[...]Dazu soll zum einen eine
Eingrenzung all dessen erfolgen, was im 19. Jahrhundert zum Liberalismus gerechnet werden kann, also die
Gemeinsamkeiten aller liberaler Gruppierungen aufgedeckt werden, zum anderen aber auch die Breite der
Differenzierung innerhalb dieses großen Spektrums Verdeutlichung finden. Besonders wichtig zum
Verständnis erscheint die Hervorhebung der-von den Liberalen prinzipiell sogar erwünschten-Heterogenität innerhalb der einzelnen Parteien.
Zweitens soll versucht werden, zu erklären, warum es aufgrund ihres allgemeinen Menschen- und
Gesellschaftsbildes für die Liberalen keine ‘soziale Frage’ geben konnte. Vorweg ist eine allgemeine
Auseinandersetzung mit der Problematik der Reduzierung aller gesellschaftlicher Problematiken auf eine
einzige Frage, und die Überlegung, weshalb diese Frage ausgerechnet die Arbeiterfrage sein soll,
angebracht. Im Hinblick auf die häufig zu findende Gleichsetzung des deutschen Liberalismus des
ausgehenden 19. Jahrhunderts mit dem Manchestertum muß auch berücksichtigt werden, welche Rolle das
Manchestertum bei der Ablehnung der sozialen Frage spielte.
Bevor man nun aus der »Leugnung der sozialen Frage«, vollständiges Desinteresse an den sozialen
Problemen der Gesellschaft ableitet, sollte man sich die aus diesen Überlegungen für den Umgang mit den
sozialen Problemen der Gesellschaft resultierenden Konsequenzen ansehen. Diese lassen sich zum einen in
den zur Verbesserung gewählten und in der Gesellschaft umzusetzen versuchten Lösungsstrategien erkennen
und zum anderen aus der Beteiligung an der parlamentarischen Auseinandersetzung mit den
sozialpolitischen Reformen ablesen.
Erst nach einer umfassenden Untersuchung all dieser Teilaspekte ist eine Beurteilung der Berechtigung des
Vorwurfes, daß sich die Liberalen des Kaiserreiches unter Bismarck nicht um die soziale Not der unteren
Schichten ihrer Zeit kümmerten, möglich.
Im Anhang findet sich eine Übersichtsgrafik, die der Orientierung innerhalb der sich fortwährend
wandelnden liberalen Parteienlandschaft der Jahre 1871-1890 dienen soll.
Bei der Auffindung der ersten Texte zu diesem Themenkomplex halfen der 1991 veröffentlichte
Forschungsbericht von Hartwig Brandt und die 1992 erschienene Literaturvorstellung Hans Fenskes. Die
vollständige Liste der zur Bearbeitung herangezogenen Literatur findet sich am Ende der Arbeit. Zusätzlich
beinhaltet das Literaturverzeichnis - in einem gesonderten Teil - auch darüberhinausgehende Anregungen
zur weiteren Lektüre.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Zu 'dem' politischen Liberalismus im Kaiserreich
- ‘Liberalismus'-Begriff und das Gemeinsame liberaler Theorien
- Auswirkungen des politischen Kompromißzwanges auf die liberalen Parteien
- Vorstellung der wichtigsten liberalen Parteien 1871 - 1890
- Deutsche Fortschrittspartei
- Nationalliberale Partei
- Liberale Vereinigung
- Deutsche-Freisinnige Partei
- Deutsche Volkspartei
- Zu 'der sozialen Frage'
- Allgemeine Betrachtungen zu ‘der' sozialen Frage
- Gesellschaftsbild des Liberalismus und die Ablehnung ‘der sozialen Frage'
- Einfluß des Manchestertums auf den Umgang mit ‘der sozialen Frage'
- Zu den Konsequenzen für den Umgang mit den sozialen Problemen
- Liberale Lösungsstrategien und dabei auftretende Problematiken
- Ausdehnung der Armenfürsorge
- Bildungsvereine
- Genossenschaften
- Gewerkschaften
- Stellung der liberalen Parteien zu Bismarcks Sozialpolitik
- Problematik der sozialpolitischen Vorstellungen Bismarcks
- Beteiligung der liberalen Parteien an der Sozialpolitik zur Zeit Bismarcks
- Vorgeschichte der in den 80er Jahren eingeführten gesetzlichen Arbeiterversicherungen
- Stellung der einzelnen liberalen Parteien zu den gesetzlichen Arbeiterversicherungen
- Liberale Lösungsstrategien und dabei auftretende Problematiken
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, ob die Behauptung, der Liberalismus im Kaiserreich habe sich nicht um die soziale Not der unteren Schichten gekümmert, gerechtfertigt ist.
- Definition des Liberalismus im 19. Jahrhundert und die Gemeinsamkeiten aller liberaler Gruppierungen
- Die Rolle des Liberalismus im Umgang mit der sogenannten “sozialen Frage”
- Die Ablehnung der “sozialen Frage” durch die Liberalen
- Die Lösungsstrategien der Liberalen zur Bekämpfung der sozialen Probleme
- Die Haltung der liberalen Parteien gegenüber Bismarcks Sozialpolitik
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel widmet sich einer Definition des Liberalismus im 19. Jahrhundert und beleuchtet die Gemeinsamkeiten aller liberaler Gruppierungen. Es wird untersucht, wie die liberalen Ideale von Freiheit und Privateigentum mit dem Aufbau eines Rechtsstaates und der Kontrolle der politischen Prozesse verbunden waren.
Im zweiten Kapitel wird die Problematik des Kompromißzwanges für die liberalen Parteien im Kaiserreich beleuchtet. Dabei wird die Frage aufgeworfen, warum die Liberalen Schwierigkeiten hatten, sich an die neuen Bedingungen des aufkommenden Massenzeitalters anzupassen und warum die Idee einer “liberalen Gesamtpartei” nie verwirklicht wurde.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der “sozialen Frage” und der Frage, warum die Liberalen diese nicht als Problem empfanden. Es wird untersucht, wie das Gesellschaftsbild des Liberalismus mit der Ablehnung der “sozialen Frage” zusammenhing und welche Rolle das Manchestertum bei dieser Ablehnung spielte.
Im vierten Kapitel werden die Konsequenzen für den Umgang mit den sozialen Problemen der Gesellschaft dargestellt, die aus den Überlegungen der Liberalen resultierten. Hierbei werden die von den Liberalen entwickelten Lösungsstrategien und deren Problematik sowie die Haltung der liberalen Parteien gegenüber Bismarcks Sozialpolitik betrachtet.
Schlüsselwörter
Liberalismus, Kaiserreich, Sozialpolitik, “soziale Frage”, Rechtsstaat, Kompromißzwang, Parteien, Manchestertum, Armenfürsorge, Bildungsvereine, Genossenschaften, Gewerkschaften, Bismarcks Sozialpolitik, Arbeiterversicherungen.
- Quote paper
- Andrea Dittert (Author), 1998, 'Der' politische Liberalismus und 'die soziale Frage' im Deutschen Reich unter Bismarck, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23331