Das Buch Les Chants de Maldoror, in den Jahren 1868 und 1869 von Isidore Ducasse unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont verfasst, lässt sich nicht kategorisieren. Innerhalb der sechs Gesänge Maldorors werden zahlreiche literarische Stilmittel und Gattungen durchgespielt - so sind neben Strophen mit einem nahezu hymnischen Charakter (so etwa die Strophe an die Mathematik) auch solche zu finden, die in Dialogform geschrieben sind, oder essayistische Abhandlungen darstellen.
Literaturgeschichtlich fällt es ebenso schwer, das Buch zu kategorisieren. Es lässt sich keiner Epoche eindeutig zuordnen. Die Surrealisten waren es, die das Buch für sich entdeckten, und wegen seiner grenzenlosen Phantasie und seinem Mut zum Tabubruch zum Kultbuch erhoben. Bedenkt man jedoch die literarischen Einflüsse, vielleicht sogar Vorbilder Lautréamonts - unter ihnen Byron, Poe und Baudelaire - so lässt sich doch auch eine gewisse Nähe zu den Romantikern feststellen. Insbesondere mit Baudelaire gibt es Überschneidungen: Der „Geist des Byronschen Satanismus, der durch die ganze französische Romantik irrlichtert, [flammt] ebenso in Baudelaires Fleurs du mal wie in den Chants de Maldoror von Lautréamont wieder [auf]“.
Diese Analogie lässt sich durch mehr herstellen als nur den Hinweis auf die Verwendung romantischer Formeln wie „au clair de la lune“ - zumal gerade dieses Zitat, welches auch an das bekannte französische Volkslied denken lässt, eher ein Beispiel für die immer wieder auftauchenden grotesken Überspitzungen von Motiven oder Situationen darstellt und das Buch eindeutig der Moderne zuweist, als deren „eigentliche Erscheinung“ das Komische, die Karikatur gelten kann.
Inhalt
I. Einleitung
II. Hauptteil
Wer sehnt? Das Problem der Perspektive
Das Ozeanmotiv in den Chants de Maldoror
Lautréamont in Paris
III. Schluss
IV. Bibliografie
I. Einleitung
Das Buch Les Chants de Maldoror, in den Jahren 1868 und 1869 von Isidore Ducasse unter dem Pseudonym Comte de Lautréamont verfasst, lässt sich nicht kategorisieren. Innerhalb der sechs Gesänge Maldorors werden zahlreiche literarische Stilmittel und Gattungen durchgespielt – so sind neben Strophen mit einem nahezu hymnischen Charakter (so etwa die Strophe an die Mathematik[1]) auch solche zu finden, die in Dialogform geschrieben sind, oder essayistische Abhandlungen darstellen.
Literaturgeschichtlich fällt es ebenso schwer, das Buch zu kategorisieren. Es lässt sich keiner Epoche eindeutig zuordnen. Die Surrealisten waren es, die das Buch für sich entdeckten, und wegen seiner grenzenlosen Phantasie und seinem Mut zum Tabubruch zum Kultbuch erhoben. Bedenkt man jedoch die literarischen Einflüsse, vielleicht sogar Vorbilder Lautréamonts – unter ihnen Byron, Poe und Baudelaire[2] – so lässt sich doch auch eine gewisse Nähe zu den Romantikern feststellen. Insbesondere mit Baudelaire gibt es Überschneidungen: Der „Geist des Byronschen Satanismus, der durch die ganze französische Romantik irrlichtert, [flammt] ebenso in Baudelaires Fleurs du mal wie in den Chants de Maldoror von Lautréamont wieder [auf]“.[3]
Diese Analogie lässt sich durch mehr herstellen als nur den Hinweis auf die Verwendung romantischer Formeln wie „au clair de la lune“[4] – zumal gerade dieses Zitat, welches auch an das bekannte französische Volkslied denken lässt, eher ein Beispiel für die immer wieder auftauchenden grotesken Überspitzungen von Motiven oder Situationen darstellt und das Buch eindeutig der Moderne zuweist, als deren „eigentliche Erscheinung“ das Komische, die Karikatur gelten kann.[5]
Vielmehr scheint das Sehnen und Verlangen nach dem Unendlichen und dem Erhabenen, wie es zum Kennzeichen der Romantik wurde und sich im Buch immer wieder finden lässt, ein guter Ansatz zu sein, einen Romantikbezug herzustellen, oder aber die Punkte herauszustellen, wo das Buch sich abgrenzt. Exemplarisch soll dazu die Ozeanstrophe der Chants analysiert werden, neunte Strophe des ersten Gesanges.
Der Strophe kommt eine besondere Bedeutung zu: Das Meere als Ziel menschlicher Sehnsüchte durchzieht motivisch die gesamte Kulturgeschichte, weshalb es durch den knappen Vergleich mit anderen Ozeandarstellungen der Abgrenzung Lautréamonts dienen kann.
