Bis zur politischen Wende in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist der sozialistische Realismus mit seiner politischen Tendenz das wichtigste Gestaltungsmerkmal der polnischen Literatur, obwohl bereits in den 70er Jahren eine Krise des Realismus eingetreten war und entscheidende Werke des literarischen Umbruchs entstanden. In den Werken der Wende- und Nachwendezeit jedoch beziehen die Autoren endgültig den Realismus ihrer Werke nicht länger ausschließlich auf die politische oder ästhetische Ebene, sondern nehmen die Kultur als Hauptreferenzpunkt.
Die junge Autorengeneration und ihre Figuren beschäftigt in hohem Maße die Frage nach ihrer Identität. Zwei Tendenzen sind dabei zu erkennen. Einmal flüchtet man vor seiner Verwurzelung in einer bestimmten Region. In der neuen polnischen Literatur spielt der begrenzte Raum der Heimat mit den Leuten und der spezifischen Topographie eine wichtige identitätsbildende Rolle. Die Kindheit und Jugend erscheint als wichtige Etappe in der Identitätsfindung. Als Romangattung wird nun die Initiationsprosa bevorzugt.
Stilistisch existiert Literatur wegen des Lesers und nicht länger als Medium zur Verbreitung einer politischen Ideologie. Antoni Liberas Roman "Madame" wird in der vorliegenden Arbeit vor allem hinsichtlich seiner postmodernen Stilistik untersucht. Es wird deutlich, dass Libera postmoderne Erzählstrategien besonders Metafiktion und Intertext, aber auch den Wechsel der Erzählperspektive ein und desselben Erzählers verwendet. Er verknüpft verschiedene Gattungen: die Romanze mit dem Initiationsroman und einer Gesellschaftssatire. Doch diese literaturtheoretischen Finessen bewirken nicht, dass der Roman nur für ein wissenschaftliches Publikum interessant ist. Vielmehr setzt Libera genau das um, was er in dem Schopenhauerzitat, das dem Roman als Motto voran steht, postuliert: Er nimmt eine kleine Begebenheit und macht einen wunderbar lesbaren Roman mit unterschwelligem Humor aus fast nichts. Er zeigt, dass das tägliche Leben die Menschen zu jeder Zeit mit dem Stoff versorgt, aus dem die Mythen und Legenden sind. "Madame" ist dabei nicht nur ein intertextueller und metafiktionaler Roman, sondern auch ein Roman über die alltäglichen Dinge des Lebens: über Stärke und Schwäche, über Liebe und den Konflikt zwischen dem geistigen Ideal und der physischen Realität.
I. Inhaltsverzeichnis
II. Einleitung - Die junge polnische Autorengeneration
III. Postmodernes Erzählen
1. Die Krise des Romans im 20. Jahrhundert
2. Metafiktion
a) Metafiktion nach Federman
b) Metafiktion nach Waugh
c) Metafiktion nach Imhof
d) Zusammenfassung
3. Intertext
a) Zur Referenz von Texten
b) Intertext nach Kristeva
c) Intertext nach Genette
4. Der "belesene" Autor
IV. Antoni Libera: Madame
1. Nostalgie oder "Früher, das waren Zeiten!"
2. "Madame" als Romanze
3. "Madame" als Initiationsroman
4. Gesellschaftssatire und Intertext
5. Erotik und Intertext
a) Die poetische Melancholiekonzeption des Romans
b) Die Entstehung eines Mythos'
6. Zusammenfassung - erfolgreiches postmodernes Erzählen
V. Conclusion
VI. Bibliographie
II. Einleitung - Die junge polnische Autorengeneration
Bis zur politischen Wende in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts ist der sozialistische Realismus mit seiner politischen Tendenz das wichtigste Gestaltungsmerkmal der polnischen Literatur, obwohl bereits in den 70er Jahren eine Krise des Realismus eingetreten war und entscheidende Werke des literarischen Umbruchs entstanden.
