Die zentrale Frage der Arbeit ist bereits im Titel formuliert: es soll um zwei unterschiedliche
Lesarten einer Systemtheorie der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft gehen – eine kritische
und eine zustimmende Variante. Das erscheint zumindest auf den ersten Blick. Bevor es um
die Feinheiten und Einzelheiten der Theorie gehen soll und wie diese im Zusammenhang interpretiert
werden können, müssen zunächst grundsätzliche Fragen im Mittelpunkt stehen:
Was qualifiziert eine Systemtheorie zu einer eben solchen? Was beinhaltet dieser Vergleich?
Warum gerade Michel FOUCAULT und Niklas LUHMANN? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so einfach wie es scheint, denn es sind mehrere Punkte
und Dimensionen zu beachten. Vorab zunächst einige Bemerkungen zu Systemtheorien und
dem Systembegriff im Allgemeinen.
Die soziologischen Systemtheorien erklären das Verhalten von Einzelnen aus dem jeweiligen
Systemzusammenhang. Sie betrachten elementare soziale Einheiten wie soziale Handlungen,
Kommunikationen, Interaktionen etc. nicht isoliert, sondern stellen sie in den strukturellen
und funktionalen Rahmen eines Systemzusammenhangs. Es sind also die sozialen Systeme,
wie Gesellschaften, Familien, Vereine, Betriebe, Glaubensgemeinschaften etc., die die Gemeinsamkeit
des Handelns organisieren und so sozialen Prozessen eine Gestalt, eine Struktur
geben (vgl. Kneer/Nassehi 1993, S.29-30). Dies gilt natürlich nicht nur für die soziologischen
Systemtheorien, sondern auch für die Systemtheorien der Gesellschaft im weiteren, hier verstandenen
Sinne.
Es geht bei der Rekonstruktion einer Systemtheorie der Gesellschaft noch um eine zusätzliche
Vertiefung, denn dort werden Fragen zu Handlungen und Verhalten eines Einzelnen aus dem
Gesamtzusammenhang des Gesamtsystems „Gesellschaft“ beantwortet. Dieses System muss
als umfassend begriffen werden, da es sonst den Anspruch verliert, die Gesellschaft als ein
Gesamtsystem rekonstruieren zu können. Das ist zugleich der Ausgangspunkt dieser Arbeit,
die Annahme das die Grundfiguren des systemtheoretischen Denkens (...)1 nicht nur bei der einzig wirklich ausformulierten Systemtheorie
(LUHMANN) zu finden sind, sondern sich bei anderen Theorien gleichermaßen identifizieren lassen. [...]
1 Vgl. dazu auch Kiss 1989, S.89-107 – der Autor stellt in diesem Abschnitt die „Evolution“ des soziologischen
Grundbegriffs System ausführlich dar und verwendet dabei die Bezeichnungen geschlossen, offen und autopoietisch
zur Kennzeichnung der Paradigmenwechsel.
