El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, zu deutsch, ‘der scharfsinnige edle Herr Don Quijote de la Mancha’ von Miguel de Cervantes Saavedra gilt als eines der berühmtesten und der am häufigsten rezipierten Werke der spanischen Literatur sowie der Weltliteratur 1 . Don Quijote sticht in den Curricula der Universitäten hervor und sorgt aufgrund seines Reichtums an struktureller, soziokultureller, literarischer und sprachlicher Vielfalt für zahlreiche Diskussionen und Forschungen auf internationaler Ebene.
In Cervantes Werken und besonders im Don Quijote spielt zum einen die Auseinandersetzung mit typischen Thematiken einer Literaturepoche, wie zum Beispiel die des „engaño - desengaño“ im Barock, eine wichtige Rolle. Ebenso stellt die Beurteilung von Verhaltensmodellen unter Berücksichtigung von Verhaltensspiegeln, die für den Ritter und den Knappen im Mittelalter aufgestellt wurden, eine inhaltliche Besonderheit dar. Zum anderen ist die Verknüpfung der Merkmale verschiedener literarischer Gattungen in ein und demselben Werk ein strukturelles Phänomen in seinen Werken: Cervantes hebt die Struktur der jeweiligen Gattungskonzepte auf und vermischt einzelne Elemente der Novelle, des Schelmen-, des Ritter- und des Schäferromans miteinander. Welche Elemente des Schelmenromans dabei im Quijote existent bleiben, soll anhand folgender Vorgehensweise in dieser Hausarbeit erarbeitet werden: Das Kapitel 2.1 beschreibt die Entstehungsgeschichte der novela picaresca. Das Kapitel 2.2 untersucht die Etymologie des Wortes pícaro anhand der Hypothesen von drei Autoren. Im Kapitel 2.3 werden die typischen Merkmale eines Schelmenromans zusammengestellt. Der Typus, die Funktion des Protagonisten, sowie das Verhältnis zwischen Herr und Knecht im Schelmenroman werden anhand von drei ausgewählten pikaresken Romanen ermittelt 2 . Die umfangreiche Darstellung dient als Grundlage für die Analyse der Hauptfragestellung dieser Arbeit, die da lautet: In wie weit besteht im Don Quijote ein Bezug zum Schelmenroman? So beschäftigt sich das dritte Kapitel mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen einem Schelmenroman und dem Quijote, wobei insbesondere das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht bzw. Knappen untersucht wird.
Inhalt
1. Einleitung
2. Der Schelmenroman
2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Schelmenromans
2.2 Etymologische Begriffsbestimmung
2.2.1 Das Wort „pícaro“
2.2.2 Das Wort „Schelm“
2.3 Merkmale und Strukturen des Pikaresken Romans
2.3.1 Pseudoautobiographischer Erzählcharakter
2.3.2 Episodenförmiger Aufbau und offener Schluss der Handlung
2.3.3 Typische Themen, Schauplätze und Figuren
2.3.4 Der schelmische Typus
2.3.4.1 El Lazarillo de Tormes
2.3.4.2 El Guzmán de Alfarache
2.3.4.3 El Buscón
2.3.5 Funktion des Schelms
2.3.6 Das Verhältnis zwischen Herr und Knecht im pikaresken Roman
2.3.6.1 im Lazarillo de Tormes
2.3.6.2 im Guzmán de Alfarache
2.3.6.3 im Buscón
3. Bezüge zum Schelmenroman im Don Quijote
3.1 Vergleich der Merkmale und Strukturen des Quijote mit denen des Schelmenromans
3.2 Verhältnis zwischen Herr und Knappe
3.2.1 Erziehung und Funktion des Knappen im Mittelalter im Vergleich zum literarischen Knappen im Don Quijote
3.2.2 Die Stellung von Herrn und Knappen im Don Quijote und im Schelmenroman – ein Vergleich
3.2.3 Die gegenseitige Beeinflussung von Don Quijote und Sancho Panza
4. Fazit
5. Bibliographie
1. Einleitung
El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha, zu deutsch, ‘der scharfsinnige edle Herr Don Quijote de la Mancha’ von Miguel de Cervantes Saavedra gilt als eines der berühmtesten und der am häufigsten rezipierten Werke der spanischen Literatur sowie der Weltliteratur[1]. Don Quijote sticht in den Curricula der Universitäten hervor und sorgt aufgrund seines Reichtums an struktureller, soziokultureller, literarischer und sprachlicher Vielfalt für zahlreiche Diskussionen und Forschungen auf internationaler Ebene.