In den Werken der Wende- und Nachwendezeit jedoch beziehen die Autoren endgültig den Realismus ihrer Werke nicht länger ausschließlich auf die politische oder ästhetische Ebene, sondern nehmen die Kultur als Hauptreferenzpunkt. Zu einem solchen Bezugspunkt wird zum Beispiel das Medium Film. So referiert unter anderem Piotr Siemion in "Picknick am Ende der Nacht" (1988) immer wieder auf filmische Techniken wie "camera eye". Dieser Roman kann ebenfalls als Abrechnung mit den Politkern der sozialistischen Zeit gelesen werden. Auffällig an diesem Roman ist zudem eine Entmythologisierung des polnischen Exils. Doch Autoren wie Olga Tokarczuk entwickeln gerade das gegenteilige Verfahren; nämlich eine Mythologisierung der vormaligen und gegenwärtigen Realität, indem sie kulturelle Elemente zum Beispiel aus der Religion integrieren und somit eine neue Dimension an Lebenswirklichkeit in die Romane einbringen. Dieses Spiel mit der Realität ist gekennzeichnet durch eine Tendenz zur Verinnerlichung und zur Groteske. Man verwendet exzessiv den "stream of consciouseness"; spottet über die Realität.
Die junge Autorengeneration und ihre Figuren beschäftigt in hohem Maße die Frage nach ihrer Identität. Zwei Tendenzen sind dabei zu erkennen. Einmal flüchtet man vor seiner Verwurzelung in einer bestimmten Region. So thematisiert zum Beispiel Miloz die Fremdheit als (vorübergehenden) identitären Zustand. Andere wie Chuin, Huelle, Staziuk und Tokarczuk flüchten sich sowohl literarisch als auch persönlich in "die kleine Heimat" und die Regionalität der Provinz. In dieser Art von Literatur spielt der begrenzte Raum der Heimat mit den Leuten und der spezifischen Topographie eine wichtige identitätsbildende Rolle. Die Kindheit und Jugend erscheint als wichtige Etappe in der Identitätsfindung. Als Romangattung wird nun die Initiationsprosa bevorzugt.
Stilistisch findet man eine Abkehr vom sozialistischen Realismus, in dem die Literatur ihre Existenzberechtigung politisch legitimieren mußte, auch zugunsten der Verwendung von Metafiktion und Intertext. Literatur existiert wegen des Lesers und nicht länger als Medium zur Verbreitung einer politischen Ideologie. Die Verwendung von metafiktionalen und intertextuellen Strategien wendet auch Antoni Libera in seinem Roman "Madame" an, der in der folgenden Hausarbeit untersucht werden soll, nachdem zunächst die Begriffe "Metafiktion" und "Intertext" betrachtet werden. Dabei wird sich zeigen, daß Libera als ein herausragender Vertreter der jungen polnischen Literatur gelten kann, der sich bereits mit seinem Debüt in die Bestsellerlisten katapultierte und die Kritiker in Begeisterungsstürme ausbrechen ließ.
III. Postmodernes Erzählen
1. Die Krise des Romans im 20. Jahrhundert
Als John Barth 1967 in seinem Aufsatz "The Literature of Exhaustion" ein postmodernes Schreiben forderte, weil sich die Literatur, so wie man sie bisher kannte, erschöpft hat und es keine neuen Formen mehr gäbe, entstand eine neue Betrachtungsweise von Literatur. Auch Umberto Eco forderte 1983 in seiner "Nachschrift zum 'Namen der Rose'" die Autoren dazu auf, in ihren Werken die früheren Werke zu diskutieren, die Vergangenheit in das postmoderne Schreiben aufzunehmen und ihr eine neue Bedeutung zu geben, sowie den Arbeitsprozeß an seinem Werk aufzuzeigen.