Inhaltsverzeichnis
I. EINFÜHRUNG
1.1. WAS MACHT EINE SYSTEMTHEORIE AUS?
1.2. WAS BEINHALTET DIESER VERGLEICH?
1.3. WARUM FOUCAULT UND LUHMANN?
II. WAS IST KRITISCH AN FOUCAULTS THEORETISCHEN ÜBERLEGUNGEN ZUR GESELLSCHAFT?
III. WAS IST DANKBAR AN LUHMANNS THEORETISCHEN REFLEXIONEN AUF DIE GESELLSCHAFT?
IV. EIN VERGLEICH!
4.1. SYSTEMVERSTÄNDNIS
4.2. STRUKTURVERSTÄNDNIS
4.3. GESELLSCHAFTSVERSTÄNDNIS
4.4. SUBJEKTVERSTÄNDNIS
4.5. SELBSTVERSTÄNDNIS
V. SCHLUSSBETRACHTUNG UND RESÜMEE
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
I. Einführung
Die zentrale Frage der Arbeit ist bereits im Titel formuliert: es soll um zwei unterschiedliche Lesarten einer Systemtheorie der modernen (bürgerlichen) Gesellschaft gehen - eine kritische und eine zustimmende Variante. Das erscheint zumindest auf den ersten Blick. Bevor es um die Feinheiten und Einzelheiten der Theorie gehen soll und wie diese im Zusammenhang interpretiert werden können, müssen zunächst grundsätzliche Fragen im Mittelpunkt stehen: Was qualifiziert eine Systemtheorie zu einer eben solchen? Was beinhaltet dieser Vergleich? Warum gerade Michel FOUCAULT und Niklas LUHMANN?
1.1. Was macht eine Systemtheorie aus?
Die Beantwortung dieser Frage ist nicht so einfach wie es scheint, denn es sind mehrere Punkte und Dimensionen zu beachten. Vorab zunächst einige Bemerkungen zu Systemtheorien und dem Systembegriff im Allgemeinen.
Die soziologischen Systemtheorien erklären das Verhalten von Einzelnen aus dem jeweiligen Systemzusammenhang. Sie betrachten elementare soziale Einheiten wie soziale Handlungen, Kommunikationen, Interaktionen etc. nicht isoliert, sondern stellen sie in den strukturellen und funktionalen Rahmen eines Systemzusammenhangs. Es sind also die sozialen Systeme, wie Gesellschaften, Familien, Vereine, Betriebe, Glaubensgemeinschaften etc., die die Gemeinsamkeit des Handelns organisieren und so sozialen Prozessen eine Gestalt, eine Struktur geben (vgl. Kneer/Nassehi 1993, S.29-30). Dies gilt natürlich nicht nur für die soziologischen Systemtheorien, sondern auch für die Systemtheorien der Gesellschaft im weiteren, hier verstandenen Sinne.
Es geht bei der Rekonstruktion einer Systemtheorie der Gesellschaft noch um eine zusätzliche Vertiefung, denn dort werden Fragen zu Handlungen und Verhalten eines Einzelnen aus dem Gesamtzusammenhang des Gesamtsystems „Gesellschaft“ beantwortet. Dieses System muss als umfassend begriffen werden, da es sonst den Anspruch verliert, die Gesellschaft als ein Gesamtsystem rekonstruieren zu können. Das ist zugleich der Ausgangspunkt dieser Arbeit, die Annahme das die Grundfiguren des systemtheoretischen Denkens (Ganzes/Teil, System/Umwelt, Selbstreferentialität)1 nicht nur bei der einzig wirklich ausformulierten Systemtheorie (LUHMANN) zu finden sind, sondern sich bei anderen Theorien gleichermaßen identifizieren lassen. Damit wird deutlich das FOUCAULT einen anderen Systembegriff verwendet als LUHMANN - das herauszuarbeiten ist eine der Aufgaben in dieser Arbeit.
Demzufolge kann zunächst einmal die Hypothese, dass Systemtheorien der Gesellschaft existieren2, als vorläufig bestätigt gelten - obwohl sie nicht immer explizit als solche formuliert wird. Im Folgenden geht es um einige „Erkennungsmerkmale“ solcher Theoriekomplexe, um im Anschluss damit arbeiten zu können. Klarheit herrscht mit Sicherheit über den Umfang einer derartigen Theorie - wie oben schon einmal formuliert. Sie sollte die Gesamtheit der Phänomene und Ereignisse in einer Gesellschaft auf den Punkt bringen, und zwar mit einem geeigneten begrifflichen Apparat. Dieser bedarf eines gewissen Niveaus der Abstraktion, um die Komplexität abbilden zu können, sowie den Zusammenschluss und Funktionieren des Mannigfaltigen zu erklären. Man spricht demzufolge von alles umfassenden, begrifflichen Gebäuden, Systemen denen nichts äußerlich ist (bzw. sein sollte - zumindest nichts, was gesellschaftlich von höchster Relevanz ist!). Für beide Autoren existieren solche Begriffsapparaturen, wenngleich der LUHMANNs weit mehr ausdifferenziert ist3. Bei FOUCAULT ist dies nicht in derart ausformulierter Form der Fall, da er von Zeit zu Zeit seine Begriffe überarbeitet bzw. verworfen hat4.
