"Sofern Kant durch die Musik ästhetische Ideen übermitteln läßt, ist er Idealist; sofern er das musikalisch-künstlerische Urteil zurückführt auf die mathematisch bestimmte, von aller Gefühlswirkung losgelöste Form, ist er Formalist; sofern er die körperliche Wirkung als Hauptzweck der Musik bezeichnet, Sensualist; sofern er den musikalischen Gefühlsausdruck auf die natürliche Stimmmodulation gründet, Naturalist."
Ein einziges Zitat verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man ver-
sucht, Kants Aussagen zur Musikästhetik zu deuten. Wie kann er gleichzeitig formalistische und naturalistische Ansichten vertreten? Wie begründet er den Hauptzweck der Musik als einen "rein körperlichen"? Was versteht er unter "ästhetischen Ideen"?
Mit diesen Fragestellungen setzt sich die vorliegende Arbeit auseinander. Verschiedene Interpretationen und Annäherungen an Kants Musikästhetik werden untersucht. "Die" Kantsche Musikästhetik findet sich dabei nicht, dazu sind die Ansichten zu unterschiedlich, teils sogar widersprüchlich. Gerade dieses Spannungsfeld macht jedoch das Faszinierende an Kants Philosophie aus, die gegensätzliche Interpretationen zulässt und den Leser zu eigener Bewertung einlädt.
"Sofern Kant durch die Musik ästhetische Ideen übermitteln läßt, ist er Idealist; sofern er das musikalisch-künstlerische Urteil zurückführt auf die mathematisch bestimmte, von aller Gefühlswirkung losgelöste Form, ist er Formalist; sofern er die körperliche Wirkung als Hauptzweck der Musik bezeichnet, Sensualist; sofern er den musikalischen Gefühlsausdruck auf die natürliche Stimmmodulation gründet, Naturalist."[1]
Ein einziges Zitat verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man ver-
sucht, Kants Aussagen zur Musikästhetik zu deuten. Wie kann er gleichzeitig formalistische und naturalistische Ansichten vertreten? Wie begründet er den Hauptzweck der Musik als einen "rein körperlichen"? Was versteht er unter "ästhetischen Ideen"?
Kants Notizen zur Musikästhetik finden sich in seiner "Kritik der Urteilskraft"(1790) und innerhalb des Werkes in dessen Hauptteil, "Kritik der ästhetischen Urteilskraft".[2], § 53.
Zunächst entwirft Kant ein "System der (schönen) Künste"[3], wobei er großen Wert auf die Unterscheidung zwischen "schöner" und "bloß angenehmer" Kunst legt.[4]
Unter "schön" ist hier dasjenige zu verstehen, "was, ohne ein Bedürfnis zu befriedigen, bloß durch die harmonische Beschäftigung unserer überthierischen Vorstellungskräfte ein unmittelbares Wohlgefallen und Vergnügen erweckt [...]. Die einzelnen Merkmale des Schönen sind 1) es ist der Gegenstand eines Wohlge-
fallens, ohne alles Interesse. Crit.III. 15, 16, 113. 2) es gefällt ohne Begriff allgemein. Crit.III. 17 - 32, 177. 3) es ist ein Gegenstand, welcher durch die bloße Form der Zweckmäßigkeit gefällt, sofern sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahr-
genommen wird. Crit.III. 32 - 60, 74. 4) es gefällt ohne Begriff nothwendigerweise. Crit.III. 61. ff. 148."[5] Das "bloß Angenehme" wird von Kant niedriger eingestuft:
"Angenehm [...] ist [...] ein Gegenstand der Sinnlichkeit, sofern er auf den Willen einfließt; das, was den Sinnen in der Empfindung d.i. in der objektiven Vorstellung der Sinne gefällt oder was jemanden vergnügt.[...] Das Angehme gilt auch für vernunftlose Thiere. Das Angenehme ist nichts absolut d.h. für jedes vernünftige Wesen Gutes, weil es nicht unmittelbar von der Vernunft selbst, sondern von
Empfindung, [...], abhängt".[6]
Das Schöne muß also absolut, d.h. allgemein gültig und insofern nicht vom Subjekt abhängig sein.[7]
Einen weiteren entscheidenden Unterschied machen für Kant offenbar die Attribute "thierisch" bzw. "übertierisch" aus. Der Mensch, als vernunftbegabtes Wesen der zweiten Kategorie zugerechnet, ist gemäß Kants Definition in der Lage, durch die schöne Kunst Erkenntis[8] zu erlangen, wohingegen das Angenehme nur "tierische", nicht von Vernunft bzw. Verstand abhängige Sinne anspricht.
