Im Jahr 1876 debattierten die Abgeordneten beider Häuser des britischen1 Parlaments über die
Orientalische Frage. Im Folgenden wird der Verlauf der Debatten dargestellt und untersucht,
welche Meinungen von welchen Politikern vertreten wurden und wie sich die Intensität der
Debatte veränderte. Dabei werden die Strategien und Taktiken der Debattierenden aus den
Reihen der Liberalen und der Konservativen betrachtet. Zusätzlich wird das Meinungsbild in
Parlament und Öffentlichkeit analysiert. Die strategische Ausrichtung der englischen
Außenpolitik und das Zusammenspiel von Politik und öffentlicher Meinung werden die
Schwerpunkte der Untersuchung bilden.
Als Quelle dienen hierbei die veröffentlichten Parlamentsprotokolle des Ober- und
Unterhauses2. Da sich die Zusammenhänge nicht allein aus den Debatten ergeben, werden als
weitere Quellen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der Akteure hinzugezogen. Literatur
über die Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen und über den Verlauf der Debatte
über die Orientalische Frage in Presse und Parlament wird zu Rate gezogen3.
Am Anfang der Untersuchung steht ein kurzer Abriss über 1876 in Großbritannien bestehende
politische Verhältnisse und die Machtkonstellation im Unterhaus. Wichtige konservative und
liberale Politiker werden zum besseren Verständnis vorgestellt. Dann folgt die Darstellung der
Debatte während der Sitzungsperiode 1876. Da das parlamentarische Jahr bereits Mitte
August endete, werden die mit dem Thema zusammenhängenden Ereignisse im weiteren
Verlauf des Jahres 1876 kurz dargestellt, um die Bewertung abzurunden. Zum Schluss werden
die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.
1 Im Folgenden werden die Begriffe „England“, „Großbritannien“ und „Vereinigtes Königreich“ mit den
zugehörigen Adjektiven benutzt, wohl wissend, dass „Vereinigtes Königreich“ der genaueste Begriff ist und die
anderen als pars pro toto stehen.
2Hansard, Debates, 1971, Bd. 227-231.
3 In der Hauptsache seien die Werke von Millmann, Seton-Watson, Shannon, Swartz und Vincent genannt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Das politische Umfeld
2.1 Die Verhältnisse im Parlament des Vereinigten Königreichs 1876
2.2 Bedeutende Personen
3. Verlauf der Debatte während der Sitzungsperiode
4. Die Kampagne über die Bulgarischen Massaker
5. Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
Im Jahr 1876 debattierten die Abgeordneten beider Häuser des britischen[1] Parlaments über die Orientalische Frage. Im Folgenden wird der Verlauf der Debatten dargestellt und untersucht, welche Meinungen von welchen Politikern vertreten wurden und wie sich die Intensität der Debatte veränderte. Dabei werden die Strategien und Taktiken der Debattierenden aus den Reihen der Liberalen und der Konservativen betrachtet. Zusätzlich wird das Meinungsbild in Parlament und Öffentlichkeit analysiert. Die strategische Ausrichtung der englischen Außenpolitik und das Zusammenspiel von Politik und öffentlicher Meinung werden die Schwerpunkte der Untersuchung bilden.
Als Quelle dienen hierbei die veröffentlichten Parlamentsprotokolle des Ober- und Unterhauses[2]. Da sich die Zusammenhänge nicht allein aus den Debatten ergeben, werden als weitere Quellen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der Akteure hinzugezogen. Literatur über die Gegensätze zwischen Konservativen und Liberalen und über den Verlauf der Debatte über die Orientalische Frage in Presse und Parlament wird zu Rate gezogen[3].
Am Anfang der Untersuchung steht ein kurzer Abriss über 1876 in Großbritannien bestehende politische Verhältnisse und die Machtkonstellation im Unterhaus. Wichtige konservative und liberale Politiker werden zum besseren Verständnis vorgestellt. Dann folgt die Darstellung der Debatte während der Sitzungsperiode 1876. Da das parlamentarische Jahr bereits Mitte August endete, werden die mit dem Thema zusammenhängenden Ereignisse im weiteren Verlauf des Jahres 1876 kurz dargestellt, um die Bewertung abzurunden. Zum Schluss werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst.