Dennoch ist "Postmoderne" kein Terminus, der auf das 20. Jahrhundert oder überhaupt einen zeitlichen Rahmen beschränkt ist. Die Tatsache, daß bereits im 15. Jahrhundert in Bocaccios "Decameron" das Erzählen kommentiert wurde, oder daß Lawrence Sterne im 18. Jahrhundert in "Tristram Shandy" bereits die gerade entstandene Gattung des Romans parodierte und dafür metafiktionale Stilmittel nutzte, bestätigt Ecos These, daß "postmodern keine zeitlich begrenzbare Strömung, sondern eine Geisteshaltung"[1] ist. Eco ist weiterhin der Meinung, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, in der man sich mit metasprachlichem Spiel und Ironie wieder der Moderne nähert, nachdem man eingesehen hat, daß man sie nicht zerstören oder leugnen kann. Das Prinzip der Kombination nutzend, verknüpft er in seinem Roman "Der Name der Rose" beispielsweise das relativ neue Genre des Kriminalromans mit dem historischen Roman. John Fowles verarbeitet in "The French Lieutenant's Woman" die historischen viktorianischen Konventionen, das Genre der Romanze, detektivische Momente und einen kommentierenden Autor zu einem sowohl von Kritikern als auch dem Lesepublikum vielbeachteten postmodernen Roman. Und auch Libera greift in seiner Autobiographie "Madame" auf das Genre der Romanze, das er in die gerade vergangene Epoche des Sozialismus versetzt, zurück.
Entscheidend für die Ästhetik in der Literatur des 20. Jahrhunderts ist die Frage nach der Wirklichkeit und ihrer Abbildbarkeit. Die Wirklichkeit wird in der Literatur als Spielfeld der einzelnen Möglichkeiten von Realität gesehen. Daher stehen die Rolle des Erzählers und der Erzählvorgang oft im Mittelpunkt der Werke. Als ein deutliches Beispiel für die Auflösung von Erzählen, Individuum und gedeuteter Welt, kann man Becketts Dramen sehen. Seine Figuren stellen nur noch einzelne Facetten der menschlichen Existenz dar und haben keine intakten Lebensläufe.
Postmoderne Literatur blickt auf den Menschen mit einem nicht zu verallgemeinerndem Sonderschicksal. Sie stellt die Welt als differenziertes Gefüge sozialer Komponenten dar, das nicht mehr festgefügt ist. In einer Welt, die sich in ständiger Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit befindet, ist das Individuum seinen Gefahren, Versuchungen und Zwiespalten ausgeliefert. Es wird offensichtlich, daß Literatur nicht mehr vorgaukeln kann, ein objektives Abbild der Wirklichkeit zu sein. Folglich können die Texte nur noch an der ihnen inhärenten Logik gemessen werden. Bei der Akzeptanz der fiktionalen Welt erscheinen die Figuren und ihre Schicksale glaubwürdig.
Mit der Verabschiedung der Autoren von der Darstellung objektiver Wirklichkeit hängt auch ein weiteres Merkmal der postmodernen Literatur zusammen: die intertextuelle Ebene, auf die sich die von Eco geforderte Ironie bezieht und, die das Lesevergnügen der Romane ausmache.
"Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, daß er ihr nicht sagen kann: 'Ich liebe dich inniglich' weil er weiß, daß sie weiß (und daß sie weiß, daß er weiß), daß genau diese Worte schon, sagen wir von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: 'Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich.' In diesem Moment, nachdem er die falsche Unschuld vermieden hat, nachdem er ihr klar zum Ausdruck gebracht hat, daß man nicht mehr unschuldig reden kann, hat er gleichwohl der Frau gesagt, was er ihr sagen wollte, nämlich daß er sie liebe. Wenn sie das Spiel mitmacht, hat sie in gleicher Weise eine Liebeserklärung entgegengenommen. Keiner der beiden Gesprächspartner braucht sich naiv zu fühlen, beide akzeptieren die Herausforderung der Vergangenheit, des längst schon gesagten, das man nicht einfach wegwischen kann, beide spielen bewußt und mit Vergnügen das Spiel der Ironie. ...Aber beiden ist es gelungen, noch einmal von Liebe zu reden."[2]
Eco macht deutlich, daß Autor und Leser (oder um ein Kommunikationsmodell zu gebrauchen, das die Situation verallgemeinert: Sender und Empfänger) sich bewußt sind, daß bestimmte Worte schon benutzt worden sind, eine Vergangenheit haben und nicht mehr als eigenständiges Gedankengut gelten können. In dieser Welt, in der stilistische Innovationen kaum mehr möglich sind, zitiert der Sender, um die Intelligenz seines Gegenüber nicht zu beleidigen, direkt oder indirekt Worte aus der Vergangenheit durch die Maske eines anderen Sprechers hindurch und findet so auf ironische Weise einen Weg, das Alte neuartig auszudrücken. Bedingung für das Funktionieren dieses Spiels sind jedoch "die belesene Frau", die das Spiel mitspielt und vor allem mitspielen kann. Anders gesagt: Wenn der Empfänger nicht weiß, worauf der Sender referiert, funktioniert die Ironie nicht und der Empfänger kann nicht verstanden werden, oder er wird nicht so verstanden, wie er beabsichtigt hatte.