Der konstruierte, begriffliche Apparat leistet eine weitere wichtige Funktion. Er sorgt für einen geregelten Übergang zwischen den verschiedenen Ebenen und Dimensionen in der Theorie, vor allem was die Verbindung der Begriffe und Beschreibung der Phänomene betrifft5. Eine Systemtheorie ist gekennzeichnet durch eine Art Passivität. Diese betrifft im Allgemeinen den Bezug auf Subjekte und im Besonderen den Bezug auf handlungstheoretische Voraussetzungen. Bei Systemtheorien handelt es sich nicht um Theorien klassifikatorischer oder stratifikatorischer Prägung, sie sind also nicht von „außen“ gesetzt. Die starke Behauptung bei Systemtheorien besteht in dem Argument, das sich Gesellschaft von innen aus dem Sozialen selbst heraus aufbaue (und demzufolge auch beschreiben lässt). Es wird ein so genannter immanenter Systemzusammenhang des Sozialen behauptet und soll bei der gelieferten Beschreibung auch selbst aufgedeckt werden. Dies erfolgt entweder in einer bejahenden oder aber in einer kritischen Rekonstruktion. Auch diese Anforderung ist bei den Autoren erfüllt, denn es gelingt ihnen auf unterschiedliche Weise zu zeigen, das Sinn (LUHMANN) und Diskurse (FOUCAULT) die jeweils zentralen Einheiten der Systeme im Gesamtzusammenhang6 sind und die Grundlagen der sozialen Existenz bilden.
Als letzter Punkt steht die Frage nach der Stellung des Subjekts in einer Systemtheorie der Gesellschaft. Kann die Systemtheorie den Zusammenhang, die Vermitteltheit meiner Existenz durch das System beschreiben? Es geht also um die Offenlegung dieser Beziehung, welche von einer Systemtheorie geleistet werden muss - ansonsten würde sie ihren artikulierten Anspruch auf Totalität bzw. Universalität verlieren. Auch dieser Punkt ist nach Meinung des Autors bei beiden Theoretikern enthalten, wenn es auch eine unterschiedliche theoretische Ausarbeitung dazu gibt.
1.2. Was beinhaltet dieser Vergleich?
Zunächst einmal heißt Vergleich mindestens zwei Dinge (Theorien oder ähnliches) auf jeweilige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen. D.h. es muss die Differenz in Bezug auf Differenz und Gleichartigkeit reflektiert werden und darf nicht zu einer Gleichsetzung führen7. Zusätzlich ist eine Transparenz der Vergleichskategorien erforderlich, auf die sich eine Analyse stützen kann. Für die hier vorgeschlagene Analyse eröffnen sich drei grundsätzliche Möglichkeiten der Differenzierung. Erstens ein Vergleich aus der Sicht von FOUCAULTs Werk mit dem Fokus einer Systemtheorie der Gesellschaft. Zweitens ein Vergleich aus der Sicht von LUHMANNs Werk mit dem Fokus einer Systemtheorie der Gesellschaft. Als dritte Möglichkeit bietet sich das Aufsuchen von „objektiven“ Kriterien, um beide Positionen aus einer einheitlichen Sicht einer Systemtheorie der Gesellschaft zu vergleichen. Letztere Position erscheint für diese Arbeit als Lösung am meisten angemessen. Dies dient lediglich dem Schutz vor möglichen Vorwürfen einer einseitigen Theoriepräferenz oder eines methodisch unsauberen Arbeitens. Damit kommen wir zur anfänglichen Frage, warum es gerade diese Ansätze sein sollen.