Wie ordnet Kant nun die Musik in dieses Wertesystem ein ? Er beleuchtet sie von beiden Seiten, der schönen und der angenehmen, und weist ihr für beide Aspekte einen unterschiedlichen Stellenwert in seinem System zu. Wo er den Maßstab des Angenehmen ansetzt, hat die Musik einen der obersten, wenn nicht gar den ersten
Platz inne: "Nach der Dichtkunst würde ich, wenn es um Reiz und Bewegung des Gemüts zu tun ist, diejenige, welche ihr unter den redenden am nächsten kommt [...], nämlich die Tonkunst setzen."[9] Kant gesteht ihr, im Gegensatz zur Poesie, zwar nicht zu, daß sie " wie die Poesie, etwas zum Nachdenken übrigbleiben läßt", er hält ihr aber zugute, daß sie das Gemüt "mannigfaltiger, und, obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher"[10] bewegt. In diese wohlwollende Bemerkung jedoch hat Kant einen nicht unwesentlichen Kritikpunkt impliziert. Gemeint ist der transitorische Charakter der Musik, der mit dazu beiträgt, daß sie nichts zum Nachdenken übrigbleiben läßt: "[...]; diese aber [die Künste, die nur von transitorischem Eindruck sind] erlöschen entweder gänzlich oder, wenn sie unwillkürlich von der Einbildungskraft wiederholt werden, sind sie uns eher lästig als angenehm."[11]
Aus der physikalisch vorgegebenen Tatsache, daß Musik über das Gehör wahrgenommen wird, leitet Kant einen "gewissen Mangel an Urbanität"[12] ab, also ein möglicherweise unerwünschtes "Sichaufdrängen", daß den anderen Künsten nicht zu eigen ist; er argwöhnt gar, daß die Musik "der Freiheit anderer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut".[13]
Kants Untersuchung den Reiz der Musik betreffend führt ihn zu der Annahme, "daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinn desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt, der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird;".[14] Diese Übertragung von Tönen in Sprache bezeichnet Kant als "Sprache der Affekte", die die "damit natürlicherweise verbundenden ästhetischen Ideen[15] allgemein mitteilt,".[16]
Die Form dieser Tonsprache manifestiert sich in Harmonie, Melodie und "einer proportionierten Stimmung, [...](welche, [...], mathematisch unter gewisse Regeln gebracht werden kann)"[17], wobei die Form der Zusammensetzung dieser Komponenten die ästhetische Idee, den vorherrschenden Affekt eines Stückes ausmacht. Auf die erwähnte mathematische Form wird nochmals näher einge-gangen: Von ihr allein hängt zwar das Wohlgefallen ab, sie hat aber "sicher nicht den mindesten Anteil an dem Reize und der Gemütsbewegung".[18]
Vergleicht man nun die bisher betrachteten Notizen Kants mit dem zu Beginn erwähnten Zitat von Moos, so läßt sich dessen Fazit durchaus nachvollziehen. Bedeutet dies nun aber, daß Kant tatsächlich keine eindeutigen Aussagen zur Musik und zur Musikästhetik macht? Geht man im Quellentext etwas weiter, so läßt sich zumindest eine unmißverständliche Ansicht Kants festmachen, nämlich die, daß die Musik "unter den schönen Künsten sofern den untersten (so wie unter denen, die zugleich nach ihrer Annehmlichkeit geschätzt werden, vielleicht den obersten) Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt."[19] Hier spricht Kant ganz deutlich aus, daß er die Musik , an der Kultur[20] gemessen, geringer als alle anderen Künste einschätzt.
Wie wurden nun diese Aussagen interpretiert? Einen Überblick über die unter-schiedlichen Meinungen zur Musikästhetik bei Kant liefert Schubert.[21] Der Vergleich dieser Interpretationen läßt erkennen, daß durch sie "kein substantieller Gehalt einer Kantschen Musikästhetik eingegrenzt werden konnte."[22] So faßt beispielsweise Schering die Notizen Kants als "die uns verschlossene Musikanschauung seiner [Kants] Zeit"[23] auf. Er begründet die Kantschen Aussagen.demnach historisch und führt sie zurück "auf Quellen und Ansichten, die der Zeit ihrer Entstehung eigen-tümlich waren und damals weder als unklar noch als widerspruchsvoll empfunden wurden."[24] Maecklenburg[25] jedoch spricht von einer "Unentschiedenheit in der Musikästhetik Kants" und deckt damit die Widersprüche wieder auf, die Schering nicht beachtet, da er sie historisch begründet .
[...]
[1] Paul Moos: Moderne Musikästhetik in Deutschland, 1901, S.7
[2] C.Chr.E. Schmid: Wörterbuch zum leichten Gebrauch der Kantischen Schriften, neu hrsg. von Norbert Hinske, 1976, S.176:
"Critik der reinen Urtheilskraft: Untersuchung der Gültigkeit der Prinzipien für die Urtheilskraft
a) der ästhetischen Urtheilskraft: Untersuchung des Vermögens, die formale, subjektive Zweckmäßigkeit durchs Gefühl der Lust und Unlust zu beurtheilen."