In Cervantes Werken und besonders im Don Quijote spielt zum einen die Auseinandersetzung mit typischen Thematiken einer Literaturepoche, wie zum Beispiel die des „engaño – desengaño“ im Barock, eine wichtige Rolle. Ebenso stellt die Beurteilung von Verhaltensmodellen unter Berücksichtigung von Verhaltensspiegeln, die für den Ritter und den Knappen im Mittelalter aufgestellt wurden, eine inhaltliche Besonderheit dar. Zum anderen ist die Verknüpfung der Merkmale verschiedener literarischer Gattungen in ein und demselben Werk ein strukturelles Phänomen in seinen Werken: Cervantes hebt die Struktur der jeweiligen Gattungskonzepte auf und vermischt einzelne Elemente der Novelle, des Schelmen-, des Ritter- und des Schäferromans miteinander. Welche Elemente des Schelmenromans dabei im Quijote existent bleiben, soll anhand folgender Vorgehensweise in dieser Hausarbeit erarbeitet werden: Das Kapitel 2.1 beschreibt die Entstehungsgeschichte der novela picaresca. Das Kapitel 2.2 untersucht die Etymologie des Wortes pícaro anhand der Hypothesen von drei Autoren. Im Kapitel 2.3 werden die typischen Merkmale eines Schelmenromans zusammengestellt. Der Typus, die Funktion des Protagonisten, sowie das Verhältnis zwischen Herr und Knecht im Schelmenroman werden anhand von drei ausgewählten pikaresken Romanen ermittelt[2]. Die umfangreiche Darstellung dient als Grundlage für die Analyse der Hauptfragestellung dieser Arbeit, die da lautet: In wie weit besteht im Don Quijote ein Bezug zum Schelmenroman? So beschäftigt sich das dritte Kapitel mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen einem Schelmenroman und dem Quijote, wobei insbesondere das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht bzw. Knappen untersucht wird. Ein Beitrag zur Erziehung und Funktion des Knappen im Mittelalter im Vergleich zur Erziehung und Funktion des literarischen Knappen im Don Quijote wird vorangestellt, um festzustellen, ob im Don Quijote eine realitätsnahe Schilderung der Ereignisse im Leben des Pikaro, wie sie im klassischen Schelmenroman zu Tage tritt, präsent ist.
In einem abschließenden Kommentar werden die Ergebnisse der Hausarbeit zusammengefasst und evaluiert.
2. Der Schelmenroman
2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Schelmenromans
Mit der Veröffentlichung des Werkes La vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades, von einem anonymen Autor, im Jahre 1554 in Spanien verfasst, beginnt die Entwicklung des europäischen Schelmenromans. Zu diesem Zeitpunkt existieren jedoch bereits ältere epische Texte in der chinesischen, arabischen und römischen Literatur. Sie weisen ähnliche Merkmale auf, wie sie im ersten Schelmenroman der spanischen Literatur enthalten sind. Eine wichtige Frage ist demzufolge, wie der Lazarillo de Tormes entstanden ist, bzw. an welchen Vorbildern der Literatur er sich orientiert.[3]
Als einer der Vorläufer des Schelmenromans gilt das im Jahr 55 nach Christus verfasste Satyricon von Petronius, welches „eine episodische Reihung der Abenteuer“ enthält. Diese Struktur selbständiger Episoden entsteht dadurch, dass die Hauptfigur, der Diener, sein Dienstverhältnis aufgrund schlechter Behandlung durch den Herrn stetig abbrechen muss und zu einem anderen Herrn geht. Diese episodische Struktur wird später vom europäischen Schelmenroman, dem zur Folge auch vom Autor des Lazarillo de Tormes, übernommen.[4]
Als ein weiterer Vorläufer kann das im Jahr 170 nach Christus entstandene Werk Metamorphosen oder Der goldene Esel von Lucius Apuleius aufgefasst werden. Der Ich-Erzähler dieses Werkes wird auf Grund eines missglückten Zaubers in einen Esel verwandelt. Aus dieser verfremdeten Perspektive berichtet er als Esel mit menschlichem Denkvermögen und Empfinden von seinem Dienst unter wechselnden Herren. Diese „pseudoautobiographische[5] Form“ des Erzählens stellt später auch ein Stilelement des Schelmenromans dar.[6]
Am Ende des Werkes verwandelt sich der Ich-Erzähler wieder in einen Menschen und lässt sich zum Priester weihen. Dieses entspricht wiederum dem „Erweckungserlebnis“ des Protagonisten im Schelmenroman.[7]
Lucius Apuleius’ Werk umfasst somit eine Reihe pikaresker Elemente, wie sie später im europäischen Schelmenroman wieder zu finden sind, nämlich eine pseudoautobiographische Erzählperspektive, der Dienst des Protagonisten unter wechselnden Herren, der verfremdete Blickwinkel auf das Geschehen und das „Erweckungserlebnis“ des Schelms.