1.3. Warum FOUCAULT und LUHMANN?
Auch die Beantwortung dieser Frage ist nicht ganz einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Für den Autor war die Entscheidung verbunden mit den verschiedenen Ansatzpunkten der beiden Theorien - bei FOUCAULT aus der Linguistik und dem Strukturalismus8 kommend und bei LUHMANN der „Neubau“ einer soziologischen Systemtheorie in Auseinandersetzung mit Parsons u.a. Autoren dieser Traditionslinie.
Beide Autoren drängen sich geradezu auf für einen Vergleich, weil ihre scheinbar so große Gegensätzlichkeit zur Überlegung zwingt - und während dieser Überlegungen stellt man fest, dass es da doch mehr Gemeinsamkeiten gibt als man es erwartet hatte. Der Systemgedanke ist eines der hervorstechendsten Merkmale dieser zwei theoretischen Konzepte - wenn auch FOUCAULT aus mehreren Texten rekonstruiert werden muss. Bei ihm lässt sich das System als eine Verbindung von Sprach- und Machtmechanismen nachvollziehen, so wie er es in der „Ordnung des Diskurses“ artikuliert und skizziert. Die Grundlagen dafür schaffte er in „Die Ordnung der Dinge“, als er die Wissensformen9 der Neuzeit untersuchte. Denn nur innerhalb eines Erkenntnishorizonts, indem Wissen akkumuliert und aktualisiert wird, kann sich eine bestimmte Form der Diskursordnung etablieren.
Im Fall von LUHMANN verhält sich das ganze ein wenig anders. Sein Buch „Soziale Systeme“ ist (wie der Untertitel besagt) ein Grundriss einer allgemeinen Theorie. Sie ist der Ausgangspunkt für alle späteren Ausformulierungen der gesellschaftlich funktionalen Teilsysteme (Recht, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion, Erziehungssystem) in jeweils separaten Büchern. Diese konsequente Beschreibung der modernen Gesellschaft als Zusammenhang von Systemen wird mit seinem Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ zum Abschluss gebracht. Er hat demzufolge eine konkrete Vorstellung von dem, was er beschreibt und systematisiert. Diese einzelne Ausformulierung der sogenannten Funktionssysteme der Gesellschaft läuft streng nach dem Begriffsapparat, den er in „Soziale Systeme“ vorformuliert hat. Sein Grundgedanke ist, dass die moderne Gesellschaft nur über Kommunikation läuft, und das soziale Systeme nur aus solchen bestehen, sich selbst produzieren sowie an andere anschließen (Selbstreferentialität/Autopoiesis)10. Wir haben es also mit zwei Autoren zu tun, die im Grunde das gleiche Ziel haben: die Beschreibung und Rekonstruktion der modernen Gesellschaft, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. In den beiden folgenden Abschnitten wird nun formuliert, wie und warum die Autoren als Systemtheoretiker der Gesellschaft gelesen werden können und was diese Perspektive ausmacht.
II. Was ist kritisch an FOUCAULTs theoretischen Überlegungen zur Gesellschaft?
„[…] Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, Erfahrungen im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. […] Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. […]Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker.“ (FOUCAULT 1997, S.24)
Diese Form des Vorgehens beim Drang nach Erkenntnis lässt schon das kritische Potential ahnen, das hinter den theoretischen Bemühungen von FOUCAULT steht. Sie zeugt von einer ewigen Unzufriedenheit und Angst sich in möglichen Deutungsschemata zu verfangen, die doch nicht das wiedergeben was hinter dem Augenscheinlichen, dem Sichtbaren und dem Sagbaren liegt - nicht die tatsächliche Struktur zum Vorschein bringen. Es lässt sich überdies eine gewisse Verwandtschaft zu Kants Vorstellung von Aufklärung und Selbstdenken nicht bestreiten, eine Auffassung als eine ständige Arbeit - „…die Aufforderung zur Veränderung und Ausarbeitung seiner selbst.“ (Kleiner 2001, S.20) -, die sich durch sein ganzes Werk wie ein roter Faden hindurch zieht11.
