In der heutigen öffentlichen Wahrnehmung gilt der Islam oft als intolerant und in der Zeit zurückgeblieben; Meinungen und Ansichten, die nicht mit islamischem Gedankengut vereinbar sind, würden von Muslimen kategorisch abgelehnt . Wer sich näher mit dem Islam beschäftigt, lernt bald, dass diese öffentliche Wahrnehmung ein Zerrbild des Islams abgibt, wirken doch die Muslime, die man zum Beispiel im Orientalistikstudium kennenlernt, gar nicht so intolerant und verschlossen gegenüber Neuem. Doch die Wenigsten kommen heute auf die Idee, der Islam könne ambiguitätstolerant, also aufgeschlossen gegenüber ambivalenten Diskursen, sein. Einer, der sich mit diesem Gedanken sehr intensiv beschäftigt hat, ist der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der seit 2000 an der Universität Münster lehrt. In seinem Großessay Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams stellt er dar, dass die heute im Islam vorherrschende Ambiguitätsintoleranz, sprich die Suche nach einer einzigen allgemein gültigen Wahrheit statt der Akzeptanz verschiedener parallel existierender Diskurse, ein Produkt der westlichen Moderne ist und durch den Kolonialismus in die arabisch-islamische Welt getragen wurde. Im vorkolonialen Nahen Osten hingegen war die muslimische Welt die ambiguitätstolerante Gesellschaft schlechthin.
Thomas BAUER: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Berlin 2011, 463 S., ISBN 978-3-458-71033-2, 32,90 €.
In der heutigen öffentlichen Wahrnehmung gilt der Islam oft als intolerant und in der Zeit zurückgeblieben; Meinungen und Ansichten, die nicht mit islamischem Gedankengut vereinbar sind, würden von Muslimen kategorisch abgelehnt[1]. Wer sich näher mit dem Islam beschäftigt, lernt bald, dass diese öffentliche Wahrnehmung ein Zerrbild des Islams abgibt, wirken doch die Muslime, die man zum Beispiel im Orientalistikstudium kennenlernt, gar nicht so intolerant und verschlossen gegenüber Neuem. Doch die Wenigsten kommen heute auf die Idee, der Islam könne ambiguitätstolerant, also aufgeschlossen gegenüber ambivalenten Diskursen, sein. Einer, der sich mit diesem Gedanken sehr intensiv beschäftigt hat, ist der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der seit 2000 an der Universität Münster lehrt. In seinem Großessay Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams stellt er dar, dass die heute im Islam vorherrschende Ambiguitätsintoleranz, sprich die Suche nach einer einzigen allgemein gültigen Wahrheit statt der Akzeptanz verschiedener parallel existierender Diskurse, ein Produkt der westlichen Moderne ist und durch den Kolonialismus in die arabisch-islamische Welt getragen wurde. Im vorkolonialen Nahen Osten hingegen war die muslimische Welt die ambiguitätstolerante Gesellschaft schlechthin.
Thomas Bauer beginnt im ersten und zweiten Kapitel („Einleitung“ und „Kulturelle Ambiguität“) mit der Erklärung und Darstellung des Begriffs „Ambiguität“ in den Bereichen Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft, Psychologie sowie Geschichts- und Sozialwissenschaft. Sein Ziel ist die Übernahme und Anpassung des Begriffs des Begriffs „Ambiguität“ in den kulturellen Bereich. Zeitlich bewegt sich Bauer zwischen dem 11. und 19. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung (zur Zeit der Seldschuken, Ayyubiden, Mamluken und Osmanen). Die kulturelle Ambiguität definiert Bauer wie folgt:
„Ein Phänomen kultureller Ambiguität liegt vor, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens zwei konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.“ (S. 27)
Im dritten und vierten Kapitel („Spricht Gott mit Varianten?“ und „Spricht Gott mehrdeutig?“) geht es um die Ambiguitätszähmung aufgrund von Ambiguitätskrisen, um den Variantenreichtum im Koran, der laut der Korangelehrten gottgewollt ist und um die Darstellung des Ambiguitätsverlustes anhand je eines Werkes von Ibn al-Ǧaẓarī (gest. 1429) und Ibn ‘Uṯaimīn (gest. 2001).