Postmoderne Literatur richtet sich folglich an ein Lesepublikum, das über Literaturkenntnisse und auch anderes Vorwissen (z.B. wie bei Siemion über Kinematographie) verfügt. Die Autoren setzen einen erfahrenen Leser voraus, der aktiv am Leseprozeß beteiligt sein möchte, und so hieß der Ausgang aus der Krise des Romans im 20. Jahrhundert folgerichtig: Metafiktion und Intertext. Dennoch ist den erfolgreichen postmodernen Werken zu eigen, daß sie ebenfalls von einem naiven Leser verstanden werden. "Der Name der Rose" zum Beispiel ermöglicht für verschiedene Lesertypen vielfältige Lesarten: unter anderem als Kriminalroman, als historischen Roman, als intertextuellen Roman.
2. Metafiktion
a) Metafiktion nach Federman (Surfiktion)
Der Begriff Metafiktion wurde 1970 von William H. Gass in seinem Essay "Philosophy and the Form of Fiction"[3] geprägt. Er beschrieb mit diesem Terminus eine neue Form zukünftiger Literatur, die gefunden werden müsse und, die sich mit ihrer Artifizialität beschäftigen sollte, weil fiktive Welten nicht aus wirklichen Ereignissen, sondern aus Worten bestehen.
Raymond Federman versuchte fünf Jahre später eine konkrete Formulierung der Anforderungen an moderne Literatur, die er Surfiction nannte.[4] Er erstellte vier Lehrsätze seiner Visionen von künftiger Literatur. Zum einen sollten neue Wege gefunden werden, den Lesevorgang zu gestalten. Der Rezipient sollte das Lesen aktiv mitgestalten können, um zugleich auch am Schreibvorgang teilnehmen zu können. Zum anderen sollte die Literatur nicht mehr geordnet sein, da auch das Leben nicht in geordneten Bahnen verlaufe. Daher ist nach Federman der well-made-plot unerheblich geworden. Vielmehr sollen die Elemente eines Textes nicht mehr simultan erscheinen, sondern vielfach Möglichkeiten der Neuordnung während des Lesevorgangs bieten. Fiktion soll eine Metapher ihres eigenen Entstehungsprozesses werden.
Der dritte Lehrsatz bezieht sich auf die Darstellungsformen von Literatur, die als unbegrenzt gesehen gelten können, weil ein Autor nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch die Geschichte der Geschichte, die Geschichte der Sprache und die Geschichte seiner eigenen Methoden. Dadurch wird deutlich, daß die Erfahrungen des Menschen immer erzählt (dargestellt, überhöht, ausgeschmückt) werden und daher nur als Fiktion existieren können.
Weiterhin gibt es laut Federman keine allgemeingültige Art, etwas zu vermitteln. Deshalb können die Helden keine Identitäten mehr tragen; sondern sind Wortgestalten, die keinen Bezug zu den Normen außerhalb ihrer fiktionalen Realität haben. Der Leser soll sich nicht mit den Figuren identifizieren, sondern die Teilnahme am Schreib- und Leseprozeß erleben. Er selbst soll dem Text Bedeutung geben und keine vorgeformte Meinung rezipieren.