2. Das politische Umfeld
2.1 Die Verhältnisse im Parlament des Vereinigten Königreichs 1876
Im Jahr 1876 standen sich zwei rivalisierende Parteien gegenüber: Konservative und Liberale. Die Konservativen stellten seit ihrem Wahlsieg 1874 die Regierung unter dem Premierminister Benjamin Disraeli. Von 1868 bis 1874 hatten die Liberalen unter William Ewart Gladstone regiert[4]. Beide Parteien befanden sich noch im Entwicklungsprozess hin zu dem, was heute selbstverständlich ist: fest gefügte Organisationen mit Führungsstrukturen und Programmen. Die Konservativen hatten die Mehrheit im Unterhaus und damit die legislative Entscheidungsgewalt unter ihrer Kontrolle. Selbst sehr überzeugende Argumente der Opposition in den parlamentarischen Debatten im Parlament konnten keine Entscheidungen gegen die Mehrheit der Parlamentarier bewirken. Denn die Regierungsfraktion folgt prinzipiell – bei einigen Ausnahmen – der Parteilinie. Wichtig waren die Debatten aber trotzdem, um den politischen Gegner bloß zu stellen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.
2.2 Bedeutende Personen
Gladstone und Disraeli waren über viele Jahre die führenden Köpfe der beiden großen Parteien, der Liberalen und der Konservativen. Beide blickten auf eine lange politische Karriere zurück[5]. Seit 1875 war Gladstone nicht mehr Parteiführer der Liberalen, was mit seiner Wahlniederlage 1874 zusammenhing. Führer der Liberalen waren nun Lord Hartington im Unter- und Lord Granville im Oberhaus. Beide gehörten der politischen Richtung der Whigs innerhalb der Liberalen an und waren grundsätzlich mit der Außenpolitik der konservativen Regierung einverstanden[6]. Doch im Hintergrund bestimmte Gladstone noch immer die Leitlinien der Liberalen Partei. Grundlinien liberaler Außenpolitik waren in seinen Augen die Ablehnung expansionistischer Imperialpolitik, das Bekenntnis zum Pazifismus und eine Prinzipienpolitik mit hohem moralischem Anspruch. Demgegenüber stand Disraeli mit der realpolitischen Betonung des nationalen Interesses als Leitlinie der Außenpolitik[7].
Gladstone erkannte als einer der ersten Politiker die hohe Bedeutung und den Einfluss der Öffentlichkeit mit ihrem Einfluss auf politische Prozesse. Eine weit entwickelte Presse, die Beteiligung eines vergleichsweise großen Teils der Bevölkerung am politischen Leben durch Wahlrecht und die breite Bildung der Mittelschicht waren entscheidende Gründe für das Entstehen des öffentlichen Interesses. Durch die Beeinflussung der Massen mit Reden und Flugschriften schaffte es Gladstone, friedlich außerparlamentarischen Druck auf die Regierung auszuüben[8]. Besonders eindrucksvoll war dabei anscheinend das Charisma des erfahrenen Politikers: „Seine Massenkundgebungen glichen politischen Gottesdiensten […], seine Artikel und Flugschriften gemahnten in ihrem hohen moralischen Anspruch […] an die Botschaften der Evangelikalen“[9].
Anders Disraeli: Der Schriftsteller und Politiker war zwar ebenfalls ein überzeugender und wortgewandter Redner, sprach aber feinsinniger und beschränkte seine Reden auf das institutionelle Feld des Parlaments. Körperlich war der 72-jährige Politiker, für damalige Verhältnisse in hohem Alter, geschwächt[10]. Möglicherweise war auch seine Durchsetzungskraft als Regierungschef durch den schlechten Gesundheitszustand beeinträchtigt.
Eine wichtige Position nahm der englische Botschafter in Konstantinopel, Elliot, ein. Er galt als zu türkenfreundlich und unfähig, sich im Sinne der englischen Regierung ein objektives Bild von der tatsächlichen Lage im Osmanischen Reich zu machen. Er versorgte die britische Regierung verspätet mit Berichten über die Bulgarischen Massaker und brachte sie so in arge Bedrängnis[11]. Sein Vorgesetzter, Außenminister Derby, war einer der Hauptakteure in den Debatten über die Orientalische Frage. Er kam wegen mangelnder Entschlusskraft und emotionaler Instabilität seinen Aufgaben nur unzureichend nach[12], was die Handlungen der Regierung Disraeli ebenfalls beeinträchtigte.