Wie weiter oben bereits erwähnt stellt das Buch „Die Ordnung der Dinge“ die Grundlage der systemhaft angelegten theoretischen Überlegungen FOUCAULTs dar. Er stellt zu Beginn des Buches die Hypothese auf, dass das nichtformale Wissen ein System hätte und zwar in je unterschiedlichen Epochen unserer Geschichte. Er versucht diese Hypothese anhand eines Vergleiches zwischen Renaissance, Klassik und Moderne und den drei Bereichen Leben, Sprache
dazu ist Selbstreferenz/Selbstbezüglichkeit zu verstehen als Prozess der Berücksichtigung eigener Systemzustände für die Selbstreproduktion, wofür systeminterne Kommunikation eine notwendige Vorraussetzung ist (vgl. ebd., S.59 und 183). und Arbeit zu erhärten (vgl. FOUCAULT 1993, S.10). Damit ist man wieder bei dem neuen Begriff der Episteme angelangt, den er mittels der archäologischen Methode freilegen will. Er zeigt, das eine Überordnung der Diskurse über die Praktiken des Handelns gibt, d.h. FOUCAULT „…wollte gern wissen, ob die Individuen, die verantwortlich für den wissenschaftlichen Diskurs sind, nicht in ihrer Situation, ihrer Funktion, ihren perzeptiven Fähigkeiten und in ihren praktischen Möglichkeiten von Bedingungen bestimmt werden, von denen sie beherrscht und überwältigt werden.“ (FOUCAULT 1993, S.15) - er gesteht hier noch der Sprache einen besonderen Stellenwert zu. Diesen später korrigierten „Irrweg“ beschritt er auch in der Archäologie des Wissens, als er von Diskursen sprach, die regelgeleitete Systeme seien, autonom und selbstreferentiell12 (vgl. Dreyfus/Rabinow 1994, S.21).
Das ist ein Ansatzpunkt des kritischen Moments, wenn nicht das akzeptiert wird was sichtbar ist, sondern danach geschaut wird was dahinter steht, was Veränderungen und Verschiebungen hervorruft (was darüber hinaus noch alles sagbar ist) - dafür entwickelt er den Begriff der Episteme. Was ist das?
Für FOUCAULT sind es Ordnungen, die in den Dingen sind und nach denen diese betrachtet werden. Es sind die grundlegenden Codes einer Kultur, Schemen der Wahrnehmung und des Austauschs, beherrschen deren Techniken, Hierarchien, Werte und Praktiken. Diese Ordnungen fixieren unbemerkt das, was Menschen empirisch ordnen, in der Welt interpretieren (vgl. FOUCAULT 1993, S.22-23). Die Episteme zeigen den gemeinsamen Aufbau, die gemeinsamen Regeln in der Praxis der Wissenschaften, d.h. den gemeinsamen epistemologischen Raum. Solche fundamentalen Ordnungsgebilde sind natürlich nicht für immer starr, doch die Kunst besteht darin die Übergänge zu identifizieren und zu fragen, welche Prozesse diese ausgelöst haben - dabei wird zugleich sichtbar „…daß es Ordnung gibt.“ (ebd.; S.23)
Sie sind sozusagen ein konkretes Apriori, was die „…Gesamtheit der diskursiven Regelmäßigkeiten …“ meint, welche zusammen „…den jeweiligen kognitiven Ordnungsraum einer Epoche bilden,…“ (Kneer 1996, S.192).