Einige Forderungen Federmans erscheinen heute selbstverständlich, doch der größte Teil der Literaturproduktion ist auch heute dem traditionellen Erzählen verpflichtet.
b) Metafiktion nach Waugh
Literaturwissenschaftlich beschäftigte sich zunächst Patricia Waugh mit dem Begriff Metafiktion und definierte ihn als selbst-reflexive Fiktion, die entstanden ist aus der Orientierungslosigkeit und dem Zweifel der Autoren an der realistischen Darstellungsweise.[5] Metafiktion richtet die Aufmerksamkeit auf den Text als solchen und versucht, Fragen über die Beziehung zwischen Fiktion und Realität aufzuwerfen. Sie untersucht die Strukturen narrativen Schreibens und erforscht die mögliche Fiktionalität der Welt außerhalb des literarisch fiktiven Textes.
Waugh konstatiert, daß Metafiktion zwar als Begriff neu, die Thematik selbst jedoch altbekannt ist und verweist zum Beispiel auch auf Lawrence Sterne[6]. Metafiktion ist als Parodie oder Kommentar zu einer Gattung, als Tendenz und Funktion in allen Romanen mehr oder weniger inhärent. Allerdings wird in metafiktionaler Literatur das Bewußtsein um die Metafiktionalität dominant.
Die Vorsilbe "meta" benutzt Waugh, um die Beziehung zwischen dem arbiträren linguistischen System und der Welt, auf die es sich anscheinend bezieht, offenzulegen. Für die Literatur bedeutet "meta", daß die Beziehungen zwischen der Welt innerhalb und außerhalb der Fiktion dargestellt werden. Dadurch wird deutlich, daß in der Literatur mit Hilfe der Literatur lediglich einzelne Diskurse der Welt dargestellt werden, denn die Welt als solche ist nicht abbildbar.
Metafiktionale Literatur legt dementsprechend ihre künstlerische und künstliche Beschaffenheit offen dar und offenbart somit gleichzeitig die problematische Beziehung zwischen Leben und Kunst und der Realität und Fiktion. Das Anliegen der Metafiktion nach Waugh ist, eine literarische Ausdrucksform zu finden, die der heutigen postmodernen und vielschichtigen Gesellschaft angemessen ist.
Zusammenfassend kann man bei Waugh drei Hauptaussagen feststellen. Metafiktion ist erstens keine Untergattung des Romans, sondern eine Tendenz innerhalb der Gattung. Metafiktion deckt zweitens explizit die Regelmechanismen des realistischen Romans auf, ignoriert sie nicht und gibt sie auch nicht völlig auf. Metafiktion ist drittens keine einheitliche Strömung. Sie teilt sich in solche Literatur, die Fiktionalität nur als Thema behandelt - Metafiktion auf der ersten Stufe. Die zweite Stufe ist Fiktion, des "new-realism", zu der sie Fowles zählt und die am häufigsten gebraucht wird. In ihr bleibt die Dekonstruktion des Textes noch sichtbar. Die dritte Stufe der Metafiktion bilden Romane, die den Realismus gänzlich ablehnen. Die fiktionale Wellt wird in ihnen gezeigt als Welt, die nie mit der Realität in Verbindung steht.
c) Metafiktion nach Imhof
Imhof zeigt in "Contemporary Metafiction", daß die ausführliche und ergiebige Beschäftigung mit dem Phänomen Metafiktion nur möglich ist, wenn man eine eindeutige Definition als Grundlage nimmt. Und so definiert er Metafiktion als: "a kind of self-reflexive narrative that narrates about narrating. It concentrates on the phenomenological characteristics of fiction, and investigates into the quintessential nature of literary art as it throws light on the process of 'imagination imaginating itself imagine'"[7].
Demzufolge beschäftigt sich metafiktionale Literatur mit ihrer künstlerischen Bedeutung und thematisiert ihren Entstehungsprozeß. Metafiktion wird zu einem Spiel, dessen Material die Sprache ist, die keine Wirklichkeit mehr abbilden kann oder muß, sondern sich eigene Wirklichkeiten erschafft. Kennzeichnend für Metafiktion ist eine gewisse Sprachskepsis, d.h. sie steht den thematischen und gestalterischen Konventionen des Erzählens skeptisch gegenüber.