Im fünften Kapitel („Die Gnade der Meinungsverschiedenheit“) schildert Bauer einen iḫtilāf (Meinungsverschiedenheit von Juristen) anhand der Frage, ob Verendetes gegessen und beispielsweise das Fell verwendet werden dürfe. Dabei listet er die wichtigsten Kriterien zur Einstufung von Überlieferungen bezüglich ihres Wahrheitsgehaltes auf.
Im sechsten Kapitel („Die Islamisierung des Islams“) kritisiert Bauer die Benennung der islamischen Kultur als „islamisch“ im Gegensatz z.B. zur europäischen, japanischen oder afrikanischen Kultur. Durch diese Bezeichnung wird dem arabischen-islamischen Raum gleich der religiöse Stempel aufgedrückt, es entstehe der Eindruck, alles was arabisch ist, ist auch islamisch. Besser wäre wohl die Bezeichnung „arabische Kultur“ (oder spezieller: ägyptische, tunesische, libyische, … Kultur). Einen solchen Alternativbegriff zum von ihm kritisierten Begriff „islamische Kultur“ schlägt Bauer zwar nicht direkt vor, nutzt jedoch im Verlauf des Buches häufig den Begriff „arabische Kultur“.
Im siebten Kapitel („Sprachernst und Sprachspiel“) stellt Bauer klar, dass das arabische Reich „mindestens ebensosehr auf der Feder wie auf dem Schwert“ (S. 228) gründete. In diesem Kapitel beschäftigt sich Bauer mit verschiedenen Stilmitteln der Ambiguität in arabischen Texten wie zum Beispiel das literarische Koranzitat (iqtibās, S. 244), das Gegengedicht (mu‘āraḍa, S. 254) oder das „Verbergen“ (tauriya, S. 260). Er beschreibt auch die Haltung des Westens zur ambigen Literatur des Nahen Ostens in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die „arabische Poesie […] beruht auf eitlem Prunk mit seltenen und oft unverständlichen Wörtern, Wortspielen […] und unnachahmbaren Verskünsteleien […].“ (S. 251). Dieses Kapitel ist Bauers Paradedisziplin, dem Leser wird deutlich, womit sich Bauer wirklich gut auskennt und natürlich kann Bauer in diesem Kapitel auch deutlich mehr Beispiele und Autoren, die seine Thesen stützen, anführen als in anderen Kapiteln.
Im achten Kapitel („Die Ambiguität der Lust“) beschäftigt sich Bauer mit den Unterschieden der westlichen und der nahöstlichen Sexualitätsdiskurse: Während der Nahe Osten stets aufgeschlossen und locker im Umgang mit (Homo-) Sexualität war, war der Westen eher aufgeregt und zwanghaft (S. 270). Der westliche Sexualitätsdiskurs beanspruchte zudem, wie so vieles westliche, universelle Gültigkeit. Der heutige nahöstliche Sexualitätsdiskurs entspricht dem des Westens im 19. Jahrhundert, d.h. er gehört nicht „zum Islam“, sondern wurde nur aus dem Westen übernommen. Der Wandel, der seitdem im Westen stattgefunden hat, muss nun erst noch „im Islam“ ankommen.
Im neunten Kapitel („Der gelassene Blick auf die Welt“) geht Bauer der (Un-) Trennbarkeit von Religion und Politik auf den Grund und kommt zu dem Schluss, das Religion und Politik in früheren Jahrhunderten durchaus trennbar waren, anders als heute gern behauptet wird.
Im zehnten Kapitel („Auf der Suche nach Gewissheit“) zeigt Bauer die Position der „Skeptiker“ anhand von ar-Rāzī auf, nach denen aus Texten Wahrscheinlichkeiten und keine Wahrheitserkenntnisse abgeleitet wurden.
Der westliche Universalisierungsanspruch
„Die vorkoloniale islamische Welt kannte dagegen während der längsten Zeit ihrer Geschichte einen dem Westen vergleichbaren Universalisierungsehrgeiz nicht.“ (S. 313)
[...]
[1] Naumann, Thomas: Feindbild Islam. Historische und theologische Gründe einer europäischen Angst – gegenwärtige Herausforderungen. Mai 2006, S. 1:
http://www.uni-siegen.de/phil/evantheo/mitarbeiter/naumann/dokumente/feindbild_06_druckfsg.pdf
(Stand: 23.08.2013).
- Quote paper
- BA Marina Schauer (Author), 2013, Rezension: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams (Thomas Bauer), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233645
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