Als direkten Vorreiter des spanischen Schelmenromans sieht König das komisch-burleske Versepos aus Italien, das später nach Spanien gelangt.[8] Luigi Pulci verfasst zu Zeiten der italienischen Renaissance, die zeitlich gesehen vor der spanischen Renaissance einsetzt, ein Epos mit dem Titel Morgante, das nach folgendem Grundmuster aufgebaut ist: Zwei seltsame Gestalten – ein Ritter, der sich als Riese namens „Morgante“ versteht und ein Galgenvogel namens „Margutte“ – begeben sich als Diener und Herr auf eine Reise. Sie leiden stetig an Hunger und Durst, gelangen aber dank der List des Dieners und Stärke des Herrn immer gerade rechtzeitig an Lebensmittel. Trotz des doch relativ guten Verhältnisses zwischen den beiden Figuren kommt es regelmäßig zu Auseinandersetzungen zwischen Diener und Herr, wobei der Herr trotz aller Gewitztheit des Dieners stetig den Diener leer ausgehen lässt.[9]
Neben der episodenhaften Struktur und dem Erzählen in der Ich-Form steht in diesem Epos besonders das Thema der ewigen Existenznot, sowie Hunger und Durst im Vordergrund; ein Aspekt der ebenfalls ein typisches Merkmal des heutigen Schelmenromans darstellt, weshalb König unter anderem dieses Epos als direkten Vorreiter des spanischen Schelmenromans erkennt.[10]
2.2 Etymologische Begriffsbestimmung
2.2.1 Das Wort „pícaro“
Wie der Name Schelmenroman ‛novela picaresca’ schon sagt, stellt der Schelm ‛pícaro’ den Protagonisten dieser Romandichtung dar. Aus diesem Grund ist es für das weitere Vorgehen von Bedeutung sich mit den etymologischen Ursprüngen dieses Wortes zu beschäftigen.
Versuche, das Rätsel der Herkunft dieses Wortes zu lösen, sind nicht gerade wenige unternommen worden. Aus diesem Grund beschränkt sich dieses Kapitel auf die drei wesentlichsten und anerkanntesten Hypothesen der Autoren, die sich mit diesem Thema befasst haben.
Eine der ältesten Interpretationen über den Ursprung des Wortes ‛pícaro’ stammt von Covarrubias[11]. Er sucht die Wurzeln des pícaro in dem lateinischen Ausdruck pica ‛Lanze’. In der Antike trugen Sklaven die Lanze ihrer Herren und wurden so laut Covarrubias nach dem benannt, was sie taten. Aus dem Wort pica entwickelte sich der Ausdruck pícaro ‛Lanzenträger’. Ein pícaro sei dem nach ein „bemitleidenswerter, der Verachtung preisgegebener Gefangener“[12].
Eine andere Theorie stammt von Corominas[13]. Er stellt fest, dass die Wurzel dieses Wortes noch im Unklaren liege, eine Abstammung vom Verb picar ‛stechen’, ‛beißen’, ‛anfassen’, ‛spornen’, ‛die Sporen geben’, ‛in kleine Stücke schneiden’, ‛verfolgen’, etc., mit der Beeinflussung durch das französische picard ‛Picardie’[14] jedoch wahrscheinlich sei. Somit verstehe man einen pícaro als eine Person, die die verschiedenen im Verb picar enthaltenen Aktivitäten auszuführen pflege. Als Beispiele nennt Corominas den pinche de cocina ‛Küchenjunge’ und den picador de toros ‛Pikador’.