Es zeigt sich erneut die Verbindung von kritischem und systemhaftem Denken - die kritische Reflexion auf die grundlegenden Strukturen und die Feststellung dass es systematische Vorstellungen (Ordnungen, Systeme) gibt, die zugleich begrenzt sind und damit etwas außen vor lassen. Er versucht zu zeigen, das nicht das Subjekt der Mittelpunkt der Gesellschaft ist, sondern es von den darunter liegenden Strukturen in grundsätzlicher Art und Weise geleitet wird (eine durchaus soziologische Analyse gesellschaftlicher Bedingungen) - „determiniert“ erscheint in diesem Zusammenhang als zu strukturalistisch13. FOUCAULT diagnostiziert und beschreibt damit zu recht eine Variabilität in den Vorstellungsordnungen, die die betrachteten Dinge und Gegenstände eben erst herzustellen vermag. Genau dieser Punkt ist ein weiterer Hinweis auf einen Bezugspunkt zum systemischen Denken - das konstruktivistische Moment. FOUCAULT gelingt es durch die Beschreibung der verschiedenen Episteme vor Augen zu führen, wie komplex und zugleich doch konstruiert unsere Wirklichkeit ist, die wir für so natürlich halten.
Diese tatsächliche Konstruktion führt FOUCAULT an den Wissensformen aller drei Epochen vor, wobei die Analyse der Moderne besonders interessant sein dürfte, denn wir sind direkt davon betroffen (oder nicht?). Hier ist es der Mensch selbst, welcher als Erkenntnissubjekt und zugleich als das zu erkennende Objekt in Aktion tritt - FOUCAULT bezeichnet diese Besonderheit als „…eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette,…“ (ebd., S.384). Es wurde begonnen, den Menschen selbst und seine zusammengetragenen Erkenntnisse zu analysieren. Der Mensch soll in der Lage sein sich selbst zu erkennen, soll danach fragen, was hinter den sichtbaren empirischen Dingen liegt, soll nach den Strukturen suchen - so wie FOUCAULT! „Der Mensch ist eingebettet in die Objekte, die er zu erkennen sucht, und dadurch verdunkelt sich sein Verständnis.“ (Dreyfus/Rabinow 1994, S.50). Schaut der Mensch hinter die Kulissen, so sieht er, dass es eine Grenzziehung gibt - die Grenze zwischen Gedachtem und Ungedachtem. Indem dieses im Individuum selbst vereint wird, erfährt es die Chance diese Grenze der Welt zu verschieben und neu zu bestimmen, indem er Fragen stellt: „…kann ich in der Tat sagen, daß ich diese Sprache bin, die ich spreche und in die mein Denken soweit hineingleitet, […]? Kann ich sagen, daß ich jene Arbeit bin, die ich mit meinen Händen ausführe, […]? Kann ich sagen, daß ich jenes Leben bin, das ich in der Tiefe meiner selbst spüre […]?“ (FOUCAULT 1993, S.391) FOUCAULT zeigt, dass der Mensch eine Erfindung des Diskurses ist. Eine neue Betrachtung oder Anordnung der Dinge im Diskurs selbst die einem Betrachter innerhalb bestimmter Grenzen erscheinen. Der Veränderung in der Erscheinung kann eine Verschiebung im Erscheinen der Dinge in anderen Systemen vorausgehen - anderen Systemen des Denkens.
Diese Thematisierung der Grenze, einer wortwörtlichen Grenzerfahrung14 setzt sich im weiteren Gang des FOUCAULTschen Denkens verstärkt durch. Sie wird zum zentralen Punkt der Auseinandersetzung im Zusammenspiel mit der Analyse von Machtbeziehungen. Nur so kann die Verschiebung im Denken von FOUCAULT begriffen werden, die sich in den Jahren von 1969 bis 1971vollzieht. Dreh- und Angelpunkt dieser Veränderung ist zweifellos die Antrittsvorlesung, gehalten 1970 am Collegé de France.
Es soll hier nicht darum gehen, den Inhalt dieses Textes zu referieren, vielmehr interessiert was sich verändert hat. FOUCAULT hat erkannt, dass Diskurse nicht autonom sind und die Sprache losgelöst über allen steht. Er spricht im Text vom Einfluss durch Prozesse, welche die gesellschaftliche Produktion von Diskursen kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren (vgl. FOUCAULT 2000, S.11). Demnach geht es primär nicht mehr nur um die Formation von Diskursen, sondern um deren Beherrschung, Überwachung und (gesellschaftliche) Einschränkung seiner Produktion. Diese Sprache zeigt parallel wieder den Bezug zum systemtheoretischen Denken in seiner passiven Formulierung - spezifische Prozesse sind für diese Lenkung verantwortlich, nicht die Subjekte.
