gerade der Sohn den Wunsch eines Schlussstrichs und der Vater die Position des unermüdlichen Erinnerns einnimmt, sorgte bei der Erscheinung des Buches für Aufsehen, spielt jedoch für das Nachvollziehen der vorgebrachten, aufgrund der literarischen Konstruktionsmöglichkeit eindeutig typisierten Argumente keine größere Rolle (vgl. Ivo 1986, 230).
2.5 Erinnern versus Schlussstrich in der vorliegenden Untersuchung
Wie oben anhand einiger Beispiele dargestellt wurde, lässt sich die Diskussion über die zu Beginn des neuen Jahrhunderts angemessene Art der Auseinandersetzung mit der deutschen NS-Vergangenheit durch zwei diametral gegenüberstehende Positionen kennzeichnen: Auf der einen Seite finden sich Personen, die nach über 50 Jahren für einen Schlussstrich unter die Geschichte plädieren und keinerlei weitere Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“ im Rahmen einer breiten gesellschaftlichen Debatte wünschen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die kein anderes zeitgeschichtliches Thema für annähernd so wichtig erachten wie den Nationalsozialismus und daher immer und überall für ein Erinnern und Mahnen plädieren.
Die beiden hier zusammengefassten extremen Positionen können als Idealtypen im Max Weber’schen Sinne begriffen werden (vgl. Weber 1976). Zwischen ihnen gibt es eine Vielzahl abgestufter, relativierter Standpunkte in der Diskussion, die auch vereinzelt weiter oben angerissen wurden.[20] Von welchen Indikatoren die Herausbildung dieser Standpunkte bei den einzelnen Individuen beeinflusst werden, will die vorliegende Arbeit herausarbeiten. Dabei wende ich mich nachfolgend dem soziologischen Konzept der Generationen zu.
3 Generationen
Die Einstellungen zum angemessenen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Ein wichtiger Faktor ist das Alter der betreffenden Personen und daraus resultierende Wahrnehmungen bestimmter Ereignisse in einem bestimmten Lebensalter. In Abhängigkeit ihres Geburtsjahres haben die Deutschen logischerweise einen variierenden Bezug zu der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, also zur Zeitspanne zwischen 1933 und 1945. Anders ausgedrückt: Je nachdem, welchen Geburtsjahrgängen Personen angehören, verfügen sie über unterschiedliche Bezugspunkte zum „Dritten Reich“. Diese Bezugspunkte können von direkten persönliche Erfahrungen aus und mit dieser Zeit bis hin zu vagen mündlichen Erzählungen durch die eigenen (Ur-) Großeltern oder andere Zeitzeugen reichen, aber eben auch die wichtige öffentliche und publizistische Auseinandersetzung in der jeweiligen historischen Phase der Nachkriegszeit lässt Bezugspunkte entstehen. Wir sprechen von intergenerationalen Unterschieden im NS-Diskurs. Gleichzeitig darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch innerhalb der einzelnen Generationen verschiedene Einflüsse, zum Beispiel durch Erziehung und Bildung, auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus wirken. Dabei handelt es sich um intragenerationale Effekte.
Nach einigen Bemerkungen zum Begriff der Generation – einer Abgrenzung vom Begriff der Kohorte – und seiner wissenschaftlichen Entwicklung sollen verschiedene Generationen-Konzepte zum NS-Bezug vorgestellt und schließlich eine für den methodischen Teil der vorliegenden Arbeit sinnvolle Einteilung der Generationen vorgenommen und begründet werden. Anschließend werden dann auch mögliche intragenerationale Effekte thematisiert.
3.1 Generation versus Kohorte
Umgangs- und alltagssprachlich verwendet beinhaltet der Begriff der Generation den Lebens- und Erfahrungsabstand von Eltern zu ihren Kindern, bevölkerungsstatistisch handelt es sich dabei um die durchschnittliche Differenz zwischen den Geburtsjahren der Eltern und der Kinder. Soziologisch ist eine Generation „die Population der etwa Gleichaltrigen (...), die in sich homogen sind hinsichtlich ihrer Einstellungen, Orientierungen und Verhaltensweisen und sich von anderen Generationen unterscheiden lassen“ (Reinhold 1997, 205).