Ein etwas neuerer Ansatz stammt von Best[15]. In seiner Theorie einer etymologischen Begriffsbestimmung von pícaro geht er davon aus, dass sich das Wort aus einer Synergie von Begriffspaaren entwickelt hat: Ausgangspunkt bildet das hebräische Wortpaar peger ‛niederträchtig’, ‛spitzbübisch’ und pag’ra ‛Leichnam’, ‛Aas’, ‛Müßiggang’; von hier aus erfolgt die Weiterentwicklung über das Jiddische und Jüdisch-Italienische, das heute ausgestorben ist, bis ins Italienische zum bikaro, später beccáro ‛Schlächter’ und von dort ins Spanische zum becaro, danach zum bicaro und zum pícaro ‛Schelm’.[16]
Der tatsächliche Ursprung dieses Wortes ist also immer noch nicht eindeutig belegt. Bekannt ist nur seine Bedeutung: Ein pícaro bezeichnet einen Taugenichts, Tagedieb oder Vagabunden, der sich durch seine persönliche Gewitztheit und Geschicklichkeit ohne Anbindung an ein familiäres Umfeld durch sein Leben mogelt.[17] Außerdem wird das Wort ‛pícaro’ seit 1945 als Subjekt für die Bezeichnung von schrägen, unartigen und närrischen Personen verwendet, wie zum Beispiel dem Hofnarren ‛pícaro de la Corte’.[18]
2.2.2 Das Wort „Schelm“
Das spanische Wort pícaro wird im Deutschen stets mit Schelm übersetzt. Und die novela picaresca, die, wie bereits erwähnt, zuerst in Spanien entstanden ist, wird mit ‛Schelmenroman’ übersetzt. Wie kam es zu diesem Phänomen? Dieser Frage soll anhand von Untersuchungen nach Best 1966 nachgegangen werden.
Vergleicht man laut Best die Etymologie von pícaro mit der des Wortes Schelm stößt man auf eine ähnliche Entwicklung: Auch im Deutschen entsteht der Begriff Schelm (Neuhochdeutsch) durch eine Synergie des Wortpaares scelmo und skelmo (Althochdeutsch) und entwickelt sich im Mittelhochdeutschen zu schalme ‛Tod’, ‛Pest’, ‛Viehseuche’, ‛Aas’, ‛Leichnam’, ‛gefallenes Stück Vieh’ und zu schelm(e) ‛Bösewicht’, ‛durchtriebener Kerl’. Es handle sich folglich bei pícaro und Schelm um „Parallelbildungen“, wobei in den verschiedenen Sprachen gleiche Wortbedeutungen ‛Aas’, ‛fauler niederträchtiger Kerl’ zusammenflossen und aus diesem Grund habe die novela picaresca in Deutschland mit dem Schelmenroman ihr Bedeutungsäquivalent gefunden.[19]
2.3 Merkmale und Strukturen des Pikaresken Romans
2.3.1 Pseudoautobiographischer Erzählcharakter
Zu den wesentlichen Kennzeichen des Schelmenromans zählt der autobiographische Erzählcharakter. Der Protagonist – ein Außenseiter mit kriminellen Neigungen – schildert sein Leben als Ich-Erzähler. Dabei werden dem Leser nur die Vorkommnisse mitgeteilt, die aus der Sicht des Protagonisten für seine Entwicklung relevant sind. Die Ereignisse werden möglichst realitätsnah beschrieben, aber es kann nicht davon ausgegangen werden, dass es sich um inhaltlich vollständig authentische und wahre Begebenheiten handelt, da der Protagonist auf Sensationalität seiner Schilderungen pocht. Aus diesem Grund spricht man auch von einem pseudoautobiographischen Erzählcharakter.[20]
Als Ich-Erzähler berichtet der Protagonist weitgehend aus auktorialer Erzähl-perspektive. Das bedeutet, dass er zwar in der ersten Person Singular erzählt, dem Leser aber eine persönliche Allwissenheit als sich erinnerndes Ich vermittelt. Das heißt, „der Erzähler hat die Möglichkeit, sich vom Erzählten aus der Erinnerung heraus zu distanzieren“[21]. So spricht Guillén[22] von einem Ich-Erzähler mit auktorialer Perspektive als typisches Kennzeichen für den Schelmenroman.