Gleichzeitig wird, trotz allem, der zentrale Stellenwert des Diskursbegriffes deutlich. Eingebettet in die Prozesse der Macht sind die Diskurse zwar die sprachlichen Äußerungen der Subjekte, allerdings sind diese abhängig von den „Vorschriften“15, um eine Aussage treffen zu können. Der Diskurs greift zusammen mit den Machtprozessen in die Sprache ein und sorgt für die Herstellung des sprechenden Subjektes über die Prozeduren (regulierenden Elemente), welche gleichzeitig auch limitieren sollen. Zusätzlich zu diesen Regulatoren existiert, FOUCAULT zufolge, noch eine Art Druck, der (in den Wissenschaften) institutionalisierte „Wille zur Wahrheit“16, welcher die treibende Kraft hinter den Regulierungssystemen zu sein scheint und somit das dominante Prinzip, zumindest hinsichtlich der Ausschließungssysteme ist (vgl. Jäger 1994, S.97).
Die Frage ist nun, inwiefern sich Individuen in der Vermitteltheit von Diskursen begreifen können? „Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven »Polizei« gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.“ (ebd., S.25)
[...]
1 Vgl. dazu auch Kiss 1989, S.89-107 - der Autor stellt in diesem Abschnitt die „Evolution“ des soziologischen Grundbegriffs System ausführlich dar und verwendet dabei die Bezeichnungen geschlossen, offen und autopoietisch zur Kennzeichnung der Paradigmenwechsel.
2 An dieser Formulierung zeigt sich schon eine erste Gemeinsamkeit der zu analysierenden Autoren, aber dazu mehr im Hauptteil der Arbeit. Beide formulieren explizit die Existenz von Systemen und Prozeduren in ihren Schriften (siehe dazu LUHMANN 1987, S.16 u. S.30-31 sowie FOUCAULT 2000, S.11).
3 Das zeigt sich nicht zuletzt an den Versuchen, den Begriffsapparat in systematischer Weise darzustellen. Diesen Versuch unternahmen z.B. Baraldi/Corsi/Esposito 1997 und Krause 2001 - jeweils mit mehr oder weniger viel Erfolg als Beitrag zur Reduktion von Komplexität.
4 Siehe z.B. zum Wandel des Diskursbegriffs in der Archäologie des Wissens und der Ordnung des Diskurses der Wandel beruht auf der Erkenntnis FOUCAULTs, das diese nicht nur von der Sprache abhängen sondern von Beginn an in einer Praxis zu verorten sind (das hängt unter anderem mit Machtbeziehungen zusammen - vgl. dazu speziell Bublitz 2001, S.29-31).
5 Bei LUHMANN z.B. der zu leistende Übergang zwischen Interaktion, Organisation und Gesellschaft als soziale Systeme. Zwar besitzen alle drei Systemtypen eine unterschiedliche Qualität, allerdings werden sie alle mit dem gleichen begrifflichen Apparat beschrieben und sind somit in Abhängigkeit zu den jeweils anderen (als Umwelt) rekonstruierbar.
6 An anderer Stelle hat LUHMANN den Sinnbegriff sogar als den zentralen Grundbegriff der Soziologie charakterisiert (vgl. dazu Habermas/LUHMANN 1971). Damit wird ersichtlich, warum der Begriff in der Theorie sozialer Systeme einen so hohen und zentralen Stellenwert besitzt.