Durch Maldorors Vergleich des Ozeans mit dem Menschen ist in dieser Strophe zugleich ein Einblick in das Menschenbild möglich, das in den Chants entworfen wird.
Zudem gilt sie als eine der wenigen, in der sich autobiografische Einflüsse Lautréamonts ausmachen lassen: Dass er auf seinen wochenlangen Überquerungen des atlantischen Ozeans eine besondere Beziehung zum Meer entwickelt hat, welche sich in dieser Strophe niederschlägt, gilt als sehr wahrscheinlich.[6]
Immer wieder bietet sich ein Vergleich mit Baudelaire an, dessen Werke Lautréamont in jedem Fall gelesen hat und der ihn womöglich sogar beeinflusste – hat doch Baudelaire genau wie er „vom Bösen gesungen“, wie Lautréamont in einem Brief an den Verleger Verboeckhoven schreibt.[7]
Insbesondere der Einfluss der Großstadt, dem Paris unter Napoleon III mag sich in Lautréamonts Arbeit niedergeschlagen haben, wie sie auch auf das lyrische Werk seines Zeitgenossen Baudelaire enorme Wirkung hatte. Aus diesem Grund schließt die Arbeit mit einer Betrachtung zu dem Einfluss der Großstadterfahrungen Lautréamonts auf sein Schreiben ab.
Disparität und Offenheit der Chants machen es sehr schwierig, ein eindeutiges Bild des Buches zu entwerfen. Einem Werk, das so offen ist, dass es gelegentlich an die écriture automatique der Surrealisten erinnert, begegnet man wohl am besten, indem man den Verstand ruhen lässt, und sich ihm eher assoziativ nähert. Dieses Vorgehen jedoch widerspricht wissenschaftlicher Arbeitsweise. So spiegelt sich die Ungleichheit und Vielstimmigkeit des Werks ein Stück weit auch in der folgenden Arbeit wieder, die nur versuchen kann, einen Zugang zu dem Buch darzustellen – es gäbe mit Sicherheit noch zahlreiche weitere Ansätze zu beachten, wollte man ihm gerecht werden.
II. Hauptteil
Wer sehnt? Das Problem der Perspektive
Mit der Analyse des Sehnsuchtsbegriffs ist das Problem verbunden, dass die Chants nicht aus einer einheitlichen Erzählperspektive erzählt sind.
Gelegentlich handelt es sich um einen außenstehenden allwissenden Erzähler, der sich als „témoin“[8] des Geschehens zu erkennen gibt oder sich als Autor vorstellt – „Je saisis la plume qui va construire le deuxième chant“[9] – und sich auch an den Leser wendet: „Lecteur, c’est peut-être la haine que tu veux que j’invoque dans le commencement de cet ouvrage! […] J’établirai dans quelques lignes comment Maldoror fut bon pendant ses premières années […].“[10] Auf diese Weise wird eine Metaebene konstruiert, die das Buch nicht als Produkt Lautréamonts auszeichnet, sondern als das jenes fiktiven Autors im Buch.
Aus einer personalen Erzählperspektive heraus wird nicht nur der Blickwinkel Maldorors in seinen vielfältigen Erscheinungsformen beschrieben, sondern gelegentlich auch weiteren Protagonisten gefolgt, welche kurz am „Horizont auftauchen“ und dann wieder im „Chaos versinken“.[11] Zu nennen sind hier etwa Léman, Lohengrin, Lombano, Aghone oder vor allem Mervyn im sechsten Gesang.