2.3.2 Episodenförmiger Aufbau und offener Schluss der Handlung
Der Schelmenroman ist ein Episodenroman: Er besteht aus vielen verschiedenen, von einander weitgehend unabhängigen, somit austauschbaren, Episoden, die allein durch das wiederkehrende Auftreten des Protagonisten (bei wechselnden Sekundärfiguren) verbunden werden. Die Episoden ergeben sich durch die Begebenheit, dass der pícaro als Diener vieler Herren sein Dienstverhältnis stetig wechselt und so in die verschiedenen Klassen der spanischen Gesellschaft Einsicht erlangt. Dabei hat er reichlich Gelegenheit seine Herren und deren Stand satirisch und ironisch zu verspotten und bloßzustellen.[23]
Als pícaro durchläuft der Protagonist ein Leben voller Höhen und Tiefen, das einem Gaunerdasein ähnelt. Ziel seiner spitzbübischen Bemühungen ist dabei stets die materielle Absicherung seiner Existenz. Als Reue soll er allerdings auch immer aus seinen schelmischen Taten lernen, die dem Roman einen gewissen Grad an Moralität zusteuern: Für sein Stehlen wird der Schelm bestraft. Er wechselt folglich seine Herren, flieht oder erhält eine Galeeren- oder Gefängnisstrafe. Zudem verwährt ihm seine niedrige Herkunft (unterer Rand des Bauernstandes) den Aufstieg in gesicherte soziale Positionen. Aufgrund dieser Tatsachen kann es am Schluss des Schelmenromans zu keinem Happy End kommen und der endgültige Ausgang der Handlung bleibt offen.[24]
2.3.3 Typische themen, Schauplätze und Figuren
Im Gegensatz zu den Romanformen, die zeitgeschichtlich gesehen vor der novela picaresca geschrieben wurden (z. B.: novela morisca, novela bizantina), ist die Welt des Schelmenromans nicht mehr realitätsfern und märchenhaft, sondern eine, die aktuelle Themen der Zeit wie Hunger, Elend, Arbeitslosigkeit, Geld, Korruption, etc. behandelt. Die Schauplätze sind nicht mehr der locus amoenus[25], sondern Straßen, Plätze und Häfen. Es handelt sich also um einen Stadtroman, genauer Gassen- und Gossenroman, mit Madrid und Sevilla als Hauptschauplätzen.
Typische Figuren des Schelmenromans sind Vertreter der drei Ständegesellschaft Spaniens im Mittelalter: Prostituierte, Bettler, Bauern, der Klerus und die Adligen. Kurz: die novela picaresca spiegelt die Gesellschaft Spaniens kurz vor dem Zerfall der gesellschaftlichen Ordnung, besonders an ihrem unteren Rand, wieder.[26]
2.3.4 Der schelmische Typus
So facettenreich und vielfältig die Struktur und die Themen des Schelmenromans auch sind, so komplex und mannigfaltig präsentiert sich die Figur des Schelms. Als zentrale Figur strukturiert der Schelm den Roman und bestimmt seine Dramaturgie, er steht im Mittelpunkt des Geschehens und beeinflusst es. Aus diesem Grund ist eine Untersuchung des Protagonisten des Schelmenromans an dieser Stelle für den weiteren Verlauf der Hausarbeit unbedingt erforderlich.
Im Wesentlichen sind drei verschiedene Typen des Pikaros im Schelmenroman zu erkennen, die sich am besten anhand der Schelme im Lazarillo de Tormes, im Buscón und im Guzmán de Alfarache beschreiben lassen.