Ähnlich wie Waugh sieht Imhof metafiktionale Strukturen, die mindestens auf Cervantes zurückgehen, in allen Romanen. Der Unterschied zwischen Metafiktion und konventionellem Erzählen liegt in dem veränderten Verhältnis von Wirklichkeit - Leser -Werk. Die Tabelle auf der folgenden Seite faßt die wesentlichen Merkmale dieses Verhältnisses kurz zusammen.
Metafiktionalisten schreiben über das Schreiben und entwerfen alternative Welten, da sie wie Fowles wünschen: "...to create world as real as, but other than the world that is."[8] Ein wichtiges Merkmal der Metaliteratur ist daher auch für Imhof die Selbstreflexion, die durch die Haltung des self-consciouse narrators entsteht, der offen kommentiert, während er die Geschichte erzählt. Metafiktion bezieht sich jedoch nicht nur auf sich selbst, sondern zitiert auch andere Werke der Weltliteratur. Das Zitieren hat dabei eine lange Tradition. Aber nicht jedes Werk, daß zitiert wird ist Metafiktion. Der große Unterschied besteht darin, wie mit dem Zitat umgegangen wird. Die Metafiktionalisten zeigen, daß die Werke, auf die referiert wird, ebenfalls von Menschen geschaffen wurden und, daß man mit ihnen spielen kann, wie es einem beliebt.[9]
Durch die Form des Zitierens und Anspielens wird Metafiktion zu Literaturkritik. Auch durch die Offenlegung der literarischen Konventionen und der Erzählstrategien erhält ein metafiktionales Werk einen literaturkritischen Aspekt. Diese Literaturkritik mündet häufig in einen Dialog mit dem Leser. Das geschieht jedoch nicht mehr wie bei Fielding, um Zustimmung zu erhalten, daß die exemplarischen Erfahrungen seiner Protagonisten mit denen des Lesers übereinstimmen oder didaktisch Erfahrungen über den Schreibprozess zu vermitteln.[10] Vielmehr entwickelt sich ein Gespräch über Kunst, ihre Funktionsweise und darüber, wie die Rezipienten mir ihr umgehen. Gattungsstrukturen werden bloßgelegt und somit das literarische Arbeiten transparent gemacht.[11]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle: Das Verhältnis von Realität-Leser-Werk bei Imhof
Imhof erkennt eine Tendenz dazu, daß bekannte Motive Mythen und Märchen von einem unbekannten Standpunkt aus neu erzählt werden. Er spricht von einem "Rückgriff auf das storehouse of fiction"[12], der es dem Autor ermöglicht, Strukturen und Aussagen als bekannt vorauszusetzen und sich dadurch auf das Überprüfen, Kommentieren und Aufzeigen dieser Strukturen zu konzentrieren.
Metafiktion äußert sich formal ebenfalls durch Fußnoten, Abschweifungen, typographische Besonderheiten, Listen, Unterhaltungen mit dem Leser; kurz: alles, was den Lesefluß unterbricht. Diese Stilmittel sind als "Sternesque Jokes" in die Literaturkritik eingegangen, da man sie alle bereits in Sternes Werken (insbesondere in "Tristram Shandy") findet.
Wie auch schon seine Vorgänger konstatiert Imhof, daß der Leser am Wiederentstehungsprozeß des Romans beteiligt werden soll. Er soll nicht nur passiv rezipieren, sondern aktiv mitgestalten. Beispielhaft ist auch hier Fowles Roman "The French Lieutenant's Woman", in dem dem Leser nach drei verschiedenen Konventionen drei mögliche Ausgänge der Geschichte geboten werden.