In der sozialwissenschaftlichen Forschung wurde ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts dem angeblich ungeeigneten und veralteten Generationen-Konzept immer häufiger das modernere Konzept der Kohorte – als ein Aggregat von Individuen, die im selben Zeitraum einem Ereignis ausgesetzt sind (Ryder 1965, 845) – gegenübergestellt, weil dieses „auf der Zugehörigkeit zu einem Jahrgang oder benachbarten Jahrgängen basiert, ohne daß Vorannahmen über Einflüsse in der Jugendzeit (...) entscheidend“ sind (Schmied 1984, 240). Andererseits kann Ulrich Herrmann (1987) zufolge „die Kohortenanalyse (...) genau das nicht leisten, was im ‚Generationen’-Konzept von zentraler Bedeutung ist“ (ebd. 366). Sie zeigt lediglich Generationseffekte, aber keine Generationszusammenhänge. „Es wird mithin ein Generationskonzept benötigt, um Kohortenanalysen im Hinblick auf geschichtlich-gesellschaftliche Strukturen und Prozesse sowie die inhaltliche Bestimmtheit der in ihnen erfaßten Optionen und Mentalitätsstrukturen von Altersgruppen überhaupt interpretieren zu können“ (ebd. 366). Anders ausgedrückt lassen sich nur Generationen nach ihrer „inneren Lage“ unterscheiden, die sich aus den prägenden Erfahrungen ihrer „kritischen Lebensjahre“ ergeben (Flitner 1928, 11). Wie nachfolgend noch erläutert wird, kommt es der vorliegenden Arbeit auf die Wirkung der NS-Zeit selbst beziehungsweise der gesellschaftlichen Debatte (über den NS) auf die sich als Generation konstituierenden Menschen innerhalb der deutschen Gesellschaft und daraus resultierenden Einstellungsmustern an. Eine Anforderung der ein Generationen-Konzept eher gewachsen ist als das der Kohorten.
In der vorliegenden Arbeit erfolgt aufgrund der Überlegung, dass der Nationalsozialismus selbst als historisches Ereignis und die sich permanent wiederholende Auseinandersetzung mit ihm als geschichtlich-gesellschaftlicher Prozess im oben genannten Sinn zu bezeichnen ist, die Konzentration auf das Generationen-Konzept.
[...]
[1] Um den Leserinnen und Lesern der Arbeit die Lektüre nicht unnötig zu erschweren habe ich in der Arbeit auf die Verwendung der stets beide Geschlechter berücksichtigenden Schreibweise verzichtet. Die Entscheidung, die männliche Schreibweise zu verwenden hätte genauso gut umgekehrt ausfallen können. An Stellen, wo explizit nur Angehörige eines Geschlechts angesprochen werden, wird darauf gesondert hingewiesen.
[2] Zwischen 1921 und 1935 lautete die amtliche Bezeichnung der Streitkräfte des Deutschen Reichs Reichswehr, danach wurde diese Bezeichnung von den Nationalsozialisten durch den Begriff Wehrmacht ersetzt (Strzysch, Weiß 1999, 371).
[3] Auf dieses Ziel kann man bei genauer Betrachtung schon lange vor den ersten Waffengängen des 2. Weltkriegs stoßen: Adolf Hitler (1940) schrieb schon Mitte der zwanziger Jahre im Zweiten Band von „Mein Kampf“: „Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken“ (ebd. 742 ). „Vergeßt nie, daß das heilige Recht auf dieser Welt das Recht auf Erde ist, die man selbst bebauen will, und das heiligste Opfer das Blut, das man für diese Erde vergießt (ebd. 755).
Rund zehn Jahre später – kurz nach der „Machtübernahme“ – äußerte Hitler das explizite Vorhaben, auf dem Gebiet der Sowjetunion Lebensraum für das deutsche Volk zu erobern auch vor der Reichswehrführung (vgl. Steinbach 1999, 17).
[4] Trotz des ab Herbst 1939 existierenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages („Hitler-Stalin-Pakt“) wurde ab Dezember 1940 mit der konkreten Vorbereitung eines Überfalls auf die Sowjetunion unter dem Stichwort „Unternehmen Barbarossa“ begonnen (vgl. Rürup 1991).
[5] Als Einzelpersonen wurden in Kriegsverbrecherprozessen bis 1999 in beiden deutschen Staaten insgesamt acht führende Wehrmachtsangehörige zum Tode verurteilt, 21 Personen erhielten lebenslängliche, 146 kürzere Freiheitsstrafen. Zu den zum Tode verurteilten gehörten unter anderem der Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichsluftfahrtminister Hermann Göring und der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 663 und 642).