2.3.4.1 El Lazarillo de Tormes
Der Lazarillo de Tormes erschien im Jahre 1554, zur Zeit des Siglo de Oro, in drei verschiedenen Ausgaben, jeweils ohne Nennung eines Verfassernamens. Weshalb der Verfasser seinen Namen anonym halten wollte, ist bis heute unklar. Möglicherweise hatte er Angst vor der Zensur, denn 1559 wird der Roman auf den Index gesetzt und erscheint in Spanien nur noch in gereinigter Form als El Lazarillo castigado (1573).[27]
Zentrale Begriffe des Romans sind „honra“, „fama“ und „limpieza de sangre“, was zu Beginn, in der Mitte und am Schluss des Romans ersichtlich wird[28]: Der Protagonist, Lázaro, wird als Sohn eines sehr armen und diebischen Müllers und einer Frau, die es mit der Ehre und Reinheit des Blutes nicht sehr genau nimmt, in der Nähe des Flusses Tormes geboren. Da seine Eltern aufgrund ihrer Armut ihren Sohn nicht ernähren und erziehen können, gelangt er schon in seiner frühen Kindheit in die Hände verschiedener Herren, die als Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Schichten Spaniens im Mittelalter gelten, bei denen sich Lázaro stets am Existenzminimum bewegt und durch persönliche Gewitztheit sein Überleben gewährleistet. Gegen Ende des Romans heiratet Lazarillo. Seine Ehe verläuft allerdings nicht sehr glücklich, wodurch er wiederum an Ehre und Ruhm, die er sich scheinbar bis zu diesem Zeitpunkt aufgebaut hatte, verliert.[29]
Im Roman selbst wird Lazarillo noch nicht als pícaro bezeichnet. Sein Verhalten und seine Taten, auf die im Kapitel 2.3.6.1 noch näher eingegangen werden soll, schreiben ihm jedoch den Titel des pícaro zu: Lázaro ist ein Antiheld nichtadliger Herkunft, der sich stets von seinen Herren schlecht behandelt fühlt; sie geben ihm kaum zu Essen und entlohnen ihn nicht gerecht. So rächt er sich an seinen Herren, bestiehlt sie oder lässt sie mit ihren Problemen allein zurück. Lázaro verhält sich wie ein Rebell, ein Aufständischer, der sich gegen seinen Herren auflehnt, um für sein eigenes Recht zu kämpfen.[30]
2.3.4.2 El Guzmán de Alfarache
Der Guzmán de Alfarache von Matteo Alemán gilt aufgrund seines Inhalts und seiner Strukturen als das typischste Beispiel eines Schelmenromans. 1599 erschien der erste und 1604 der zweite Band dieses umfassenden Werkes.
Auch hier stammt der pícaro, der diesmal auch tatsächlich als solcher benannt wird, aus ärmlichen und ungeordneten Verhältnissen, so dass er eines Tages von zu Hause fortläuft und durch Spanien reist, um bei verschiedenen Herren aus verschiedenen Schichten zu arbeiten. Der wichtigste strukturelle Unterschied zum Lazarillo ist die „Moralisierung“ in diesem Schelmenroman, die eine deutliche Veränderung des Schelmentypus nach sich zieht. Der Protagonist erfährt laut Neuschäfer eine Veränderung in seiner „Schelm-Entwicklung“. Von einem „sündigen Ich“ wird er zu einem „bereuenden Ich“; von einem „sich unterwegs befindlichen Ich“ wird er zu einem „ankommenden Ich“: Als Sünder auf dem Weg vom einen zum nächsten Herren, wird er eines Tages als Sträfling auf die Galeeren verbannt. Nun voller Reue beschließt er fortan ein gottgefälliges Leben zu führen. Dem Leser soll von Anfang an klar sein, dass das Verhalten des pícaro ein schlechtes ist, wofür jeder Mensch, der sich wie ein Pikaro verhalten würde, früher oder später bestraft wird und zur Reue und Verantwortung gezogen wird. Durch die Fülle an moralischen Beobachtungen im Lebensweg des Pikaros, den theologischen Kommentaren und lebenspraktischen Ratschlägen findet der Leser gewiss keinen Gefallen mehr am Gaunerleben. Ursache für das Vorhandensein von zahlreichen moralisierenden Elementen im Roman trägt möglicherweise die Zensur, die zu dieser Zeit besonders stark vorherrschte.[31]
Als weiterer Unterschied zum Lazarillo ist zu nennen, dass zwischen den Dienstverhältnissen im Guzmán eine längere Periode der Freiheit zu verzeichnen ist. Nur in diesen Abschnitten ist Guzmán tatsächlich das, was einen pícaro ausmacht – ein Spieler, Bettler oder Dieb. Diese Phasen nehmen den größten Platz im Roman ein.[32]
Der Typus des Guzmán lässt sich demnach wie folgt bestimmen: Im Dienst sieht er sich als einen Gefangenen nach Freiheit strebenden pícaro. In der Freiheit – seinem tatsächlichen Pikarodasein – kommt er einem Vagabunden, kriminellen Bettler, Spieler und Dieb gleich. Aufgrund der moralisierenden Elemente in diesem Schelmenroman ist der pícaro stets ein Reuesuchender. Ansätze zur Revolte oder Rache gibt es beim Guzmán nicht.