3. Verlauf der Debatte während der Sitzungsperiode 1876
Bereits in der Eröffnungsrede der Königin Victoria am 8. Februar 1876 spielte die Orientalische Frage eine wichtige Rolle: Gleich als erstes Thema sprach sie die Aufstände in Bosnien und der Herzegowina an, die im Vorjahr ausgebrochen waren. Sie erhoffe sich die Befriedung der aufständischen Provinzen und respektiere die Unabhängigkeit des Osmanischen Reichs. Gleichzeitig mahnte sie aber Reformen an, um die ihren Worten nach gerechtfertigten Gründe für die Unzufriedenheit der Christen zu beseitigen[13]. Mit diesen Aussagen lag sie voll auf der zu diesem Zeitpunkt noch unstrittigen Linie der englischen Außenpolitik im Umgang mit dem Osmanischen Reich: Das Osmanische Reich diente England als Bollwerk gegen das Vorrücken des Russischen Reichs. Dabei standen die Interessen Englands in Hinblick auf den Suez Kanal, dessen Anteilsmehrheit man kürzlich erworben hatte, und in Bezug auf die lukrative Kronkolonie Indien im Vordergrund. Der Wille, das Osmanische Reich zu erhalten, war am stärksten im Krimkrieg 1853-56 zu Tage getreten, als England und Frankreich zur Unterstützung der Türken gegen die vordringenden Russen einen Krieg in Kauf genommen hatten.
Am 6. März debattierte das Oberhaus über die Andrassy-Note und den weiteren Umgang mit dem Osmanischen Reich[14]. Lord Campbell drückte in seinem Redebeitrag Misstrauen gegenüber dem Russischen Reich aus. Er betonte, dass Russland keine Macht über die Meerengen am Bosporus haben dürfe[15] - was der Überzeugung der politischen Führung Englands entsprach. Außenminister Derby betonte im Folgenden, dass die Englische Regierung keinen Einfluss auf die Formulierung des Textes der Andrássy-Note gehabt habe[16]. Vielmehr sei die Regierung vor die Wahl gestellt worden, den vorgefertigten Text zu unterschreiben oder sich davon zu distanzieren. Der Aufforderung der Großmächte an das Osmanische Reich, Reformen zur Neuordnung des Steuersystems und zur Besserstellung der Christen durchzuführen, schloss sich England an. Doch das Berliner Memorandum der drei Kaiserhöfe, mit neuen Forderungen nach Reformen im Osmanischen Reich wenige Monate später, war die Englische Regierung nicht mehr zu unterschreiben bereit, weil sie sich in der Entstehungsphase dieses Dokuments übergangen fühlte. Grundsätzliche strategische Fragen oder gar ein Paradigmenwechsel wurden in der Debatte über die aktuellen politischen Veränderungen nicht geführt. Anfang Juni glaubte die Regierung Disraeli durch die bisherige Orient- und Balkanpolitik die eigene Position gestärkt und den Dreikaiserbund geschwächt zu haben[17]. Debatten über die Ermordung der Konsuln in Saloniki, die Forderungen nach einer Konferenz in Berlin zur Beendigung der Aufstände in Bosnien und Herzegowina und über das Berliner Memorandum waren wenig ergiebig, eher alltäglich und leidenschaftslos[18].
[...]
[1] Im Folgenden werden die Begriffe „England“, „Großbritannien“ und „Vereinigtes Königreich“ mit den zugehörigen Adjektiven benutzt, wohl wissend, dass „Vereinigtes Königreich“ der genaueste Begriff ist und die anderen als pars pro toto stehen.
[2] Hansard, Debates, 1971, Bd. 227-231.
[3] In der Hauptsache seien die Werke von Millmann, Seton-Watson, Shannon, Swartz und Vincent genannt.
[4] Vgl. Wende, Geschichte, 246-248.
[5] Gladstone war seit 1832 fast ununterbrochen politisch tätig, Disraeli war nach der Spaltung 1846 zum zentralen politischen Akteur der Konservativen aufgestiegen. Vgl. Wende, Geschichte, 249-251.
[6] Vgl. Swartz, politics, 31.
[7] Vgl. Wende, Geschichte, 253.
[8] Vgl. Wende, Geschichte, 251.
[9] Wende, Geschichte, 251.
[10] Vgl. Swartz, politics, 36.
[11] Vgl. Swartz, politics, 33.
[12] Vgl. Swartz, politics, 33.
[13] Vgl. Hansard, Debates, Bd. 227, 4.
[14] Vgl. Hansard, Debates, Bd. 227, 1405-1412.
[15] Vgl. Hansard, Debates, Bd. 227, 1407.
[16] Vgl. Hansard, Debates, Bd. 227, 1410.
[17] Vgl. Swartz, politics, 35-36.
[18] Z. B. am 22. Mai (vgl. Hansard, Debates, Bd. 229, 1000-1001) oder am 1. Juni 1876 (vgl. Hansard, Debates, Bd. 229, 1510-1513).
- Quote paper
- Philipp Heinz (Author), 2003, Die Debatten des englischen Parlaments über die Orientalische Frage 1876, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24584
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