Metafiktion bei Imhof begreift sich also als die Erschaffung und das Sein einer werkgebundene Realität, die nicht vortäuscht, daß sie etwas anderes ist als Fiktion.
d) Zusammenfassung
Metafiktion legt die Funktionsweisen von Literatur, ihre Produktions- und Rezeptionsbedingungen dar. Sie deckt Strukturen und Wirkungsweisen der Gattung auf. Das geschieht vornehmlich durch die Figuren- oder Erzählerrede, die nicht explizit sein muß, sondern auch durch den Leser erschlossen werden kann. Wichtig dabei ist, daß der Kommentar die Grenze der Fiktion überschreitet und die Artifizialität des Textes selbstreferenziell darstellt. Metafiktion nutzt ihre Autoreflexivität, um das traditionelle Verständnis vom Unterschied zwischen Realität und Funktion zu untergraben. Der Text repräsentiert nur sich selbst. Er besitzt als autonomes sprachliches Konstrukt eigene Wahrheiten. Nur diesen ist er verpflichtet.
Dadurch, daß in der Metafiktion deutlich klar gemacht wird, daß sie nur aus Literatur besteht und der äußeren Realität nicht verpflichtet ist, bildet sie eine Gegenposition zur Mimesis-Vorstellung. Geschichte und Realität kann nicht abgebildet werden. Da Geschichte zu Geschichten wird, stellt die Metafiktion die Möglichkeit historischen Wissens in Frage.
Ein weiteres Merkmal ist, daß der Leser als Konstrukt innerhalb des Textes an Bedeutung gewinnt. Er muß an der vom Autor gewollten Rezeption teilnehmen, wird nicht explizit etwas über die Welt erfahren, sondern darüber wie Literatur funktioniert. Abschließend soll die kurze und prägnante Definition von Miriam Sprengler zitiert werden.
"...wenn eine Kommunikationsebene mit dem Leser die Fabel verläßt und zu einem 'Gespräch' mit dem Leser wird, (...) wenn Rezeptions- und Produktionsbedingungen thematisiert werden, (...) wenn ein Kommentar über die eigenen Literarizität nicht in der fiktiven Werkt gefangen bleibt, sondern die Grenze der eigenen Fiktion überschreitet und die Artifizialität des Textes selbstreferenziell darstellt, (...) dann kann man von Metafiktion sprechen".[13]
[...]
[1] Eco, Umberto: Nachschrift zum "Namen der Rose", München, 1986, S. 77
[2] Eco, Umberto: Nachschrift zum "Namen der Rose", München, 1986, S. 79
[3] in Gass, William H.: Fiction and the Figures of Life, New York, 1970
[4] Federman, Raymond: Surfiction, Chicago, 1975
[5] vgl. auch im Folgenden: Waugh, Patricia: Metafiction. The Theory and Practice of Selfconscious Fiction, London/ New York, 1984
[6] siehe S. 3
[7] Imhof, Rüdiger: Contemporary Metafiction, Heidelberg, 1986, S.9
[8] Fowles, John: The French Lieutenant's Woman, London, 1996, S. 98
[9] Imhof, S. 90: "...authors made literature, above all, from literature, not from life ..."
[10] Fielding, Henry: Tom Jones, Berlin/ Weimar, 1964, S. 6: "Eine weitere Ermahnung, die wir dir mitgeben möchten, ..., ist die, keine zu starke Ähnlichkeit zwischen gewissen Personen zu entdecken... . Du mußt wissen, Freund, daß es gewisse Merkmale gibt, in denen die Vertreter eines jeden Standes ... übereinstimmen. Die Fähigkeit diese Merkmale beizubehalten und zugleich ihre Wirkung vielfältig zu gestalten, gehört zu den Talenten eines guten Schrifstellers."
[11] Libera, Antoni. Madame, München, 2002, S. 329: "Die Kunst, die doch Schein war, stand auf der Seite der 'Wahrheit'. Das Leben in Person von Madame, eine Realität, war auf seiten des 'Scheins'. Picasso entblößte, enthüllte, zeigte die Biologie und sagte: 'Ecco Homo.'"
[12] ebenda, S. 146
[13] Sprengler, Miriam: Modernes Erzählen. Metafiktion im deutschsprachigen Raum der Gegenwart, Stuttgart/ Weimar, 1999, S. 107
- Quote paper
- Corinna Hein (Author), 2002, Postmodernes Erzählen. Zu: Antoni Liberas "Madame", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24624
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