2.3.4.3 El Buscón
Der Buscón von Francisco de Quevedo erschien im Jahre 1626. Er weist noch recht viele Merkmale des Schelmenromans auf, ist aber eher atypisch für die Gattung des Schelmenromans, da die pikareske Haltung, die zwar noch auszumachen ist, nicht mehr als die Hauptsache des Romans gilt. Der Roman eignet sich aber dennoch zur Charakterisierung des schelmischen Typus im pikaresken Roman und wurde deshalb an dieser Stelle als dritter Roman ausgewählt.[33]
Pablos, der Protagonist, stammt aus Sevilla, ist Neuchrist und zeichnet sich weniger durch Dieberei, wie die Schelme seiner Vorgängerromane, als durch Hochstapelei aus. Er erstrebt wie seine Vorgänger den Aufstieg in höhere Kreise (nicht aber die materielle Absicherung), wobei er kläglich scheitert, weil sein Herr ihm einen „Strich durch die Rechnung“ macht.
Wichtiger und auffälliger als die Handlung erscheint im Buscón die Sprache: konzeptische Wortspiele anstatt realistische Beschreibungstechnik sorgen für ein hohes Maß an Interpretationsvermögen des quevedianischen Schreibstils (zum Beispiel steht das Wort „cardinal“ nicht nur für den Stand des Klerus, sondern auch für rote Striemen, die dem Pikaro durch seinen Herren zugefügt wurden).[34]
Auch in diesem Roman stammt der Protagonist aus der unteren Schicht und wird im Roman als pícaro bezeichnet. Im Unterschied zu den ersten beiden Schelmenromanen hinterfragt die Hauptfigur allerdings seine Herkunft, die ihm anscheinend für die Erreichung seiner persönlichen Ziele im Wege steht: er wird für seine Herkunft stetig von der Gesellschaft verspottet. So muss der pícaro seine Herkunft und seine Probleme vor der Gesellschaft verstecken.
Nichtsdestotrotz ist auch der pícaro diese Romans ein Dieb, der seine Mitmenschen bestiehlt. Die Dieberei dient allerdings nicht der Schaffung einer Existenzgrundlage, sondern vielmehr der zur Schaustellung der Künste des pícaro, um Amüsement bei seinen Freunden zu bezwecken.
Der Schelm im Buscón ist folglich ein von der Gesellschaft verspotteter pícaro, der das Pikarodasein dazu verwendet, sein Umfeld zu belustigen, um auf diese Art und Weise auf der sozialen Leiter nach oben zu steigen.[35]
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die drei wesentlichen Typen des Pikaro einen „Rebell“, einen moralischen Held“ oder einen „pikaresken Held“ ausmachen. Ob ein derartiger Pikaro im Don Quijote vertreten ist, auf diese Frage wird später, im Kapitel 3.1 der Arbeit, eingegangen.
2.3.5 Funktion des Schelms
So wichtig wie die Bestimmung des Typus des Schelms, so notwendig ist es auch, seine Funktion im Roman zu ermitteln, um den Inhalt und die Struktur des Schelmenromans überhaupt verstehen zu können. In diesem Kapitel soll allerdings nur auf die literaturästhetische Funktion des Schelms eingegangen werden; das heißt, handelt es sich beim Schelm um eine „künstlich erschaffene“ Figur oder um einen Menschen, der tatsächlich auf der Erde lebt?
Eine differenzierte Darstellung dieses Sachverhaltes bietet Umberto ECO[36], wenn er von der „intellektuellen Physiognomie“ der Romanfigur spricht. Gemeint ist damit eine literarische Figur, die Verhaltensweisen der Gesellschaft verkörpert und dadurch eine Identifikation mit der Romanfigur zulässt. So verkörpere der Schelm einen konkreten gesellschaftlichen Menschen, der als Romanfigur die Welt und das Weltverständnis widerspiegelt. Für ECOS ist eine Figur also nur dann „real“ und „echt“, wenn sich der Leser mit ihr identifizieren kann.[37]
Eine andere Sichtweise bietet Sklovskij[38], ein Vertreter des russischen Formalismus. Für ihn muss eine literarische Figur nicht real und glaubwürdig sein. Sie diene lediglich der ästhetischen Absicht des Autors. Dabei könne die Figur natürlich Muster menschlicher Verhaltensweisen verkörpern; die Figuren sollten allerdings nur als Modell und nicht als reales Individuum gesehen werden.[39]
[...]