[3] Ebd., S.345/ 346:
" Die Kunst wird eingeteilt in
a) Lohnkunst (Handwerk), die als Arbeit auferlegt werden kann.
b) Freye Kunst, die nur als Spiel gelingen kann. Crit.III. 173,203.
In Rücksicht auf den Zweck ist die Kunst
a) mechanisch,[...]. Crit.III. 175,183.s. mechanisch
b) ästhetisch, wenn sie das Gefühl der Lust zur unmittelbaren Absicht hat. Crit.III, 175,177.
a) angenehme Kunst: deren Zweck ist, daß die Lust gewisse Vorstellungen, als Empfindungen begleite. Crit.III. 211.
b) schöne Kunst: deren Zweck ist, daß die Lust gewisse Vorstellungen, als Erkenntnißarten begleite. Crit.III. 174,176,183,200."
[4] Kant: Kritik der Urteilskraft, § 44, 178/179
[5] Schmid: Wörterbuch, S. 476/477
[6] Ebd. S. 51
[7] Hermann Kretschmar: Kants Musikauffassung und ihr Einfluß auf die folgende Zeit, in: JbP, 1904; S.48: "Mit dem Schönen ist es ganz anders bewandt. [Nennt Einer ein Gebäude, ein Kleid, ein Concert schön, so muss es das für Alle sein.] " (Eckige Klammern von Kretschmar gesetzt)
[8] Schmid: Wörterbuch, S.223: "Erkenntnis: reine, a priori, Vernunfterkenntnis in objektiver Bedeutung, rationale Erkenntnis, durch Schlüsse aus Principien - sofern sie durch die Gesetze des Vorstellunsvermögens bestimmt ist. Crit.I. 864. Crit.II. 23."
[9] Kant: Kritik der Urteilskraft, § 53, 218
[10] Ebd.
[11] Ebd. § 53, 221
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd., § 53, 219
[15] Schmid: Wörterbuch, S.324: "Aesthetische Ideen sind Vorstellungen der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlassen, ohne daß ihnen jedoch ein bestimmter Gedanke d.i. Begriff adäquat sein kann. Crit.III. 190. ff. 236. f."
[16] Kant: Kritik der Urteilskraft,§ 53, 219
[17] Ebd.
[18] Ebd., § 53, 220
[19] Ebd.
[20] Schmid: Wörterbuch, S.170: "Cultur soll (positiv) eine Fertigkeit verschaffen, Regeln zu befolgen;[...]. Cultur des Menschen [...] ist die Hervorbringung der Tauglichkeit und Geschicklichkeit des Menschen, als eines vernünftigen wesens zu allerley beliebigen Zwecken, dazu die Natur (äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden kann. Sie ist
1) eine Cultur der Geschicklichkeit d.i. der Tauglichkeit zu Beförderung der Zwecke überhaupt
2) eine Cultur der Freyheit, oder der Zucht (Disziplin), d.i. eine Beförderung des Vermögens, seine Zwecke selbst zu wählen und zu bestimmen, durch Befreyung des Willens von dem Despotismus
der Begierden."
[21] Giselher Schubert: Zur Musikästhetik in Kants "Kritik der Urteilskraft" in: AfMW, 1975,S.12/13
[22] Ebd., S.14
[23] Ebd., S.13
[24] A.Schering: Zur Musikästhetik Kant´s in: ZIMG XI, 1909/10, S.175; zit. n. Schubert
[25] A. Maecklenburg: Die Musikanschauung Kants in: Die Musik XIV, 1914/15, S.208: "Es ist nun nicht uninteressant, zu sehen, wie diese beiden Richtungen [Formal- und Inhaltsästhetik], die in der modernen Musik-Ästhtetik sich oft schroff und unversöhnlich gegenüberstehen, bei Kant nur in em-
bryonaler Weise vorgebildet liegen. Sie treten hier nebeneinander auf, ohne daß der leiseste Versuch einer Vermittelung gemacht wird. Sie sind als Gegensätze noch nicht hervorgetreten, sondern sie schlummern als keimartige Ansätze friedlich nebeneinander, so daß es den Anschein erweckt, als ob Kant noch nicht eine klare Vorstellung von der prinzipiellen Gegensätzlichkeit dieser beiden Richt-linien gehabt habe."; zit.n.Schubert
- Arbeit zitieren
- Christine Knecht (Autor:in), 1993, Immanuel Kant und sein Einfluß auf das musikästhetische Denken um 1800, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25177
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