Oft ist auch Maldoror selbst der Ich-Erzähler – so beispielsweise in der letzten Strophe des vierten Gesanges, als es heißt: „oh! non, jamais!... une voix mortelle ne fit entendre ces accents séraphiques, en prononçant, avec tant de douloureuse élégance, les sylabes de mon nom! […] «Maldoror!»“[12]
Maldoror, die Titelfigur, bleibt letztlich für den Leser nicht charakter- aber doch gestaltlos. Außer der Erwähnung seiner furchtbaren Hässlichkeit[13] gibt es keine Beschreibung seines Äußeren. Er setzt sich über räumliche Distanzen hinweg – „Aujourd’hui il est à Madrid; demain il sera à Saint-Pétersbourg; hier il se trouvait à Pékin“[14] – und ist auch über zeitliche Grenzen erhaben:
„[J’ai] assisté aux révolutions de notre globe; les temblements de terre, les volcans, […] le simoun du désert et les naufrages de la tempête ont eu ma présence pour spectateur impassible. Depuis ce temps, j’ai vu plusieurs générations humaines élever […] et mourir.“[15]
Auf Grund dieser „Grenzenlosigkeit“ seiner Präsenz und der damit verbundenen Losgelöstheit von der Welt kann man Maldoror weniger als ein konkretes Wesen bezeichnen, sondern vielmehr als einen globalen und ewigen „Zustand“, der über dem Geschehen „schwebt“ – „Maldoror n’a pas de réalité «substanzielle».“[16] Er, die Verkörperung des Bösen, „L’aurore du mal“[17], ist überall in der Welt anzutreffen. Wenn Maldoror nicht aus der Ich-Perspektive berichtet, ist er unter verschiedenen Masken verborgen: Er erscheint beispielsweise als Hyäne[18] oder als eines von vielen anderen Tieren. Gelegentlich wird er auch nur umschrieben, etwa als „[c]elui qui ne sait pas pleurer“.[19]
Auch ist es an manchen Stellen des Textes nicht ersichtlich, ob es nun gerade Maldoror ist, der berichtet: „Dans les Chants de Maldoror, on chante Maldoror et c’est Maldoror qui chante. Les lignes de démarcations sont rarement très nettes. Quelqu’un raconte à Maldoror. Ou bien c’est Maldoror qui raconte.“[20]
So wie Maldoror als Zustand inszeniert wird, der mehr oder weniger personifiziert auf- und untertaucht, lässt sich auch die Sehnsucht keinem bestimmten Protagonisten zuordnen.
Immer wieder kommt es zu offenen Momenten des Sehnens, wie in der achten Strophe des ersten Gesanges, als die Hunde ihre Ketten zerreißen, sich im Mondenschein in Sehnsucht selbst zerfleischen[21], und ein „need for the infinite“[22] artikuliert wird, oder als der „frère de la sangsue“ an anderer Stelle proklamiert: „Comme alors je pensais à l’infini“.[23]
Auch der Hermaphrodit, der auf seiner feuchtgeweinten Wiese liegt, hat Sehnsucht, träumt sich aus seinem Dasein heraus an einen anderen Ort, „sur un nuage pourpre, vers une autre sphère, habitée par des êtres de même nature que lui. Hélas! que son illusion se prolonge jusqu’au réveil de l’aurore!“[24] An diesem Zitat wird auch Lautréamonts Verwendung gängiger Stilmittel und Symbole zur Darstellung romantischen Sehnens deutlich: Andere Sphären, der Einsatz von Farben (pourpre, l’aurore), die Wolke als Symbol für das infini – diese Elemente stellen eine Negation des Alltäglichen, des „Vorgegebenen“[25] dar.
[...]
[1] Comte de Lautréamont (=Isidore Ducasse): Les Chants de Maldoror, in: Ders: Œuvres Complets. Paris: José Cotri 1987, S. 190-194.
[2] Vgl. dazu Ré Soupault: Über den Autor und sein Werk, in: Comte de Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror, München: Rogner & Bernhard 1976, S. 246-288, hier: S. 278.
[3] Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, München: Hanser 1993, 574.
[4] Vgl. Lautréamont: Chants, S. 132
[5] Vgl. Stierle: Mythos von Paris, S. 710.
[6] Vgl. die Aussagen Philippe Soupaults in: Jean-Paul Corsetti: Entretien avec Philippe Soupault, in: Europe. Revue littéraire mensuelle August/September 1987, S. 94-97, hier: S. 96.
[7] Vgl. Lautréamont: Œuvres Complets, S.398.
[8] Vgl. z.B. Lautréamont: Chants, S. 180.
[9] Ebd., S.163
[10] Ebd., S. 124-125.
[11] Vgl. ebd., S. 220.
[12] Ebd., S. 284.
[13] Vgl. z.B. ebd., S. 144.
[14] Ebd., S. 325.
[15] Ebd., S. 192-193.
[16] Raymond Jean: La Poétique du Désir. Nerval Lautréamont Apollinaire Éluard, Paris: Éditions du Seuil 1974, S. 314.
[17] Vgl. dazu Soupault: Über den Autor, S. 278.
[18] Vgl Lautréamont: Chants, S. 142.
[19] Ebd., S. 150.
[20] Michel Nathan: Lautréamont. Feuilletoniste autophage, Seyssel : Champ Vallon 1992, S. 12.
[21] Vgl. Lautréamont: Chants, S. 132-134.
[22] Suzanne Guerlac: The Impersonal Sublime. Hugo, Baudelaire, Lautréamont, Stanford, California: University Press 1990.
[23] Lautréamont: Chants, S. 158.
[24] Ebd., S. 180.
[25] Vgl. Stierle: Mythos von Paris, S. 774.
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2003, Das Sehnen nach Unendlichkeit. Der Comte de Lautréamont und die Ozeanstrophe in den "Chants de Maldoror", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23832
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