[6] Im März 1997 ließ Gauweiler eine Postwurfsendung an 300.000 Münchner Haushalte verteilen, in der er seine zuvor geäußerten Angriffe auf die Ausstellung verteidigte und seine Vorbehalte gegen das Projekt, welches die Angehörigen der Wehrmacht in seinen Augen pauschal verurteile, darstellte (vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung 2002a, 694)
[7] In verschiedenen Publikationen, unter anderem einem deutschen Propagandabuch von 1941 wurde das abgebildete Motiv einmal als Reinigungsaktion der SS an einer jüdischen Mannschaft, dann wieder als Ermordung von Juden durch Wehrmachtsangehörige bezeichnet.
[8] Hinsichtlich der Verantwortung für derartige Publikationen sei erwähnt, dass in diesem Fall beim ersten Erscheinen 1998 der Historiker Klaus Sojka als Herausgeber fungierte. Bei einer inhaltlich unveränderten 2. Auflage zwei Jahre später war Sojka offensichtlich nicht mehr bereit, seinen Namen in Verbindung mit derartigem Gedankengut zu bringen, hier fehlt jeglicher Hinweis auf Autoren oder Herausgeber (vgl. Sojka 1998, Ohne Angabe 2000). Diese Publikationen erschienen beide im Freiheitlichen Buch- und Zeitschriftenverlag (FZ-Verlag), der von der Ehefrau von Gerhard Frey, dem Bundesvorsitzenden der mitgliederstärksten Partei im rechtsextremistischen Spektrum, der Deutschen Volksunion (DVU) geleitet wird (vgl. Bundesministerium des Innern 2002, 92).
[9] Dieser Kommission gehörten an: Der Leiter der Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte, Gerhard Hirschfeld, der US-Historiker Omer Bartov, die Kunsthistorikerin Cornelia Brink, der ehemalige Direktor des Bundesarchivs Friedrich Kahlenberg, der ehemalige Leitende Historiker des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Manfred Messerschmidt, der Zeithistoriker Christian Streit sowie die Geschichtsprofessoren Reinhard Rürup und Hans-Ulrich Thamer.
[10] Damit reagiert die neue Ausstellung auf ein von allen Kritikern, jedoch mit unterschiedlicher Zielsetzung immer wieder vorgebrachtes Argument: „Eine der größten Schwächen der Anti-Wehrmachts-Ausstellung ist das Fehlen auch nur des geringsten Hinweises auf das Kriegsvölkerrecht.“ (Proske 1999, 134)
[11] Die 45 Ende November 2001 in Interviews befragten Besucher waren sich weitgehend darin einig, dass die neue Ausstellung durch ihre Sachlichkeit differenzierter und glaubwürdiger wirke, als die erste, dass sie aber dafür aufgrund des Textumfangs kaum in einem Durchgang zu bewältigen und aufzunehmen sei (Polak 2002, 59).
[12] Die Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“ findet natürlich auch anderenorts außerhalb Deutschlands oder Österreichs statt. Insbesondere in Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika gehört der Holocaust zur kollektiven Erinnerung, deren Relevanz und Wirkung für die US-Gesellschaft der Historiker Peter Novick (2001) eingehend untersucht hat.
[13] Kohlstruck (1997) konstatiert, dass sich aufgrund der verschiedenen, nach Kriegsende installierten politischen Systeme die öffentliche, gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus in der BRD und der DDR bis zur Wiedervereinigung beider Staaten im Oktober 1990 gravierend unterschied (ebd. 44ff). Die Bundesrepublik galt hüben wie drüben als der direkte Nachfolgestaat von Hitler-Deutschland, die DDR wurde im Sinne eines „antifaschistischen Neubeginns“ (ebd. 46) gegründet und es wurde dort eine „antifaschistisch-demokratische Ordnung“ (ebd. 10) etabliert.
Dennoch berichten mehrere Studien, die mit verschiedenen Methoden verschiedene gesellschaftliche Gruppen untersucht haben, ähnliche Ergebnisse dahingehend, dass sich die Antwortverhalten hinsichtlich der Einstellungen zum NS und zum heutigen Umgang mit ihm in den alten und neuen Bundesländern kaum oder gar nicht unterscheiden. So haben sich zum Beispiel Manfred Brusten und Bernd Winkelmann (1994) mit der Frage beschäftigt, wie deutsche Studenten über den Holocaust denken und dabei – für die Autoren überraschend – trotz der „völlig unterschiedlichen, zum Teil sogar antagonistischen, politischen Sozialisation“ in der DDR und der BRD praktisch keine Unterschiede im „Hinblick auf ihr Wissen, ihre emotionalen Reaktionen und ihre Einstellungen zum Dritten Reich und zum Holocaust“ (ebd. 485) feststellen können.