7 Es ist in der heutigen Gesellschaft nicht immer eindeutig zu identifizieren, ob die Menschen den Begriff des Vergleiches richtig verstehen. Dabei habe ich die Äußerungen der Ex-Justizministerin (indirekter Vergleich von Bush und Hitler) sowie vom Historiker Baring (Vergleich von Kanzler Schröder mit Reichskanzler Brüning) vor Augen. Zugegeben sind es jeweils schwierige Vergleiche, aber eben Vergleiche und keine Gleichsetzungen.
8 Der Strukturalismus ist ein Sammelbegriff für Wissenschaftler aus den verschiedensten Fachrichtungen, Linguistik, Anthropologie, Philosophie, Psychoanalyse - aber letztendlich sind darunter die Wissenschaften vom Zeichen und den Zeichensystemen zu verstehen. Lévi-Strauss meinte der Gegenstand strukturaler Wissenschaft sei alles was einen Systemcharakter zeigt, d.h. eine Einheit bei der die Manipulation eines Elements die Veränderung aller anderen hervorrufen würde (vgl. Wahl 1981, S.10-11).
9 Er nennt diese Formen bzw. grundlegenden Schemen auch Episteme - aber dazu später mehr!
10 Autopoietische Systeme sind selbstbezogene, sich selbst erhaltende und reproduzierende Einheiten. Soziale
Systeme operieren zustands- und strukturdeterminiert, d.h. eine notwendige Voraussetzung ist eine systemspezifische Kommunikationsform (Kommunikationsmedium), die einerseits gegenüber anderen Systemen abgrenzt und andererseits die Eigenreproduktion ermöglicht (vgl. LUHMANN 1987, S.43, 60ff. und 86). Im Gegensatz
11 Nicht umsonst bestimmt FOUCAULT das Anliegen der Philosophie als „…jene Verschiebung und Transformation der Denkrahmen, die Modifizierung etablierter Werte und all der Arbeit, die gemacht wird, um anders zu denken, um anders zu machen und anders zu werden als man ist…“ (FOUCAULT 1980, S.22 zitiert nach Kneer 1996, 168) - ein Unternehmen, das Philosophie als Aufklärung begreift. Es sind schließlich auch die von kant verfassten drei großen Kritiken, welche für FOUCAULT den Übergang zur Moderne markieren (vgl. FOUCAULT 1993, S.299).
12 Es bleibt zu überlegen, ob sich im systemischen Ansatz von FOUCAULT tatsächlich Elemente einer selbstreferentiellen Systemtheorie entdecken lassen - zumindest aber lässt sich sein Ansatz auch über das Paradigma der System/Umwelt-Differenz rekonstruieren, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird.
13 Eine eindeutige Nähe zur These Kants, „…daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll.“ (Kant 1992, S.25)
14 Und damit auch die Erfahrung von Macht, nicht physisch sondern indem sie für den jeweiligen Betrachter (Leser) sichtbar wird.
15 Damit sind die Prozeduren gemeint, welche FOUCAULT als verantwortlich identifiziert, um den Diskurs unter Kontrolle halten zu können - die Ausschließungssysteme (Verbot, Grenzziehung, Verwerfung), die Einschränkungssysteme (Kommentar, Autor, Disziplin) und die Verknappungssysteme (Ritual, Diskursgesellschaft, Doktrin) - (vgl. dazu FOUCAULT 2000, S.11-30).
16 „Es sieht so aus, als hätte […] der Wille zur Wahrheit seine eigene Geschichte, welche nicht die der zwingenden Wahrheiten ist: eine Geschichte der Ebenen der Erkenntnisgegenstände, eine Geschichte der Funktionen und Positionen des erkennenden Subjekts, eine Geschichte der materiellen, technischen, instrumentellen Investitionen der Erkenntnis.“ (FOUCAULT 2000, S.15)
- Quote paper
- Jens Klinkicht (Author), 2003, Luhmanns Theorie sozialer Systeme vs. Foucaults systematische Reflexion der Ordnung der Dinge und Diskurse - ein Vergleich zwischen zwei Lesarten einer Systemtheorie der Gesellschaft?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24005
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