[1] Thomas Mann bezeichnet den Don Quijote in seiner Meerfahrt mit, Don Quijote als ein „Volks- und Menschheitsbuch“. Heinrich Heine benennt den Roman als einen der „besten der Weltliteratur, neben Werken von Goethe und Shakespeare“, vgl. Horst, E., “Meine Freunde – Don Quijote und Sancho Panza”, in: Neue Deutsche Hefte 34 (3 (195)), 1987, S. 500.
[2] Vertreter: El Lazarillo de Tormes (anonym), El Buscón (Francisco de Quevedo), El Guzmán de Alfarache (Matteo Alemán).
[3] König, B., „Margutte-Cingar-Lázaro, Guzmán. Zur Genealogie des pícaro und der novela picaresca“, in: Romanistisches Jahrbuch 32, 1981, S. 289.
[4] Kruse, M., „Die parodistischen Elemente im ‛Lazarillo de Tormes’“, in: Romanistisches Jahrbuch 10, 1959, S. 301.
[5] „pseudoautobiographisch“ deshalb, weil man nicht davon ausgehen kann, dass der Held die Wahrheit erzählt, da der Leser nur seine Erzählperspektive wahrnehmen kann.
[6] Kruse, M., „Die parodistischen Elemente im ‛Lazarillo de Tormes’“, S. 300-301.
[7] Ebda., S. 302.
[8] König, B, „Margutte-Cingar-Lázaro, Guzmán. Zur Genealogie des pícaro und der novela picaresca“, S. 289.
[9] Ebda., S. 292.
[10] Ebda., S. 289 und S. 292.
[11] Sebastián de Covarrubias Horozco, Tesoro de la Lengua Castellana o Española, 1611.
[12] Best, O., „Zur Etymologie von ‛pícaro’“, in: Die Neueren Sprachen, 1966, S. 197.
[13] Corominas, J., Diccionario Crítico Etimológico de la Lengua Castellana, Bern, 1954.
[14] Hinter dem Ausdruck „Picardie“ verbirgt sich ein Dialekt und/ oder eine Region in Frankreich.
[15] Best, O., „Zur Etymologie von ‛pícaro’“.
[16] Ebda., S. 200-203.
[17] Ebda., S. 197.
[18] Ebda., S. 198.
[19] Ebda., S. 203.
[20] Jacobs, J., Der Weg des Pícaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. WVT, Trier, 1998, S.1.
[21] Strosetzki, Chr., Geschichte der spanischen Literatur, Niemeyer, Tübingen, 1996, S. 107.
[22] Guillén, G., “Zur Frage der Begriffsbestimmung des Pikaresken”, in: Heidenreich, H., Pikarische Welt, Darmstadt, 1969, S. 375-396.
[23] Neuschäfer, H.-J. (Ed.), Spanische Literaturgeschichte, Metzler, Stuttgart, 1997, S. 134.
[24] Ebda., S. 134-135.
[25] Unter einem locus amoenus (lat.) versteht man einen Ort mit einem Ambiente des ewigen Frühlings. Der Protagonist befindet sich in einer Landschaft mit Bäumen, Flüssen, Quellen, Sträuchern, Vögeln usw. Ein Ambiente wie es in den Schäferromanen beschrieben wird.
[26] Neuschäfer, H.-J. (Ed.), Spanische Literaturgeschichte, S. 133.
[27] Ebda., S. 135.
[28] Ebda., S. 135-136.
[29] Strosetzki, Chr., Geschichte der spanischen Literatur, S. 108.
[30] Rauhut, H.: Herr und Knecht in der spanischen Literatur, Dissertation, München, 1971, S. 118-161.
[31] Neuschäfer, H.-J. (Ed.), Spanische Literaturgeschichte, S. 137-138.
[32] Ebda., S. 137-138.
[33] Ebda., S. 138.
[34] Ebda., S. 139.
[35] Ebda., S. 139-140.
[36] Eco, U., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main, 1986.
[37] Ebda., S. 171.
[38] Sklovskij, V., Theorie der Prosa, Frankfurt am Main, 1966.
[39] Ebda., S. 216.
- Quote paper
- Melanie Blümel (Author), 2003, Don Quijote und Sancho Panza vor dem Hintergrund des Schelmenromans, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24562
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