[14] Offen rechtsextremistisch argumentierende Personen oder Personenzusammenhänge, wie zum Beispiel die einschlägig bekannten politischen Parteien und Gruppierungen sollen dabei keine Rolle spielen, da es dem Autor um die Auseinandersetzung im demokratischen Teil der Gesellschaft geht, von dem die öffentliche Diskussion weitgehend bestimmt wird. Da hier aber fließende Grenzen vorliegen und nicht immer trennscharf zwischen Demokraten und Extremisten zu trennen ist, könnten eventuell vereinzelt auch die Argumente der genannten, unerwünschten Akteure in die Darstellung eingehen.
[15] Giordanos Analyse hat in der öffentlichen Diskussion ein breites Echo ausgelöst. Neben zahlreichen, meist zustimmenden Briefen, die er einige Jahre nach dem ersten Erscheinen der „Zweiten Schuld“ gesammelt veröffentlichte (vgl. Giordano 1990), reagierten insbesondere (geschichts-) konservative Kreise empfindlich gestört auf Giordanos Ausführungen. So widmete zum Beispiel der Historiker und Politologe Manfred Kittel (1993) seine ganze Dissertation dem Versuch, Giordanos Thesen zu widerlegen und die Ära Adenauer hinsichtlich der NS-Auseinandersetzung in einem besseren Licht erscheinen zu lassen.
[16] Die Veranstaltung hatte den Titel: „Made in Germany. Die Enkelgeneration zwischen Engagement, Unbefangenheit und Übersättigung“ und kam damit auch einem Teilaspekt der vorliegenden Arbeit sehr nahe.
[17] Das Herstellen eines direkten Zusammenhangs zwischen heutigem Rechtsextremismus in Deutschland und der nationalsozialistischen Vergangenheit findet sich auch in der psychoanalytischen Forschungsliteratur, allerdings nicht in Verbindung mit einer Schlussstrich-Forderung oder ähnlichem. Elke Rottgardt (1993) berichtet beispielsweise von der Analyse von Tiefeninterviews, dass die Verdrängung der NS-Aufarbeitung den Grund für Wiederholungstendenzen in Form rechtsextremistischer Gewalttaten darstellt. Werner Bohleber (1996) sieht die besondere Bedeutung von Fremdenhass im heutigen Deutschland in der Judenvernichtung zur Zeit des Nationalsozialismus begründet. Auf den Zusammenhang zwischen den historischen Ereignissen und heute auftretenden politischen Tendenzen weisen beide Autoren explizit hin.
[18] Das kontrovers diskutierte Projekt eines Denkmahls zu Ehren der ermordeten Juden Europas befindet sich inzwischen in der Phase der Realisation. Im Juni 1999 hatte der Deutsche Bundestag der Errichtung des Denkmahls in Berlin-Mitte zugestimmt, im Herbst 2001 wurde mit dem Bau der insgesamt 2700 senkrechten Stelen auf einer Fläche von rund 20000 Quadratmetern begonnen, im Frühjahr 2004 sollen die Arbeiten abgeschlossen sein. Nähere Informationen zur Entwicklung und zum Stand des Projektes finden sich im Internet unter www.holocaust-denkmal-berlin.de.
[19] Da der Historikerstreit von 1986 und den Folgejahren vor allem die Frage nach der historischen Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Verbrechen zum Gegenstand hatte, diese Differenzierung jedoch für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit nicht von zentraler Bedeutung ist, wird auf eine Darstellung des Historikerstreits hier verzichtet. Ein sehr guter, kommentierter Überblick findet sich bei Wehler (1988a).
[20] Weber schreibt hierzu, dass die Soziologie „Typen-Begriffe“ entwickelt und dabei „generelle Regeln des Geschehens“ sucht (Weber 1976, 9). Dabei geht es um „gesteigerte Eindeutigkeit“ und ein „möglichstes Optimum von Sinnadäquanz“ (ebd. 10). Er merkt aber auch an, dass die „reinen (‚Ideal’-)Typen von Gebilden (...) in dieser absolut idealen reinen Form vielleicht ebenso wenig je in der Realität auftreten, wie eine physikalische Reaktion, die unter Vorraussetzung eines absolut leeren Raums errechnet ist“ (ebd. 10).
- Quote paper
- Dipl.Soz. Christian Jung (Author), 2003, Wer zieht den Schlussstrich? Eine empirische Analyse der Besucherbefragung in der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25226
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